Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum - GH

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Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021
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             Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen
                Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum
                                                        Stefanie Hürtgen
          Fachbereich Geographie und Geologie, Universität Salzburg, Hellbrunnerstraße 34, 5020 Salzburg, Austria
                              Correspondence: Stefanie Hürtgen (stefanie.huertgen@sbg.ac.at)

            Received: 10 September 2019 – Revised: 14 January 2020 – Accepted: 21 January 2021 – Published: 11 June 2021

        Kurzfassung. The article discusses the glocalized socio-spatial form of European production as socially crisis-
        ridden. Combining literature from transnational production network theory, critical political economy, labour
        process theory and feminist geography the article shows that a European production regime has developed which
        is based on the transnationalization of economic and competitive parameters on the one hand and multiscalar
        social fragmentation of labour processes on the other. Its very logic is, hence, functional economic integration
        based on labour’s socio-spatial disintegration. The regime pushes for what we can call the feminization of work
        because it systematically cuts the former, patriarchal and uneven connection between waged work and socio-
        political integration. As feminist debates show, progressive perspectives have to be transnational and multiscalar
        and they have to include fundamental questions about the concept and status of work in society.

1   Einleitung                                                      Leerstelle Scheuplein, 2015; als Ausnahmen s. Zeller, 2008;
                                                                    Heeg, 2014).
Die anhaltende ökonomische und soziale europäische Krise               Was in der Diskussion bislang fehlt, das ist eine sys-
steht im Zentrum vieler wirtschafts- und sozialgeographi-           tematische raumsensible Analyse des Formwandels eu-
scher Beiträge – auch im deutschsprachigen Diskussions-             ropäischer (Lohn-)Arbeits- und Produktionsorganisation.
raum (Klagge, 2009; Belina, 2011; Scheuplein und Wood,              Bob Jessop (2012:94) erinnert daran, dass es keine kapi-
2011; Zeller, 2011; Boeckler und Berndt, 2013; Musil, 2013;         talistische Produktionsweise als solche gibt. Kapitalistische
Petzold, 2018; Mießner, 2018; Oßenbrügge, 2018). Betrach-           Verwertungskalküle und die Praktiken der Ausbeutung von
tet man diese Debatte allerdings näher, ist auffällig, dass         (Lohn-)Arbeit bestehen in verschiedenen räumlichen und
die soziale Konstitution von Arbeits- und Produktionsprozes-        zeitlichen Formationen oder „sozialen Formen“, wie es die
sen kaum vorkommt. Schwerpunkte sind die Rolle von Fi-              frühe Regulationstheorie in Anschluss an Marx bezeichnet
nanzinvestitionen und -spekulationen, Akkumulation durch            hatte (Aglietta, 1976). In der geographischen Debatte steht
Enteignung und Inwertsetzung vormalig öffentlicher Güter            eine genauere Betrachtung der gegenwärtigen sozialräum-
(beispielsweise im Bereich Wohnen) oder die kommunalen,             lichen Formen europäischer Produktionsdynamiken bislang
staatlichen und europäischen Austeritätspolitiken. Dagegen          aus. Sie ist allerdings dringend, so der Einsatz dieses Bei-
bleiben Beiträge zu krisenhaften Konfigurationen von (Lohn-         trages, um über jeweilige akute Zuspitzungen hinaus („Grie-
)Arbeit1 vereinzelt: Mitunter gibt es Bezüge zur Soziolo-           chenlandkrise“, „Finanzkrise“, aktuell „Coronakrise“ usw.)
gie (Prekarisierung, Abstiegsgesellschaft, wachsende soziale        die strukturelle Krisenhaftigkeit von (Lohn-)Arbeit in den
Ungleichheit u. a.; exemplarisch: Runkel und Everts, 2017),         Blick zu nehmen, das heißt ihre auf Dauer gestellte, nor-
aber diese sind oft wenig theoretisch verdichtet (zu dieser         malisierte Abdrängung als Medium sozialer Integration und
                                                                    gesellschaftlicher politischer Partizipation. Diese strukturelle
    1 Ich schreibe mitunter von (Lohn-)Arbeit, um auf die Un-       Krisenhaftigkeit ist der gegenwärtigen sozialräumlichen Ver-
terschiedlichkeit abhängiger Erwerbsarbeit aufmerksam zu ma-        fasstheit europäischer Produktionsorganisation inhärent; sie
chen; diese kann bekanntermaßen auch informalisierte Formen von     ist ihr nicht äußerlich, wie es Diskussionen zu den „Überflüs-
(Schein-)Selbständigkeit, Praktika etc. umfassen.

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sigen“ nahegelegt hatten (Bude, 2002), und wie es neolibe-        lichter hegemonialer und despotischer Arbeitsregime. Diese
rale Diskurse behaupten, die begrifflich die gesellschaftliche    glokale Dynamik wird sichtbar, wenn unterschiedliche theo-
Teilhabe von Arbeiter*innen auf eine Teilhabe am Arbeits-         retische Diskussionsstränge zusammengeführt werden – na-
markt bei weitgehender Ausblendung der Arbeitsbedingun-           mentlich die der globalen und europäischen Wertschöpfungs-
gen verschieben.                                                  ketten bzw. Produktionsnetzwerke (Gereffi, 1996; Coe und
   Im Beitrag analysiere ich die sozialräumliche Form eu-         Yeung, 2015), die Diskussion zur neuen internationalen bzw.
ropäischer Produktionsdynamiken und diskutiere ihre Ar-           regionalen Arbeitsteilung (Fröbel et al., 1977; Massey, 1984)
beit entsichernde und desintegrierende Dynamik. Ich spreche       und arbeitssoziologische Debatten zur Fragmentierung und
von einem flexibel transnational-fragmentierenden Produkti-       Prekarisierung von (Lohn-)Arbeit.
onsregime, das (Lohn-)Arbeit systematisch von den arbeits-           In Kapitel 4 wird auf die Dimension der staats- und
und reproduktionsbezogenen Grundlagen ihrer gesellschaft-         gesellschaftspolitischen, vergeschlechtlichten Marginalisie-
lichen Integration abtrennt. Es entsteht eine Logik funktiona-    rung von Arbeit abgehoben, und in Kapitel 5 werden Formen
ler (ökonomischer) Integration bei sozialräumlicher Desin-        der permanenten Restrukturierung und der digitalen Steue-
tegration, die in Anschluss an entsprechende Diskussionen         rung der Produktion in ihrer Bedeutung für die Krisenhaftig-
auch als Feminisierung von (Lohn-)Arbeit bezeichnet wer-          keit von (Lohn-)Arbeit insgesamt, d. h. sowohl für die des-
den kann.                                                         potischen wie die hegemonialen Arbeitsregime, herausgestri-
   Die Argumentation wird entlang von drei aufeinander auf-       chen. Beides, dauerhafte technologische und sozialräumli-
bauenden theoretischen, jeweils auch empirisch illustrierten      che „Optimierung“ wie auch der permanente (digitale) kon-
Schritten entwickelt, die zugleich eine Zusammenführung           kurrenzielle Vergleich, vervielfachen und dynamisieren nicht
disziplinär oft getrennter Debatten beinhalten:                   nur die sozialräumlichen Fragmentierungen, sondern führen
   Im folgenden Kapitel stelle ich das aus der Labour Pro-        insbesondere auch zu einer sozialpolitischen Destabilisie-
cess Theory stammende Konzept der despotischen bzw. he-           rung der lange Zeit als geschützt angesehenen „Kernbeleg-
gemonialen factory regimes von Michael Burawoy (1985)             schaften“. Dies wird genauer im 6. Kapitel ausgeführt, wo
vor. Für die weitere Betrachtung ist seine konzeptionelle         ich – wiederum in Anlehnung an Burawoy – von doppel-
Unterscheidung zwischen „Hegemonie“ und „Despotie“ im             ter Despotisierung spreche. Kapitel 7 führt die Überlegungen
Betrieb zentral. Zugleich müssen Burawoys Ansätze verge-          mit Blick auf den gesellschaftlichen Stellenwert von Arbeit
schlechtlicht und verräumlicht werden (Lee, 1998), erst dann      zusammen.
gerät die auch für die weitere Analyse grundlegende doppelte
Konstitution von Hegemonie und Despotie innerhalb der Be-
                                                                  2   Die doppelte und politische Konstitution von
triebe und Unternehmen, sowie ihre skalare Dynamisierung
                                                                      Despotie und Hegemonie im Betrieb
und ihre Relation zueinander, in den Blick.
   In Kapitel 3 ist das zentrale Argument, dass die (verge-       Für die Analyse des sozialräumlichen Formwandels euro-
schlechtlichte) Ko-Konstruktion von hegemonialen und des-         päischer Produktion erweist sich das von Michael Bura-
potischen (Lohn-)Arbeitsregimen selbst von ihrer fordisti-        woy (1985) entwickelte Konzept der factory regimes als
schen Form aus dynamisch reskaliert, d. h. glokalisiert wird.     fruchtbarer Ausgangspunkt. Es beinhaltet zwei direkt zu-
Mit Glokalisierung ist nicht, wie in der Debatte vielfach         sammenhängende Dimensionen kapitalistischer Produkti-
betont, die „Auflösung“ des Nationalstaatlichen zugunsten         on: Erstens den unmittelbaren Arbeitsprozess (verstanden
der lokalen bzw. globalen Scale gemeint (Brenner, 2001;           als Gesamtheit der koordinierten, hierarchisierten und zu-
Swyngedouw, 2004; Wissen, 2008; MacKinnon, 2011). Viel-           gleich umkämpften Tätigkeiten und sozialen Beziehungen
mehr bezeichnet der Begriff die sozialräumliche Aufspren-         zur profitorientierten Umwandlung von Rohstoffen in End-
gung nationaler und subnationaler Vergesellschaftungszu-          produkte) und zweitens den political apparatus of produc-
sammenhänge als Bestandteil und Form ihrer Globalisierung         tion, d. h. wirtschafts- und sozialpolitische Institutionen,
bzw. in der vorliegenden Analyse: Europäisierung. Der Na-         Normen und Regularien. Gegen (marxistische) ökonomis-
tionalstaat bleibt dabei einerseits (z. B. in der Ausgestaltung   tische Orthodoxien betont Burawoy, dass der Produktions-
von Arbeitsgesetzen) zentral, verliert aber insgesamt die Po-     prozess selbst politisch ist, er ist politics of production: Die
sition als dominante Scale (Jessop, 2002). Eben diese Dyna-       staats- und gesellschaftspolitischen Institutionen regulieren
mik der Glokalisierung ist grundlegend auch für den Form-         und strukturieren die betrieblichen Abläufe und Auseinan-
wandel von (Lohn-)Arbeit und Produktion. Das europäische          dersetzungen und werden umgekehrt von dort aktiv mit re-
Produktionsregime ist gekennzeichnet von verwertungslogi-         produziert und dabei auch verändert. Zeitlich und geogra-
scher Transnationalisierung der Produktionsorganisation ei-       phisch unterscheidet Burawoy vor allem zwei idealtypische
nerseits (Europäisierung von Profit- und Marktkalkülen so-        factory regimes2 : Erstens das despotische, das er als den Pro-
wie von Überwachungs- und Kontrolltechniken) und von dy-          totyp der Marx’schen Analyse bezeichnet (ebd.: 88) und das
namischer multi-skalarer sozialräumlicher Fragmentierung
der Arbeitsprozesse andererseits, und das ist die permanen-           2 Burawoy hat international weitere Regime bestimmt, die aber
te Aufsprengung und Neuzusammensetzung vergeschlecht-             in der Debatte randständig blieben.

Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021                                                       https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021
S. Hürtgen: Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum                          263

von geringer sozialpolitischer Regulierung und deshalb von             tens schließlich, und hier von besonderer Wichtigkeit, muss
hoher Marktabhängigkeit der (Lohn-)Arbeiter*innen sowie                das bei Burawoy letztlich mono-skalare, auf die national-
deren weitgehende Unterordnung unter die kapitalseitigen               staatliche Ebene bezogene Konzept des factory regimes so-
Produktionsanforderungen gekennzeichnet sei. Das zweite,               wohl nach innen (in den Betrieb und Nationalstaat hinein)
hegemoniale Regime dagegen versteht Burawoy als kenn-                  wie nach außen (über nationale und kontinentale Grenzen
zeichnend für den fortgeschrittenen (fordistischen) Wohl-              hinweg) aufgebrochen, d. h. multi-skalarisiert werden.
fahrtskapitalismus. Hier sind die Lohnabhängigen sozial re-               Die Notwendigkeit der Multiskalarisierung wird mit ei-
lativ abgesichert und können interessenpolitisch machtvoll             nem kurzen Blick zurück auf die für Burawoy konzeptio-
auftreten. Entsprechend muss das Management sie einbin-                nell zentrale fordistische Wohlfahrtsära deutlich. Diese war
den, oder wie Burawoy sagt, „überzeugen“. Die fortgesetzte             in der Tat von bis dahin beispielloser arbeitspolitischer recht-
prinzipielle Unterordnung der Arbeiter*innen unter kapita-             licher Infrastruktur gekennzeichnet, vorangetrieben nicht zu-
listische Anforderungen im Lohnarbeitsprozess erfolgt des-             letzt durch soziale Auseinandersetzungen bis hin zur eu-
halb als Aushandlung seiner konkreten zeitlichen, stofflichen          ropäischen Streikwelle 1968. Im Ergebnis herrschten im
und sozialen Ausgestaltung entlang einer dann auch von den             Facharbeitsbereich oftmals ein ruhiger, teilweise selbstbe-
Arbeiter*innen getragenen Kompromissbildung3 . Später er-              stimmter Arbeitsrhythmus, soziale Beziehungen zum Ma-
gänzt Burawoy das hegemonial-despotische factory regime,               nagement, die durchaus auch von Anerkennung der geleis-
wo aufgrund arbeitspolitischer Partikularisierung die nach             teten Arbeit geprägt waren, und es bestand insbesondere
wie vor konsensual ausgerichtete Aushandlung zur Konzes-               ein wechselseitiges Wissen um soziale und gewerkschaft-
sionspolitik wird (Burawoy, 1983). Ich konzentriere mich im            liche Rechte und ihre mögliche wirkungsvolle Inanspruch-
Folgenden auf die ersten beiden Regime und komme am En-                nahme (Beaud und Pialoux, 2004). Allerdings stand dieser
de auf das hegemonial-despotische zurück4 .                            hegemonialen Position noch ein ganz anderes betriebliches
   Burawoys relationale Perspektive einer historisch und               Regime zur Seite, das nicht nur Burawoy ausblendet, son-
räumlich spezifischen (gesellschafts-)politischen Verfasst-            dern das konzeptionell-rückblickend generell oft „verges-
heit kapitalistischer Arbeitsprozesse ist anschlussfähig und           sen“ wird (Hürtgen 2015): Der Bereich der sog. „unquali-
instruktiv für die weitere Analyse des europäischen Produk-            fizierten“, typischerweise weiblichen und migrantischen Ar-
tionsregimes. Allerdings sind dafür auch Brüche und Wei-               beit, paradigmatisch angesiedelt in der taylorisierten Mas-
terentwicklungen nötig. Für den vorliegenden Zusammen-                 senfertigung (Castles und Kosack, 2010 [1972]). Die Lite-
hang muss erstens die mit seinen Konzepten verwobene Ent-              ratur zeigt hier ein beeindruckendes Maß an Politiken ent-
wicklungslogik (von despotischen Regimen in „früheren“                 subjektivierender Unterordnung und despotisierender Objek-
hin zu hegemonialen in „fortgeschrittenen“ kapitalistischen            tivierung (exemplarisch Bednarz-Braun, 1983; Aulenbacher,
Gesellschaften) aufgelöst werden (Lee, 1998:160 ff.; Ngai,             1991): Soziale Rechte blieben dem Status willkürlicher per-
2005). Zweitens ist der vor allem staatspolitischen Perspek-           sönlicher Genehmigung verhaftet, sexistische und rassisti-
tive Burawoys die Dimension der gesellschafts- und dabei               sche Übergriffe waren an der Tagesordnung, und interessen-
auch alltagspolitischen hinzuzufügen (Massey, 1994). Drit-             politische Repräsentation war typischerweise nicht vorhan-
                                                                       den. Sozialräumlich waren die zwei Regime hochgradig po-
    3 Es kann hier nicht diskutiert werden, dass Burawoy die sozi-
                                                                       larisiert und von einer sozialen Relation der Unnahbarkeit
alpolitische Absicherung von Beschäftigten zugleich als umfassen-
                                                                       innerhalb der Fabrik gekennzeichnet5 .
de ideologische Entpolitisierung zeichnet: Statt die Frage nach der
                                                                          Der kurze Exkurs zeigt die systematische (nicht histori-
Überwindung des Kapitalismus zu stellen, führten die Belegschaf-
ten nunmehr nur noch „Spiele“ mit dem Management um kleinteili-        sche) Notwendigkeit, Vergeschlechtlichung der factory regi-
ge Arbeitsverbesserungen (Burawoy, 1979:46 ff.). Der Autor unter-      mes, bzw. wie ich sie im Folgenden bezeichne: Arbeitsregime
nimmt hier eine folgenschwere Trennung zwischen angeblich weni-        in die Analyse einzubeziehen. Scale zielt analytisch auf die
ger wichtigen „kleinen“ Fragen alltäglichen Lebens und Arbeitens       sozialräumlich ungleiche Reichweite von Normen, Regulari-
einerseits und den vermeintlich „großen“ Systemfragen. Dieser tra-     en und Institutionen, d. h. auf das Ensemble strukturell un-
ditionsreichen Dualisierung von „klein“ und „groß“, von „Lebens-“      gleicher Repräsentation (Herod, 2011). Dies zieht mit Blick
und „Systemveränderung“ muss mit Verweis auf feministische De-         auf (Lohn-)Arbeit eine zweifache Fragestellung nach sich:
batten widersprochen werden (Becker-Schmidt, 2017).                    einmal die nach der Reichweite progressiver Normen und Re-
    4 Das Konzept der factory regimes ist in der labour geography
                                                                       gularien, beispielsweise sozialer und politischer Rechte, in-
als Local Labour Control Regime (LLCR) adaptiert worden (Jonas,        nerhalb einer Hegemonie staatlich abgesicherter Kapitalver-
1996; Helms und Cumbers, 2006; Pattenden, 2016). Wie allerdings
                                                                       wertung – und zweitens die Frage nach dem gesellschafts-
Hasting und MacKinnon (2017) richtig feststellen, kann die Kon-
zeption des Lokalen als relativ kohärent nur ungenügend die auf
allen Scales vorangetriebene Fragmentierung von Arbeitsprozessen          5 Dort, wo während der Welle migrantischer und Frauenstreiks
und Arbeiter*innen fassen. Jüngere Versuche, das LLCR zu multi-        in den 1970er Jahren die Grenzen dieser „getrennten Welten“ von
skalieren, sind wiederum eher (staats-)politisch ausgerichtet (Smith   Fabrikhalle und Büro bzw. Werkstatt überschritten werden konnten,
et al., 2018), während ich selbst direkt auf die (Neu-)Konfiguration   ist dies als große Bereicherung und Ermächtigung geschildert wor-
von Arbeit und Produktion fokussiere.                                  den (Annie und Werner, 1975; McDowell et al., 2014).

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und alltagspolitisch Nicht-Repräsentierten, nach sozialen                 nagementseitigen „Optimierungsstrategien“ neu zu kombi-
Formen, Praxen und auch subjektiven Orientierungen der                    nieren8 .
Desintegration, Verdrängung und Abspaltung aus dem als                       Räumlich ist die Aufspaltung und flexible Rekombinati-
allgemein deklarierten Hegemonialen (Swyngedouw, 1997;                    on der Produktion (und damit: der Arbeitsprozesse) zutiefst
Werner et al., 2017). So muss die Analyse von Arbeitsregi-                multiskalar. Wir sehen dies, wenn wir drei zentrale Debatten
men auch mit der hierarchischen kapitalistischen Arbeitstei-              über die paradigmatischen Veränderungen in der Produktion
lung in ihrer grundlegenden sexistischen Aufspaltung in qua-              und die räumlichen Dimensionen, auf die sie sich jeweils be-
lifiziert/unqualifiziert, Kern/Rand sowie Gesellschaft/Natur              ziehen, zusammenführen. Die erste Diskussion ist die rund
zusammengeführt werden (Jenson, 1998). Die Integration                    um das Konzept der „Neuen Internationalen Arbeitsteilung“
von (Lohn-)Arbeiter*innen-Interessen in hegemonialisierte                 (Fröbel et al., 1977). Diese befasst sich mit Restrukturie-
Normen, Regeln und Institutionen ist entsprechend mit der                 rungsprozessen auf inter-nationaler Ebene, nämlich mit der
Frage nach der „dunklen Seite“6 dieser hegemonialen Kon-                  Aus- und Verlagerung des eben skizzierten „unqualifiziert“-
stellation zu verbinden, d. h. mit der Frage nach sexistischer            weiblich-migrantischen Low-end-Bereich der Produktion in
und (hier immer nur am Rande behandelter) rassistischer                   den Globalen Süden; der Globale Süden wurde dabei von
Despotisierung von Arbeit (McDowell, 1991).                               Anfang an auch als europäischer Süden verstanden, er um-
                                                                          fasste auch Länder der europäischen Peripherie wie Spani-
                                                                          en oder das damals staatssozialistische Ungarn (ebd.; Frank,
                                                                          1982). Die zweite räumliche Dimension in der Diskussion
3   Sozialräumliche Ungleichheit und transnationale                       veränderter Produktionsstrukturen ist die regionale, paradig-
    Restrukturierung                                                      matisch festgemacht am Konzept der „Spatial Division of La-
                                                                          bor“ (Massey, 1984). Auch hier geht es um die sozialräumli-
Mein Vorschlag ist, die mit dem Ende der fordistischen                    che Desintegration der zumeist weiblichen sog. Einfachfer-
Wachstumsphase vorangetriebene Transnationalisierung von                  tigung, nun allerdings in Richtung der inneren Peripherie
Produktion als Reskalierung von Arbeitsregimen, genau-                    der europäischen Zentrumsländer: strukturschwache Regio-
er: ihrer hierarchisch-vergeschlechtlichten Ko-Konstitution               nen mit geringer gewerkschaftlicher Tradition und hoher Ar-
zu begreifen. Die idealtypisch unterschiedenen despotischen               beitslosigkeit (Lewis, 1983). Die dritte sozialräumliche Di-
und hegemonialen Regime stehen hierbei auf allen Scales                   mension ist geprägt von der arbeitssoziologischen „Fragmen-
von lokal bis europäisch7 einerseits in einem polarisierten,              ting Work“-Debatte, d. h. Analysen der Fragmentierung, Pre-
sexistisch geframten sozialräumlichen Verhältnis zueinan-                 karisierung und Informalisierung von Arbeit in den Betrie-
der, das andererseits einer permanenten sozialräumlichen Re-              ben, Produktionshallen und Abteilungen (Marchington et al.,
strukturierung unterworfen ist, was (Lohn-)Arbeit insgesamt               2005; Castel und Dörre, 2009; Flecker, 2009).
krisenhaft strukturiert.                                                     In der Zusammenführung dieser drei Debattenstränge wird
   Für ein Verständnis von transnationaler Produktion als                 sichtbar, dass die sog. „Globalisierung von Produktion“ nicht
Reskalierung von Arbeitsregimen ist es notwendig, sich die                einfach als räumliche Ausdehnung missverstanden werden
paradigmatischen Veränderungen in der Organisation der ka-                darf. In der Debatte wird zwar von der Herausbildung
pitalistischen Produktion seit den späten 1960er Jahren in Er-            „globaler Produktionsnetzwerke“ gesprochen (Gereffi et al.,
innerung zu rufen. Wie breit diskutiert, spiegeln diese Ver-              2005), diese sind aber räumlich besser als transnationa-
änderungen einen verschärften globalen unternehmerischen                  le oder eben glokale Produktionsnetzwerke zu bezeichnen.
Wettbewerb, strukturelle „Überakkumulation“, zunehmend                    Denn die „globale“ bzw. „europäische“ Konfiguration beruht
disruptive und kurzfristige Markt- und Technologieentwick-                gewissermaßen auf ihrem „Gegenteil“: der multiskalaren so-
lungen und nicht zuletzt einen wachsenden Finanzsektor als                zialräumlichen Aufspaltung von Lohnarbeitsprozessen – zum
Katalysator dieser Phänomene wider (Schoenberger, 1988).                  Zwecke ihrer flexiblen Rekombination über Regionen, Län-
Die paradigmatische Umbildung in der Produktion besteht                   der und Kontinente hinweg.
darin, dass anstelle der relativ langfristigen fordistischen Fi-             Mit Burawoy und den entsprechenden konzeptionellen Er-
xierung des Kapitals in einer robusten und hochintegrierten               weiterungen können wir diesen Prozess als postfordistische
Produktion nun die Fähigkeit entscheidend ist, Produktions-               Reskalierung zunächst einmal feminisiert-despotisierter Ar-
und Arbeitsprozesse aufzuspalten, um sie kurzfristig nach                    8 Organisatorisch kann zwischen interner und externer Segmen-
den jeweiligen Marktbedingungen und entsprechenden ma-                    tierung unterschieden werden; interne Segmente sind firmeneige-
                                                                          ne, z. B. relativ budgetautarke Produktionsstandorte, Abteilungen
                                                                          oder Kostenstellen sowie kundenspezifische Produktionslinien, Ser-
    6 Phelps et al. (2018): „An invitation to the dark side of economic   vicecenter oder Arbeitsgruppen. Externe Segmentierung ist der
geography“.                                                               Outsourcing-Prozess, d. h. die Übertragung von Dienstleistungs-
   7 An dieser Stelle kann nur erwähnt werden, dass die europäi-          und Produktionsfunktionen auf flexible und pyramidal orchestrier-
sche Ebene ihrerseits Bestandteil einer globalen politökonomischen        te Lieferanten (paradigmatisch: Womack et al., 1991). Beide sind
Dynamik ist (vgl. hierzu Altvater und Mahnkopf, 1997).                    hochdynamisch und überschneiden sich.

Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021                                                                https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021
S. Hürtgen: Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum                        265

beitsregime begreifen. Auf allen idealtypisch unterschiede-           nem systematischen Bestandteil des konkurrenziellen Kal-
nen Scales (international, regional, lokal-betrieblich) wird          küls transnationaler Produktionsorganisation. Sie geht als
ein feminisierter, „unqualifiziert“-taylorisierter Tätigkeitsbe-      cost-capability-ratio in die sonstigen Technologie- und Mar-
reich geschaffen. Die Montagearbeit der Elektronik- oder              ketingstrategien ein und bleibt auch nicht, wie lange ver-
Textilfertigung in den Weltmarktfabriken und Exportzonen              mutet, auf bestimmte Branchen beschränkt (vgl. Yeung und
des Globalen Südens stehen exemplarisch für diesen Pro-               Coe, 2015; Selwyn, 2019). „Unqualifzierte“ Niedriglohnar-
zess. Allerdings finden wir derartige Verhältnisse nicht nur          beit wird so – multiskalar – von den Anforderungen inte-
in Asien und Lateinamerika, sondern beispielsweise auch               grativer sozialer Reproduktion weitgehend entkoppelt und,
in Südosteuropa oder Polen sowie in den Regionen und                  worauf ich im nächsten Kapitel eingehe, aus dem Raum
Betrieben der europäischen „Zentrumsländer“ (Maciejew-                (gewerkschafts-)politischer Repräsentation und Öffentlich-
ska, 2012; Selwyn et al., 2020)9 . Bei aller Verschieden-             keit abgedrängt.
heit entsteht auf den unterschiedlichen Scales ein femini-
siertes Low-End, das von flexibilisierten Anstellungsformen,
repressiven Arbeitsbedingungen, geringer sozialer Absiche-            4   Gesellschaftspolitische Marginalisierung von
rung, sehr niedrigen, oft nicht reproduktionssichernden Löh-              (Lohn-)Arbeit
nen und einer de facto weitgehenden Abwesenheit gewerk-
schaftlicher Repräsentation gekennzeichnet ist:                       In der Perspektive Burawoys ist diese sozialräumliche Dy-
   In den Ländern des europäischen Südens sind Wohlfahrts-            namisierung und Reskalierung von feminisiert-despotisierter
systeme bestenfalls ansatzweise entwickelt, die Löhne be-             (Lohn-)Arbeit nicht einfach Resultat von Unternehmensstra-
wegen sich insbesondere im Blue-Collar-Bereich auch für               tegien, sondern nur politisch zu verstehen, als politics of pro-
„Normalbeschäftigte“ und auch in modernen ausländischen               duction.
Produktionsfabriken verbreitet unterhalb des Reproduktions-              Staatspolitisch ist deshalb ein Blick auf die gegenwär-
notwendigen (Schipper, 2016; Drahokoupil und Fabo, 2019);             tige Europäisierung und ihren Modus „neoliberal-negativer
hinzu kommt direkte Repression gegen soziale Bewegungen               Integration“ zentral (Altvater und Mahnkopf, 2007:63 ff.).
und Gewerkschaften als verbreitetes Element der politics of           Entscheidend ist, dass spätestens ab den 1980er Jahren ex-
production. Regional, d. h. mit Bezug auf die inneren Peri-           plizit auf eine länderübergreifende (europäische) Verallge-
pherien der europäischen Zentren, treffen wir auf vergleich-          meinerung von Sozialstandards verzichtet, vielmehr sozial-
bare Problematiken, verstärkt durch den „new local des-               räumliche Ungleichheit als „Wettbewerb“ stimulierende (und
potism“ (Peck, 2002) post-wohlfahrtsstaatlicher workfare-             so vermeintlich Prosperität schaffende) Vielfalt konzipiert
Politiken, die bestehende soziale Rechte schwächen und (ex-           wird. Während die Regularien für Investitionen, Kapital-
tremen) Niedriglohn fördern. In den letzten Jahren stand hier         transfer und (innerbetriebliche) Austauschbeziehungen ver-
vor allem die Dienstleistungs- und Logistikbranche im Fokus           allgemeinert, d. h. über die Nationalstaaten hinaus hochska-
der Diskussion (Call Center, Paketdienste, Onlinehändler),            liert („europäisiert“) werden, gilt für sozialpolitische Belan-
aber auch die „einfachen“ Montagetätigkeiten klassischer              ge das Subsidaritätsprinzip: sie bleiben national bzw. wer-
Produktionsbereiche gehören hierzu (Maciejewska, 2012;                den noch weiter dereguliert (flexibilisiert, lokalisiert usw.,
Hürtgen, 2019). Lokal-betrieblich schließlich zeigt die De-           vgl. Agnew, 2001). Wie insbesondere Neil Brenner (2004)
batte zur Fragmentierung und Prekarisierung von Arbeit und            gezeigt hat, entsteht so eine europäische Formation von glo-
Beschäftigung ebenfalls sowohl die wachsende Ungleichheit             calizing competition states: Die internationale Aufsprengung
in den nahräumlichen Arbeitsbedingungen (Hammer und Ri-               sozialer Standards, ihre Deregulierung, ist die – auch vom
isgaard, 2015), wie auch und damit zusammenhängend die                Nationalstaat moderierte und vorangetriebene – Form, einer
materielle und sozial- und gewerkschaftspolitische Vulnera-           länderübergreifend hochskalierten, in den strategischen Kal-
bilisierung breiter Teile der Beschäftigten (Pulignano, 2017;         külen der transnationalen Konzerne angesiedelten und von
Schmalz und Sommer, 2019).                                            diesen sowie den europäisierten Staatsapparaten durchge-
   Glokal entsteht so eine Akkumulationsdynamik, die                  setzten Norm der profitorientierten Konkurrenzfähigkeit zu
(Lohn-)Arbeit von den materialen und sozialpolitischen Res-           genügen. Diese glokale, konkurrenzielle europäische Staat-
sourcen ihrer sozialen Reproduktion abtrennt. Die Sen-                lichkeit ist selbst Resultat hegemonial durchgesetzter In-
kung der Arbeitskosten bzw. (in marxistischer Terminolo-              teressenpolitik transnationaler Kapitalfraktionen (van Apel-
gie) die Senkung der Kosten des variablen Kapitals (niedri-           doorn, 2002), und sie ermöglicht, reflektiert und befördert
ge Löhne, flexible Arbeitszeiten und Beschäftigungsformen,            die glokalen produktionsseitigen Restrukturierungen (Hürt-
Möglichkeiten kurzfristiger Entlassungen etc.) wird zu ei-            gen, 2020a).
                                                                         Alltags- und gesellschaftspolitisch ist die sexistische Kon-
   9 Der „neue Süden“, so formuliert es Fred Scholz (2002) mit Be-    struktion von despotischer (Lohn-)Arbeit zentral. Diese er-
zug auf Ulrich Beck, ist nicht national oder kontinental zu begrei-   folgt bekanntermaßen als Abdrängung weiblicher Arbeit ins
fen, sondern als Ausdruck einer Bewegung der Fragmentierung auf       weitgehend Vor-gesellschaftliche, ihre Konstruktion als im
allen sozialräumlichen Scales.                                        „Privaten“ angesiedelte (Natur-)Ressource, als einer Nei-

https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021                                                           Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021
266          S. Hürtgen: Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum

gung oder dem Talent10 der (weiblichen) Natur entsprin-              Standort zu stärken (Blöcker, 2009; Holst und Matuschek,
gend (Phillips und Taylor, 1980; Elson und Pearson, 1981;            2013; Hürtgen, 2020b).
Wright, 2006). Bestandteil dieser gesellschaftlichen Konsti-
tution von Lohnarbeit als „weiblich“ ist ihre Konstruktion als
                                                                     5    Permanente Restrukturierung und konkurrenzielle
unqualifizierte Arbeit, d. h. als leicht zu beschaffende, spora-
                                                                          digitale Steuerung
disch und zusätzlich einzusetzende und gesellschaftlich we-
nig bedeutsame Arbeit – und es ist diese (vermeintliche) ge-
                                                                     Bevor ich am Ende des Beitrages auf den gesellschaftspoli-
sellschaftliche Randständigkeit, die den relativen Ausschluss
                                                                     tischen Stellenwert von Lohnarbeit zurückkomme, will ich
von sozialintegrativen Arbeitsbedingungen und sozialpoli-
                                                                     in den folgenden zwei Kapiteln die Betrachtung der gloka-
tischen Rechten sowie öffentlich-gesellschaftlicher Reprä-
                                                                     len Produktionsorganisation selbst nochmals vertiefen. Denn
sentation begründet (Becker-Schmidt, 2017). Im reskalierten
                                                                     für die hier verfolgte These einer generellen Krisenhaftig-
glokalen Produktionsregime wird diese Konstruktion – unter-
                                                                     keit von (Lohn-)Arbeit ist es entscheidend aufzuzeigen, dass
schiedlichen Politiken des Gendermainstreamings zum Trotz
                                                                     die bislang dargelegten naturalisierend-sexistischen Abspal-
– nicht nur nicht aufgegeben, sondern als Naturalisierung
                                                                     tungen gewissermaßen nicht mehr wirklich funktionieren:
despotisierter Arbeitsverhältnisse zugespitzt und verallge-
                                                                     die skizzierte glokale sozialräumliche Aufspaltung der kapi-
meinert: einmal entlang neoliberaler Workfare-Politiken und
                                                                     talistischen Arbeitsprozesse entlang hegemonialer und des-
der Stigmatisierung sozialer Gruppen als letztlich Untüchti-
                                                                     potischer Arbeitsregime ist alles andere als stabil. Stattdes-
ge und Unproduktive (Peck, 2002), und ein weiteres Mal ent-
                                                                     sen ist die „Optimierung“ der Produktionsabläufe im Kon-
lang jener Narrative, die hochgradig vulnerable und repres-
                                                                     text verschärfter unternehmerischer Konkurrenz beschleu-
sive Arbeitsverhältnisse als Resultat von nah- und fernräum-
                                                                     nigt und als permanente transnationale Restrukturierung auf
licher Rückständigkeit der Betroffenen interpretieren (Had-
                                                                     Dauer gestellt (Siemiatycki, 2012). Die Fragmentierungen
jimichalis, 2018). Insgesamt erscheinen so die dunklen Sei-
                                                                     und ihre Scales vervielfältigen sich und die sozialräumlichen
ten der transnationalisierten Produktion als eine Frage von
                                                                     „Schnittstellen“ und Formen betrieblicher Hegemonie und
spezifischen Eigenschaften betroffener Arbeiter*innen. Die-
                                                                     Despotie werden in Permanenz neu konfiguriert. Diese Dy-
se werden als schwach, „traditionell“ orientiert, ungenügend
                                                                     namik ist insbesondere zentral mit Blick auf die (ehemals)
qualifiziert11 und insgesamt den Anforderungen „moderner“
                                                                     hegemonialen Regime, d. h. die gewerkschaftlich starken, re-
Arbeit ungenügend gezeichnet, weshalb sie nicht gleichbe-
                                                                     lativ geschützten und öffentlich repräsentierten „qualifizier-
rechtigt an dem partizipieren könnten, was als moderne Öko-
                                                                     ten“ Arbeitsbereiche. Diese stellen keine stabilen Inseln dar,
nomie und demokratische Mitgestaltung verstanden wird
                                                                     werden vielmehr selbst reskaliert und verändern dabei grund-
(Massey, 2005). Die gesellschaftliche wie betriebliche Pro-
                                                                     legend ihren Charakter.
duktion vielfacher sozialräumlicher Polarisierung und Des-
                                                                        Formen und Dynamiken der permanenten Restrukturie-
integration im Hier und Jetzt wird so überführt in eine auf
                                                                     rung sind vielfältig, an dieser Stelle will ich aber wenigstens
einer „zivilisatorischen“ Zeitachse angesiedelten Frage un-
                                                                     drei zentrale identifizieren, um das Ausmaß der auf Dauer ge-
genügender Fähigkeiten der je ungleich Despotisierten und
                                                                     stellten produktionsbezogenen „Optimierung“ und ihre glo-
Subalternisierten – was die sozialen Zusammenhänge und
                                                                     kale Form sichtbar zu machen.
Relationen weitgehend entnennt. Diese Verschiebung despo-
                                                                        Eine erste wichtige Dynamik ergibt sich aus dem, was als
tisierter Arbeitsregime ins Vor-Gesellschaftliche und Rand-
                                                                     upgrading von Arbeitsprozessen und Produktionsstätten be-
ständige ist dabei auch alltagspolitisch wirksam: in Form all-
                                                                     kannt ist, d. h. deren technologische und organisatorische
täglicher Stereotypisierungen, in Form einer gewerkschafts-
                                                                     Modernisierung. Um die volle Flexibilität im gesamten Netz-
politischen Fokussierung auf die „Kernbelegschaften“ oder
                                                                     werk zu erreichen, werden gerade auch die sog. Low-end-
entlang wissenschafts- und alltagspolitischer Debatten, die
                                                                     Bereiche typischerweise relativ schnell modernisiert und in
auf weitere Deregulierung und Fragmentierung orientieren,
                                                                     State-of-the-Art-Technologien integriert. In der Tat wird oft
um wahlweise den betrieblichen, regionalen oder nationalen
                                                                     übersehen, dass die flexible Fragmentierung und transnatio-
                                                                     nale Rekombination von Arbeitsprozessen auf ihrer weitge-
   10 „Talente“ oder „typisch-weibliche Charakteristika“ reichen     henden technologischen und organisatorischen Standardisie-
hier von besonderer Einfühlsamkeit oder „schlanken Fingern“ bis      rung beruht (Hürtgen et al., 2009; Contractor et al., 2010;
zur „Freude am Nähen“ (ebd.); dabei wird an entsprechende Kon-       Will-Zocholl, 201712 ). Dieser „Aufwertungsprozess“ bein-
struktionen weiblicher Arbeiterinnen als „maidens“ bzw. „Haus-       haltet auch die Verlagerung von stärker „qualifizierten“ Ar-
frauen“ angeknüpft (Mies, 1997; Lee, 1998).                          beitsfunktionen der Koordinierung, Überwachung, Wartung
   11 „Der überwiegende Trend zu höheren Qualifizierungsanfor-
derungen dürfte dazu führen, dass Erwerbspersonen, die zu ei-            12 „The relationship between globalisation and standardisation is
ner Höherqualifizierung nicht bereit oder fähig sind, kaum mehr      reciprocal. On the one hand, standardisation enables a global divisi-
geeignete Arbeitsplätze finden [. . . ]. [Nicht wenige, SH] Perso-   on of labour by dividing work into individual pieces of processing;
nen sind [. . . ] mit den Weiterqualifizierungsmaßnahmen überfor-    on the other hand, globalisation enforces standardization to adjust
dert“ (Wilke, 1999:245; ähnlich Kern und Schumann, 1984:19 ff.).     processes across the globe“ (ebd.:82).

Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021                                                             https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021
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usw. in nah- und fernräumliche „Niedrigkostenregionen“           risch aufbereiteten Arbeits- und Produktionsergebnisse quer
(ebd.; Krzywdzynski, 2018). Allerdings führt die ökonomi-        durch die zunehmend komplexen transnationalen Produkti-
sche Modernisierung insgesamt nicht, wie lange Zeit auch         onsnetzwerke (Altmann und Deiß, 1998). Die digitale Stan-
wissenschaftlich erwartet, zu einem auch sozialen upgrading      dardisierung ist gewissermaßen die materiale Manifestation
der Produktion, d. h. zu einer auch nur relativen sozialen und   des verwertungslogischen upscaling der Produktionsorgani-
räumlichen Verallgemeinerung von reproduktionssichernden         sation. Sie erlaubt über Regionen, Länder und Kontinente
inklusiven Arbeitsbedingungen. Vielmehr entsteht das, was        hinweg die Kontrolle und Steuerung von ihrerseits flexibel-
Alain Lipietz (1997) die „vierte internationale Arbeitstei-      kurzfristig sozialräumlich aufgespaltener (Lohn-)Arbeit.
lung“ nennt und was wiederum ein multiskalares Phänomen             Digitale Standardisierung wirkt direkt in die Arbeitspro-
darstellt: eine weitgehende Standardisierung von Arbeitsab-      zesse hinein; sie schlägt sich beispielsweise als genorm-
läufen, Technologien, Normierungen und organisatorischen         te Technologie und Arbeitsplatzgestaltung nieder, umfasst
Strukturen bei nah- und fernräumlicher sozialer Aufspaltung      firmen- oder netzwerkweite vergleichende Optimierungs-
der Beschäftigten.                                               kampagnen und beinhaltet insbesondere transnationale For-
   Die zweite hier zentrale Dynamik betrifft die übergreifen-    mate zur permanenten vergleichenden Messung der Arbeits-
de technologische und organisatorische Modernisierung (we-       und Produktionsergebnisse. Hierbei werden die fragmentier-
sentlich Digitalisierung) auch und gerade in den ehemaligen      ten Arbeitsprozesse in Bezug auf Kosten, Effizienz, Flexi-
Zentren. Die Arbeitsforschung zeigt hier, dass fortgesetzte      bilität, Qualität oder Kundenzufriedenheit verglichen bzw.
Digitalisierung als Aufspaltung von Arbeitsbereichen in we-      konkurrieren direkt um vorgegebene Zielmargen und den
nige „hochqualifizierte“ und viele „einfache“, dequalifizierte   Zuschlag für (weitere) Investitionen gegeneinander, wie
Tätigkeiten erfolgt (Machacek und Hess, 2018). Davon be-         beim sog. benchmarking (Greer und Hauptmeier, 2015).
troffen sind insbesondere die klassischen „Kerne“ der Büro-,     Der konkurrenzielle Vergleich reicht bis hinunter zu den
Ingenieurs- und White-Collar-Arbeit in den kapitalistischen      einzelnen Produktionslinien, Arbeitsgruppen und individu-
Zentren, die in den letzten Jahren ihre Verwandlung in di-       ellen Arbeiter*innen. Er ist dort veralltäglichter Bestand-
gital taylorisierte „Klickwork“-Tätigkeiten der Softwarepro-     teil des Arbeitsprozesses, beispielsweise über aktuelle Soll-
duktion und Service-Dienstleistungen erlebten (ebd.). Diese      Ist-Visualisierung bereichs- und aufgabenbezogener Ar-
standardisierten Tätigkeiten sind wiederum besonders leicht      beitsergebnisse in den Produktionshallen, über regelmäßi-
sozialräumlich umzuorganisieren, beispielsweise in transna-      ge „Teambesprechungen“ zu ihrer Evaluation und Optimie-
tional strukturierten shared service centers zu konzentrie-      rung oder auch als digitalisiert-personalisierte Kontrolle ein-
ren oder umgekehrt wieder neu auf Standorte zu verteilen         zelner Arbeitsschritte (über Scanner, Beobachtungskame-
(aktuell beispielsweise in Richtung Portugal oder Rumä-          ras, digitale Brillen usw.). Hierbei werden nicht nur Para-
nien, Roque, 2018). Dabei ist in der Burawoy’schen Per-          meter wie „selbstverantwortliche“ Kostenersparnis, Output
spektive wichtig: Nicht (moderne) Technik oder die (neo-         und Qualität standardisiert und vermessen, sondern auch
taylorisierten) Tätigkeiten selbst, sondern die vergeschlecht-   die Bereitschaft zu flexiblen Arbeitseinsätzen, Pünktlich-
lichte politische Konstitution von (Lohn-)Arbeit ist entschei-   keit, Anwesenheitsraten oder Sauberkeit am Arbeitsplatz
dend. Neue Formen des (digitalen) Despotismus (Pfeiffer,         werden numerisch aufbereitet und schlagen sich beispiels-
2017) entstehen aufgrund einer hierarchischen Konstituti-        weise in der (gekürzten) Auszahlung variabler Lohnbe-
on als gesellschaftlich minderwertige Tätigkeit, die als sol-    standteile nieder (Hürtgen et al., 2009; Staab und Gesch-
che vermeintlich keiner starken sozialpolitischen Absiche-       ke, 2020). Digitale Zentralisierung erlaubt, in einem Wort,
rung bedarf. Dies gilt für die despotisierten Arbeitsregime      die Durchsetzung einer transnationalen konkurrenziellen
der Zulieferer- oder Logistikbranche ebenso wie für die „de-     Steuerung, einer veralltäglichten, permanenten Optimierung
qualifizierte“ Klick- und Servicearbeit, letztere nicht selten   durch konkurrenziellen Vergleich. Die competitive relati-
in Heimarbeit und oft von Frauen getätigt, typischerweise        ons zwischen den vielfach und multi-skalar aufgespaltenen
äußerst gering entlohnt, sozialpolitisch nicht abgesichert und   (Lohn-)Arbeitsprozessen und Arbeiter*innen erhalten so ei-
in ihrem rechtspolitischen Arbeitnehmer*innenstatus verun-       ne manifeste hierarchische unternehmenspolitische Form.
klart und vulnerabel (Huws, 2014; Benner, 2015).
   Die dritte zentrale Restrukturierungdynamik bezieht sich
auf den glokalen Steuerungs-, Kontroll- und Herrschaftsmo-       6   Die doppelte Konstitution von Despotie
dus in der Organisation der kapitalistischen Arbeits- und
Produktionsprozesse. In der eine Zeitlang vorherrschenden        Wir sehen an diesen Dynamiken, dass die glokale Aufspal-
Begeisterung über moderne „flache“ Netzwerkorganisatio-          tung in hegemoniale und despotisierte Arbeitsregime nicht
nen ist mitunter die zum Prozess zugehörige Zentralisie-         stabil ist, vielmehr erleben auch ehemals „starke“ hegemo-
rung von Kontrolle und Steuerung übersehen worden. Für           niale Regime eine (andauernde) Transformation. Burawoy
diese waren wiederum von Beginn an digitale Technologien         selbst hat dies früh und hellsichtig wahrgenommen und mit
entscheidend, denn diese Technologie erlaubt eine verglei-       Blick auf die gewerkschaftspolitisch nach wie vor starken
chende Messung und Zusammenführung der nunmehr nume-             Belegschaftsgruppen die Herausbildung eines hegemonial-

https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021                                                      Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021
268         S. Hürtgen: Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum

despotischen Regimes analysiert: „[I]n all advanced capitalist    (gewerkschafts-)politische Teilhabe verbreitet nicht mehr ge-
societies hegemonic regimes are developing a despotic face“       geben sind (ebd.; Paugam, 2008; Schröder und Urban, 2012).
(Burawoy, 1983:603). Anders gesagt: Hegemoniale Regime            Zugleich treibt das concession bargaining der hegemonial-
werden selbst despotisch.                                         despotisierten Belegschaften die sozialräumliche Fragmen-
   Dieser neue hegemoniale Despotismus ist nicht mit dem          tierung selbst mit voran, denn die Zugeständnisse für den
direkt feminisiert-despotischen gleichzusetzen. Das institu-      „Standorterhalt“, den „Produktionszuschlag“ usw. beinhal-
tionelle Repräsentationssystem ist intakt, die Beschäftigten      ten insbesondere auch die immer kleinteiligere Aufspaltung
und ihre Gewerkschaften sind nach wie vor in öffentliche          der Belegschaften selbst, d. h. die Akzeptanz von weiteren
Verhandlungen und Kooperationen eingebunden. Despotie             Aus- und Verlagerungen und weiteren Formen prekärer Be-
entsteht hier nicht aufgrund einer unmittelbaren Negation der     schäftigung zur Kostensenkung und Steigerung von Flexibi-
Reproduktionsinteressen der Beschäftigten.                        lität.
   Das Despotische entsteht vielmehr in dem, was Burawoy             Kurz: Wir haben es mittlerweile mit einer doppelten,
als „tying of the interests of workers to the fortunes of their   sich überschneidenden glokalen Form der Despotisierung
employers“ (ebd.:602 f.) beschreibt, und was direkt zur glo-      zu tun: der despotisch-hegemonialen und der feminisiert-
kalen Logik gegenwärtiger Produktionsorganisation zurück-         subalternisierten Form. Während sich in der feminisiert-
führt: Die fortgesetzte gewerkschaftliche Repräsentation und      subalternisierten Form und den hier typischen unmittelbar
Verhandlung erfolgt unter der (vermeintlich) unhinterfragba-      repressiven Arbeitsbedingungen (sowie deren nah- und fern-
ren Prämisse, die Konkurrenzfähigkeit des jeweiligen Unter-       räumlicher gesellschaftlicher Abspaltung) klassische sexisti-
nehmens, Betriebes, Standorts, Büros usw. nicht zu gefähr-        sche und neue neoliberal-autoritäre Politiken verbinden, er-
den, vielmehr (permanent) optimieren zu müssen. Das verall-       leben auch die vermeintlich integrierten Regime zwar keine
gemeinerte, hochskalierte, vermeintlich unangreifbare Ver-        institutionell diskursive, wohl aber eine soziale Abkopplung
wertungskalkül ist das hegemonial durchgesetzte Erforder-         ihrer (Lohn-)Arbeit von sozialintegrativen und politisch-
nis, in welches sich gewerkschaftliche Forderungen, auf allen     partizipativen Bedingungen. Auch hier variieren die Formen,
Scales, einschreiben (müssen). Gewerkschaftliche Koopera-         sie reichen von Erschöpfung und Entgrenzung bis zu weithin
tion und Mitsprache wird fortgesetzt, entwickelt sich aber        normalisierten Löhnen unterhalb des normal Reproduktions-
strukturell zum concession bargaining, d. h. zu einem Aus-        notwendigen.
handlungsprozess über die möglichst soziale Ausgestaltung            Beide despotische Regime sind nicht nur produktionssei-
der zu erhöhenden Konkurrenzfähigkeit, mit den sozialen           tig, sondern stets auch arbeits- und gesellschaftspolitisch ver-
Standards als flexibler Ressource. Lohnarbeiter*innen wer-        fasst. Hier zeigt sich in Bezug auf die hegemoniale Des-
den so interessenpolitisch partikularisiert und geschwächt        potie (wiederum auf allen sozialräumlichen Scales inklusi-
und die konkreten Arbeitsbedingungen grundlegend ver-             ve der europäischen), dass die fortgesetzte Einbindung von
schlechtert (vgl. Hudson und Sadler, 1986).                       Gewerkschaften in partikularisierende Konkurrenzimperati-
   In der Tat zeigt die Arbeitsforschung eindrücklich, dass       ve das downscaling sozialer Rechte allenfalls moderieren,
sich auch die ehemals fordistisch-hegemonialen „Kernbe-           nicht aber verhindern kann (Bieling und Schulten, 2001).
legschaften“ unterhalb der formal fortexistierenden Norma-        In Bezug auf die repressiv-feminisierte Despotie wird von
lität in einem tiefgreifenden Krisenmodus befinden (Swee-         den Nationalstaaten und der EU die Prämisse von workfa-
ny und Holmes, 2013; Warren, 2019). Das downscaling               re und employability vorangetriebenen, d. h. die unterneh-
arbeitspolitischer Kompromissbildung zur Verfasstheit von         merische Anwendungsperspektive von Arbeitskraft zur neu-
Arbeit bei gleichzeitigem upscaling ihrer unternehmerisch-        en Grundlage von Sozialpolitik erklärt (Peck und Theodore,
profitlogischen Vermessung kann auch die ehemals starken,         2015). Beide Despotisierungs-Dynamiken überkreuzen sich
hegemonialen „Kerne“ nicht mehr stabilisieren: Die Zer-           und fließen im betrieblichen wie gesellschaftlichen downsca-
klüftung tariflicher und sozialer Standards schreitet fort, so-   ling sozialer Rechte und der stets auf neue Weise ungleichen
ziale Zugeständnisse sind häufig, Niedriglohn breitet sich        sozial- und arbeitspolitischen Fragmentierung von (Lohn-
auch für „normal Beschäftigte“ aus, vermeintlich befristete       )Arbeiter*innen zusammen.
„Extra-Anstrengungen“, d. h. Arbeitsintensivierungen und -
extensivierungen, werden in immer neuen Kampagnen und
Zielmargen zur Regel, ohne dass sie die mehr oder weni-           7   Feminisierung und Krise im transnationalen Raum
ger dauerhafte Bedrohung durch Schließung, Verlagerung,               der (Lohn-)Arbeit
Kundenverlust usw. perspektivisch anhaltend zurückdrän-
gen könnten (Detje et al., 2011; Hürtgen und Voswinkel,           Ausgangspunkt dieses Beitrages war die These, dass ei-
2014; Dunkel und Kratzer, 2016). Hinzu kommen kosten-             ne raumsensible Auseinandersetzung mit der ökonomischen
kalkuliert knappe Personalressourcen und permanente orga-         und sozialen europäischen Gegenwartskrise auch auf den
nisatorische Umstellungen, die auch für die Hegemonial-           Formwandel kapitalistischer Arbeits- und Produktionsorga-
Despotisierten zu Entgrenzung und Erschöpfung führen, so          nisation fokussieren muss. Ich habe dann über mehrere Ar-
dass gesellschaftlich „normale“ soziale Reproduktion und          gumentationsschritte die gegenwärtige glokale sozialräum-

Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021                                                       https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021
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liche Form europäischer Produktionsorganisation dargelegt                gesellschaftlicher Partizipation wird nun generell in Frage
und als flexibel transnational- fragmentierendes Produktions-            gestellt und auseinandergerissen. Unterhalb der fortbestehen-
regime qualifiziert. Ihr Kern ist das upscaling profitlogischer          den institutionalisierten Normalität verliert Arbeit ihren Sta-
Vermessung, Kontrolle und Steuerung der Lohnarbeitspro-                  tus als (zuvor patriarchal ungleich strukturiertes) Medium
zesse, während die reproduktiven Dimensionen von (Lohn-                  sozialer Integration und gesellschaftlicher Bedeutsamkeit14 .
)Arbeit multi-skalar fragmentiert und in immer neuen sozi-               Stattdessen wird sie privatisiert, d. h. in die Dimension eines
alräumlichen Konstellationen konkurrenziell gegeneinander-               vereinzelt zu erledigenden, in seiner „employability“ quanti-
gestellt werden. Die soziale Krise der Arbeit ist dieser glo-            fiziert vermessenen Jobs gedrängt (Pulignano, 2017). Ob und
kalen Form als Dynamik funktionaler Integration bei sozi-                wie Jobs eine leiblich-soziale Reproduktion von Lebenskraft
alräumlicher Desintegration inhärent; die dynamische desin-              (Kerstin Jürgens) erlauben und wie (Lohn-)Arbeit gestaltet
tegrative Aufsprengung und konkurrenzielle Relationierung                ist, erscheint immer weniger als öffentlich-allgemeine, wird
von Arbeitsprozessen und Arbeitsbedingungen treibt ihre                  vielmehr zur Privatangelegenheit jedes/r Einzelnen. Dies ist
betriebs- wie gesellschaftspolitische Despotisierung voran.              nicht nur dort der Fall, wo Löhne die normal-soziale Re-
Dabei erleben auch die hegemonial-despotisierten Regime                  produktion nicht (mehr) sichern, sondern auch dort, wo
eine auf Dauer gestellte Krisen- und Ausnahmesituation, die              Dauerkrise und „schlanke“ (Personal-)Ressourcen Erschöp-
sie nur relativ von den hochgradig entsicherten Beschäftigten            fung, „Stress“ und den Rückzug auf pure „private“ Erholung
und subaltern-despotisierten Arbeiter*innen unterscheidet.               produzieren und kollegiale Kommunikation und kritisch-
   Ich will im Ausblick des Beitrages auf den eingangs an-               eingreifende Mitsprache mindestens deutlich erschweren.
gesprochenen Zusammenhang der vergeschlechtlichten Kon-                     Zusammen mit dieser Abdrängung von (Lohn-)Arbeit als
struktion von Hegemonie und Despotie zurückkommen und                    „öffentliches Gut“ (Castel) verschärft sich ihre ebenfalls aus
damit auf Verschiebungen des gesellschaftlichen Stellen-                 der Konstitution von „Weiblichkeit“ bereits bekannte dis-
werts von (Lohn-)Arbeit insgesamt.                                       kurspolitische Naturalisierung. Hier gibt es einmal ein ro-
   Für den fordistischen Wohlfahrtskapitalismus hat Ro-                  mantisierendes und zugleich individualisierendes Narrativ,
bert Castel (2000) ausführlich gezeigt, wie der Ausbau so-               das besonders auf modern-digitalisierte Tätigkeiten zielt und
zialpolitischer Rechte und Infrastrukturen auf der Grund-                die Arbeit als das Ausleben besonderer intrinsischer Nei-
lage einer inhaltlichen Neubestimmung von (Lohn-)Arbeit                  gungen und Talente oder einer nicht weiter zu begründen-
erfolgt. Diese wandelt sich vom einzeln zu erledigenden                  den Lust an Spiel und Spaß beschreibt (Ferrer-Conill, 2018),
und privat-zufällig zu entlohnenden Tagwerk hin zu ei-                   vergleichbar der diskursiven Konstruktion weiblicher Ar-
ner gesellschaftlich-allgemeinen und also öffentlich (sozi-              beit in der Textilindustrie als vermeintliche „Freude am Nä-
alrechtlich) auszugestaltenden Angelegenheit (ebd.13 ; Lin-              hen“ (s. o.). Eine der Konsequenzen ist erneut, dass die so
hart, 2008; Hürtgen, 2017). Demgegenüber bleibt, wie dis-                als individuelle Selbst-Verwirklichung atomisiert konstruier-
kutiert, feminisiert-despotisierte (Lohn-)Arbeit auch im Zu-             te (Lohn-)Arbeit (vermeintlich) auch nur als Zuverdienst ent-
ge der postfordistischen Reskalierung nicht nur sozialpoli-              lohnt werden muss (Spamgirl, 2015). Zum zweiten aber wird
tisch, sondern auch gesellschaftspolitisch eine randständige,            die Naturalisierung von Arbeit in ihrer repressiven Gestalt
ja: vorgesellschaftliche Größe.                                          entlang des glokalen europäischen Workfare-Regimes radi-
   Wenn nun aber die sexistischen Abspaltungen nicht mehr                kalisiert und verallgemeinert. Die vermeintlich zurückblei-
solide stabilisiert werden können, die Grenzen zwischen                  benden oder defizitär veranlagten Randgruppen sind nun oft-
betrieblicher Hegemonie und Despotie sozialräumlich im-                  mals auch als unwillens und undiszipliniert gezeichnet, was
mer neu gezogen und dabei unscharf werden und sich die                   in dieser Logik entsprechende staatliche Maßnahmen ge-
Despotisierung in die (ehemals) hegemonialen Positionen                  genüber den offenbar beschränkten Individuen erforderlich
hinein verallgemeinert – dann wird auch der vormals ge-                  macht. Die Ansiedlung feminisierter (Lohn-)Arbeit im Vor-
sellschaftliche Stellenwert hegemonialer (Lohn-)Arbeit an-               Gesellschaftlichen begegnet uns hier wieder als die umfas-
gegriffen. Mit Blick auf entsprechende wirtschaftsgeogra-                sende repressive Vereigenschaftung sozialer Gruppen, näm-
phische Diskussionen (Phillips und Taylor, 1980; McDo-                   lich als in Bezug auf ihre Arbeitswilligkeit andersartig und
well, 1991; Trauger und Fluri, 2019) kann die hier dis-                  das Ökonomische potenziell gefährdend.
kutierte doppelte Despotisierung von Arbeit entsprechend                    Diese Naturalisierung bzw. Kulturalisierung des Sozia-
als ihre Feminisierung verstanden werden. Der vormals                    len ist bekanntermaßen selbst Bestandteil einer neoliberalen
bestehende (wenngleich patriarchal begrenzte) Zusammen-                  ideologischen Formierung, die massive Verarmung, Desinte-
hang zwischen (Lohn-)Arbeitsverausgabung und politisch-
                                                                            14 Die in der Corona-Krise entstandene Debatte zur „Systemrele-
  13 „Der Arbeitsunfall ist beispielsweise nicht einfach ein Un-         vanz“ (reproduktiver) Arbeitsbereiche bekräftigt die Bedeutung des
glücksfall, der einem Arbeiter zustößt. Er ist auch eine gesellschaft-   gesellschaftlich-inhaltlichen Status von Arbeit für ihre sozialrecht-
liche Tatsache, hinsichtlich derer die Vertreter des Allgemeininter-     liche Absicherung, kann aber als Gegenstand nicht mehr in diesem
esses sich fragen müssen, ob sie hinnehmbar ist, und wenn ja zu          Beitrag diskutiert werden (vgl. erste Analysen hierzu: Aulenbacher,
welchen Kosten und in welcher Form“ (Castel, 2011:262).                  2020; Detje und Sauer, 2021:51 ff.).

https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021                                                                 Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021
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