Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum - GH
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supported by Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021 © Author(s) 2021. This work is distributed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum Stefanie Hürtgen Fachbereich Geographie und Geologie, Universität Salzburg, Hellbrunnerstraße 34, 5020 Salzburg, Austria Correspondence: Stefanie Hürtgen (stefanie.huertgen@sbg.ac.at) Received: 10 September 2019 – Revised: 14 January 2020 – Accepted: 21 January 2021 – Published: 11 June 2021 Kurzfassung. The article discusses the glocalized socio-spatial form of European production as socially crisis- ridden. Combining literature from transnational production network theory, critical political economy, labour process theory and feminist geography the article shows that a European production regime has developed which is based on the transnationalization of economic and competitive parameters on the one hand and multiscalar social fragmentation of labour processes on the other. Its very logic is, hence, functional economic integration based on labour’s socio-spatial disintegration. The regime pushes for what we can call the feminization of work because it systematically cuts the former, patriarchal and uneven connection between waged work and socio- political integration. As feminist debates show, progressive perspectives have to be transnational and multiscalar and they have to include fundamental questions about the concept and status of work in society. 1 Einleitung Leerstelle Scheuplein, 2015; als Ausnahmen s. Zeller, 2008; Heeg, 2014). Die anhaltende ökonomische und soziale europäische Krise Was in der Diskussion bislang fehlt, das ist eine sys- steht im Zentrum vieler wirtschafts- und sozialgeographi- tematische raumsensible Analyse des Formwandels eu- scher Beiträge – auch im deutschsprachigen Diskussions- ropäischer (Lohn-)Arbeits- und Produktionsorganisation. raum (Klagge, 2009; Belina, 2011; Scheuplein und Wood, Bob Jessop (2012:94) erinnert daran, dass es keine kapi- 2011; Zeller, 2011; Boeckler und Berndt, 2013; Musil, 2013; talistische Produktionsweise als solche gibt. Kapitalistische Petzold, 2018; Mießner, 2018; Oßenbrügge, 2018). Betrach- Verwertungskalküle und die Praktiken der Ausbeutung von tet man diese Debatte allerdings näher, ist auffällig, dass (Lohn-)Arbeit bestehen in verschiedenen räumlichen und die soziale Konstitution von Arbeits- und Produktionsprozes- zeitlichen Formationen oder „sozialen Formen“, wie es die sen kaum vorkommt. Schwerpunkte sind die Rolle von Fi- frühe Regulationstheorie in Anschluss an Marx bezeichnet nanzinvestitionen und -spekulationen, Akkumulation durch hatte (Aglietta, 1976). In der geographischen Debatte steht Enteignung und Inwertsetzung vormalig öffentlicher Güter eine genauere Betrachtung der gegenwärtigen sozialräum- (beispielsweise im Bereich Wohnen) oder die kommunalen, lichen Formen europäischer Produktionsdynamiken bislang staatlichen und europäischen Austeritätspolitiken. Dagegen aus. Sie ist allerdings dringend, so der Einsatz dieses Bei- bleiben Beiträge zu krisenhaften Konfigurationen von (Lohn- trages, um über jeweilige akute Zuspitzungen hinaus („Grie- )Arbeit1 vereinzelt: Mitunter gibt es Bezüge zur Soziolo- chenlandkrise“, „Finanzkrise“, aktuell „Coronakrise“ usw.) gie (Prekarisierung, Abstiegsgesellschaft, wachsende soziale die strukturelle Krisenhaftigkeit von (Lohn-)Arbeit in den Ungleichheit u. a.; exemplarisch: Runkel und Everts, 2017), Blick zu nehmen, das heißt ihre auf Dauer gestellte, nor- aber diese sind oft wenig theoretisch verdichtet (zu dieser malisierte Abdrängung als Medium sozialer Integration und gesellschaftlicher politischer Partizipation. Diese strukturelle 1 Ich schreibe mitunter von (Lohn-)Arbeit, um auf die Un- Krisenhaftigkeit ist der gegenwärtigen sozialräumlichen Ver- terschiedlichkeit abhängiger Erwerbsarbeit aufmerksam zu ma- fasstheit europäischer Produktionsorganisation inhärent; sie chen; diese kann bekanntermaßen auch informalisierte Formen von ist ihr nicht äußerlich, wie es Diskussionen zu den „Überflüs- (Schein-)Selbständigkeit, Praktika etc. umfassen. Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
262 S. Hürtgen: Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum sigen“ nahegelegt hatten (Bude, 2002), und wie es neolibe- lichter hegemonialer und despotischer Arbeitsregime. Diese rale Diskurse behaupten, die begrifflich die gesellschaftliche glokale Dynamik wird sichtbar, wenn unterschiedliche theo- Teilhabe von Arbeiter*innen auf eine Teilhabe am Arbeits- retische Diskussionsstränge zusammengeführt werden – na- markt bei weitgehender Ausblendung der Arbeitsbedingun- mentlich die der globalen und europäischen Wertschöpfungs- gen verschieben. ketten bzw. Produktionsnetzwerke (Gereffi, 1996; Coe und Im Beitrag analysiere ich die sozialräumliche Form eu- Yeung, 2015), die Diskussion zur neuen internationalen bzw. ropäischer Produktionsdynamiken und diskutiere ihre Ar- regionalen Arbeitsteilung (Fröbel et al., 1977; Massey, 1984) beit entsichernde und desintegrierende Dynamik. Ich spreche und arbeitssoziologische Debatten zur Fragmentierung und von einem flexibel transnational-fragmentierenden Produkti- Prekarisierung von (Lohn-)Arbeit. onsregime, das (Lohn-)Arbeit systematisch von den arbeits- In Kapitel 4 wird auf die Dimension der staats- und und reproduktionsbezogenen Grundlagen ihrer gesellschaft- gesellschaftspolitischen, vergeschlechtlichten Marginalisie- lichen Integration abtrennt. Es entsteht eine Logik funktiona- rung von Arbeit abgehoben, und in Kapitel 5 werden Formen ler (ökonomischer) Integration bei sozialräumlicher Desin- der permanenten Restrukturierung und der digitalen Steue- tegration, die in Anschluss an entsprechende Diskussionen rung der Produktion in ihrer Bedeutung für die Krisenhaftig- auch als Feminisierung von (Lohn-)Arbeit bezeichnet wer- keit von (Lohn-)Arbeit insgesamt, d. h. sowohl für die des- den kann. potischen wie die hegemonialen Arbeitsregime, herausgestri- Die Argumentation wird entlang von drei aufeinander auf- chen. Beides, dauerhafte technologische und sozialräumli- bauenden theoretischen, jeweils auch empirisch illustrierten che „Optimierung“ wie auch der permanente (digitale) kon- Schritten entwickelt, die zugleich eine Zusammenführung kurrenzielle Vergleich, vervielfachen und dynamisieren nicht disziplinär oft getrennter Debatten beinhalten: nur die sozialräumlichen Fragmentierungen, sondern führen Im folgenden Kapitel stelle ich das aus der Labour Pro- insbesondere auch zu einer sozialpolitischen Destabilisie- cess Theory stammende Konzept der despotischen bzw. he- rung der lange Zeit als geschützt angesehenen „Kernbeleg- gemonialen factory regimes von Michael Burawoy (1985) schaften“. Dies wird genauer im 6. Kapitel ausgeführt, wo vor. Für die weitere Betrachtung ist seine konzeptionelle ich – wiederum in Anlehnung an Burawoy – von doppel- Unterscheidung zwischen „Hegemonie“ und „Despotie“ im ter Despotisierung spreche. Kapitel 7 führt die Überlegungen Betrieb zentral. Zugleich müssen Burawoys Ansätze verge- mit Blick auf den gesellschaftlichen Stellenwert von Arbeit schlechtlicht und verräumlicht werden (Lee, 1998), erst dann zusammen. gerät die auch für die weitere Analyse grundlegende doppelte Konstitution von Hegemonie und Despotie innerhalb der Be- 2 Die doppelte und politische Konstitution von triebe und Unternehmen, sowie ihre skalare Dynamisierung Despotie und Hegemonie im Betrieb und ihre Relation zueinander, in den Blick. In Kapitel 3 ist das zentrale Argument, dass die (verge- Für die Analyse des sozialräumlichen Formwandels euro- schlechtlichte) Ko-Konstruktion von hegemonialen und des- päischer Produktion erweist sich das von Michael Bura- potischen (Lohn-)Arbeitsregimen selbst von ihrer fordisti- woy (1985) entwickelte Konzept der factory regimes als schen Form aus dynamisch reskaliert, d. h. glokalisiert wird. fruchtbarer Ausgangspunkt. Es beinhaltet zwei direkt zu- Mit Glokalisierung ist nicht, wie in der Debatte vielfach sammenhängende Dimensionen kapitalistischer Produkti- betont, die „Auflösung“ des Nationalstaatlichen zugunsten on: Erstens den unmittelbaren Arbeitsprozess (verstanden der lokalen bzw. globalen Scale gemeint (Brenner, 2001; als Gesamtheit der koordinierten, hierarchisierten und zu- Swyngedouw, 2004; Wissen, 2008; MacKinnon, 2011). Viel- gleich umkämpften Tätigkeiten und sozialen Beziehungen mehr bezeichnet der Begriff die sozialräumliche Aufspren- zur profitorientierten Umwandlung von Rohstoffen in End- gung nationaler und subnationaler Vergesellschaftungszu- produkte) und zweitens den political apparatus of produc- sammenhänge als Bestandteil und Form ihrer Globalisierung tion, d. h. wirtschafts- und sozialpolitische Institutionen, bzw. in der vorliegenden Analyse: Europäisierung. Der Na- Normen und Regularien. Gegen (marxistische) ökonomis- tionalstaat bleibt dabei einerseits (z. B. in der Ausgestaltung tische Orthodoxien betont Burawoy, dass der Produktions- von Arbeitsgesetzen) zentral, verliert aber insgesamt die Po- prozess selbst politisch ist, er ist politics of production: Die sition als dominante Scale (Jessop, 2002). Eben diese Dyna- staats- und gesellschaftspolitischen Institutionen regulieren mik der Glokalisierung ist grundlegend auch für den Form- und strukturieren die betrieblichen Abläufe und Auseinan- wandel von (Lohn-)Arbeit und Produktion. Das europäische dersetzungen und werden umgekehrt von dort aktiv mit re- Produktionsregime ist gekennzeichnet von verwertungslogi- produziert und dabei auch verändert. Zeitlich und geogra- scher Transnationalisierung der Produktionsorganisation ei- phisch unterscheidet Burawoy vor allem zwei idealtypische nerseits (Europäisierung von Profit- und Marktkalkülen so- factory regimes2 : Erstens das despotische, das er als den Pro- wie von Überwachungs- und Kontrolltechniken) und von dy- totyp der Marx’schen Analyse bezeichnet (ebd.: 88) und das namischer multi-skalarer sozialräumlicher Fragmentierung der Arbeitsprozesse andererseits, und das ist die permanen- 2 Burawoy hat international weitere Regime bestimmt, die aber te Aufsprengung und Neuzusammensetzung vergeschlecht- in der Debatte randständig blieben. Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021
S. Hürtgen: Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum 263 von geringer sozialpolitischer Regulierung und deshalb von tens schließlich, und hier von besonderer Wichtigkeit, muss hoher Marktabhängigkeit der (Lohn-)Arbeiter*innen sowie das bei Burawoy letztlich mono-skalare, auf die national- deren weitgehende Unterordnung unter die kapitalseitigen staatliche Ebene bezogene Konzept des factory regimes so- Produktionsanforderungen gekennzeichnet sei. Das zweite, wohl nach innen (in den Betrieb und Nationalstaat hinein) hegemoniale Regime dagegen versteht Burawoy als kenn- wie nach außen (über nationale und kontinentale Grenzen zeichnend für den fortgeschrittenen (fordistischen) Wohl- hinweg) aufgebrochen, d. h. multi-skalarisiert werden. fahrtskapitalismus. Hier sind die Lohnabhängigen sozial re- Die Notwendigkeit der Multiskalarisierung wird mit ei- lativ abgesichert und können interessenpolitisch machtvoll nem kurzen Blick zurück auf die für Burawoy konzeptio- auftreten. Entsprechend muss das Management sie einbin- nell zentrale fordistische Wohlfahrtsära deutlich. Diese war den, oder wie Burawoy sagt, „überzeugen“. Die fortgesetzte in der Tat von bis dahin beispielloser arbeitspolitischer recht- prinzipielle Unterordnung der Arbeiter*innen unter kapita- licher Infrastruktur gekennzeichnet, vorangetrieben nicht zu- listische Anforderungen im Lohnarbeitsprozess erfolgt des- letzt durch soziale Auseinandersetzungen bis hin zur eu- halb als Aushandlung seiner konkreten zeitlichen, stofflichen ropäischen Streikwelle 1968. Im Ergebnis herrschten im und sozialen Ausgestaltung entlang einer dann auch von den Facharbeitsbereich oftmals ein ruhiger, teilweise selbstbe- Arbeiter*innen getragenen Kompromissbildung3 . Später er- stimmter Arbeitsrhythmus, soziale Beziehungen zum Ma- gänzt Burawoy das hegemonial-despotische factory regime, nagement, die durchaus auch von Anerkennung der geleis- wo aufgrund arbeitspolitischer Partikularisierung die nach teten Arbeit geprägt waren, und es bestand insbesondere wie vor konsensual ausgerichtete Aushandlung zur Konzes- ein wechselseitiges Wissen um soziale und gewerkschaft- sionspolitik wird (Burawoy, 1983). Ich konzentriere mich im liche Rechte und ihre mögliche wirkungsvolle Inanspruch- Folgenden auf die ersten beiden Regime und komme am En- nahme (Beaud und Pialoux, 2004). Allerdings stand dieser de auf das hegemonial-despotische zurück4 . hegemonialen Position noch ein ganz anderes betriebliches Burawoys relationale Perspektive einer historisch und Regime zur Seite, das nicht nur Burawoy ausblendet, son- räumlich spezifischen (gesellschafts-)politischen Verfasst- dern das konzeptionell-rückblickend generell oft „verges- heit kapitalistischer Arbeitsprozesse ist anschlussfähig und sen“ wird (Hürtgen 2015): Der Bereich der sog. „unquali- instruktiv für die weitere Analyse des europäischen Produk- fizierten“, typischerweise weiblichen und migrantischen Ar- tionsregimes. Allerdings sind dafür auch Brüche und Wei- beit, paradigmatisch angesiedelt in der taylorisierten Mas- terentwicklungen nötig. Für den vorliegenden Zusammen- senfertigung (Castles und Kosack, 2010 [1972]). Die Lite- hang muss erstens die mit seinen Konzepten verwobene Ent- ratur zeigt hier ein beeindruckendes Maß an Politiken ent- wicklungslogik (von despotischen Regimen in „früheren“ subjektivierender Unterordnung und despotisierender Objek- hin zu hegemonialen in „fortgeschrittenen“ kapitalistischen tivierung (exemplarisch Bednarz-Braun, 1983; Aulenbacher, Gesellschaften) aufgelöst werden (Lee, 1998:160 ff.; Ngai, 1991): Soziale Rechte blieben dem Status willkürlicher per- 2005). Zweitens ist der vor allem staatspolitischen Perspek- sönlicher Genehmigung verhaftet, sexistische und rassisti- tive Burawoys die Dimension der gesellschafts- und dabei sche Übergriffe waren an der Tagesordnung, und interessen- auch alltagspolitischen hinzuzufügen (Massey, 1994). Drit- politische Repräsentation war typischerweise nicht vorhan- den. Sozialräumlich waren die zwei Regime hochgradig po- 3 Es kann hier nicht diskutiert werden, dass Burawoy die sozi- larisiert und von einer sozialen Relation der Unnahbarkeit alpolitische Absicherung von Beschäftigten zugleich als umfassen- innerhalb der Fabrik gekennzeichnet5 . de ideologische Entpolitisierung zeichnet: Statt die Frage nach der Der kurze Exkurs zeigt die systematische (nicht histori- Überwindung des Kapitalismus zu stellen, führten die Belegschaf- ten nunmehr nur noch „Spiele“ mit dem Management um kleinteili- sche) Notwendigkeit, Vergeschlechtlichung der factory regi- ge Arbeitsverbesserungen (Burawoy, 1979:46 ff.). Der Autor unter- mes, bzw. wie ich sie im Folgenden bezeichne: Arbeitsregime nimmt hier eine folgenschwere Trennung zwischen angeblich weni- in die Analyse einzubeziehen. Scale zielt analytisch auf die ger wichtigen „kleinen“ Fragen alltäglichen Lebens und Arbeitens sozialräumlich ungleiche Reichweite von Normen, Regulari- einerseits und den vermeintlich „großen“ Systemfragen. Dieser tra- en und Institutionen, d. h. auf das Ensemble strukturell un- ditionsreichen Dualisierung von „klein“ und „groß“, von „Lebens-“ gleicher Repräsentation (Herod, 2011). Dies zieht mit Blick und „Systemveränderung“ muss mit Verweis auf feministische De- auf (Lohn-)Arbeit eine zweifache Fragestellung nach sich: batten widersprochen werden (Becker-Schmidt, 2017). einmal die nach der Reichweite progressiver Normen und Re- 4 Das Konzept der factory regimes ist in der labour geography gularien, beispielsweise sozialer und politischer Rechte, in- als Local Labour Control Regime (LLCR) adaptiert worden (Jonas, nerhalb einer Hegemonie staatlich abgesicherter Kapitalver- 1996; Helms und Cumbers, 2006; Pattenden, 2016). Wie allerdings wertung – und zweitens die Frage nach dem gesellschafts- Hasting und MacKinnon (2017) richtig feststellen, kann die Kon- zeption des Lokalen als relativ kohärent nur ungenügend die auf allen Scales vorangetriebene Fragmentierung von Arbeitsprozessen 5 Dort, wo während der Welle migrantischer und Frauenstreiks und Arbeiter*innen fassen. Jüngere Versuche, das LLCR zu multi- in den 1970er Jahren die Grenzen dieser „getrennten Welten“ von skalieren, sind wiederum eher (staats-)politisch ausgerichtet (Smith Fabrikhalle und Büro bzw. Werkstatt überschritten werden konnten, et al., 2018), während ich selbst direkt auf die (Neu-)Konfiguration ist dies als große Bereicherung und Ermächtigung geschildert wor- von Arbeit und Produktion fokussiere. den (Annie und Werner, 1975; McDowell et al., 2014). https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021 Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021
264 S. Hürtgen: Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum und alltagspolitisch Nicht-Repräsentierten, nach sozialen nagementseitigen „Optimierungsstrategien“ neu zu kombi- Formen, Praxen und auch subjektiven Orientierungen der nieren8 . Desintegration, Verdrängung und Abspaltung aus dem als Räumlich ist die Aufspaltung und flexible Rekombinati- allgemein deklarierten Hegemonialen (Swyngedouw, 1997; on der Produktion (und damit: der Arbeitsprozesse) zutiefst Werner et al., 2017). So muss die Analyse von Arbeitsregi- multiskalar. Wir sehen dies, wenn wir drei zentrale Debatten men auch mit der hierarchischen kapitalistischen Arbeitstei- über die paradigmatischen Veränderungen in der Produktion lung in ihrer grundlegenden sexistischen Aufspaltung in qua- und die räumlichen Dimensionen, auf die sie sich jeweils be- lifiziert/unqualifiziert, Kern/Rand sowie Gesellschaft/Natur ziehen, zusammenführen. Die erste Diskussion ist die rund zusammengeführt werden (Jenson, 1998). Die Integration um das Konzept der „Neuen Internationalen Arbeitsteilung“ von (Lohn-)Arbeiter*innen-Interessen in hegemonialisierte (Fröbel et al., 1977). Diese befasst sich mit Restrukturie- Normen, Regeln und Institutionen ist entsprechend mit der rungsprozessen auf inter-nationaler Ebene, nämlich mit der Frage nach der „dunklen Seite“6 dieser hegemonialen Kon- Aus- und Verlagerung des eben skizzierten „unqualifiziert“- stellation zu verbinden, d. h. mit der Frage nach sexistischer weiblich-migrantischen Low-end-Bereich der Produktion in und (hier immer nur am Rande behandelter) rassistischer den Globalen Süden; der Globale Süden wurde dabei von Despotisierung von Arbeit (McDowell, 1991). Anfang an auch als europäischer Süden verstanden, er um- fasste auch Länder der europäischen Peripherie wie Spani- en oder das damals staatssozialistische Ungarn (ebd.; Frank, 1982). Die zweite räumliche Dimension in der Diskussion 3 Sozialräumliche Ungleichheit und transnationale veränderter Produktionsstrukturen ist die regionale, paradig- Restrukturierung matisch festgemacht am Konzept der „Spatial Division of La- bor“ (Massey, 1984). Auch hier geht es um die sozialräumli- Mein Vorschlag ist, die mit dem Ende der fordistischen che Desintegration der zumeist weiblichen sog. Einfachfer- Wachstumsphase vorangetriebene Transnationalisierung von tigung, nun allerdings in Richtung der inneren Peripherie Produktion als Reskalierung von Arbeitsregimen, genau- der europäischen Zentrumsländer: strukturschwache Regio- er: ihrer hierarchisch-vergeschlechtlichten Ko-Konstitution nen mit geringer gewerkschaftlicher Tradition und hoher Ar- zu begreifen. Die idealtypisch unterschiedenen despotischen beitslosigkeit (Lewis, 1983). Die dritte sozialräumliche Di- und hegemonialen Regime stehen hierbei auf allen Scales mension ist geprägt von der arbeitssoziologischen „Fragmen- von lokal bis europäisch7 einerseits in einem polarisierten, ting Work“-Debatte, d. h. Analysen der Fragmentierung, Pre- sexistisch geframten sozialräumlichen Verhältnis zueinan- karisierung und Informalisierung von Arbeit in den Betrie- der, das andererseits einer permanenten sozialräumlichen Re- ben, Produktionshallen und Abteilungen (Marchington et al., strukturierung unterworfen ist, was (Lohn-)Arbeit insgesamt 2005; Castel und Dörre, 2009; Flecker, 2009). krisenhaft strukturiert. In der Zusammenführung dieser drei Debattenstränge wird Für ein Verständnis von transnationaler Produktion als sichtbar, dass die sog. „Globalisierung von Produktion“ nicht Reskalierung von Arbeitsregimen ist es notwendig, sich die einfach als räumliche Ausdehnung missverstanden werden paradigmatischen Veränderungen in der Organisation der ka- darf. In der Debatte wird zwar von der Herausbildung pitalistischen Produktion seit den späten 1960er Jahren in Er- „globaler Produktionsnetzwerke“ gesprochen (Gereffi et al., innerung zu rufen. Wie breit diskutiert, spiegeln diese Ver- 2005), diese sind aber räumlich besser als transnationa- änderungen einen verschärften globalen unternehmerischen le oder eben glokale Produktionsnetzwerke zu bezeichnen. Wettbewerb, strukturelle „Überakkumulation“, zunehmend Denn die „globale“ bzw. „europäische“ Konfiguration beruht disruptive und kurzfristige Markt- und Technologieentwick- gewissermaßen auf ihrem „Gegenteil“: der multiskalaren so- lungen und nicht zuletzt einen wachsenden Finanzsektor als zialräumlichen Aufspaltung von Lohnarbeitsprozessen – zum Katalysator dieser Phänomene wider (Schoenberger, 1988). Zwecke ihrer flexiblen Rekombination über Regionen, Län- Die paradigmatische Umbildung in der Produktion besteht der und Kontinente hinweg. darin, dass anstelle der relativ langfristigen fordistischen Fi- Mit Burawoy und den entsprechenden konzeptionellen Er- xierung des Kapitals in einer robusten und hochintegrierten weiterungen können wir diesen Prozess als postfordistische Produktion nun die Fähigkeit entscheidend ist, Produktions- Reskalierung zunächst einmal feminisiert-despotisierter Ar- und Arbeitsprozesse aufzuspalten, um sie kurzfristig nach 8 Organisatorisch kann zwischen interner und externer Segmen- den jeweiligen Marktbedingungen und entsprechenden ma- tierung unterschieden werden; interne Segmente sind firmeneige- ne, z. B. relativ budgetautarke Produktionsstandorte, Abteilungen oder Kostenstellen sowie kundenspezifische Produktionslinien, Ser- 6 Phelps et al. (2018): „An invitation to the dark side of economic vicecenter oder Arbeitsgruppen. Externe Segmentierung ist der geography“. Outsourcing-Prozess, d. h. die Übertragung von Dienstleistungs- 7 An dieser Stelle kann nur erwähnt werden, dass die europäi- und Produktionsfunktionen auf flexible und pyramidal orchestrier- sche Ebene ihrerseits Bestandteil einer globalen politökonomischen te Lieferanten (paradigmatisch: Womack et al., 1991). Beide sind Dynamik ist (vgl. hierzu Altvater und Mahnkopf, 1997). hochdynamisch und überschneiden sich. Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021
S. Hürtgen: Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum 265 beitsregime begreifen. Auf allen idealtypisch unterschiede- nem systematischen Bestandteil des konkurrenziellen Kal- nen Scales (international, regional, lokal-betrieblich) wird küls transnationaler Produktionsorganisation. Sie geht als ein feminisierter, „unqualifiziert“-taylorisierter Tätigkeitsbe- cost-capability-ratio in die sonstigen Technologie- und Mar- reich geschaffen. Die Montagearbeit der Elektronik- oder ketingstrategien ein und bleibt auch nicht, wie lange ver- Textilfertigung in den Weltmarktfabriken und Exportzonen mutet, auf bestimmte Branchen beschränkt (vgl. Yeung und des Globalen Südens stehen exemplarisch für diesen Pro- Coe, 2015; Selwyn, 2019). „Unqualifzierte“ Niedriglohnar- zess. Allerdings finden wir derartige Verhältnisse nicht nur beit wird so – multiskalar – von den Anforderungen inte- in Asien und Lateinamerika, sondern beispielsweise auch grativer sozialer Reproduktion weitgehend entkoppelt und, in Südosteuropa oder Polen sowie in den Regionen und worauf ich im nächsten Kapitel eingehe, aus dem Raum Betrieben der europäischen „Zentrumsländer“ (Maciejew- (gewerkschafts-)politischer Repräsentation und Öffentlich- ska, 2012; Selwyn et al., 2020)9 . Bei aller Verschieden- keit abgedrängt. heit entsteht auf den unterschiedlichen Scales ein femini- siertes Low-End, das von flexibilisierten Anstellungsformen, repressiven Arbeitsbedingungen, geringer sozialer Absiche- 4 Gesellschaftspolitische Marginalisierung von rung, sehr niedrigen, oft nicht reproduktionssichernden Löh- (Lohn-)Arbeit nen und einer de facto weitgehenden Abwesenheit gewerk- schaftlicher Repräsentation gekennzeichnet ist: In der Perspektive Burawoys ist diese sozialräumliche Dy- In den Ländern des europäischen Südens sind Wohlfahrts- namisierung und Reskalierung von feminisiert-despotisierter systeme bestenfalls ansatzweise entwickelt, die Löhne be- (Lohn-)Arbeit nicht einfach Resultat von Unternehmensstra- wegen sich insbesondere im Blue-Collar-Bereich auch für tegien, sondern nur politisch zu verstehen, als politics of pro- „Normalbeschäftigte“ und auch in modernen ausländischen duction. Produktionsfabriken verbreitet unterhalb des Reproduktions- Staatspolitisch ist deshalb ein Blick auf die gegenwär- notwendigen (Schipper, 2016; Drahokoupil und Fabo, 2019); tige Europäisierung und ihren Modus „neoliberal-negativer hinzu kommt direkte Repression gegen soziale Bewegungen Integration“ zentral (Altvater und Mahnkopf, 2007:63 ff.). und Gewerkschaften als verbreitetes Element der politics of Entscheidend ist, dass spätestens ab den 1980er Jahren ex- production. Regional, d. h. mit Bezug auf die inneren Peri- plizit auf eine länderübergreifende (europäische) Verallge- pherien der europäischen Zentren, treffen wir auf vergleich- meinerung von Sozialstandards verzichtet, vielmehr sozial- bare Problematiken, verstärkt durch den „new local des- räumliche Ungleichheit als „Wettbewerb“ stimulierende (und potism“ (Peck, 2002) post-wohlfahrtsstaatlicher workfare- so vermeintlich Prosperität schaffende) Vielfalt konzipiert Politiken, die bestehende soziale Rechte schwächen und (ex- wird. Während die Regularien für Investitionen, Kapital- tremen) Niedriglohn fördern. In den letzten Jahren stand hier transfer und (innerbetriebliche) Austauschbeziehungen ver- vor allem die Dienstleistungs- und Logistikbranche im Fokus allgemeinert, d. h. über die Nationalstaaten hinaus hochska- der Diskussion (Call Center, Paketdienste, Onlinehändler), liert („europäisiert“) werden, gilt für sozialpolitische Belan- aber auch die „einfachen“ Montagetätigkeiten klassischer ge das Subsidaritätsprinzip: sie bleiben national bzw. wer- Produktionsbereiche gehören hierzu (Maciejewska, 2012; den noch weiter dereguliert (flexibilisiert, lokalisiert usw., Hürtgen, 2019). Lokal-betrieblich schließlich zeigt die De- vgl. Agnew, 2001). Wie insbesondere Neil Brenner (2004) batte zur Fragmentierung und Prekarisierung von Arbeit und gezeigt hat, entsteht so eine europäische Formation von glo- Beschäftigung ebenfalls sowohl die wachsende Ungleichheit calizing competition states: Die internationale Aufsprengung in den nahräumlichen Arbeitsbedingungen (Hammer und Ri- sozialer Standards, ihre Deregulierung, ist die – auch vom isgaard, 2015), wie auch und damit zusammenhängend die Nationalstaat moderierte und vorangetriebene – Form, einer materielle und sozial- und gewerkschaftspolitische Vulnera- länderübergreifend hochskalierten, in den strategischen Kal- bilisierung breiter Teile der Beschäftigten (Pulignano, 2017; külen der transnationalen Konzerne angesiedelten und von Schmalz und Sommer, 2019). diesen sowie den europäisierten Staatsapparaten durchge- Glokal entsteht so eine Akkumulationsdynamik, die setzten Norm der profitorientierten Konkurrenzfähigkeit zu (Lohn-)Arbeit von den materialen und sozialpolitischen Res- genügen. Diese glokale, konkurrenzielle europäische Staat- sourcen ihrer sozialen Reproduktion abtrennt. Die Sen- lichkeit ist selbst Resultat hegemonial durchgesetzter In- kung der Arbeitskosten bzw. (in marxistischer Terminolo- teressenpolitik transnationaler Kapitalfraktionen (van Apel- gie) die Senkung der Kosten des variablen Kapitals (niedri- doorn, 2002), und sie ermöglicht, reflektiert und befördert ge Löhne, flexible Arbeitszeiten und Beschäftigungsformen, die glokalen produktionsseitigen Restrukturierungen (Hürt- Möglichkeiten kurzfristiger Entlassungen etc.) wird zu ei- gen, 2020a). Alltags- und gesellschaftspolitisch ist die sexistische Kon- 9 Der „neue Süden“, so formuliert es Fred Scholz (2002) mit Be- struktion von despotischer (Lohn-)Arbeit zentral. Diese er- zug auf Ulrich Beck, ist nicht national oder kontinental zu begrei- folgt bekanntermaßen als Abdrängung weiblicher Arbeit ins fen, sondern als Ausdruck einer Bewegung der Fragmentierung auf weitgehend Vor-gesellschaftliche, ihre Konstruktion als im allen sozialräumlichen Scales. „Privaten“ angesiedelte (Natur-)Ressource, als einer Nei- https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021 Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021
266 S. Hürtgen: Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum gung oder dem Talent10 der (weiblichen) Natur entsprin- Standort zu stärken (Blöcker, 2009; Holst und Matuschek, gend (Phillips und Taylor, 1980; Elson und Pearson, 1981; 2013; Hürtgen, 2020b). Wright, 2006). Bestandteil dieser gesellschaftlichen Konsti- tution von Lohnarbeit als „weiblich“ ist ihre Konstruktion als 5 Permanente Restrukturierung und konkurrenzielle unqualifizierte Arbeit, d. h. als leicht zu beschaffende, spora- digitale Steuerung disch und zusätzlich einzusetzende und gesellschaftlich we- nig bedeutsame Arbeit – und es ist diese (vermeintliche) ge- Bevor ich am Ende des Beitrages auf den gesellschaftspoli- sellschaftliche Randständigkeit, die den relativen Ausschluss tischen Stellenwert von Lohnarbeit zurückkomme, will ich von sozialintegrativen Arbeitsbedingungen und sozialpoli- in den folgenden zwei Kapiteln die Betrachtung der gloka- tischen Rechten sowie öffentlich-gesellschaftlicher Reprä- len Produktionsorganisation selbst nochmals vertiefen. Denn sentation begründet (Becker-Schmidt, 2017). Im reskalierten für die hier verfolgte These einer generellen Krisenhaftig- glokalen Produktionsregime wird diese Konstruktion – unter- keit von (Lohn-)Arbeit ist es entscheidend aufzuzeigen, dass schiedlichen Politiken des Gendermainstreamings zum Trotz die bislang dargelegten naturalisierend-sexistischen Abspal- – nicht nur nicht aufgegeben, sondern als Naturalisierung tungen gewissermaßen nicht mehr wirklich funktionieren: despotisierter Arbeitsverhältnisse zugespitzt und verallge- die skizzierte glokale sozialräumliche Aufspaltung der kapi- meinert: einmal entlang neoliberaler Workfare-Politiken und talistischen Arbeitsprozesse entlang hegemonialer und des- der Stigmatisierung sozialer Gruppen als letztlich Untüchti- potischer Arbeitsregime ist alles andere als stabil. Stattdes- ge und Unproduktive (Peck, 2002), und ein weiteres Mal ent- sen ist die „Optimierung“ der Produktionsabläufe im Kon- lang jener Narrative, die hochgradig vulnerable und repres- text verschärfter unternehmerischer Konkurrenz beschleu- sive Arbeitsverhältnisse als Resultat von nah- und fernräum- nigt und als permanente transnationale Restrukturierung auf licher Rückständigkeit der Betroffenen interpretieren (Had- Dauer gestellt (Siemiatycki, 2012). Die Fragmentierungen jimichalis, 2018). Insgesamt erscheinen so die dunklen Sei- und ihre Scales vervielfältigen sich und die sozialräumlichen ten der transnationalisierten Produktion als eine Frage von „Schnittstellen“ und Formen betrieblicher Hegemonie und spezifischen Eigenschaften betroffener Arbeiter*innen. Die- Despotie werden in Permanenz neu konfiguriert. Diese Dy- se werden als schwach, „traditionell“ orientiert, ungenügend namik ist insbesondere zentral mit Blick auf die (ehemals) qualifiziert11 und insgesamt den Anforderungen „moderner“ hegemonialen Regime, d. h. die gewerkschaftlich starken, re- Arbeit ungenügend gezeichnet, weshalb sie nicht gleichbe- lativ geschützten und öffentlich repräsentierten „qualifizier- rechtigt an dem partizipieren könnten, was als moderne Öko- ten“ Arbeitsbereiche. Diese stellen keine stabilen Inseln dar, nomie und demokratische Mitgestaltung verstanden wird werden vielmehr selbst reskaliert und verändern dabei grund- (Massey, 2005). Die gesellschaftliche wie betriebliche Pro- legend ihren Charakter. duktion vielfacher sozialräumlicher Polarisierung und Des- Formen und Dynamiken der permanenten Restrukturie- integration im Hier und Jetzt wird so überführt in eine auf rung sind vielfältig, an dieser Stelle will ich aber wenigstens einer „zivilisatorischen“ Zeitachse angesiedelten Frage un- drei zentrale identifizieren, um das Ausmaß der auf Dauer ge- genügender Fähigkeiten der je ungleich Despotisierten und stellten produktionsbezogenen „Optimierung“ und ihre glo- Subalternisierten – was die sozialen Zusammenhänge und kale Form sichtbar zu machen. Relationen weitgehend entnennt. Diese Verschiebung despo- Eine erste wichtige Dynamik ergibt sich aus dem, was als tisierter Arbeitsregime ins Vor-Gesellschaftliche und Rand- upgrading von Arbeitsprozessen und Produktionsstätten be- ständige ist dabei auch alltagspolitisch wirksam: in Form all- kannt ist, d. h. deren technologische und organisatorische täglicher Stereotypisierungen, in Form einer gewerkschafts- Modernisierung. Um die volle Flexibilität im gesamten Netz- politischen Fokussierung auf die „Kernbelegschaften“ oder werk zu erreichen, werden gerade auch die sog. Low-end- entlang wissenschafts- und alltagspolitischer Debatten, die Bereiche typischerweise relativ schnell modernisiert und in auf weitere Deregulierung und Fragmentierung orientieren, State-of-the-Art-Technologien integriert. In der Tat wird oft um wahlweise den betrieblichen, regionalen oder nationalen übersehen, dass die flexible Fragmentierung und transnatio- nale Rekombination von Arbeitsprozessen auf ihrer weitge- 10 „Talente“ oder „typisch-weibliche Charakteristika“ reichen henden technologischen und organisatorischen Standardisie- hier von besonderer Einfühlsamkeit oder „schlanken Fingern“ bis rung beruht (Hürtgen et al., 2009; Contractor et al., 2010; zur „Freude am Nähen“ (ebd.); dabei wird an entsprechende Kon- Will-Zocholl, 201712 ). Dieser „Aufwertungsprozess“ bein- struktionen weiblicher Arbeiterinnen als „maidens“ bzw. „Haus- haltet auch die Verlagerung von stärker „qualifizierten“ Ar- frauen“ angeknüpft (Mies, 1997; Lee, 1998). beitsfunktionen der Koordinierung, Überwachung, Wartung 11 „Der überwiegende Trend zu höheren Qualifizierungsanfor- derungen dürfte dazu führen, dass Erwerbspersonen, die zu ei- 12 „The relationship between globalisation and standardisation is ner Höherqualifizierung nicht bereit oder fähig sind, kaum mehr reciprocal. On the one hand, standardisation enables a global divisi- geeignete Arbeitsplätze finden [. . . ]. [Nicht wenige, SH] Perso- on of labour by dividing work into individual pieces of processing; nen sind [. . . ] mit den Weiterqualifizierungsmaßnahmen überfor- on the other hand, globalisation enforces standardization to adjust dert“ (Wilke, 1999:245; ähnlich Kern und Schumann, 1984:19 ff.). processes across the globe“ (ebd.:82). Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021
S. Hürtgen: Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum 267 usw. in nah- und fernräumliche „Niedrigkostenregionen“ risch aufbereiteten Arbeits- und Produktionsergebnisse quer (ebd.; Krzywdzynski, 2018). Allerdings führt die ökonomi- durch die zunehmend komplexen transnationalen Produkti- sche Modernisierung insgesamt nicht, wie lange Zeit auch onsnetzwerke (Altmann und Deiß, 1998). Die digitale Stan- wissenschaftlich erwartet, zu einem auch sozialen upgrading dardisierung ist gewissermaßen die materiale Manifestation der Produktion, d. h. zu einer auch nur relativen sozialen und des verwertungslogischen upscaling der Produktionsorgani- räumlichen Verallgemeinerung von reproduktionssichernden sation. Sie erlaubt über Regionen, Länder und Kontinente inklusiven Arbeitsbedingungen. Vielmehr entsteht das, was hinweg die Kontrolle und Steuerung von ihrerseits flexibel- Alain Lipietz (1997) die „vierte internationale Arbeitstei- kurzfristig sozialräumlich aufgespaltener (Lohn-)Arbeit. lung“ nennt und was wiederum ein multiskalares Phänomen Digitale Standardisierung wirkt direkt in die Arbeitspro- darstellt: eine weitgehende Standardisierung von Arbeitsab- zesse hinein; sie schlägt sich beispielsweise als genorm- läufen, Technologien, Normierungen und organisatorischen te Technologie und Arbeitsplatzgestaltung nieder, umfasst Strukturen bei nah- und fernräumlicher sozialer Aufspaltung firmen- oder netzwerkweite vergleichende Optimierungs- der Beschäftigten. kampagnen und beinhaltet insbesondere transnationale For- Die zweite hier zentrale Dynamik betrifft die übergreifen- mate zur permanenten vergleichenden Messung der Arbeits- de technologische und organisatorische Modernisierung (we- und Produktionsergebnisse. Hierbei werden die fragmentier- sentlich Digitalisierung) auch und gerade in den ehemaligen ten Arbeitsprozesse in Bezug auf Kosten, Effizienz, Flexi- Zentren. Die Arbeitsforschung zeigt hier, dass fortgesetzte bilität, Qualität oder Kundenzufriedenheit verglichen bzw. Digitalisierung als Aufspaltung von Arbeitsbereichen in we- konkurrieren direkt um vorgegebene Zielmargen und den nige „hochqualifizierte“ und viele „einfache“, dequalifizierte Zuschlag für (weitere) Investitionen gegeneinander, wie Tätigkeiten erfolgt (Machacek und Hess, 2018). Davon be- beim sog. benchmarking (Greer und Hauptmeier, 2015). troffen sind insbesondere die klassischen „Kerne“ der Büro-, Der konkurrenzielle Vergleich reicht bis hinunter zu den Ingenieurs- und White-Collar-Arbeit in den kapitalistischen einzelnen Produktionslinien, Arbeitsgruppen und individu- Zentren, die in den letzten Jahren ihre Verwandlung in di- ellen Arbeiter*innen. Er ist dort veralltäglichter Bestand- gital taylorisierte „Klickwork“-Tätigkeiten der Softwarepro- teil des Arbeitsprozesses, beispielsweise über aktuelle Soll- duktion und Service-Dienstleistungen erlebten (ebd.). Diese Ist-Visualisierung bereichs- und aufgabenbezogener Ar- standardisierten Tätigkeiten sind wiederum besonders leicht beitsergebnisse in den Produktionshallen, über regelmäßi- sozialräumlich umzuorganisieren, beispielsweise in transna- ge „Teambesprechungen“ zu ihrer Evaluation und Optimie- tional strukturierten shared service centers zu konzentrie- rung oder auch als digitalisiert-personalisierte Kontrolle ein- ren oder umgekehrt wieder neu auf Standorte zu verteilen zelner Arbeitsschritte (über Scanner, Beobachtungskame- (aktuell beispielsweise in Richtung Portugal oder Rumä- ras, digitale Brillen usw.). Hierbei werden nicht nur Para- nien, Roque, 2018). Dabei ist in der Burawoy’schen Per- meter wie „selbstverantwortliche“ Kostenersparnis, Output spektive wichtig: Nicht (moderne) Technik oder die (neo- und Qualität standardisiert und vermessen, sondern auch taylorisierten) Tätigkeiten selbst, sondern die vergeschlecht- die Bereitschaft zu flexiblen Arbeitseinsätzen, Pünktlich- lichte politische Konstitution von (Lohn-)Arbeit ist entschei- keit, Anwesenheitsraten oder Sauberkeit am Arbeitsplatz dend. Neue Formen des (digitalen) Despotismus (Pfeiffer, werden numerisch aufbereitet und schlagen sich beispiels- 2017) entstehen aufgrund einer hierarchischen Konstituti- weise in der (gekürzten) Auszahlung variabler Lohnbe- on als gesellschaftlich minderwertige Tätigkeit, die als sol- standteile nieder (Hürtgen et al., 2009; Staab und Gesch- che vermeintlich keiner starken sozialpolitischen Absiche- ke, 2020). Digitale Zentralisierung erlaubt, in einem Wort, rung bedarf. Dies gilt für die despotisierten Arbeitsregime die Durchsetzung einer transnationalen konkurrenziellen der Zulieferer- oder Logistikbranche ebenso wie für die „de- Steuerung, einer veralltäglichten, permanenten Optimierung qualifizierte“ Klick- und Servicearbeit, letztere nicht selten durch konkurrenziellen Vergleich. Die competitive relati- in Heimarbeit und oft von Frauen getätigt, typischerweise ons zwischen den vielfach und multi-skalar aufgespaltenen äußerst gering entlohnt, sozialpolitisch nicht abgesichert und (Lohn-)Arbeitsprozessen und Arbeiter*innen erhalten so ei- in ihrem rechtspolitischen Arbeitnehmer*innenstatus verun- ne manifeste hierarchische unternehmenspolitische Form. klart und vulnerabel (Huws, 2014; Benner, 2015). Die dritte zentrale Restrukturierungdynamik bezieht sich auf den glokalen Steuerungs-, Kontroll- und Herrschaftsmo- 6 Die doppelte Konstitution von Despotie dus in der Organisation der kapitalistischen Arbeits- und Produktionsprozesse. In der eine Zeitlang vorherrschenden Wir sehen an diesen Dynamiken, dass die glokale Aufspal- Begeisterung über moderne „flache“ Netzwerkorganisatio- tung in hegemoniale und despotisierte Arbeitsregime nicht nen ist mitunter die zum Prozess zugehörige Zentralisie- stabil ist, vielmehr erleben auch ehemals „starke“ hegemo- rung von Kontrolle und Steuerung übersehen worden. Für niale Regime eine (andauernde) Transformation. Burawoy diese waren wiederum von Beginn an digitale Technologien selbst hat dies früh und hellsichtig wahrgenommen und mit entscheidend, denn diese Technologie erlaubt eine verglei- Blick auf die gewerkschaftspolitisch nach wie vor starken chende Messung und Zusammenführung der nunmehr nume- Belegschaftsgruppen die Herausbildung eines hegemonial- https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021 Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021
268 S. Hürtgen: Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum despotischen Regimes analysiert: „[I]n all advanced capitalist (gewerkschafts-)politische Teilhabe verbreitet nicht mehr ge- societies hegemonic regimes are developing a despotic face“ geben sind (ebd.; Paugam, 2008; Schröder und Urban, 2012). (Burawoy, 1983:603). Anders gesagt: Hegemoniale Regime Zugleich treibt das concession bargaining der hegemonial- werden selbst despotisch. despotisierten Belegschaften die sozialräumliche Fragmen- Dieser neue hegemoniale Despotismus ist nicht mit dem tierung selbst mit voran, denn die Zugeständnisse für den direkt feminisiert-despotischen gleichzusetzen. Das institu- „Standorterhalt“, den „Produktionszuschlag“ usw. beinhal- tionelle Repräsentationssystem ist intakt, die Beschäftigten ten insbesondere auch die immer kleinteiligere Aufspaltung und ihre Gewerkschaften sind nach wie vor in öffentliche der Belegschaften selbst, d. h. die Akzeptanz von weiteren Verhandlungen und Kooperationen eingebunden. Despotie Aus- und Verlagerungen und weiteren Formen prekärer Be- entsteht hier nicht aufgrund einer unmittelbaren Negation der schäftigung zur Kostensenkung und Steigerung von Flexibi- Reproduktionsinteressen der Beschäftigten. lität. Das Despotische entsteht vielmehr in dem, was Burawoy Kurz: Wir haben es mittlerweile mit einer doppelten, als „tying of the interests of workers to the fortunes of their sich überschneidenden glokalen Form der Despotisierung employers“ (ebd.:602 f.) beschreibt, und was direkt zur glo- zu tun: der despotisch-hegemonialen und der feminisiert- kalen Logik gegenwärtiger Produktionsorganisation zurück- subalternisierten Form. Während sich in der feminisiert- führt: Die fortgesetzte gewerkschaftliche Repräsentation und subalternisierten Form und den hier typischen unmittelbar Verhandlung erfolgt unter der (vermeintlich) unhinterfragba- repressiven Arbeitsbedingungen (sowie deren nah- und fern- ren Prämisse, die Konkurrenzfähigkeit des jeweiligen Unter- räumlicher gesellschaftlicher Abspaltung) klassische sexisti- nehmens, Betriebes, Standorts, Büros usw. nicht zu gefähr- sche und neue neoliberal-autoritäre Politiken verbinden, er- den, vielmehr (permanent) optimieren zu müssen. Das verall- leben auch die vermeintlich integrierten Regime zwar keine gemeinerte, hochskalierte, vermeintlich unangreifbare Ver- institutionell diskursive, wohl aber eine soziale Abkopplung wertungskalkül ist das hegemonial durchgesetzte Erforder- ihrer (Lohn-)Arbeit von sozialintegrativen und politisch- nis, in welches sich gewerkschaftliche Forderungen, auf allen partizipativen Bedingungen. Auch hier variieren die Formen, Scales, einschreiben (müssen). Gewerkschaftliche Koopera- sie reichen von Erschöpfung und Entgrenzung bis zu weithin tion und Mitsprache wird fortgesetzt, entwickelt sich aber normalisierten Löhnen unterhalb des normal Reproduktions- strukturell zum concession bargaining, d. h. zu einem Aus- notwendigen. handlungsprozess über die möglichst soziale Ausgestaltung Beide despotische Regime sind nicht nur produktionssei- der zu erhöhenden Konkurrenzfähigkeit, mit den sozialen tig, sondern stets auch arbeits- und gesellschaftspolitisch ver- Standards als flexibler Ressource. Lohnarbeiter*innen wer- fasst. Hier zeigt sich in Bezug auf die hegemoniale Des- den so interessenpolitisch partikularisiert und geschwächt potie (wiederum auf allen sozialräumlichen Scales inklusi- und die konkreten Arbeitsbedingungen grundlegend ver- ve der europäischen), dass die fortgesetzte Einbindung von schlechtert (vgl. Hudson und Sadler, 1986). Gewerkschaften in partikularisierende Konkurrenzimperati- In der Tat zeigt die Arbeitsforschung eindrücklich, dass ve das downscaling sozialer Rechte allenfalls moderieren, sich auch die ehemals fordistisch-hegemonialen „Kernbe- nicht aber verhindern kann (Bieling und Schulten, 2001). legschaften“ unterhalb der formal fortexistierenden Norma- In Bezug auf die repressiv-feminisierte Despotie wird von lität in einem tiefgreifenden Krisenmodus befinden (Swee- den Nationalstaaten und der EU die Prämisse von workfa- ny und Holmes, 2013; Warren, 2019). Das downscaling re und employability vorangetriebenen, d. h. die unterneh- arbeitspolitischer Kompromissbildung zur Verfasstheit von merische Anwendungsperspektive von Arbeitskraft zur neu- Arbeit bei gleichzeitigem upscaling ihrer unternehmerisch- en Grundlage von Sozialpolitik erklärt (Peck und Theodore, profitlogischen Vermessung kann auch die ehemals starken, 2015). Beide Despotisierungs-Dynamiken überkreuzen sich hegemonialen „Kerne“ nicht mehr stabilisieren: Die Zer- und fließen im betrieblichen wie gesellschaftlichen downsca- klüftung tariflicher und sozialer Standards schreitet fort, so- ling sozialer Rechte und der stets auf neue Weise ungleichen ziale Zugeständnisse sind häufig, Niedriglohn breitet sich sozial- und arbeitspolitischen Fragmentierung von (Lohn- auch für „normal Beschäftigte“ aus, vermeintlich befristete )Arbeiter*innen zusammen. „Extra-Anstrengungen“, d. h. Arbeitsintensivierungen und - extensivierungen, werden in immer neuen Kampagnen und Zielmargen zur Regel, ohne dass sie die mehr oder weni- 7 Feminisierung und Krise im transnationalen Raum ger dauerhafte Bedrohung durch Schließung, Verlagerung, der (Lohn-)Arbeit Kundenverlust usw. perspektivisch anhaltend zurückdrän- gen könnten (Detje et al., 2011; Hürtgen und Voswinkel, Ausgangspunkt dieses Beitrages war die These, dass ei- 2014; Dunkel und Kratzer, 2016). Hinzu kommen kosten- ne raumsensible Auseinandersetzung mit der ökonomischen kalkuliert knappe Personalressourcen und permanente orga- und sozialen europäischen Gegenwartskrise auch auf den nisatorische Umstellungen, die auch für die Hegemonial- Formwandel kapitalistischer Arbeits- und Produktionsorga- Despotisierten zu Entgrenzung und Erschöpfung führen, so nisation fokussieren muss. Ich habe dann über mehrere Ar- dass gesellschaftlich „normale“ soziale Reproduktion und gumentationsschritte die gegenwärtige glokale sozialräum- Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021
S. Hürtgen: Glokalisierung und Feminisierung: Zur strukturellen Krise von Lohnarbeit im europäischen Raum 269 liche Form europäischer Produktionsorganisation dargelegt gesellschaftlicher Partizipation wird nun generell in Frage und als flexibel transnational- fragmentierendes Produktions- gestellt und auseinandergerissen. Unterhalb der fortbestehen- regime qualifiziert. Ihr Kern ist das upscaling profitlogischer den institutionalisierten Normalität verliert Arbeit ihren Sta- Vermessung, Kontrolle und Steuerung der Lohnarbeitspro- tus als (zuvor patriarchal ungleich strukturiertes) Medium zesse, während die reproduktiven Dimensionen von (Lohn- sozialer Integration und gesellschaftlicher Bedeutsamkeit14 . )Arbeit multi-skalar fragmentiert und in immer neuen sozi- Stattdessen wird sie privatisiert, d. h. in die Dimension eines alräumlichen Konstellationen konkurrenziell gegeneinander- vereinzelt zu erledigenden, in seiner „employability“ quanti- gestellt werden. Die soziale Krise der Arbeit ist dieser glo- fiziert vermessenen Jobs gedrängt (Pulignano, 2017). Ob und kalen Form als Dynamik funktionaler Integration bei sozi- wie Jobs eine leiblich-soziale Reproduktion von Lebenskraft alräumlicher Desintegration inhärent; die dynamische desin- (Kerstin Jürgens) erlauben und wie (Lohn-)Arbeit gestaltet tegrative Aufsprengung und konkurrenzielle Relationierung ist, erscheint immer weniger als öffentlich-allgemeine, wird von Arbeitsprozessen und Arbeitsbedingungen treibt ihre vielmehr zur Privatangelegenheit jedes/r Einzelnen. Dies ist betriebs- wie gesellschaftspolitische Despotisierung voran. nicht nur dort der Fall, wo Löhne die normal-soziale Re- Dabei erleben auch die hegemonial-despotisierten Regime produktion nicht (mehr) sichern, sondern auch dort, wo eine auf Dauer gestellte Krisen- und Ausnahmesituation, die Dauerkrise und „schlanke“ (Personal-)Ressourcen Erschöp- sie nur relativ von den hochgradig entsicherten Beschäftigten fung, „Stress“ und den Rückzug auf pure „private“ Erholung und subaltern-despotisierten Arbeiter*innen unterscheidet. produzieren und kollegiale Kommunikation und kritisch- Ich will im Ausblick des Beitrages auf den eingangs an- eingreifende Mitsprache mindestens deutlich erschweren. gesprochenen Zusammenhang der vergeschlechtlichten Kon- Zusammen mit dieser Abdrängung von (Lohn-)Arbeit als struktion von Hegemonie und Despotie zurückkommen und „öffentliches Gut“ (Castel) verschärft sich ihre ebenfalls aus damit auf Verschiebungen des gesellschaftlichen Stellen- der Konstitution von „Weiblichkeit“ bereits bekannte dis- werts von (Lohn-)Arbeit insgesamt. kurspolitische Naturalisierung. Hier gibt es einmal ein ro- Für den fordistischen Wohlfahrtskapitalismus hat Ro- mantisierendes und zugleich individualisierendes Narrativ, bert Castel (2000) ausführlich gezeigt, wie der Ausbau so- das besonders auf modern-digitalisierte Tätigkeiten zielt und zialpolitischer Rechte und Infrastrukturen auf der Grund- die Arbeit als das Ausleben besonderer intrinsischer Nei- lage einer inhaltlichen Neubestimmung von (Lohn-)Arbeit gungen und Talente oder einer nicht weiter zu begründen- erfolgt. Diese wandelt sich vom einzeln zu erledigenden den Lust an Spiel und Spaß beschreibt (Ferrer-Conill, 2018), und privat-zufällig zu entlohnenden Tagwerk hin zu ei- vergleichbar der diskursiven Konstruktion weiblicher Ar- ner gesellschaftlich-allgemeinen und also öffentlich (sozi- beit in der Textilindustrie als vermeintliche „Freude am Nä- alrechtlich) auszugestaltenden Angelegenheit (ebd.13 ; Lin- hen“ (s. o.). Eine der Konsequenzen ist erneut, dass die so hart, 2008; Hürtgen, 2017). Demgegenüber bleibt, wie dis- als individuelle Selbst-Verwirklichung atomisiert konstruier- kutiert, feminisiert-despotisierte (Lohn-)Arbeit auch im Zu- te (Lohn-)Arbeit (vermeintlich) auch nur als Zuverdienst ent- ge der postfordistischen Reskalierung nicht nur sozialpoli- lohnt werden muss (Spamgirl, 2015). Zum zweiten aber wird tisch, sondern auch gesellschaftspolitisch eine randständige, die Naturalisierung von Arbeit in ihrer repressiven Gestalt ja: vorgesellschaftliche Größe. entlang des glokalen europäischen Workfare-Regimes radi- Wenn nun aber die sexistischen Abspaltungen nicht mehr kalisiert und verallgemeinert. Die vermeintlich zurückblei- solide stabilisiert werden können, die Grenzen zwischen benden oder defizitär veranlagten Randgruppen sind nun oft- betrieblicher Hegemonie und Despotie sozialräumlich im- mals auch als unwillens und undiszipliniert gezeichnet, was mer neu gezogen und dabei unscharf werden und sich die in dieser Logik entsprechende staatliche Maßnahmen ge- Despotisierung in die (ehemals) hegemonialen Positionen genüber den offenbar beschränkten Individuen erforderlich hinein verallgemeinert – dann wird auch der vormals ge- macht. Die Ansiedlung feminisierter (Lohn-)Arbeit im Vor- sellschaftliche Stellenwert hegemonialer (Lohn-)Arbeit an- Gesellschaftlichen begegnet uns hier wieder als die umfas- gegriffen. Mit Blick auf entsprechende wirtschaftsgeogra- sende repressive Vereigenschaftung sozialer Gruppen, näm- phische Diskussionen (Phillips und Taylor, 1980; McDo- lich als in Bezug auf ihre Arbeitswilligkeit andersartig und well, 1991; Trauger und Fluri, 2019) kann die hier dis- das Ökonomische potenziell gefährdend. kutierte doppelte Despotisierung von Arbeit entsprechend Diese Naturalisierung bzw. Kulturalisierung des Sozia- als ihre Feminisierung verstanden werden. Der vormals len ist bekanntermaßen selbst Bestandteil einer neoliberalen bestehende (wenngleich patriarchal begrenzte) Zusammen- ideologischen Formierung, die massive Verarmung, Desinte- hang zwischen (Lohn-)Arbeitsverausgabung und politisch- 14 Die in der Corona-Krise entstandene Debatte zur „Systemrele- 13 „Der Arbeitsunfall ist beispielsweise nicht einfach ein Un- vanz“ (reproduktiver) Arbeitsbereiche bekräftigt die Bedeutung des glücksfall, der einem Arbeiter zustößt. Er ist auch eine gesellschaft- gesellschaftlich-inhaltlichen Status von Arbeit für ihre sozialrecht- liche Tatsache, hinsichtlich derer die Vertreter des Allgemeininter- liche Absicherung, kann aber als Gegenstand nicht mehr in diesem esses sich fragen müssen, ob sie hinnehmbar ist, und wenn ja zu Beitrag diskutiert werden (vgl. erste Analysen hierzu: Aulenbacher, welchen Kosten und in welcher Form“ (Castel, 2011:262). 2020; Detje und Sauer, 2021:51 ff.). https://doi.org/10.5194/gh-76-261-2021 Geogr. Helv., 76, 261–273, 2021
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