Große und kleine Übel - Parteistrategien vor der Bundestagswahl 2017 Ralf Tils/Joachim Raschke (Agentur für politische Strategie) - Agentur ...

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Sonderschwerpunkt: Politische Strategie

           Große und kleine Übel
           Parteistrategien vor der Bundestagswahl 2017
           Ralf Tils/Joachim Raschke (Agentur für politische Strategie)

          Der Zustrom von Flüchtlingen nach Deutsch-              bislang gar nicht sichtbar geworden sind, las-
          land und die Auseinandersetzung um die                  sen sich dennoch schon einige Absichten und
          Frage, wie die Politik damit umgehen soll, hat          Tendenzen der Themenpriorisierung bei den
          das deutsche Parteiensystem durchgeschüttelt            Parteien erkennen.
          und „irritiert“. Die Flüchtlingsfrage war der               Um diese analytisch einzufangen, bedarf
          Katalysator für den Aufstieg der AfD und                es eines gröberen Sortierungsrasters, mit dem
          ihren (zumindest) vorübergehenden Höhen-                größere Themenfelder und -zusammenhänge
          flug bei Wahlen, sie ist der Zündstoff für              abgebildet werden können. Ein dafür geeig-
          die ungewöhnlich heftigen, ins persönliche              netes und eingeführtes Sortierungsinstrument
          gehenden Auseinandersetzungen zwischen den              ist das politische Koordinatensystem, das eine
          Schwesterparteien CDU und CSU (mit Horst                werteorientierte ideologische Landkarte des
          Seehofer als treibender Kraft) und sie rückt            deutschen Parteiensystems darstellt. Es zeigt, in
          eine Machtperspektive der Sozialdemokraten              welchen Bereichen des politisch-ideologischen
          auf Bundesebene noch weiter in illusionäre              Großterrains sich die Parteien in ihren Konkur-
          Ferne. Ob die Flüchtlingspolitik das gewach-            renzbeziehungen bewegen. Das aktuelle poli-
          sene Parteiensystem dauerhaft verändert oder            tische Koordinatensystem ist zweidimen­sional
          lediglich eine vorübergehende Erschütterung             und definiert sich über zwei unterschiedliche
          auslöste, bleibt die offene Frage. Die Antwort          Achsen. Es besteht aus einer materiellen Ach-
          darauf hängt vor allem von den Parteien selbst          se, die vom linken Pol sozialer Gerechtigkeit/
          ab – und davon, inwieweit die Wählerinnen               Solidarität bis zum rechten Pol Markt/Leistung
          und Wähler deren unterschiedlichen Strategien           reicht (dementsprechend denken wir diese
          folgen.                                                 Achse auch in Links-Rechts-Kategorien). So-
             Mit Blick auf die Bundestagswahl 2017                zialpolitisch steht etwa die Linkspartei weit
          besteht die Herausforderung für die Parteien            links, etwas rechts davon Grüne und SPD, in
          darin, die richtigen strategischen Ansatzpunkte         der Mitte die Union und am marktliberalen
          zu finden, um in dieser Ausgangskonstellation           Pol die FDP.
          die eigenen Wahlchancen zu erhöhen und                      Daneben existiert aber auch eine vertikale,
          sich von der Konkurrenz abzugrenzen. Es                 kulturelle Achse, an deren jeweiligen Enden
          sind vor allem drei Felder, in denen sich die           sich libertäre und autoritäre Werte gegenüber
          Strategien der Parteien bewähren müssen:                stehen. Dabei machen sich die Vertreter des
          Themenpriorisierung, Umgang mit der AfD,                libertären Pols für Werte wie Mitbestimmung,
          Machtperspektive.                                       Selbstverwirklichung, Emanzipation oder
                                                                  Schutz von Minderheiten stark, während die
                                                                  Repräsentanten des autoritären Pols auf Tra-
          1 | Themenpriorisierung
                                                                  dition, Nationalismus, Abgrenzung gegenüber
          Auch wenn wir uns noch im Vorwahlkampf-                 Fremden, Anpassung und Unterordnung po-
          zeitraum befinden und die dominierenden                 chen. Ausgelöst durch Wertewandel- und kul-
          Einzelthemen der Wahlauseinandersetzung                 turelle Modernisierungsprozesse seit Ende der

          FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 29. Jg. 3 | 2016
Große und kleine Übel                                                                               | 219

1960er Jahre haben sich die neuen libertären         der Konflikteskalation mit der Kanzlerin zu-
Werte über soziale Bewegungen und die Partei         nehmend in der Sackgasse steckt. Die SPD und
der Grünen in den 1980er Jahren immer weiter         die Linkspartei, weil ein Teil ihrer potentiellen
gesellschaftlich verbreitert, ohne dass sich das     Wählerinnen und Wähler eine Abwehrhaltung
autoritäre Erbe aufgelöst hätte.                     gegen Flüchtlinge hegt, der andere Teil aber
    Parteipolitisch ist die kulturelle Konfliktli-   einer Willkommenskultur anhängt. Die FDP,
nie jetzt über die AfD neu polarisiert und           weil sie nur noch über einen marktradikalen
ins Zentrum politischer Auseinandersetzung           Kompetenzkern verfügt und das libertäre Erbe
gerückt worden. Das Flüchtlingsthema hat             früherer Jahre lange begraben hat.
zur Wiederbelebung autoritärer Werteorien-               Mit der Rentendebatte hat es bereits ange-
tierungen beigetragen, die vor allem durch           fangen und es wird sich in anderen materiellen
das Sprachrohr AfD in die politische Debatte         Themenfeldern (Arm-Reich-Schere, Steuerge-
eingeführt wurden und (nicht zuletzt bei             rechtigkeit, Schuldenbremse, Zukunft des So-
Wahlen) großen Anklang fanden. Das brachte           zialstaats etc.) fortsetzen: Die meisten Parteien
einige andere Parteien in Schwierigkeiten,           suchen ihr Heil in der Themenpriorisierung
weil sie selbst bzw. ihre Anhängerinnen und          zwischen sozialer Gerechtigkeit und Markt –
Anhänger in der kulturellen Frage zwischen           entweder eher links (SPD, Linkspartei), mittig
libertären und autoritären Orientierungen            (Union) oder rechts (FDP). So hoffen sie, ihre
gespalten sind. Das gilt etwa für die Union,         eigene Spaltung in der kulturellen Frage für
bei der die CSU sich in der Flüchtlingsfrage         die Bundestagswahl überdecken zu können.
als Vertreter autoritärer Bezüge positioniert        Nur die AfD und die Grünen als natürliche
(Begrenzung, Ausgrenzung, Abgrenzung ge-             Gegenspieler libertärer und autoritärer Werte
genüber den „Fremden“), während die CDU              haben Interesse an politischen Konflikten in
weiter an Angela Merkels Doppelstrategie des         der kulturellen Dimension. Ob ihre Agen-
„edlen“ Offenhaltens deutscher Grenzen und           da-Building-Macht dafür im Wahljahr 2017 hin-
der „schmutzigen“ Toleranz und Unterstützung         reichend groß ist, wird sich zeigen. Andernfalls
der Schließung von Fluchtwegen nach Europa           ist eher eine Entwicklung zu erwarten, bei der
festhält. Das betrifft auch die Linkspartei und      statt des Flüchtlingsthemas eine „thematische
die SPD, die beide darunter leiden, dass ihre        Flucht“ in die materielle Politikauseinander-
Wählerpotentiale in Teilen autoritären, in Tei-      setzung erfolgt.
len libertären Werteorientierungen folgen. Nur
Grüne und AfD sind an den unterschiedlichen
                                                     2 | Umgang mit der AfD
Polen der kulturellen Achse (Grüne libertär,
AfD autoritär) relativ geschlossen.                  Die zweite spannende Frage für das Wahljahr
    Für die Themenpriorisierung des aufzie-          2017 ist, welche unterschiedlichen Strategien
henden Bundestagswahlkampfs hat diese                die etablierten Parteien gegen die neue Kon-
Ausgangskonstellation zur Folge, dass viele der      kurrenz der AfD finden, um ihr – anders als bei
konkurrierenden Parteien ein großes Interesse        den zurückliegenden Landtagswahlen – keine
daran haben, die Aufmerksamkeit für die kultu­       weiteren Wahlerfolge zu ermöglichen. Bislang
relle Konfliktlinie wieder zu reduzieren und zur     hatte es die AfD leicht. Sie konnte – selbst kaum
materiellen Dimension der Politikauseinan-           politikfähig – im Kontext der Flüchtlingspolitik
dersetzung zurückzukehren, die die Parteien­         nichts als Wählermobilisierung betreiben, ohne
konkurrenz in den zurückliegenden Jahren             etwa die soziale Richtungsfrage für sich zu
dominiert hat. Die CDU, weil die dauernden           klären oder gar Koalitions- bzw. Regierungsfä-
Attacken durch die Schwesterpartei CSU ihre          higkeit aufbauen zu müssen. Bürgerlicher und
eigenen Wahlchancen schmälern und sie nicht          sozialer Protest sowie ein antipluralistischer,
genau weiß, wie weit sie bis zum autoritären Pol     antielitärer und von moralischer Selbstüber-
gehen will. Die CSU, weil ihre Endlosschleife        höhung getragener Rechtspopulismus stützen

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sie. Das Politikrezept der AfD ist simpel:              gemeinsamen Alternative – oder die Fortset-
provozieren, relativieren, dementieren, so dass         zung des Dauerstreits und ein weitgehend
alle, die die ausländerfeindlichen, rassistischen,      isoliertes Vorgehen beider Schwesterparteien
antietatistischen Signale hören wollen, diese           im Wahlkampf. Die unendliche Fortführung
erkennen können, aber die Zurechnung offener            der CSU-Attacken würde der CDU weiter
Rechtsradikalität umstritten bleibt. Im Falle           Wählerstimmen, der CSU weiter Glaubwürdig-
des Boateng-Nachbar-Zitats von Alexander                keit kosten, weil kaum noch begründbar wäre,
Gauland funktionierte das billige Politikrezept         warum man angesichts solch fundamentaler
allerdings nicht, denn beim praktisch heiligen          inhaltlicher Differenzen an der gemeinsamen
Gesellschaftsobjekt Fußballnationalmannschaft           Koalition festhalten will.
wirkt es eher gegen als für die AfD. Die an-                Auch die SPD wirkt im Moment nicht
deren Parteien können es sich dennoch nicht             entscheidungsfähig im Umgang mit der AfD.
erlauben, lediglich auf eine Selbstentzauberung         Bei ihr liegt es nicht an einer agitierenden
der AfD im deutschen Parlamentarismus zu                Schwesterpartei, sondern an der eigenen
setzen. Dieser Prozess kann länger dauern und           Wählerschaft. Die ist in ihren Teilsegmen-
es hilft aktuell nicht, die eigenen Wahlverluste        ten so heterogen, dass die verschiedenen
zu minimieren bzw. Koalitionsmöglichkeiten              Strategievarianten immer (mindestens) eine
zu maximieren. Die Suche nach einem geeig-              Zielgruppe verprellen. Will man das klassische
neten strategischen Umgang mit der AfD hat              sozialdemokratische Milieu und enttäuschte
begonnen. Der strategische Möglichkeitsraum             SPD-Wählerinnen und Wähler im „sozialdemo-
öffnet sich zwischen den Alternativen angrei-           kratischen Wartesaal“ ansprechen, müsste man
fen, ausweichen oder anpassen.                          sich der restriktiven und ressentimentgeladenen
    CDU und CSU streiten über den richtigen             AfD-Flüchtlingspolitik in Teilen anpassen (mit
Strategieansatz gegenüber der AfD. Das, was             ungewissem Wahlerfolg). Will man die progres-
unter der Überschrift der Strauß-Doktrin                siven Teile der eigenen Anhängerschaft und die
„Rechts von der Union darf es keine demokra-            Aktiven der Partei zufriedenstellen, bedarf es
tisch legitimierte Partei geben“ kontrovers und         einer klaren Abgrenzung gegenüber der AfD
unversöhnlich zwischen den Schwesterparteien            und Angriffen auf ihre inhaltlichen Positionen.
debattiert wird, ist nichts anderes als die Frage,      Der Solidarpakt von Parteichef Sigmar Gabriel
ob man sich an die Positionen der AfD in der            mit der Gleichstellung sozialer Bedürfnisse von
Flüchtlingsfrage anpassen soll (so die CSU)             Deutschen und Flüchtlingen oder die Auffor-
oder nicht (so die CDU). Analytisch gesehen ist         derung von Olaf Scholz, keine Dämonisierung
das keine Frage von links und rechts, sondern           der AfD zu betreiben, waren unterschiedlich
ein Konflikt zwischen libertären und autoritä-          gerichtete, aber in der Konsequenz jeweils
ren Werten. Der von den Protagonisten Angela            untaugliche Versuche, eine Lösung der Stra-
Merkel und Horst Seehofer ausgetragene                  tegiefrage herbeizuführen. Bislang bleiben die
Disput wirkt unauflösbar. Deswegen suchen               Sozialdemokraten eine Antwort schuldig, wie
die Parteien – soweit sie die gemeinsame Per-           ihr Kurs gegenüber der AfD aussehen soll.
spektive einer gemeinsamen Wahlplattform                    Die Linkspartei nimmt den Kampf gegen
überhaupt aufrechterhalten wollen – den Weg             die AfD auf der Ebene des Sozialprotests an,
der Verlagerung auf konsensuale Themen im               in dem sie sich sozialpolitisch weiter nach
Feld des materiellen Politikdiskurses.                  links verschiebt. Eine zugespitzte soziale
    Ob die Union als Ganze gegenüber der                Radikalisierung soll die Strategie sein, die
AfD eine gemeinsam getragene Strategie                  die Wählerabwanderung von Linksparteian-
findet, ist noch unklar. Zurzeit beharrt Horst          hängerinnen und -anhängern zur AfD aufhält
Seehofer auf der Anpassungsvariante, bei der            und begrenzt. Damit hofft die Linkspartei
Angela Merkel ihm nicht folgen will. Bleibt es          zugleich, ihre eigene innere Zerrissenheit in
dabei, wird Ausweichen zur einzig denkbaren             der Frage des Rechtspopulismus (also auf der

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Große und kleine Übel                                                                            | 221

libertär-autoritären Achse des Koordinatensys-    Deshalb wird die Strategie des Ausweichens
tems) überdecken zu können, die durch die         zum beliebtesten Mittel der Wahl.
Anpassung von Sahra Wagenknecht an den
Begrenzungsdiskurs und das Beharren auf
                                                  3 | Machtperspektive
der Willkommenskultur bei Dietmar Bartsch
bzw. der übrigen Parteiführung offen zutage       Der Bundestagswahlkampf 2017 wird kein
getreten ist. Ausweichen in der Flüchtlings-      Koalitionswahlkampf sein. Die Parteien müs-
frage und Zuspitzung in der sozialen Frage        sen ihre Kampagnen ohne eindeutige Koaliti-
wird so zum vermeintlichen Königsweg der          onsaussagen führen. Unklare Mehrheits- und
Linkspartei.                                      Machtperspektiven erzwingen diese neue Kons-
    Die Grünen haben es am leichtesten. Sie       tellation. Alle prinzipiell regierungsfähigen und
können die AfD voll angreifen, ohne ihre          -willigen Parteien bringt das in Schwierigkeiten
Anhängerschaft zu spalten. Auch wenn man-         – nur die Union nicht. Trotz demoskopischer
che grüne Wählerinnen und Wähler in der           Verluste behält Angela Merkel ihre strategische
Flüchtlingsfrage Sorgen haben: In ihrer Geg-      Mehrheitsfähigkeit. Eine realistische Machtper-
nerschaft zur AfD sind sie sich sicher. Nicht     spektive jenseits der Union ist nicht in Sicht
zuletzt aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte      – mit einer erfolgreichen AfD weniger denn
bleiben die Grünen der geborene libertäre         je. Insofern können die Christdemokraten
Gegenspieler zur AfD am autoritären Pol der       trotz eigener Schwäche vom Erstarken der
politischen Landkarte.                            AfD profitieren. Vielleicht sichert die AfD der
    Die FDP spielt hingegen über Bande. Indem     Kanzlerin sogar die Macht.
sie Angela Merkels Flüchtlingspolitik scharf          Die anstehende Neubesetzung des Staats-
attackiert, eröffnet sie autoritär orientierten   oberhaupts zeigt exemplarisch einige Probleme
bürgerlichen Wählerinnen und Wählern die          dieser neuen Konstellation im deutschen Partei-
Möglichkeit, ihr statt der AfD die Stimme zu      ensystem. Einfach wäre die Wahl der Nachfolge
geben, um auf diese Weise ihre Ablehnung          von Joachim Gauck nur in drei Fällen: eine Kan-
der aktuellen CDU-Flüchtlingspolitik zum          didatin/ein Kandidat der Großen Koalition,
Ausdruck zu bringen (die CSU lässt sich ja        von Schwarz-Grün oder Rot-Rot-Grün. Immer
nur in Bayern wählen). Parteichef Christian       gibt es jedoch (mindestens) eine Partei, die die
Lindner will eine direkte Konfrontation mit der   damit verbundenen Koalitionssignale vor der
AfD vermeiden, da er ihrer Empörungstaktik,       Wahl nicht aussenden möchte. Lediglich die
die viel Aufmerksamkeit generiert und den         Linkspartei hat bei nur einer Machtoption kein
medialen Diskurs prägt, nicht auf den Leim        Problem, SPD und Grüne mit dem Angebot
gehen möchte. AfD ignorieren, aber dem bür-       einer gemeinsamen Kandidatur unter Druck
gerlichen Protest gegenüber der Merkel-Politik    zu setzen – sie wird damit ins Leere laufen.
eine politische Heimat geben, lautet die Devise   Die Grünen wollen sich auf die Option eines
der Freien Demokraten.                            Bündnisses mit der Union vor der Wahl nicht
    Wir sehen: Eine direkte Konfrontation mit     festlegen, weil das ihnen bei einem Teil ihrer
der AfD ist lediglich für die Grünen attraktiv.   Anhängerinnen und Anhänger schadet. Für
Fast alle anderen Parteien haben mit Abwan-       die Sozialdemokraten und die Union sind
derungsbewegungen ihrer Anhängerinnen und         Signale für die Fortsetzung des Notbündnisses
Anhänger zur AfD zu kämpfen. Der klassische       Große Koalition ebenfalls wenig attraktiv. Die
Weg, verlorenen Wählerinnen und Wählern           Perspektive eines Linksbündnisses schmälert
inhaltlich dorthin zu folgen, wohin sie gegan-    wiederum die Wahlchancen der SPD. Insofern
gen sind, ist aufgrund gespaltener Anhänger-      bleibt die Suche nach einer geeigneten Kandi-
schaften (SPD, Linkspartei) oder drohenden        datin oder einem geeigneten Kandidaten und
Glaubwürdigkeitsverlusten (Merkel-CDU)            entsprechenden Mehrheiten für den nächsten
nur für CSU und FDP eine denkbare Option.         Bundespräsidenten ein kniffliges Strategie-

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problem. Zusätzlich erschwert wird sie durch            führen auch zum Sieg bei der Bundestagswahl –
den Autoritätsverlust der Kanzlerin. In der             sofern nicht der objektive Problemdruck, und
Bundesversammlung kann Angela Merkel von                damit gewissermaßen die Flüchtlinge selbst,
ihrer strategischen Mehrheitsfähigkeit nicht            über den Gewinner der Wahl entscheiden.
profitieren.                                                Auch koalitionspolitisch wird es 2017 um
                                                        kleine und große Übel gehen. Die lagerzentrier-
                                                        ten Koalitionen Rot-Grün und Schwarz-Gelb,
4 | Schluss
                                                        wie wir sie lange gewohnt waren, werden aller
Probleme, sagt man, suchen sich ihre Mehr-              Voraussicht nach erneut nicht mehrheitsfähig
heiten. Das gilt aber nicht, wenn die Probleme          sein. Die Große Koalition aber ist aus Sicht der
kontrovers definiert und die Parteien in sich           regierenden Sozialdemokraten nach zwei Legis-
heterogen sind. Beides ist heute sehr ausge-            laturperioden inzwischen das größte aller Übel.
prägt. Im Feld der Flüchtlingspolitik würden            Ob daraus etwas folgt oder die staatstragende
am ehesten die Problemdefinitionen von CDU,             Partei SPD – trotz ihrer Aversionen – die Gro-
SPD und Grünen übereinstimmen (ohne die                 ße Koalition als wahrscheinlichstes aller Übel
CSU) – in einer Koalition können sie aber so            doch wieder ermöglichen muss, wird sich wohl
nicht zusammen kommen. Deswegen wird die                erst in den Wochen nach der Bundestagwahl
Bundestagswahl wohl in jeder Hinsicht eine              entscheiden.
Wahl zwischen kleinen und großen Übeln.
                                                            PD Dr. Ralf Tils lehrt als Privatdozent Po-
   Zunächst müssen Parteien sowie Wähle-
                                                        litikwissenschaft an den Universitäten Bremen
rinnen und Wähler 2017 inhaltlich darüber
                                                        und Lüneburg. Seine Themenschwerpunkte
entscheiden, welche der Probleme für sie
                                                        liegen in den Bereichen Regierungs- und
aktuell die kleineren und größeren Übel in
                                                        Verwaltungsforschung sowie Strategieanalyse.
Deutschland sind. Die Erfolgsaussichten der
                                                            Kontakt: tils@politischestrategie.de
Parteien werden – durch zunehmend volatile
Wählerschaften begünstigt – sehr stark von der             Prof. Dr. Joachim Raschke lehrte als Profes-
politischen Agenda und den die öffentlichen             sor für Politikwissenschaft an der Universität
Diskurse prägenden Frames (Deutungs- und                Hamburg. Gemeinsam mit PD Dr. Ralf Tils
Interpretationsrahmen) zu den wichtigsten               und Prof. Dr. Elmar Wiesendahl betreibt er
Themen abhängen. Der Sieg über die Agenda               die Agentur für Politische Strategie.
und die favorisierten Problemlösungsangebote               Kontakt: raschke@politischestrategie.de

Super-Wahljahr 2017
Strategische Perspektiven der CDU in Nordrhein-Westfalen und im Bund
Armin Laschet

99,1 Prozent – das war der Stimmenanteil, den           Rolle. Man ist versucht zu sagen: Es waren
Union, SPD und FDP bei der Bundestagswahl               einfachere, weil übersichtlichere Zeiten.
von 1976 auf sich vereinten. Die Konzentration             Erst wenn man sich diese, aus heutiger Sicht
des „Bonner“ Drei-Parteiensystems hatte damit           unwirklich erscheinende Zahl noch einmal vor
seinen Höhepunkt erreicht, andere Parteien              Augen führt, wird der immense Wandel der
spielten in den 1970er Jahren faktisch keine            deutschen Parteienlandschaft ersichtlich. Schon

FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 29. Jg. 3 | 2016
Inhalt                                                                                                                                                                                    |1

Editorial                                                                                                                               98    Philipp Degens
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                                                                                                                                              Anderes Geld – anders Wirtschaften?
4          Das Heft im Überblick                                                                                                              Unternehmen und Regiogeld

Aktuelle Analyse                                                                                                                        Teil II: Kritik und Antagonismus:
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                                                                                                                                        Zivilgesellschaft versus Kapitalismus
6          Hubert Wimber
                                                                                                                                        112   Martin Gerth/Gabriele Lingelbach
           Plädoyer für eine evidenzbasierte Drogen-
                                                                                                                                              Konsumboykotte im Spannungsfeld von
           politik in Deutschland
                                                                                                                                              Markt, Zivilgesellschaft und Staat. „Alte“
                                                                                                                                              und Neue Soziale Bewegungen im Ver-
Themenschwerpunkt                                                                                                                             gleich
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Einleitung
                                                                                                                                        121   Dieter Rucht
14         Frank Adloff/Ansgar Klein/Jürgen Kocka                                                                                             Neuere kapitalismuskritische und antikapi-
           Kapitalismus und Zivilgesellschaft                                                                                                 talistische Bewegungen
                                                                                                                                        135 Sebastian    Nagel/Stefanie Hiß/
Teil I: Verschränkungen beider Sphären:                                                                                                       Bernd Teufel
Zivilgesellschaft und Kapitalismus                                                                                                            Den Finanzmarkt im Visier. Zivilgesell-
                                                                                                                                              schaftliche Impulse für sozialen Wandel
24         Arnd Bauerkämper
                                                                                                                                        143 Colin    Crouch
           Zwischen Sozialstaat und kultureller He-
           terogenität. Philanthropie und Patronage                                                                                           Neue Formen der Partizipation. Zivilgesell-
           in deutschen und amerikanischen Städten                                                                                            schaft, Rechtspopulismus und Postdemo-
           im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert                                                                                           kratie
                                                                                                                                        153 Kai-Uwe   Hellmann
37         Susanne-Sophia Spiliotis
           Business Statesmanship: Zeit- und Ver-                                                                                             Prosumismus und Protest. Eine Polemik
           antwortungskonzepte der internationalen
           Privatwirtschaft im 20. Jahrhundert                                                                                          Teil III: Möglichkeitsräume:
                                                                                                                                        Ideengeschichte und politische Theorie
48         Michael Prinz
                                                                                                                                        164 Werner    Plumpe
           Genossenschaften, Konsum und Demokra-
           tie 1850 -2000. Versuch eines Überblicks                                                                                           Debatten über die Gestaltbarkeit des Ka-
                                                                                                                                              pitalismus 1900-1933.
60         Susanne Elsen/Heike Walk
                                                                                                                                        181 Christiane   Mossin
           Genossenschaften und Zivilgesellschaft.
           Historische Dynamiken und zukunftsfähige                                                                                           Vergessene Potenziale assoziativen Lebens.
           Potenziale einer öko-sozialen Transformation                                                                                       Pluralismus, Funktionalismus und Freiheit
                                                                                                                                              in der Vorstellung von G.D.H. Cole und
73         Wolfgang Schroeder                                                                                                                 H.J. Laski
           Die Politik der Zähmung des Kapitalismus
                                                                                                                                        190 John   Keane
           im Wandel
           Mitbestimmung und Beteiligung                                                                                                      Gleichheit Revisited. Überlegungen zum
                                                                                                                                              Verhältnis von Zivilgesellschaft und Märk-
86         Markus Promberger/Theodosia Marinou-                                                                                               ten
           di/María Paz Martín Martín
                                                                                                                                        203 Jean-Louis   Laville
           Unter der erschütterten Oberfläche: Sozi-
           oökonomische Praktiken, Zivilgesellschaft                                                                                          Kritische Theorie und solidarische Ökono-
           und Resilienz in der europäischen Krise                                                                                            mie. Von den Frankfurter Schulen zu den
                                                                                                                                              Epistemologien des Südens

                                                                                                                                        FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 29. Jg. 3 | 2016
2|                                                                                                                                                                                                                                                            Inhalt

Sonderschwerpunkt:                                                                                                                      Literatur
                                                                                                                                        .....................................................................................................................................
Politische Strategie
.....................................................................................................................................
                                                                                                                                        252        Dennis Eversberg
218        Ralf Tils/Joachim Raschke                                                                                                               Postwachstum und Degrowth – noch Dis-
           Große und kleine Übel. Parteistrategien                                                                                                 kursraum oder schon Bewegung?
           vor der Bundestagswahl 2017                                                                                                             (D‘Alisa, Giacomo/Demaria, Federico/
                                                                                                                                                   Kallis, Giorgos (Hg.) 2016: Degrowth –
222        Armin Laschet
                                                                                                                                                   Handbuch für eine neue Ära. München:
           Super-Wahljahr 2017
                                                                                                                                                   oekom; Blätter für deutsche und internati-
           Strategische Perspektiven der CDU in
                                                                                                                                                   onale Politik (Hg.) 2015: Mehr geht nicht!
           Nordrhein-Westfalen und im Bund
                                                                                                                                                   Der Postwachstums-Reader. Berlin: Edition
226        Dietmar Bartsch                                                                                                                         Blätter.
           Neue Führung – neue Chance für ein
                                                                                                                                        255        Melanie Müller
           Linksbündnis?
                                                                                                                                                   Alternativen zum derzeitigen Wirtschafts-
230        Matthias Jung                                                                                                                           system
           Merkels Formel der Macht. Zwischen                                                                                                      Adloff, Frank/Heins, Volker 2015: Konvivi-
           Mitte und Modernisierung                                                                                                                alismus. Eine Debatte. Bielefeld: transkript.
                                                                                                                                                   Fatheuer, Thomas/Fuhr, Lili/Unmüßig,
                                                                                                                                                   Barbara 2015: Kritik der grünen Ökono-
Pulsschlag                                                                                                                                         mie. München: oekom Verlag.
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                                                                                                                                                   Latouche, Serge 2015: Es reicht! Abrech-
235        Carolin Philipp                                                                                                                         nung mit dem Wachstumswahn. Mit einem
           Von Protest zur Schaffung von Alternativ-                                                                                               Vorwort von Niko Paech. München: oe-
           strukturen: Solidarische Hausbesetzungen                                                                                                kom Verlag.
           in Athen
                                                                                                                                        259        Oliver Nachtwey
237        Daniel Häfner/Daniela Schmidtke/Fran-                                                                                                   Post-Kapitalismus als neues Ordnungsmo-
           ziska Scholl                                                                                                                            dell?
           Pro Lausitzer Braunkohle vs. Ende Gelän-                                                                                                Mason, Paul 2016: Post-Kapitalismus.
           de. Eine erneute Annäherung an gesteuerte                                                                                               Grundrisse einer kommenden Ökonomie,
           Bürgerinitiativen                                                                                                                       Berlin: Suhrkamp.
241        João Pedro Stédile                                                                                                           261        Kai-Uwe Hellmann
           Die Putschisten in Brasielen haben gezeigt,                                                                                             Verbraucherorganisationen – wirtschaftsso-
           was sie im Schilde führen                                                                                                               ziologisch beobachtet?
243        Benjamin Bunk                                                                                                                           Nessel, Sebastian 2016: Verbraucherorga-
           Kommentar zu „Die Putschisten in Bra-                                                                                                   nisationen und Märkte. Eine wirtschafts-
           sielen haben gezeigt, was sie im Schilde                                                                                                soziologische Untersuchung. Wiesbaden:
           führen“                                                                                                                                 Springer VS Verlag.

244        AK Stadt/Raum                                                                                                                263        Anaël Labigne
           Städte in Bewegung – städtische Bewegun-                                                                                                Unternehmen im öffentlichen Raum –
           gen? Neuer Arbeitskreis Stadt/Raum am In-                                                                                               Grundlegender Sammelband oder Sam-
           stitut für Protest- und Bewegungsforschung                                                                                              melsurium?
                                                                                                                                                   Hüther, Michael/Bergmann, Knut/Enste,
248        Melanie Müller                                                                                                                          Dominik (Hg.) 2015: Unternehmen im
           Theater: Ein Ort für Gesellschaftskritik?                                                                                               öffentlichen Raum. Zwischen Markt und
                                                                                                                                                   Mitverantwortung. Wiesbaden: Springer
                                                                                                                                                   VS.

FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 29. Jg. 3 | 2016
Inhalt                                                                                                                                                                               |3

268 Johannes     Emmerich                              279        Abstracts
                                                       .....................................................................................................................................
      Licht auf ein Engagement im Schatten
      Voigtländer, Leiv 2015: Armut und Engage-        290        Impressum
                                                       .....................................................................................................................................
      ment. Zur zivilgesellschaftlichen Partizipati-
      on von Menschen in prekären Lebenslagen.
      Bielefeld: transcript.                           FJSBplus
                                                       .....................................................................................................................................

270   Ansgar Klein
      Unternehmen vor Gericht                          Alle Artikel der Rubrik FJSBplus sind frei
      Kaleck, Wolfgang/Saage-Maaß, Miriam              zugänglich unter www.forschungsjournal.de
      2016: Unternehmen vor Gericht. Globale
      Kämpfe für Menschenrechte, Berlin: Verlag        Positionspapier des Vereins deutscher Archiva-
      Klaus Wagenbach.                                 rinnen und Archivare e.V. (VdA)
272   Ansgar Klein                                     Zur Zukunft der Archive von Protest-, Freiheits-
      Ein Beitrag zur modernen Ideengeschichte         und Emanzipationsbewegungen
      des Republikanismus
      Schulz, Daniel 2015: Die Krise des Repu-         Wer von der Demokratie sprechen will,
      blikanismus, Baden-Baden: Nomos.                 der darf vom Kapitalismus nicht (mehr)
                                                       schweigen.
276   Friederike Rohde                                 Bericht über die Tagung „Ziemlich beste
      Öffentlichkeitsbeteiligung zwischen neo-         Feinde. Das spannungsreiche Verhältnis von
      liberalem „Bargaining“ und deliberativer         Demokratie und Kapitalismus“, 23.06.-25.06.,
      Ermächtigung                                     Schader-Forum, Darmstadt.
      Sophia Alcántara/Nicolas Bach/Rainer
      Kuhn/Peter Ullrich 2016: Demokratie-
      theorie und Partizipationspraxis. Analyse
      und Anwendungspotentiale deliberativer
      Verfahren. Wiesbaden: Springer. Reihe
      „Bürgergesellschaft und Demokratie“

                                                        FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 29. Jg. 3 | 2016
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