Hälfte des Lebens Wortgeschichtliche Erläuterungen zu Hölderlins Gedicht

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Hälfte des Lebens
     Wortgeschichtliche Erläuterungen zu Hölderlins Gedicht

                                          Von Ulrich Knoop

                                                        I.

Hälfte des Lebens gehört zu den wenigen Gedichten, die Hölderlin selbst zum Druck gegeben
hat. Es erschien Ende 1804 in einem Taschenbuch für das Jahr 1805. Dieses kurze Gedicht fand
sofort Resonanz: heftig geäußertes Unverständnis in Rezensionen, aber auch begeisterte Auf-
nahme bei Brentano, den Arnims und anderen. Zwar wird das Gedicht noch in der Ausgabe von
Christoph Theodor Schwab 1846 unter die „Zeit des Irrsinns“ eingeordnet, dennoch findet das
Gedicht im 19. Jahrhundert weiterhin Beachtung.1 Den vollen Rang erlangt Hälfte des Lebens
dann im 20. Jahrhundert. George, Benn, Celan, Trakl oder Jean Amery und viele mehr äußern
sich dazu, es gibt unzählige Übersetzungen, Vertonungen und Bilder bzw. Drucke.

Mit dieser Verbreitung schwand auch das Unverständnis, und es kam zu einer weitgehend
einigen Auslegung der Verse. Das Gedicht hat demnach eine biographische Aussage, nämlich
den Blick auf zwei Jahreszeiten, die wie zwei Lebenshälften erscheinen: eine sommerlich
erfüllte mit einer See-Idylle und eine ausweglos erstarrte winterliche mit klirrender Kälte und
kalten Mauern. Von einer Lebensmitte aus, die nun erreicht ist, geht der Blick auf eine dann
folgende karge zweite Lebenshälfte.

Dem steht aber die Formulierung des Titels entgegen. Schon Wolf gang Binder weist darauf hin,
daß der dann „Hälften“ lauten müsse.2 Wäre hier aber „Hälfte“ als „endpunkt eines halben
theils, die mitte“ gemeint,3 also das, was Gerhard Neumann das „Bewußtsein“ von der „ein-
schneidenden Kraft“ dieser Lebensmitte nennt,4 dann müßte eigentlich diese Situation des
Einschnitts aufgenommen und die erste Hälfte als zurückliegend, zumindest aber als nicht
gegenwärtig geschildert werden. Die See-Idylle hingegen ist eine Natur- und keine Lebensschil-
derung, während die Frage „wo nehm’ ich“ existentiell, also lebensbezogen ist. Hieran wird
erkennbar, daß Wörter und Wortfolgen des Gedichts bei der inhaltlichen Auslegung Schwierig-
keiten bereiten – ganz besonders deutlich wird das am Verhältnis von Gedichtüberschrift und
Inhalt der beiden Strophen.

        1
          Beispielhaft der Beitrag von Hermann Kurz: „Gedichte von Hölderlin“. Der Text aus dem Morgenblatt
für gebildete Leser von 1838 ist abgedruckt in StA VII4,183-185. Die Rezensenten äußern sich u.a. so: „Unter den
Gedichten sind [...] neun [...] von Hölderlin höchst lächerlich.“ – Harro Stammerjohann: Ein Exempel aus der
W irkungsgeschichte Hölderlins: Hälfte des Lebens. In: Etudes Germaniques 21, 1966, 388-393; 388.

        2
            W olfgang Binder: Hölderlin-Aufsätze, Frankfurt a.M. 1970, 357f.

        3
         Deutsches W örterbuch von Jacob Grimm und W ilhelm Grimm, Leipzig 1854ff. Zitiert wird nach der
dtv-Ausgabe von 1999 als DW B dtv-Bd. und Spaltenangabe: DW B dtv-Bd. 10, Sp. 225.

        4
          Gerhard Neuman: Rudolf Borchardt – Der unwürdige Liebhaber. In: Zeit der Moderne. Zur deutschen
Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, hrsg. von Hans-Henrik K rummacher, Fritz Martini und
W alter Müller-Seidel, Stuttgart 1984, 89-118; 92.
Solche Verstehensschwierigkeiten sind belebender Ausgangspunkt der Fragen, die dieser Text
für unser geistiges Umfeld bereit hält. Und so ist er „klassisch“ in einem herausfordernden Sinn:
Klassisch ist das, was wir immer noch erkunden wollen. Das bezeichnet Manfred Fuhrmann als
die primäre Dunkelheit eines Textes. Darüber wird aber eine zweite Schwierigkeit undeutlicher,
die die sprachliche Vermittlung mit sich bringt: ältere Texte haben einen Sprachgebrauch, der
zu unserem in einigen Hinsichten different ist, weil sich unsere Sprache gegenüber der früheren
durch Sprachwandel verändert hat. Das nennt Fuhrmann die sekundäre Dunkelheit:5 viele
Wörter aus der Zeit um 1800 verstehen wir anders und zum Teil gar nicht mehr. Dieses Wort-
verständnis betrifft auch die Lebenswelt und die Gedankenwelt, die die Wörter aufrufen. Auch
sie hat sich verändert. Vieles, was damals selbstverständlich war, ist uns heute ungewohnt, ja
unbekannt. Die Erkenntnis und auch die Akzeptanz dieser Differenz wird uns bei einem literari-
schen Text aber erschwert, weil die durchgängige Beschäftigung mit ihm diesen als quasi
gegenwärtig und nicht different erscheinen läßt. Die lexikographische Erläuterung wiederum
kann nicht bei der Erklärung der allgemeinsprachlichen Bedeutung eines Wortes stehenbleiben,
weil Texte immer eine spezifische Realisierung aufweisen und diese ist nur aus dem textlichen
Umfeld heraus zu bestimmen. Das erfordert die Heranziehung der literaturwissenschaftlichen
Bedeutungserklärungen aus den Interpretationen, denn sie geben reichhaltige Begründungen
zum möglichen Wortverstehen. Darüber kann die wortgeschichtliche Erläuterung nicht hinweg-
gehen, sie muß vielmehr umgekehrt auch ihr Verständnis von einem Text darlegen, um die
einzelnen Bestimmungen einer Wortbedeutung begründen zu können. Insofern legt diese
Darstellung eine Annäherung von Sprach- und Literaturwissenschaft nahe, die früher vorhanden
war, aber mit der damaligen „Etymologisierung“ zu unpräzise war.

Diese sekundäre, sprachliche Dunkelheit muß also erhellt werden, indem man von der Selbst-
verständlichkeit der heutigen Bedeutungen einen Abstand zu gewinnen sucht und die Lebens-
welt und die Wortverwendungen von damals erkundet.6 Das geschieht schon seit längerem. So
mußte man vor einem halben Jahrhundert z.B. das Wort „Fahne“ erklären (StA II, 666), obwohl
dessen Bedeutung ‘Wetterfahne’ noch um 1880 präsent war, also ‘Tuchfahne’ nicht gemeint
sein konnte. Bei „hold“ fällt uns das Verständnis auch nicht leicht, weil es heute pejorisiert ist
als ironischer Ausdruck. Daß das aber für die Zeit um 1800 nicht gelten kann, wurde erkannt.
Rolf Zuberbühler gab hierfür eine etymologische Erklärung: über den ursprünglichen Zu-
sammenhang mit „Halde“ (= ‘Abhang’) deutete er „hold“ als Geneigtsein und bezog es auf die
Kopf- und Halsneigung der Schwäne.7 In dieser Art von Erklärung (Etymologie) wird die
wortgeschichtliche Verfahrensweise zu ungenau angewandt. Denn sprachhistorische Entdeckun-
gen vom Ende des 19. Jahrhunderts, die möglicherweise für die Zeit des frühen Mittelalters und
noch weiter davor gegolten haben, können nicht als Sprachwissen von Hölderlin angesetzt
werden. Zutreffend sind hier die Gebrauchsweisen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Und da
gibt das Wörterbuch von Adelung folgende Bedeutungserklärung: „Geneigt, des anderen Glück

        5
           Manfred Fuhrmann: Kommentierte Klassiker? Über die Erklärungsbedürftigkeit der klassischen deutschen
Literatur. In: Warum Klassiker? Ein Almanach zur Eröffnungsedition der Bibliothek deutscher Klassiker, hrsg. von
Gottfried Honnefelder, Frankfurt a.M. 1985, 37-57; 43.

        6
         Hinweise und Erkenntnisse zum Bedeutungsrahmen der W örter und W endungen ergeben sich aus dem
Projekt Klassikerwortschatz. Vgl. Ulrich Knoop: Der lexikalische Kommentar. Der differente W ortschatz und die
Methodik der Erklärung. In: editio 18, 2004,187-212.

        7
         Rolf Zuberbühler: Hölderlins Erneuerung der Sprache aus ihren etymologischen Ursprüngen, Berlin 1969,
94.
gerne zu sehen, Liebe gegen denselben zu empfinden“.8

Bei einem weiteren Wort hat man schließlich resigniert: „[...] hänget [...] Das Land in den See
[...]“. Die Erklärungsversuche, die einen Überhang der Pflanzen annehmen, leuchten nicht ein,
denn es ist das Land, das „hänget“. Diese Vorstellung vom Hineinhängen des Landes in den
See, sei etwas ungewöhnlich, meint Karl Eibl, aber das brauche nicht zu stören.9 Eine Klärung
ergibt sich aus dem Sprachgebrauch um 1800, wie er in den Wörterbüchern verzeichnet ist. Dort
erhalten wir den Hinweis darauf, daß Hölderlin eine damals gängige, heute aber vergangene
Bedeutung von ‘hängen’ gebraucht, nämlich ‘einen Abhang bilden’. Im Wörterbuch von
Adelung heißt es dazu: „Eine Fläche hängt, wenn sie abhängig ist, sich unter den Horizont
neigt“10, und im Schwäbischen Wörterbuch wird die Bedeutung von „hängen“ ‘sich neigen,
abwärts geneigt sein’ sogar für die Wendung „hangendes Land“ verzeichnet. Die Bedeutung von
‘über-hängen’, die für uns naheliegend ist, wird um 1800 von ‘hängen’ noch deutlich getrennt:
„An der Seite, wo man von Burghausen hereinkömmt, hängen die Felsen so nahe an die Häuser
der Straße, daß es scheint, als wenn sie gar über die Häuser hängen“.11

                                                                 II.

Verstehensschwierigkeiten bereitet auch der letzte Vers des Gedichts. Obwohl „Im Winde
klirren die Fahnen“ eine verständliche. Aussage zu sein scheint, wurde immer wieder versucht,
eine Erklärung zu finden.

          8
         Grammatisch-kritisches W örterbuch der Hochdeutschen M undart, mit beständiger Vergleichung der
übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, von Johann Christoph Adelung. Zweyte vermehrte und
verbesserte Ausgabe, Leipzig 1793 ff. Bd. 2, Sp. 1262; künftig zitiert als Adelung. Ähnlich wird das erklärt in
DW B dtv-Bd. 10 unter 2) „freundlich, geneigt, liebend“ sein, Sp. 1734. Trübners W örterbuch ergänzt: seit dem 17.
Jahrhundert wendet sich die Bedeutung zu „Neigung veranlassend“. Derjenige also, der einen anderen mit „hold“
apostrophiert, erhofft dessen Wohlwollen oder löst dieses gar aus. (Trübners Deutsches W örterbuch. Im Auftrag der
Arbeitsgemeinschaft für deutsche W ortforschung hrsg. von Alfred Götze, Berlin 1939-1957, Bd. 3, 467f.).

          9
         Karl Eibl: Der Blick hinter den Spiegel. Sinnbild und gedankliche Bewegung in Hölderlins Hälfte des
Lebens. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 27, 1983, 222-234; 224.

          10
               Adelung, Bd. 2, Sp. 964-965. W as im heutigen Deutsch für das Substantiv „Hang“ in der Bedeutung
‘geneigte Fläche’ gilt, hat im Deutschen um 1800 noch seine verbale Entsprechung in „hängen“, nämlich ‘(sich)
neigen’, also einen (Ab-) Hang bilden. Das Deutsche Wörterbuch folgt hier Adelung und bucht unter „hangen“
(DW B dtv-Bd. 10, Sp. 445, Bedeutung 4, die Umlautschreibung ist Variante): „der begriff hangen verläuft in den
schwächeren neigen, nach unterwärts geneigt sein [...] a) sinnlich: eine tischplatte die sich gezogen hat, hangt nach
der einen oder ändern seite“. Ähnlich Campe zuvor: eine Fläche hängt, wenn sie nicht wassergleich ist, sondern sich
unter die W asserebene neiget (vgl. Joachim Heinrich Campe: W örterbuch der deutschen Sprache. 5 Theile.
B r a u n sc h w e i g 1 8 0 7 -1 8 1 3 , B d . 2 , 5 4 5 ). D ie s e B e d e u tun g d e s W o rte s find e t s ic h vo r a lle m i n
Geländebeschreibungen und Flurbezeichnungen im alemannischen Sprachraum, so z.B. in den W endungen: „uf der
hangenden Matten“, „hangenden Stüden“, Schweizer Idiotikon, Bd. 2, Sp. 1442, mit der Bedeutungserläuterung:
„abwärts hangenden, sich neigenden [...]“; „hangende wiese“, „hangendes Land“(!), „hangender W eg“
(Schwäbisches W örterbuch. Aufgrund der von Adelbert v. Keller begonnenen Sammlungen und mit Unterstützung
des württembergischen Staates bearbeitet von Hermann Fischer, Bd. 3, Tübingen 1911, Sp. 1148f.).

          11
          Philipp W ilhelm Gercken: Reisen durch Schwaben, Baiern, angränzende Schweiz, Franken, und die
Rheinischen Provinzen etc. in den Jahren 1779-1782, W ormsl788, Bd.2, 5f.
„Klirren“ benennt ein Geräusch, das den Gehörsinn anspricht. Dennoch wechselt in den sech-
ziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Sinnesbezug in den Erläuterungen zu diesem Vers. Es
kommt nun auf, „klirren“ klimatisch zu verstehen: „Klirren ruft als lautmalendes Wort sogleich
die Erinnerung an klirrenden Frost hervor“.12 Eine solche Auslegung ist ein übliches Vorgehen:
Wörter eines Textes versteht man gemäß dem eigenen Bedeutungswissen. So auch hier: In den
fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts kommt eine Wendung auf, in der „klirren“ mit ‘Kälte’,
‘Frost’ oder ‘Winter’ verbunden wird und dann die Bedeutung ‘erhebliche Kälte, bitterer Frost’
anzeigt. Die erste Buchung dieses Syntagmas findet sich 1970 im Wörterbuch der deutschen
Gegenwartssprache.13 Im Band V des Deutschen Wörterbuchs von 1873 fehlt diese Bedeutung
(noch)! „Klirren“, alleinstehend, scheidet also als Hinweis auf eine winterliche Kälte aus. Die
Bedeutung ‘Kälte’ ergibt sich aus der lexikalisierten Verwendung in einer besonderen syntakti-
schen Konstruktion, und diese wiederum wird erst seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts
verwendet.

Aber auch das Geräusch von „klirren“ wird heutzutage recht dramatisch aufgefaßt: öder Ton,
klirrender Mißton bzw. metallenes Krächzen.14 Nun können wir uns vorstellen, was Wetterfah-
nen sind. Trotzdem müssen wir deren Lebenswirklichkeit vergegenwärtigen, weil der Bogen der
Aussage (oder des Bildes) von dort aus gespannt wird. Hölderlin evoziert seine Umwelt und
setzt sie ganz selbstverständlich voraus. Um 1800 gab es nämlich sehr viele Wetterfahnen in den
Städten und Dörfern, es ist ihre Hoch-Zeit.

Wie sah eine solche Wetterfahne aus? Antwort gibt Zedlers Universallexikon: „um den obern
Theil dieser Stange [der Spindel oder des Dorns] beweget sich eine blecherne Tafel – die, weil
sie mit der Figur einer Fahne übereinkommt, oder, weil sie sich wie eine Fahne so leicht vom
Winde bewegen läßt, eine Wetter = Fahne genennet wird. Rostet sie, so kann auch der stärkste
Wind sie nicht lösen.“15

Die Benennung „Fahne“ wird hier erklärt, ihre leichte Beweglichkeit und ihr möglicher Still-
stand durch Rost. Der Reichtum an weiteren Bezeichnungen deutet auf eine große Verbreitung
hin: Turmfahne, Turmhahn, Wetterhahn, Hahn, Windfahne. Ein literatursprachliches Interesse
an der Wetterfahne wird zum Ende des 18. Jahrhunderts greifbar. Z.B. als höchster Punkt eines
Gebäudes: Die Dornenhecke wuchs so über das Schloß hinaus, „daß gar nichts mehr davon zu

         12
           Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. Ein Grundriß der
Interpretation. Bd. 1. Von Goethe bis Heine, Frankfurt a.M. 1988,286. Vgl. auch Hans Jürgen Geerdts: Zu
Hölderlins Gedicht Hälfte des Lebens [1962]. In: Zu Goethe und anderen. Studien zur Literaturgeschichte, Leipzig
1982,188, der „vereiste W etterfahnen, Eiszapfen und Eiskristalle“ assoziiert; und Kurt B inneberg, der auf die
W ortverbindung „klirrende Kälte“ abhebt (Interpretationshilfen Deutsche Lyrik: Von der Klassik bis zur Romantik,
Stuttgart 1995, 110).

         13
           W örterbuch der deutschen Gegenwartssprache, hrsg. von Ruth Klappenbach und W olfgang Steinitz, Bd.
3, Berlin 1970, 2118.

         14
          Ludwig Strauß: Friedrich Hölderlin. Hälfte des Lebens [1963]. In: Deutsche Lyrik von W eckherlin bis
Benn, hrsg. von Jost Schillemeit, Frankfurt a.M . 1965, 115 und 121. – Paul Maloney: Bild und Sinnbild in
Hölderlins Hälfte des Lebens. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 61, 1980, 47.

        15
          Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universallexicon aller W issenschaften und Künste, Halle
und Leipzig 1732 ff., s.v. „Wetterfahne“.
sehen war, selbst nicht die Fahne auf dem Dach“16 oder eine Feuersbrunst soll so gewaltig sein,
daß sie bis zur Spitze des Turms reicht und seine Fahne schmelzen mag (Hyperion oder der
Eremit in Griechenland, StA III, 107).

Mit der Nennung des Drehgeräuschs17 können neben Witterungen auch Stimmungen angedeutet
werden und – zunächst verblüffend – auch Stille. Die Kennzeichnungen sind vielfältig: drehen,
knarren (Eichendorff, Storm) oder rucken (Storni), dann eher menschlichen Äußerungen
zugewandt: ächzen (Grün, O. Ludwig), stöhnen (Mörike), greinen (Bettine von Arnim), schreien
(Eichendorff) und kreischen (Goecking, Bürger, Bettine von Arnim, Raabe, Storm). Das
Geräusch der Wetterfahnen wird auch eindrucksvoll zur Orchestrierung von Schauerlichkeit
eingesetzt: „Der Sturm trillte [drehte] mit wild spielendem Finger die verrosteten Wetterhähne
und -fahnen und lachte schrill in ihr Geächze.“18 Solche Wendungen mögen wohl der Auslöser
für die heutige Auslegung des Wetterfahnengeräuschs gewesen sein.
Aber auf unseren Text trifft diese Auslegung nicht zu, denn Hölderlin wählt „klirren“, und er ist
der erste, soweit man das nach der Beleglage sagen kann, der dieses Verb zur Beschreibung des
Geräusches von Wetterfahnen verwendet.

Was für ein Geräusch meint „klirren“? Adelung beschreibt das so: ›Klirren‹ [...] welches einen
gewissen hellen, halb klingenden, halb aber zitternden Schall nachahmet“ (Bd. 2, Sp. 1637).
Und was für ein Klang das ist, hängt von der Art des bewegten Gegenstands ab. Solche Klänge
erzeugen gläserne Dinge, hauptsächlich aber metallene Gegenstände wie Sporen, Ketten aller
Art, Waffen (was jeweils zu Substantivierungen geführt hat: Sporengeklirr etc.), Geldstücke,
Tür- und Fensterangeln – ähneln der Mechanik von Wetterfahnen –, und schließlich Tamburins,
Bogensehnen und der Schnitt von Sicheln und Sensen (also eher ein tieferer Klang).

Nun gibt es eine Formulierung für den Eindruck von Stille, der damit aufgebaut wird, daß man
ein nur geringfügiges Geräusch hört und sich fragt, was es gewesen sein könnte. Und hier
kommen Wendungen auf, die das mit „klirren“ anzeigen. Schiller entwickelt das in dem Gedicht
Erwartung für den Aufbau der Spannung, ob ein Kommen, ein heimliches Herantreten erfolgen
könnte:

                                   Hör ich das Pförtchen nicht gehen?
                                   Hat nicht der Riegel geklirrt?
                                   Nein, es war des Windes Wehen,
                                   Der durch diese Pappeln schwirrt.19

        16
           Dornröschen, In: Jacob und Wilhelm Grimm. Kinder- und Hausmärchen, hrsg. von Heinz Rölleke,
Stuttgart 1980, Bd. l, 259.

        17
         Darauf hebt auch der Artikel im DW B dtv-Bd. 29, Sp. 722 ab: „charakteristisch ist das geräusch der vom
winde bewegten wetterfahne“.

        18
          Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde [1856], Stuttgart 1989, 190; ähnlich schon im 18. Jahrhundert
bei G. A. Bürger.

        19
        Friedrich Schiller. Sämtliche W erke, hrsg. von Gerhard Fricke, 4., durchgesehene Auflage 1965, Bd. l,
München 1965, 401.
Und so zeigt auch das Klirren der Wetterfahnen in Texten um 1800 Stille an. In zeitlicher Nähe
zu Hälfte des Lebens, 1808, veröffentlicht Kleist einige Partien des Käthchens von Heilbronn
(11/10-16) in der Zeitschrift Phöbus mit folgender Wendung:

                  Kunigunde.        Horch! Rasch die Sachen weg, Rosalie.
                  Rosalie.          Was träumt Ihr? Es ist niemand.
                  Kunigunde.        Niemand?
                  Rosalie.          Niemand. Der Windzug war’s, der mit der Wetterfahne geklirrt.
                  Kunigunde.        Mich dünkt’, es war sein Fußtritt.– Nun [...].20

Für Hälfte des Lebens ergibt sich daraus: die einzige Erwähnung eines Tons betrifft ein relativ
leises Geräusch aus der Dingwelt. Über die inversive Stellung wird der Verursacher zuerst
genannt: „Im Winde“. Die Fahnen klirren nur dann, wenn der Wind aus verschiedenen Richtun-
gen weht. Weht der Wind nur aus einer Richtung, klirren die Fahnen nicht, denn dann halten sie
die eine Ausrichtung. Dieses Geräusch ist also nur ab und an zu hören. Mit der Erwähnung von
Wetterfahnen wird auf ihre Standorte verwiesen: Stadt- und Kirchtürme und Dächer von
Häusern, hoch oben über den Straßen und Gassen. Wenn das Faktische an dieser Aussage
gewürdigt wird,21 dann sagt der Satz etwas über das Drehgeräusch der Wetterfahnen: ist es von
dort oben her unten als „klirren“ zu hören, so geht das nur, wenn sonst alles still ist. Hervor-
gehoben wird also etwas Besonderes: das Ausbleiben anderer Geräusche. Und so entfaltet sich
aus der einfachen Aussage ein ganzer Kranz von Eindrücken: die geräuschvolle Geschäftigkeit
des Alltags – beeindruckend dargestellt in Heidelberg: „die Brüke, / Die von Wagen und
Menschen tönt“ (StA II, 14, v. 8 f.) – ist zum Stillstand gekommen.

Der Schluß von Hälfte des Lebens ist der Verweis auf die Leere der Welt. Gerhard Kaiser hat
das als Nichtantwort der Welt aufgefaßt.22 Aber die Aussage ist noch deutlicher: Diese „Welt“
kann gar nicht antworten. Für den Dichter ist sie verstummt.

         20
            Heinrich von Kleist. W erke. Im Verein mit Georg Minde-Pouet und Reinhold Steig hrsg. von Erich
Schmidt, Leipzig und Wien [1904-1906], Bd. 4, 366. Das Geräusch von W etterfahnen als Anzeichen für Stille
findet sich auch in der Übersetzung von Shakespeares Viel Lärm um nichts durch W olf Graf von Baudissin (1829):
„Borachio. Hörtest du nicht eben jemand? Konrad. Nein, es war die Fahne auf dem Hause“ (III, 3). Interessant ist,
daß der Shakespeare-Text „vane“ formuliert, also W etterfahne. Eichendorff, Schloß Dürande: „es war so still, daß
er den Zeiger der Schloßuhr langsam fortrücken und die W etterfahnen im W inde sich drehen hörte“. (Eichendorff.
W erke und Schriften, hrsg. von Gerhard Baumann, B d. 2, Stuttgart 1957, 827) Etwas früher als Kleist, ca. 1807,
bezeichnet Achim von Arnim im Gedicht Die Wetterfahne das Drehgeräusch mit „klirren“: „Sie drehet sich
geschwinde / Und steht doch fest im W inde / Es spielt drinn der Wind / W ie ein unartig Kind. / Das Glück kann
Gott nur geben / Die Sonne will sich heben / Die Fahne klirrt im Glanz / Das W etter ändert ganz.“ (W erke in sechs
Bänden, hrsg. von Roswitha Burwick u.a., Bd.5: Gedichte 1806-1808, Frankfurt a.M . 1990, 392). Der
Kommentator vermutet Hölderlins Einfluß, was plausibel ist, da Achim von Arnim das Taschenbuch auf das Jahr
1805 mit dem Gedicht-Text besaß.

         21
          Ich folge hier einem Hinweis von Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni: Analecta
Hölderliniana. Zur Hermetik des Spätwerks, W ürzburg 1999, 9.

         22
          Kaiser [Anm. 12], 287.
III.

Bei den Fahnen endet eine Blickrichtung, die vom See aus zu den Dächern und von dort zu den
Wetterfahnen als den höchsten Punkten geht. Dazwischen werden die Mauern erblickt.– Das
Wort „Mauern“ klingt abweisend und ausschließend,23 so daß dieser Vers, insbesondere über die
Wendung „kalt“, wiederum als ,’winterlich’ und ‘lebensfeindlich’ empfunden wurde. Sprachlich
ist „Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt“ merkwürdig, denn das spricht Eigenschaften an, die
Mauern eigentlich nicht haben. Es wird gesagt, daß diesen Mauern zweierlei fehlt. Einmal:
Wärme. Aber warum sollen Mauern, verstanden als einfriedende oder abwehrende Mauern,
erwärmt sein? Und dann „Sprache“ – welche Mauern haben mit Sprache zu tun? Wenn mit den
„Fahnen“ Türme und Dächer aufgerufen werden, dann hat der Blick auch die Häuser der
Menschen erfaßt.24 Dort wohnen die Menschen, und sie schüren das Feuer im Herd, dessen
Rauch sichtbar werden kann: „[...] und es blühet / An Dächern der Rauch, bei alter Krone / Der
Thürme, friedsam [...]“ (Mnemosyne, StA II, 193, v. 21-23), ähnlich Die Muße: „Und die
Dächer umhüllt, vom Abendlichte geröthet / Freundlich der häußliche Rauch [...]“ (StA I, 236,
v. 24 f.). Die Mauern sind deshalb kalt, weil die Feuer erloschen sind. Und diese Mauern sind
sprachlos, weil die Häuser nicht von der Sprache der Menschen erklingen. Diese Welt ist
unbelebt, und dem Dichter fehlt die Resonanz auf seine Frage: „wo nehm ich“. Man könnte
sagen, daß hier das „Ende des Dichtertums“ angedeutet wird,25 wäre da nicht die Zeitdifferenz
zwischen dem Raum jetzt und der Frage nach den Möglichkeiten des Dichtens im kommenden
Winter.

                                                           IV.

Die Verse 12-14 sind eine Angabe zum Raum. Eine Zeit, nämlich der Winter, wird als tempora-
le oder konditionale Möglichkeit genannt, er herrscht jetzt noch nicht.26 Aus dem erläuterten
Schlußsatz wird deutlicher, woran das Ich verzweifelt. Das Ich will etwas nehmen, von dem es
befürchtet, daß das dann nicht dort sein wird. Das Ich fragt: „wo nehm ich“, es fragt also nach
dem Ort, wo das sein sollte, was es benötigt. Das Ich fragt zweimal, wo es das, was es „Blumen,
Sonnenschein und Schatten der Erde“ nennt, nehmen kann, es sagt nicht wann oder sagt, daß es
den Winter fürchtet, schon gar nicht seine Kälte und seinen Frost. Im Gegenteil: im Winter will
das Ich ja etwas „nehmen“. Daraus geht hervor, daß das an sich vorhanden sein muß und daß
das Ich daran teilhaben möchte. Also ist „nehmen“ im Sinne von ‘teilnehmen, teilhaben’ zu
verstehen. Und: das Ich erwartet, daß diese Dinge, die es braucht, an und für sich im Winter da
sein müßten. Das lenkt den Blick darauf, daß Hölderlins Auffassung vom Winter eingebunden
ist in seine Überlegungen zu den Jahreszeiten. Das wird auch anderswo angesprochen. Dem
Winter wird trotz der zugestandenen „Fülle“ des Herbstes in Stutgard (StA II, 86, v. 21) eine
besondere Position zugesprochen: „Hält ein Ernsteres dich, so spars dem Winter [...]“ (ebd., v.
25). In neueren Forschungen wird diese Sicht Hölderlins auf den Winter stärker beachtet: Der

           23
                Jochen Schmidt: Sobria ebrietas. Hölderlins Hälfte des Lebens. In: HJb 23, 1982-1983, 182-190; 184.

           24
                Vgl. Eibl [Anm. 9], 226.

           25
                Schmidt [Anm. 23], 187.

           26
                So sieht es auch Eibl [Anm. 9], 225, der noch feststellt: „Eis, Schnee und was sonst noch denkbar wäre
fehlen.“
Winter ist für Hölderlin die Zeit der zyklischen Erneuerung.27 Dann wird am Nachthimmel das
Sternbild der Dioskuren sichtbar, für ihn das Bild des Sternenlaufs schlechthin. „Schatten der
Erde“ wäre nun neu zu klären, denn bislang wurde hier nur der Schatten bedacht, der tagsüber
aus der Unbesonntheit entsteht. Es heißt aber „Schatten der Erde“, ist also besonders gekenn-
zeichnet und soll sich vom üblichen (Sonnen-)Schatten unterscheiden.28 Tatsächlich gibt es um
1800 diese Wendung öfter, um eine besondere Konstellation zu benennen: das Leben in der
Nacht. Es geht also nicht um das Nachtdunkel (finstere Nacht). Das wird deutlich aus einer
Hyperion-Stelle:

        Oder des Abends, wenn ich fern ins Thal hinein gerieth, zur Wiege des Quells, wo rings
        die dunkeln Eichhöhn mich umrauschten, mich, wie einen Heiligsterbenden, in ihren
        Frieden die Natur begrub, – wenn nun die Erd’ ein Schatte war, und unsichtbares Leben
        durch die Zweige säuselte, durch die Gipfel, und über den Gipfeln still die Abendwolke
        stand, ein glänzend Gebirg, wovon herab zu mir des Himmels Stralen, wie die Wasser-
        bäche flössen, um den durstigen Wanderer zu, tränken –29

Vorbild für diese Fügung, die die Position von „Nacht“ anders setzen will, könnte das lateini-
sche „terrarum [...] umbra“ sein, das dann von Hölderlin so übersetzt wird: „Es stralt, [...]
Phoebe [...] von runder Scheibe zurüke – / Sieh! und plözlich erblaßt sie vom Schatten der Erde
getroffen“ (Übersetzung von Lucans Pharsalia, v. 537-539, StA V, 311).

Warum muß das Ich fürchten, daß es Sonnenschein und Schatten der Erde nicht nehmen kann?
Wieso soll es im Winter keinen Sonnenschein und kein Nachtlicht geben? Das Ich fürchtet
wohl, daß es die Gestimmtheit und die Ausgeglichenheit von Sonnenschein und Nachtlicht nicht
bekommt. Um was es dabei gehen könnte, zeigt sich im Gedicht Wie wenn am Feiertage ... in
der Version von Michael Knaupp (MA 1,263, v. 32-44; vgl. StA II, 673 f. zu v. 34). Das
Entstehen des Liedes wird dort so gezeichnet: „Die Allebendigen, die Kräfte der Götter. /
Erfragst du sie? im Liede wehet ihr Geist / Das auch der Sonne, wie Blumen und dunkler Erd /
Entwächst“. Diese Entstehungsmetapher – „der Sonne und dunkler Erde entwachsen“ – hat ihre
Entsprechung in der antiken literarästhetischen Theorie über die notwendige Verbindung von
Erhellung und Verdunkelung im poetischen Prozeß, von der in der Aufklärung nur die Klarheit
und Helligkeit (der Sonne) Geltung hat. Hölderlin, bekanntlich skeptisch gegenüber diesem
Deutlichkeitsgebot, rekurriert gleichermaßen auf die „obscuritas“. Für Hölderlin ist der Dichter
Mittler zwischen der Helligkeit und der Verdunkelung, die allerdings voll der Lebendigkeit des
Antithetischen ist. Denn Lichtvolles und Glänzendes müssen mit dem kritischen Moment des
Obskuren kontrastiert werden.30

        27
             Vgl. z.B. Alexander Honold: Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800, Berlin 2005,
390.

        28
             Ebd., 182 zu den Dioskuren und 231 zu „Schatten der Erde“ als „sonnen-abgewandte Blickrichtung“.

        29
          Hyperion oder der Eremit in Griechenland, StA III, 158; die reichhaltige Schilderung einer solchen
Nacht findet sich in Zykel 23 des Titan von Jean Paul, im 2. Band der W erkausgabe von Norbert Miller, München
1961,122 ff.

        30
           Vgl. zu diesen Gedankengängen die D arstellung von M elanie Möller: Dunkelrede und Divination.
Hölderlins Lucan und die Poetik des Verstummens. In: International Journal of the Classical Tradition 10, No. 2,
Fall 2003, 198ff. Den Hinweis darauf verdanke ich Thomas Schirren, Salzburg.
Das Ich fragt also danach, wo, an welchem Ort, ihm diese gegensätzlichen Grundlagen oder
Voraussetzungen des Gedichts gewährt werden, wenn es in der klaren Winterzeit Gedanken und
Worte für die Entstehung des Liedes aufnehmen will.

                                                        V.

Warum nun die Befürchtung – „Weh mir“? Der Winter ist nicht die Ursache. Aber es steht zu
befürchten, daß das Gespräch ausbleibt, weil die Wohnstätten verstummt, erkaltet, also unbelebt
sind. Nimmt man das als Befürchtung, so wäre der Duktus dennoch seltsam: der Weh-Ruf
ertönt, bevor überhaupt benannt ist, was ihn auslösen könnte. Mehr noch, er ertönt nach einer
„idyllischen“ ersten Strophe.31 Der Ausruf „weh“ ist aber so strukturiert, daß er sich auf zuvor
gewonnene Eindrücke bezieht, die ahnen oder gar wissen lassen, daß etwas Schmerzliches
schon geschehen ist, das nun den Weh-Ruf auslöst. Darauf folgt die Erläuterung der befürch-
teten Konsequenzen.32 Was wäre dann aber in Strophe I genannt, das als Auslöser dieses
Schmerzes gelten könnte?

Die Ansprache an die Schwäne macht deren Verehrung erkennbar und die Hoffnung auf deren
Geneigtheit und Zuwendung („hold“, wie oben erläutert). Die Apostrophe „Ihr holden“ gilt in
der Literatur um 1800 eher erhabenen Wesen wie Grazien und Musen, so daß man mit dieser
Anrede jemand Höherstehenden auszeichnen will und dessen Zuwendung erhofft. Die Erwar-
tung einer Zuwendung scheint also da zu sein. Sie wird auch rhythmisch angezeigt: der
Schwung der ersten drei Verse wird im vierten zunächst fortgeführt, mündet dann aber in eine
stauende Pause, denn der vierte Vers ist um einen Fuß verkürzt. Karl Eibl weist darauf hin, daß
die erste Strophe vom Schwanenbild an „auf den Umschlag zuläuft“33 und daß der Pause nach
„Schwäne“ eine „heftige Bewegung“ folgt, „denn in jeder Zeile steht nun ein Anapäst“.34 Eibl
konzediert eine gewisse Skepsis gegenüber solchen Korrespondenzen, was er aber gar nicht
müßte. Denn die Verkürzung des Versfußes korrespondiert mit der Beschwerung in der Lautfol-
ge von „Sch-w-ä- (ne)“. Die „heftige Bewegung“ wird zudem mit einer syntaktischen Wendung
angezeigt, die ungewöhnlich ist und die Gottfried Benn besonders vermerkt hat: „Da stört mich
das ›und‹ in der fünften Reihe der ersten Strophe“.35 Sicherlich: Hölderlin setzt „und“ nicht nur

         31
           Noch W infried Menninghaus sieht das so; er spricht vom „Überreichtum an Schönheit, Fruchtbarkeit,
erotischer Trunkenheit, Farben, Tönen und ›Hold‹-Seligkeit – wie ihn die erste Strophe von ›Hälfte des Lebens‹
evoziert“. (W. M.: Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik, Frankfurt a.M. 2005,17).

         32
           Die Belege für diese Strukturierung sind zahlreich. Vgl. z.B. Egmont: „Ferdinand. Ich höre dich an, ohne
dich zu unterbrechen! Deine Vorwürfe lasten wie Keulschläge auf einem Helm; ich fühle die Erschütterung, aber
ich bin bewaffnet. Du triffst mich, du verwundest mich nicht; fühlbar ist mir allein der Schmerz, der mir den Busen
zerreißt. W ehe mir! W ehe! Zu einem solchen Anblick bin ich aufgewachsen, zu einem solchen Schauspiele bin ich
gesendet!“ (Johann W olfgang von Goethe: Egmont. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, W A I, 8, 294).

         33
              Eibl [Anm. 9], 224.

         34
          Ebd., 225; ähnlich dann auch Rolf Selbmann: „Zur Blindheit überredete Augen“. Hölderlins Hälfte des
Lebens mit Celans Tübingen, Jänner als poetologisches Gedicht gelesen. In: Jahrbuch der D eutschen
Schillergesellschaft 36, 1992, 219-228; 224.

         35
           „3 Lieblingsgedichte“ [1953]. In: Gottfried Benn. Sämtliche W erke, Bd. 6, hrsg. von Holger Hof,
Stuttgart 2001,103.
kopulativ, sondern auch einleitend für einen Hauptsatz ein. Aber hier liegt eine sprachliche
Besonderheit vor. Es ist ein nicht inhaltlich verbundener Anschluß mit „und“. Maria Behre
nennt das eine störende, irritierende Setzung und einen unmotivierten Anschluß eines Hand-
lungssatzes („tunkt“).36 Stauende Pause, unmotiviertes „und“ – das weist auf etwas anderes hin
als die allenthalben unterstellte Idylle mit Schwänen. Die erwartete Zuwendung erfolgt nicht, die
Schwäne gesellen sich nicht zum anfragenden Ich, sondern tauchen ihr Haupt ins Wasser!37

Die Schwäne selbst haben einen eigenen Bereich, an dem das fragende Ich nicht teilnimmt. Sie
geben einen Eindruck von erotischer Verbundenheit, und so geht man davon aus, daß sie
einander küssen: „Die Schwäne sind ›trunken‹ vom Küssen“.38 Aber: „trunken von Küssen“,
nicht „vom“ – das legt doch nahe, daß nicht sie sich küssen, sondern daß sie geküßt werden (von
den Musen?). Wie dem auch sei, die Schwäne verkörpern den „›poetischen‹ Zustand“.39 Sie sind
begeistert – so wäre „trunken“ zu verstehen – und tunken ihr Haupt in das Wasser, das als
„heilignüchternes“ eine besondere Andächtigkeit hervorgerufen hat. Aber wie bei anderen dieser
Zusammensetzungen mit „heilig-„ wird hier weniger der Zusammenhang mit Religiösem oder
Numinosem angezeigt als vielmehr eine Verstärkung, etwa im Sinne von ‘erz-’ oder ‘gänzlich,
ganz’.40

Allerdings ergibt sich daraus keine Erklärung für die Attribuierung von Wasser als ernüchternd,
denn es geht um die Eigenschaft des Wassers. Aber auch „nüchtern“ im Sinne von ‘frei von
Wein oder Nahrung’ kann nicht gemeint sein, denn das kann nur vom Menschen gesagt werden.
Die Eigenschaft des Wassers muß also eine andere sein. Das zeigt ein Vers von Christian Weise,
der das Wasser als Beigabe zum poetischen Prozeß benennt: „ich sang vom süßen Saft der
Reben / Und Wasser trank ich oft darzu.“41 Angespielt wird hier darauf, daß das Wasser notwen-
dig ist, um ein Weinlied zu verfassen. Es kommt eine nicht so geläufige Bedeutung von
„nüchtern“ ins Spiel, nämlich ‘klar, rein’, so wie das Friedrich Theodor Vischer benennt: „o du
gesunde / trockenheit, du wasserklare / nüchternheit“42 oder Droysen: „nüchtern kühlen sühne-

         36
          Maria Behre: Stile des Paradoxons als W eisen modernen W irklichkeitsausdrucks in der Lyrik Hölderlins,
Trakls und Celans. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 22, 1990, Heft 2, 23.

         37
           Diese Zuwendung kann durchaus erwartet werden. Hyperion schildert das, wenn er an Bellarmin
schreibt: „Ich halt“ am Fuße des Bergs übernachtet in einer freundlichen Hütte, unter Myrthen, unter den Düften des
Ladanstrauchs, wo in der goldnen Fluth des Pactolus die Schwäne mir zur Seite spielten, wo ein alter Tempel der
Cybele aus den Ulmen hervor, wie ein schüchterner Geist, in’s helle M ondlicht blikte.“ (StA III, 20). Die oft
angezogene Stelle aus Menons Klagen um Diotima ist allerdings ein Vergleich: „Aber wir, zufrieden gesellt, wie
die liebenden Schwäne“ (StA II, 76, v. 43).

         38
              Eibl [Anm. 9], 228.

         39
              Schmidt [Anm. 23], 185.

         40
            Vgl. hierzu die Bedeutung 11 im DW B dtv-Bd. 10, Sp. 836, die sich im Gebrauch Goethes anzeigt: „da
lies ein blättgen und sende mirs heilig wieder!“ (wohl keine Verschreibung für .eilig’, s. Brief an Kestner, 21. Nov.
1774, W A IV, 2, 207), nämlich als Verstärkungspartikel.

         41
          Ähnlich Theodor Hippel: „wasser macht weise, und fröhlich der wein“; beide Zitate nach DW B dtv-Bd.
27, Sp. 2322.

         42
              DW B dtv-Bd.27, 2435.
trank“43. Die Markierung „heilig-„ weist möglicherweise darauf hin, daß es ein besonderes,
klares Wasser ist. In dieser Eigenschaft trinkt es auch der Dichter in Deutscher Gesang. Hölder-
lin rekurriert damit wohl auf die Vorstellung, daß das Trinken von Wasser zum Gesang in-
spiriert. Achim von Arnim bringt das in einem Gedicht von 1807 so zum Ausdruck:

                                       Und die Meduse muß sie ziehn
                                       Durch den Tanz und im Gesänge,
                                       Und so kann sie sich bewahren
                                       Jugendlich in altern Jahren,
                                       Saugt dies Jugendblut die Schlange
                                       Wälzt sie sich im Becken hin,
                                       Nüchtern Wasser war darin
                                       Doch nun zischt es grünlich bange;
                                       Dieses Schönheitswasser bringet,
                                       Daß sie wunderbarlich singet.44

Das Bild der Schwäne gilt zurecht als Metapher für das dichterische Dasein, allerdings wird nun
die Gegensätzlichkeit zum adressierenden Ich deutlicher: Die Dichter-Schwäne finden die
Verbindung zur poetischen Inspiration, das Ich aber offensichtlich nicht. Das Ich muß vielmehr
befürchten, daß ihm die Grundlagen für seine poetische Aufgabe nicht gewährt werden.

                                                        VI.

Das Gedicht benennt eine Situation, die zum Zeitpunkt des Gedichts besteht: das Erlöschen des
städtischen Lebens, der Sprache, woraus dann die Befürchtung entsteht, daß die Möglichkeiten
für das Dichten ausbleiben könnten. Warum aber ist das eine oder die Hälfte des Lebens? Mit
dieser Frage kommen die sprachlichen Zweifel, die Wolfgang Binder angemeldet hat, in ihr
Recht: „Hälfte des Lebens heißt nach damaligem Sprachgebrauch ›Mitte des Lebens‹; auch
müßte sonst der Titel ›Hälften des Lebens‹ lauten, da von zweien die Rede ist.“45 Binder
bezweifelt also, daß zwei Lebenshälften gemeint sein können, z.B. eine sommerliche und eine
winterliche, weil schon der Titel dann anders lauten müßte (Hälften). Außerdem werden solche
Lebenshälften durchweg attributiv gekennzeichnet: die „erste“ und die „zweite“.46 Da gezeigt
werden konnte, daß die Stadt präsentisch in einer Stille geschildert wird (Verse 12 bis 14), die
nicht erst ein Winter auslöst, ist es auch von daher ausgeschlossen, daß in Strophe II von einer
zweiten, winterlichen Lebenshälfte die Rede sein könnte. Es ist vermerkt worden, daß Hölderlin
selbst, wenn er über sein weiteres Leben nachdenkt, positiv und zuversichtlich auf die zweite

         43
              DW B dtv-Bd.20,1034.

         44
         Achim von Arnim: Der W intergarten. Fünfter W interabend. In: W erke in 6 Bänden, Bd.3: Sämtliche
Erzählungen 1802-1817, hrsg. von Renate Moehring, Frankfurt a.M. 1990,260.

         45
              Binder [Anm. 2], 357f.

         46
           Christoph Hufeland (1797): „in der ersten hälfte des lebens ist thätiges, selbst strapazantes leben [...]
zuträglich“ (zitiert nach DW B dtv-Bd. 19, Sp. 875 s.v. strapazant). Hölderlin selbst schreibt zur Jahreswende
1800/1801 in einem Brief an den Bruder „diß ists, was vorzüglich mit Heiterkeit mich in die zweite Hälfte meines
Lebens hinaussehn läßt.“ (StA VI, 407).
Lebenshälfte blickt.47

„Hälfte“ kann für den „endpunkt eines halben theils“48 gesetzt werden. Das ist bei meßbaren
Dingen gängig und für die „Hälfte des Weges“ sogar lexikalisiert: ‘halbwegs’. Da man aber
nicht wissen kann, wie lange ein Leben dauert, wird die Mitte als Hälfte des Lebens eher im
nachhinein benannt, wenn man merkt oder bemerklich wird, daß die blühenden Jahre schon
länger vergangen sind: „Am Kopfende saß eine ziemlich starke Frau, über die Hälfte des Lebens
hinaus“.49

See-Idylle und Schwäne werden als Sinnbild für eine solche Jugendzeit verstanden. Aber es ist
die Frage, ob Hölderlin literarisch so konstruiert, daß er eine Landschaft, die ohnehin früh-
herbstlich zu verstehen ist, lebenszeitlich ausgelegt wissen will. Auf keinen Fall aber sind die
Schwäne und ihre Einbindung in einen poetischen Prozeß das Sinnbild für ein jugendliches
Leben des Ichs. Sein Schmerz rührt doch daher, daß es sagen muß: „Tunkt ihr das Haupt“. Das
Gedicht erfaßt also die jetzige Lebenskonstellation. Diese wird weiter ausgedeutet durch die
Verse 12 bis 14. Sie erwecken den Eindruck, daß die Frage ohne Antwort bliebe,50 was aber von
der Zeitstruktur her zu differenzieren ist. Die Sätze werden präsentisch formuliert, gelten also
zu der Zeit, zu der das Gedicht gesprochen wird. Angedeutet wird, daß die Voraussetzungen für
einen poetisch ertragreichen Winter nicht sehr hoffnungsvoll, aber nicht völlig ausgeschlossen
sind.

Gerade deshalb spürt man – und die Interpreten sprechen es aus – eine zeitliche Perspektive.
Das Gedicht ruft eine Zeit auf, den Winter nämlich. Dann will das Ich „die Blumen, [...] / Den
Sonnenschein, / Und Schatten der Erde“ nehmen, weiß aber nicht, wo es das könnte. Erstaunli-
cherweise gibt es zu dieser dringlichen Frage des Gedichts in der Forschungsliteratur keine
weitergehenden Überlegungen, obwohl die syntaktische Konstruktion beeindruckend ist:
Schmerzensruf, kosmische Bedingungen des Dichtens, Jahreszeit – und das alles in zweimali-
gem Ansatz erfragt.51

         47
              W infried Menninghaus hat das jüngst zusammengestellt [Anm. 31], 15-19.

         48
              DW B dtv-Bd. 10, 225, Ziff. 3.

         49
          Franz Grillparzer: Der arme Spielmann. In: Sämtliche W erke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte,
hrsg. von Peter Frank und Karl Pörnbacher, München 1960-1965, Bd.3, 185. Die Feststellung einer „Hälfte des
Lebens“ als Lebensmitte im Nachhinein gilt auch für den anderen Beleg mit dieser Bedeutung, die beide dann die
einzigen zu sein scheinen. Franz Grillparzer Der Halbmond ..., Ende September 1827 verfaßt: „Halb gab ich mich
hin den Musen, / Und sie erhörten mich halb; / Hart auf der Hälfte des Lebens / entflohn sie und ließen mich alt. /
Und also sitz ich verdrossen [...].“ In: Sämtliche W erke, hrsg. von August Sauer, fortgeführt von Reinhold
Bachmann, 1. Abteilung, Bd. 11: Gedichte, 2. Teil, Nr. 193, W ien 1933, 81, v. 13-17.

         50
         Vgl. W erner Hamacher: Parusie, Mauern. Mittelbarkeit und Zeitlichkeit, später Hölderlin. In: HJb 34,
2004-2005, 93-142; 139.

         51
          Das zweimalige „wo“ wird zudem durch eine Satzstruktur hervorgehoben, auf die Martin Vöhler
(Hölderlins Longin-Rezeption. In: HJb 28,1992-1993,152-172; 160) als grundlegend für Hölderlin verweist: die
Inversion der Periode. Die Kontrastierung durch die Hauptsätze in den Versen 12-14 wird umso deutlicher, wenn
man um den oppositionellen Gestus der Inversionen weiß (vgl. ebd., 162).
Es ist sicherlich richtig, wenn „Blumen“ allgemein mit „Worte der Dichter“52 gleichgesetzt
werden, hier aber nicht. Dieses Wort hier meint sicherlich nicht das „fertige“ Wort, sondern den
Vorgang seines „Aufgehens“.53 Das Ich muß warten, daß ihm solche Blumen aus Sonne und
dunkler Erde „entwachsen“. Das eröffnet die Möglichkeit, den prekären Einsatz von „Sonnen-
schein / Und Schatten der Erde“ besser zu verstehen, nämlich als die Nennung der fruchtbaren
Opposition aus Helligkeit und obscuritas. Ist diese aber fraglich in ihrer Zugänglichkeit, dann
kann das Klima für das Aufgehen der Blumen nur angedeutet werden. Denn der Dichter kann
mit der wo-Frage nur die Voraussetzungen nennen und mit den Versen 12 bis 14 die jetzige
Situation zeigen: Die Hoffnung, die Gemeinschaft für das Gespräch und den Gesang zu finden,
erfüllt sich derzeit nicht.54 Und so zeigt sich auch hier – wie in der Feiertagshymne – die
„Verhaltenheit“ der Rede gegenüber dem, was sich ihr erst zusprechen könnte.55 Die begriffliche
Fassung scheidet für Hölderlin aus, sie hat nichts Aufgehendes: das begrifflich Gesagte ist ein
Vergangenes. Schiller faßt das so auf, daß das, was die Seele ahnt, im Aussprechen schwindet.56
Dennoch sieht Hölderlin die Möglichkeiten der Sprache weiter angelegt. Es gilt zwar: „Denn
das Sagen verlangt jenen Abstand vom zu Sagenden, durch den die geschehende Rede immer
schon von dem getrennt ist, wovon sie redet.“57 Doch Hölderlins Dialektik übersteigt diese
Paradoxie und geht davon aus, daß, wenn es die „Seele“ weiß, die „Sinnspannungen“58 so
bewegt werden können, daß die Seelen der Rezipienten darüber belebt und begeistert werden
können. Hölderlin weiß, daß das nicht leicht zu verstehen ist: „Sollten aber dennoch einige eine
solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muß ich ihnen gestehen: ich kann nicht
anders.“59

Wenn das Ich in Hälfte des Lebens fragt, wo es „die Blumen, und wo / Den Sonnenschein, / Und
Schatten der Erde“ nehmen soll, dann sieht es zwar die Aufgabe, es weiß aber nicht, was das zu
Sagende sein wird. Die Verse 12-14 geben die Antwort auf die Frage nach dem Ort – „wo“ – der
Verse 8-11: dieser Ort ist unbelebt, still, vor allem aber „sprachlos“: Das Dichter-Ich muß
befürchten, es werde im Winter diese Dinge nicht nehmen können, weil schon deutlich gewor-

         52
             Z.B. Binneberg [Anm. 12], 114.

         53
             Das gilt auch für die angezogenen Zitate bei Jochen Schmidt, KA I, 839.

         54
           Hier folge ich den Überlegungen von Ulrich Gaier, der eine der gewünschten Voraussetzungen nennt: die
Kultgemeinde (vgl. U .G.: Gesänge als Vorspiel. In: Hölderlin-Handbuch. Leben – W erk – W irkung, hrsg. von
Johann Kreuzer, Stuttgart 2002, 166-174; 173).Hälfte des Lebens ist das Gedicht, wo das Fehlen der Gemeinschaft
deutlich ausgesprochen und als Ursache für die Gefährdung des Dichtens angesehen wird.

         55
        Vgl. Hans-Jost Frey: Das Heilige und das W ort. In: Friedrich Hölderlin. Neue W ege der Forschung, hrsg.
von Thomas Roberg, Darmstadt 2003, 35-48; bes. 42.

        56
          „Sprache. W arum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? Spricht die Seele, so spricht,
ach! schon die Seele nicht mehr.“ In: Friedrich Schiller. Sämtliche W erke [Anm. 19], 313.

         57
             Frey [Anm. 55], 35 f.

         58
           Vgl. Ulrich Gaier in: Hölderlin Texturen 3: „Gestalten der W elt“. Frankfurt 1796-1798, Tübingen 1996,
202 u.ö.; ähnlich neuerdings Hamacher [Anm. 50], 96: „Dichterisch ist eine Vorstellung [...] nicht als isoliertes
Produkt, sondern allein als fortwährend tätiges Resultat ihres W erdens.“

        59
             Hölderlin. Friedensfeier, hrsg. und erläutert von Friedrich Beißner, Stuttgart 1954, 6.
den ist, daß das Gespräch der Gemeinschaft, dessen es grundlegend dafür bedarf, erstorben ist.

Das führt zu der Überlegung, die Überschrift des Gedichts könnte diese Lebenssituation als die
Mitte des Lebens bezeichnen. Diese Bedeutung von „Hälfte des Lebens“ ist zu dieser Zeit
ungewöhnlich, und Hölderlin wäre der erste, der das so versteht; dennoch könnte er das, also vor
Grillparzer (siehe oben), so gesetzt haben. Aber ist diese Situation so zu kennzeichnen, daß sie
das Ende einer Zeit der Jugendlichkeit markiert?

Offensichtlich geht es im Gedicht um einen poetischen Prozeß. Dieser Prozeß ist aber an keine
Lebenszeit gebunden, etwa an die Mitte des Lebens, jenseits derer dann die Dichtung entstünde.
Die dichterische Aufgabe besteht für einen jungen oder alten Dichter gleichermaßen: es geht um
die Erfüllung seines poetischen Auftrags und der wird ihm nicht punktuell zeitlich gestellt. Das
beleuchtet den Titel des Gedichts aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich einer qualitativen
und nicht einer zeitlichen. Denn es ist zu fragen, was geschieht, wenn einer, der ein Dichter sein
will, diese poetische Aufgabe nicht erfüllt? Dann existiert er weiter, aber die dichterische
Erfüllung bleibt ihm verwehrt. Die Sehnsucht danach bleibt und damit ein Wissen darum, daß
etwas fehlt. Die Perspektive von Hälfte des Lebens deutet in einen Lebensbereich hinein, den
das Ich selbst nicht auszusprechen vermag und der unerkannt bleiben muß. Das Ich befindet sich
also diesseits von etwas, von dem es aber ahnt, eher noch: hofft, daß es der Sonne des Tags und
„dunkler Erd“ entwachsen könne (vgl. MA I, 263, v. 38f.).

Das wächst ihm aber nicht nur dann zu, wenn er die Zeit der Jugendlichkeit verlassen hat. Der
poetische Prozeß ist an einen Ort gebunden, nämlich den des Gesprächs, und dann erst an eine
Zeit, nämlich an den zyklischen, also wiederkehrenden Winter. Die angenommene Setzung von
Hälfte des Lebens als Lebensmitte durch Hölderlin, die ohnehin schon außergewöhnlich wäre,
hat keine Begründung im Inhalt des Gedichts. Der Titel erscheint nun wiederum so eigenartig,
wie dies der irritierte Leser Hermann Kurz 1838, ungefähr dreißig Jahre nach dem Erscheinen
des Gedichts, auffassen mußte: „Er hat es seltsamer Weise ›Hälfte des Lebens‹ überschrieben“.60
Für sich folgert er dann, Hölderlin habe, „wenn wir ihn recht verstanden, durch diese Worte die
Mitte seiner Lebensjahre und das herannahende Alter bezeichnen wollen.“

Warum ist das Dasein in idyllischer Landschaft, warum ist die Befürchtung, daß die Möglich-
keiten für die Dichtung nicht gegeben sein könnten, warum ist das nur eine Hälfte des Lebens?
Das ruft eine neue Überlegung hervor: wenn das die Hälfte eines Lebens ist, so wäre mit
Gerhard Kaiser zu fragen, was ist dann das Ganze dieses Lebens?61 Offensichtlich spielt der
Gedanke der Fristung eines Lebens hier nicht hinein, sondern eher der einer Erfüllung der
Lebenszeit. Das gibt Gelegenheit, die um 1800 viel weniger gebräuchliche Lexikalisierung der
Kompositionalfügung62 aufzulösen und die Bedeutung von „Leben“ im Sprachgebrauch um

         60
           Kurz [Anm. 1], 184. Ähnlich irritierend dürfte das wohl für die Rezensenten gewesen sein, die allerdings
auf diesen Titel nicht dezidiert zu sprechen kommen. Vgl. Stammerjohann [Anm. 1].

         61
          Kaiser [Anm. 12], 282: „Aber der abstrakte und generalisierende Titel [...] sagt ›Hälfte‹ und setzt damit
ein Dissonanzsignal. Die Hälfte ist der Gegensatz zum Ganzen.“

         62
          Das meint die Verbindung der Einzelbedeutungen von „Hälfte“ und von „Leben“ und die Fixierung des
ganzen Ausdrucks auf ‘Mitte des Lebens, Ende der jungen Lebenszeit’. Zu bedenken ist ohnehin der Vorgang, daß
die aufkommende biographisch getönte Interpretation um 1900 diese Zusammensetzung „Hälfte des Lebens“ nach
den zweifelnden Überlegungen von Hermann Kurz [Anm. 1], 184 erst allgemein gebräuchlich gemacht hat.
1800 näher zu betrachten: Zustand willkürlicher – also absichtlicher – Bewegung, Existenz,
Lebenskraft, Lebenswille.63 Damit können wir uns von der Fixierung auf den Aspekt der
Fristung eines Lebens lösen, dem die Interpretationen unter dem Eindruck eines heute gültigen
Syntagmas gefolgt sind und können nunmehr den zentralen Stellenwert des Begriffs „Leben“ in
der Gedankenwelt Hölderlins als Erklärung für den Titel anführen.

                                                      VII.

Die Gedanken zu „Leben“ bewegen Hölderlin seit der Lektüre der Schriften von Friedrich
Heinrich Jacobi. Dieser Begriff wird deshalb für ihn interessant, weil „Leben“ über seine
Unmittelbarkeit hinaus „eine wechselseitige Implikation in der Lebenstotalität und seiner
vielfältigen Formen und Differenzierungen“64 ausdrückt. Dem Leben kann man nicht entrinnen,
auch nicht dadurch, daß man versucht, ein Reich abstrakter Begriffe zu gründen. Diese sind für
Hölderlin ohnehin „unlebendige“ Bestimmungen, weil sie nicht im Leben angesiedelt sind. Er
fragt nach höheren Gesetzen, die jenen unendlichen Zusammenhang des Lebens bestimmen
könnten, also quasi außerhalb wären, und antwortet: „wenn es solche giebt, so sind sie, in so
fern sie blos für sich und nicht im Leben begriffen werden, vorgestellt werden, unzulänglich“
(Über Religion, StA IV, 276), d.h. diese Gesetze sind mit dem individuierten Leben und seiner
jeweiligen Sphäre untrennbar verbunden und können „niemals ohne einen besondern Fall,
niemals abstract gedacht werden“ (ebd., 277). Setzt Hölderlin das Wort „Leben“ in den Titel
eines Gedichts, dann korrespondiert dieses Wort mit seinen weitläufigen Gedanken zu „Leben“,
denn sein poetisches Verfahren ist konstitutiv auf die Einbindungen in das Leben ausgelegt.65

         63
           Der Artikel von Adelung, Bd. 2, Sp. 1954ff., stellt das ohne Einschränkung als Hauptbedeutung vor und
geht hierin einig mit Kant, der konstatiert: „alles leben beruht auf dem innern vermögen, sich selbst nach wülkühr
zu bestimmen“, zitiert nach DW B dtv-Bd. 12, Sp. 410. Viele Belege aus der literarischen Verwendung bestätigen
diese Bewertung, die auf die Bedeutung ‘Lebenswille’ abheben und nicht auf ‘zeitliche Fristung’.

         64
          Vgl. hierzu Volker Rühle: „Schikliche Hände“. Der Anspruch des Absoluten in Hölderlins Dichtung. In:
„Es bleibet aber eine Spur / Doch eines W ortes“. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins,
hrsg. von Christoph Jamme und Anja Lemke, München 2004, 200f.

         65
           Der Gedanke des Lebens muß gesondert dargestellt werden, denn die Verfugung von Gedicht und Leben
zu “poetischem Leben“ als hyperbolisch erreichte Aufhebung von Entgegengesetztem ist eine erstaunliche Idee.
Man könnte bei dem Vorhaben der „Lebendigkeit der Poesie“ noch an so etwas wie moderne Lebensnähe denken.
Aber das verbietet sich dann, wenn man erkennen muß, daß für Hölderlin das poetische Verfahren nicht etwa in
einem Gedicht gipfelt. Hölderlin denkt wohl Leben und das Gelingen der Dichtkunst in eins, so daß Leben zu einem
poetischen Begriff, ja, zu einer Bedingung von Dichtung wird und das Gedicht sich unauflöslich mit dem Leben
verbinden muß – ein Gedanke, der die Übernahme einer Position Herders zum Ausgang nimmt, nämlich die
Verflechtung von Poesie und Leben insofern, „daß die Poesie aus dem Leben, aus der Zeit, aus dern Wirklichen
hervorgehen, damit eins ausmachen und darein zurückfließen muß“ (zitiert nach Ulrich Gaier in: Hölderlin
Texturen 2: Das „Jenaische Project“. W intersemester 1794/95, Tübingen 1995,239). Auf die philosophischen
Folgerungen geht Dieter Henrich ein: „Hölderlin begreift die Verfassung des bewußten Lebens so, daß verständlich
wird, wie eine philosophische Konzeption aus diesem Leben selbst Quellen der Vergewisserung herzuleiten
vermag. Dies Leben ist einem Konflikt zwischen Tendenzen ausgesetzt, in denen ihm auf jeweils unterschiedliche
W eise eine Orientierung auf Erfüllung und eine Selbstbeschreibung zuwachsen können.“ (Der Grund im
Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken [1794-1795], Stuttgart 1992, 625. Einschlägig ist das Kapitel
III, 425-770). Und eine Verbindung zur Poetologie hat Rühle [Anm. 64], 203 geschlagen: „Das poetische Verfahren
bleibt konstitutiv mit den Differenzierungen des Lebens verbunden“. Deshalb will Hölderlin den idealistischen
Zwängen zur Verneinung der als dürftig erkannten Realitäten entraten und die poetische Reflexion zum genetischen
Moment einer erfüllenden Erfahrung machen. Von hier aus eröffnet sich der Blick auf Hölderlins Überlegungen zu
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