HEFT 5 Frauen auf der Flucht: Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia - FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION - Österreichischer ...

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NTEGRATIONSHEFT
F O R S C H U N G S P R E I S I N T E G R AT I O N

Prämierte Arbeiten

Frauen auf der Flucht:
Frauenspezifische
Fluchtursachen in Somalia

Kathrin Hahn, BA

HEFT 5
FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION

Mit dem Forschungspreis Integration zeichnet der Österreichische Integrationsfonds (ÖIF)
seit dem Jahr 2005 Bachelor-, Diplom- oder Masterarbeiten und Dissertationen im Bereich
der Integration von Migrant/innen und Flüchtlingen aus. Prämiert werden Abschlussarbeiten,
die neue Forschungsansätze eröffnen.

Hinweis: Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine gekürzte Version der
gleichnamigen Abschlussarbeit.

Bitte zitieren Sie diese Publikation wie folgt:
Hahn, Kathrin (2021): Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia,
In: Österreichischer Integrationsfonds: Forschungspreis ­Integration, Wien.

IMPRESSUM

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Über die Integrationshefte
Die Reihe „Integrationshefte“ präsentiert die Arbeiten junger Wissen­
schaftlerinnen und Wissenschaftler, die mit dem Forschungspreis Integration
ausgezeichnet ­wurden.

Der ÖIF fördert mit diesem Preis die wissenschaftliche Auseinandersetzung
mit Migra­tion und Integration. Wie ideen- und facettenreich sich die
Forschenden mit diesen Themenfeldern auseinandersetzen, ist in den
Integrationsheften nachzulesen.

Die Integrationshefte bieten den jungen Forscherinnen und Forschern eine
breitere Öffentlichkeit und zeigen die Vielfalt der bearbeiteten Themen,
Blickwinkel und Forschungsansätze.
Inhalt
Executive Summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

2. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
     2.1 Literaturrecherche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
     2.2 Empirischer Zugang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

3. Theoretischer Teil.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
     3.1 Frauenspezifische Migra­tions- und Fluchtforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
     3.2 Somalia.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
     3.3 Frauenspezifische ­Fluchtursachen in Somalia. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
     3.4 Frauenspezifische ­(sexuelle) Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
     3.5 Kriegsgebundene ­(sexuelle) Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
     3.6 Zwangsheirat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
     3.7 Weibliche ­G enitalbeschneidung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

4. Zentrale Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
     4.1 „Verbreitete“ Stellung der Frau in Somalia. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
     4.2 Frauenspezifische Fluchtursachen und persönliche Fluchtgründe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
     4.3 Weibliche ­G enitalbeschneidung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
     4.4 Zwangsheirat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
     4.5 Bürgerkrieg und ­Terrormiliz „Al-Shabaab“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

5. Triangulation .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

6. Conclusio.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

7. Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Weltkarte mit Einfärbung von Somalia. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Informationen über die Befragten (2018).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Tab. 2: FGM/C Kategorien, Datengrundlage: WHO 2018.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Executive Summary
In der vorliegenden Arbeit wurden die                      Neben der klassischen Literaturrecher-
Arten von frauenspezifischen Flucht-                       che und den bearbeiteten Studien, die
ursachen in Somalia behandelt und die                      vor allem die familiäre sowie außerfami-
Einflüsse tradierter Geschlechterver-                      liäre psychische, physische und sexuelle
hältnisse und der weiblichen Genital-                      Gewalt, Zwangsheirat und die weibliche
beschneidung im Kontext der Flucht-                        Genitalbeschneidung beziehungs­weise
ursachen analysiert. Voranzustellen ist,                   die Angst davor als Fluchtursachen
dass es in den meisten Fällen mehrere                      nannten, wurden diese Daten mithilfe
Fluchtursachen gibt. Die primäre                           von zwei qualitativen Interviews mit
Fluchtursache stellt in dieser Arbeit die                  somalischen Frauen mit Fluchterfahrung
frauenspezifische Gewalt beziehungs-                       verglichen (Connor et al. 2016a, ­Byrskog
weise Verfolgung, die an das weibliche                     et al. 2014, Jesuthasan et al. 2018). Die
Geschlecht anknüpft, dar (vgl. Sharpe                      Auswertung erfolgte mithilfe der qualita-
2018: 116 & Bamarni 2015: 15).                             tiven Inhaltsanalyse nach Mayring (2015).
                                                           Die Stichprobe stellt sich zwar nicht als
Somalias Gesellschaft ist patriarchal                      repräsentativ dar, ermöglichte jedoch
und kulturell geprägt. Hinzu kommt,                        einen Einblick in die Lebens­welten zweier
dass das Land seit nahezu drei Jahr-                       somalischer Frauen, denen ich für Ihre
zehnten an einem Bürgerkrieg lei-                          Interviewbereitschaft meinen tiefen
det, der 1991 ausbrach (Horst 2017).                       Dank aus­sprechen möchte.
Besonders Frauen stellen in diesem
Zusammenhang eine vulnerable Be-                           Beide Zugänge wiesen die oben ge-
völkerungsgruppe dar, da sie in diesen                     nannten frauenspezifischen Flucht-
Kontexten oftmals frauenspezifische                        ursachen als solche aus. Der empirische
Gewalt erleiden. Inwiefern und in                          Zugang verwies hierbei primär auf die
welchen Zusammenhängen frauen-                             frauenspezifische Gewalt durch den
spezifische Gewalt eine Fluchtursache                      Bürgerkrieg und Al-Shabaab, wo-
darstellt und welche Rolle tradierte                       bei beide Frauen bestätigen, dass es
Geschlechterverhältnisse dabei spielen,                    mehrere Gründe für ihre Flucht gab.
wird in der vorliegenden Arbeit unter-                     Die weibliche Genitalbeschneidung
sucht. Es handelt sich bei dieser Arbeit                   spielt, im Gegensatz zu der frauen­
um einen Auszug aus der Bachelor-                          spezifischen Gewalt, eine untergeord-
arbeit „Frauen auf der Flucht: Frauen-                     nete Rolle hinsichtlich der (Haupt-)
spezifische Fluchtursachen in Somalia“.                    Fluchtursachen. Dies ist vermutlich auf
Die vollständige Bachelorarbeit kann                       die Tatsache zurückzuführen, dass die
auf Nachfrage von der Autorin bereit-                      frauenspezifische Gewalt in manchen
gestellt werden.                                           Fällen eine dominantere Rolle spielt
                                                           als die kulturell „eingebettete“ weib-

FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION | Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia   5
liche Genitalbeschneidung, die oftmals               psychischer Diskriminierung, Auswir-
von Mädchen und Frauen angestrebt                     kung auf die Flucht von Frauen haben.
 und nicht hinterfragt wird (McNeely &                Grundsätzlich lässt sich ein kausaler
 De Jong 2016). Des Weiteren basieren                 Zusammenhang zwischen frauenspezi-
 die tradierten Geschlechterverhältnisse              fischer Gewalt und Flucht feststellen.
 auf einer Ungleichheit, die hauptsäch-
 lich auf die patriarchale Gesellschafts-
                                                       Anmerkung
struktur, auf das Nomadentum, das
 Klansystem sowie auf Fehlinterpreta-                 Als Forschende war es mir ein A  ­ nliegen
tionen von Koran und Scharia zurück-                  eine „neutrale“ Position gegenüber der
zuführen sind. Deren Wirkung in Form                  Thematik zu wahren. Da ich mich jedoch
von (gewalttätiger) Machtausübung                     als feministische Forscherin ansehe,
 und Dominanz könnte, welche Flucht                   agiere ich aus einer gewissen Betroffen-
zur Folge haben können (Gardner &                     heit, nicht im Sinne von „betroffen sein“,
­El-Bushra 2016).                                     sondern „betroffen fühlen“ auf Basis
                                                      des weiblichen Geschlechts. Daher ent-
Es ist festzuhalten, dass die Mehrheit                wickle ich vermutlich unbewusst eine
somalischer Frauen in zahlreichen Be-                 gewisse Parteilichkeit, die die Intention
reichen des Lebens benachteiligt sind                 verfolgt, weibliche Benachteiligungen
und die tradierten Geschlechterverhält-               oder Diskriminierungen zu vermin-
nisse indirekt, in Form von familiärer und            dern oder aufzuheben (Fleischmann &
außerfamiliärer sexueller, physischer und             Meyer-­Hanschen 2005).

6             Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia | FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION
1. Einleitung
Weltweit ist jeder zweite „Flüchtling“                     Es werden folgende Fragestellungen
weiblich (UNHCR 2018b: 59). Frauen                         behandelt:
rücken in der Migrations- und Flucht-
forschung immer mehr in den Mittel-                       — Welche Arten von frauenspezi-
punkt. Die Tatsache, dass weltweit                          fischen Fluchtursachen gibt es in
mehr Frauen als Männer flüchten, trägt                      Somalia und welche Rolle spielt
ebenso dazu bei wie die Rechte dieser                        die weibliche Genitalbeschneidung
vulnerablen Bevölkerungsgruppe, die                          als kulturell verankerte Praktik im
immer wieder vernachlässigt werden                          ­Kontext der Fluchtursachen?
(ebd.: 3 & Lutz & Amelina 2017: 38).
                                                          — Welchen Einfluss nehmen tradierte
Es gibt viele Formen von Migra-                             Geschlechterverhältnisse auf frauen-
tion – Flucht stellt nur eine davon dar.                    spezifische Fluchtursachen?
Während sich zahlreiche Publikationen
der Sicherheit von Frauen während                          Beginnend mit den Methoden, die
der Flucht widmen, bezieht sich diese                      neben klassischer Literaturrecherche
Arbeit auf den Ursprung, genauer ge-                       auch empirische Forschung beinhalten,
sagt, auf die Fluchtursachen.                              soll ein Einblick in die Vorgehensweise
                                                           sowie das Auswahl- und Auswertungs-
Im Jahr 2013 lag Somalia mit 1,1 Millio­                   verfahren gegeben werden. Danach
nen Geflüchteten auf Platz 3 der                           folgt der theoretische Rahmen, der die
Herkunftsländer von Geflüchteten, im                       Grundlagen der Migrations- und Flucht-
Jahr 2017 hingegen mit 986.400 auf                         forschung erörtert sowie die Inhalte der
Platz 5 (vgl. UNHCR 2014: 15 & UNHCR                       ausgewählten aktuellen Studien. Des
2018b: 3). Aufgrund dessen und an-                         Weiteren findet in diesem Kapitel ein
gesichts der Tatsache, durch meine                         kurzes Länderprofil von Somalia Einzug,
gemeinnützige Arbeit zwei somalische                       um den geographischen und lokalen
Frauen mit Fluchterfahrung kennen-                         Kontext zu erläutern. Daran anschlie-
gelernt zu haben, entschied ich mich                       ßend finden die empirischen Ergeb-
meine Bachelorarbeit über frauen-                          nisse aus den beiden Interviews Einzug.
spezifische Fluchtursachen in Somalia                      Folglich werden in der Triangulation
zu verfassen.                                              die Ergebnisse, die durch die beiden
                                                           Zugänge ermittelt wurden, miteinander
                                                           verglichen und in Beziehung gesetzt.
                                                           Die Conclusio stellt das Ende dieser
                                                           Arbeit dar.

FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION | Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia   7
2. Methodik
Im Folgenden werden die ausgewähl-                       2.1 Literaturrecherche
ten Methoden beschrieben, um Trans-
parenz hinsichtlich des Forschungspro-                   Bei der klassischen Literaturrecherche
zesses zu gewährleisten.                                 wurde versucht, alle relevanten Publi-
                                                         kationen, die in den letzten fünf Jahren
Bei der Methodentriangulation handelt                    (2013–2018) zu dem Thema erschienen
es sich um die Kombination verschiede-                   sind, zu berücksichtigen, um einen ge-
ner methodischer Zugänge, mit deren                      wissen Grad an Aktualität zu wahren.
Hilfe ein Forschungsgegenstand von                       Basierend auf den Fragestellungen wur-
zumindest zwei Punkten aus betrach-                      den Stich- und Schlagwörter definiert,
tet wird (vgl. Flick 2011: 11). Diese Arbeit             die für die Suche in wissenschaftlichen
stützt sich auf zwei Untersuchungsme-                    Datenbanken eingesetzt wurden. Dabei
thoden, die vorerst unabhängig durchge-                  wurden vorrangig folgende Datenban-
führt werden und anschließend zu einem                   ken für die Recherche genutzt: Scopus,
gemeinsamen Ergebnis führen sollen.                      Humanities Source, u:search und Google
                                                         Scholar. Vereinzelt wurde auch ein-
Die systematische Literaturrecherche                     schlägige Literatur außerhalb des oben
soll einen ausführlichen Überblick über                  genannten Zeitraums miteinbezogen.
 die Thematik gewähren und bildet die                    Der Fokus der Literaturrecherche lag auf
Grundlage dieser Arbeit. Den empiri-                     englischsprachiger Forschungsliteratur.
schen Teil stellen zwei leitfadengestütz-
te, narrative Interviews mit somalischen                 Die Recherche in den zuvor genannten
Frauen mit Fluchter­fahrung dar, die                     Datenbanken erfolgte durch englisch
 mithilfe der qualitativen Inhalts­analyse               formulierte Schlagwörter und Schlag-
 nach Mayring ausgewertet wurden                         wort-Kombinationen. Für die Suche
(vgl. Mayring 2015: 61ff.). Die Wahl                     wurde vorrangig der Boolescher
Primärdaten zu erheben, ist durch                        Operator1 AND verwendet, um durch
 das Anliegen, diese selektiv und bei-                   die Verknüpfung mehrere Begriffe
spielhaft mit den Sekundärdaten der                      wie „women“ AND „refugee“ AND
Literatur­recherche vergleichen zu                      „somalia“ eine systematische Präzisie-
­können, ­begründet.                                     rung vornehmen zu können. Auf die
                                                         Operatoren NOT and OR wurden in
                                                         dieser Erhebung verzichtet. Folgende
                                                         Suchbegriffe und deren Kombination

1   Dabei handelt es sich um eine logische Verknüpfung von Suchbegriffen bei der Datenbank­
    abfrage (vgl. Erlenkötter 2005: 48f.).

8               Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia | FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION
wurden verwendet: „­women“, „refugee“,                    tungsstrukturen zu gelangen, die sich
„­Somalia“, „­female refugees“, „forced                    bei einem systematischen Abfragen
 ­migration“, „forced displacement“,                       versperren würden. Der Ablauf und die
„­drivers of m
             ­ igration“, „mixed migration“,               Struktur des Interviews werden dabei
„­gender inequality“, „discrimination“,                    durch die Interviewerin unterstützt
„­gender roles“, „patriarchy“, „­community“,               (vgl. Mayring 2002: 72f.).
„FGM“, „violence“, „gender-based
 violence“, „domestic violence“, „sexual
                                                           2.2.1 Interviewleitfaden
 violence“, „forced marriage“, „coercive
 marriage“, „civil war“, „armed conflict“,                 Der Interviewleitfaden besteht aus 26
„ ­Al-Shabaab“.                                            beziehungsweise 29 offenen Fragen,
                                                           die in folgende Fragenblöcke unterteilt
Die gefundenen Forschungsartikel                           wurden: „Demographische F  ­ ragen“,
wurden mithilfe des Abstracts und der                     „Frauen in Somalia und Flucht“,
determinierten Abgrenzung auf deren                       „­Somalia“ und „Persönliche Fragen“.
Eignung für diese Arbeit geprüft. Die
Literaturverzeichnisse der Publikatio-                     Ersterer bezieht sich auf Alter, Wohn-
nen wurden außerdem auf weitere rele­                      ort und Schulbildung. Dieser Teil, der
vante Forschungsliteratur untersucht.                      normalerweise am Ende eines Frage-
Da frauenspezifische Fluchtursachen                        bogens aufzufinden ist, wurde bewusst
auch von diversen Nichtregierungs-                         am Anfang platziert, da beide Frauen
organisation (NGOs) wie dem UNHCR                          bereits während des Asylverfahrens
behandelt werden, wurden auch deren                        Interviews durchführen mussten und
Informationen verarbeitet. In beiden                       mit diesen Fragen bereits vertraut sind.
Fällen wurden die Gütekriterien der                        Im Fragenblock „Frauen in Somalia und
qualitativen Forschung nach Mayring                        Flucht“ wurden Angaben zur Stellung
angewandt, um die Qualität der (Fach-)                     der Frau in Somalia, zu Verboten und
Literatur zu gewährleisten (vgl. Mayring                   zu Fluchtgründen erhoben. Danach
2002: 140ff.).                                             wurden Fragen über das Leben in
                                                           Somalia und über frauenspezifische
                                                           Fluchtgründe gestellt. Abschließend
2.2 Empirischer Zugang                                     konnten die Befragten ihre Wünsche
                                                           und Gedanken äußern, sowie nicht be-
Hinsichtlich der Fragstellungen fiel die                   handelte Themenbereiche einbringen.
Wahl auf ein nicht standardisiertes,                       Die Einleitung zu Beginn soll die Begrü-
leitfadengestütztes, narratives Inter-                     ßung, den Dank, die Aufnahmeerlaub-
view. Diese Interviewform soll, anders                     nis, die Zusicherung der Anonymität
als bei standardisierten Befragungen,                      und die Klärung aufkommender Fragen
die Interviewpartner/innen zum freien                      abdecken. Ausklingen soll das Interview
Erzählen animieren. Hintergrund dieser                     mit einem abschließenden Dank und
Variante ist es, zu subjektiven Bedeu-                     einem informellen Abschluss.

FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION | Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia     9
Die „Du-Form“ wurde aufgrund der-                          tik notwendiges, Vertrauensverhältnis
selben Altersklasse und des vertrauten                     vorhanden war und die beiden Frauen
Umgangs verwendet. Um etwaige Un-                          über die Vorgehensweise und Rahmen-
klarheiten vorab zu beseitigen, wurde                      bedingungen informiert wurden, gaben
der Interviewleitfaden bei der ersten                      sie ihre Einwilligung. Sie erklärten sich
Befragung persönlich vor dem Inter-                        mit der Aufzeichnung der Interviews
view mit der Befragten durchgelesen,                       einverstanden, wobei ihnen versichert
während die zweite Befragte den Leit-                      wurde, alle Aussagen zu anonymisieren.
faden auf Wunsch drei Tage vor dem
Interview per E-Mail erhielt.                              Bei den Frauen handelt es sich um
                                                           zwei unterschiedliche Charaktere, die
                                                           verschiedenen sozialen Kontexten ent-
2.2.2 Interviewpartner/innen
                                                           stammen. Während die erste Befrag-
Durch die Tätigkeit in einer gemein-                       te derzeit den Pflichtschulabschluss
nützigen Organisation bot sich die Ge-                     absolviert, ist die zweite ­Befragte an
legenheit mit zwei somalischen Frauen                      einer Universität inskribiert. Die ange-
mit Fluchterfahrung ein Interview zu                       führte Tabelle soll eine kurze Perso-
diesem Thema durchzuführen. Da                             nenbeschreibung der beiden Frau-
bereits ein, für diese sensible Thema-                     en ­darstellen.

Tabelle 1: Informationen über die Befragten (2018)

                                                        Befragte 1                   Befragte 2

Alter                                                   20                           22

Nationalität                                            Somalia                      Somalia

Religionszugehörigkeit                                  Islam                        Islam

Aufenthaltsdauer in Österreich                          1,5 Jahre                    2 Jahre

Wohnort in Somalia                                      Peripherer Raum              Urbaner Raum

Deutschkenntnisse                                       B1                           B2

Schulbesuchsdauer                                      4 Jahre                       12 Jahre

Geschwisteranzahl                                      7                             2

© Kathrin Hahn

10               Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia | FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION
2.2.3 Vorbereitung und Durchführung                        2.2.4 Auswertung

Durch den laufenden Kontakt zu beiden                      „Wenn gesprochene Sprache, beispiels­
Frauen stellte die Terminvereinbarung                      weise aus Interviews oder Gruppendis­
für die Interviews keine Schwierigkeit                      kussionen, in eine schriftliche Fassung
dar. Die Durchführung der Interviews                       gebracht wird, so nennt man dies Trans­
fand im Projektarbeitsraum „C529“ der                       kription“ (vgl. Mayring 2002: 89).
Arbeitsgruppe Bevölkerung, Umwelt und
Entwicklung des Instituts für Geogra-                      Nach dieser Definition Mayrings (2002)
phie und Regionalforschung statt. Dieser                   soll nun auf deren Anwendung einge-
befindet sich im 5. Obergeschoss des                       gangen werden: Die Transkription der
Neuen Institutsgebäudes der Universität                    beiden Interviews wurde am Computer
Wien. Da es von besonderer Wichtigkeit                     durchgeführt. Die Niederschrift erfolgte
war, die Interviews in einem neutralen, un-                nach der originalgetreuen Wiedergabe,
gestörten Umfeld durchzuführen, wurde                      bei der verwendete Wörter, Wortstel-
dieser Projektarbeitsraum ausgewählt.                      lungen und Satzbaufehler beibehalten
Der Raum wurde im Vorhinein für die                        werden. Es wurde eine leichte Sprach-
geplanten Tage reserviert und Vorkeh-                      glättung vorgenommen, bei der Eigen-
rungen für einen reibungslosen Ablauf                      heiten der gesprochenen Sprache je-
getroffen. Dazu zählen unter anderem die                   doch berücksichtigt wurden. Auch eine
Anfahrtsbeschreibung, die Abholung der                     Annäherung an die Hoch- beziehungs-
Befragten vor dem Institutsgebäude, die                    weise Umgangssprache wurde vorge-
Bereitstellung von Getränken, Obst und                     nommen, um die Lesbarkeit zu ver-
Kuchen sowie die Sicherstellung der Auf-                   bessern (vgl. Fuß & Karbach 2014: 39f.).
nahmequalität. Das erste Interview fand                    Die Entscheidung fiel auf diese Art der
am 27. Juni 2018 statt und dauerte 1 Stun-                 Transkription, da die Interviews dadurch
de und 20 Minuten2. Das zweite Interview                   authentischer und nachvollziehbarer
wurde krankheitsbedingt von 26. Juni                       sind und der Inhalt des Gesprächs dabei
2018 auf den 29. Juni 2018 verschoben                      verständlich bleibt. Die Aufnahme von
und nahm 1 Stunde und 10 Minuten2 in                       Nebengeräuschen und nonverbalen Ele-
Anspruch. Beide Interviews wurden mit                      mente wurden, aufgrund der negativen
einem Tablet aufgenommen, transkribiert                    Auswirkungen auf den Lesefluss bei der
und anonymisiert. Bei der Durchführung                     Transkription, nicht berücksichtigt. Die
gab es nur eine geringe sprachliche Bar-                   Auswertung beider Transkripte wurde in
riere, da beide Befragten zumindest das                    Anlehnung an die qualitative Inhaltsana-
Sprachenlevel B1 beherrschen. Es musste                    lyse nach Mayring durchgeführt. Diese
nur wenige Male eine Frage beziehungs-                     Variante will fixierte Kommunikation
weise ein Wort aus dem Interviewleitfa-                    analysieren und dabei systematisch
den erklärt werden.                                        sowie regel- und theoriegeleitet vor-

2   Diese Zeitangaben beziehen sich auf die offizielle Aufnahmezeit.

FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION | Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia   11
gehen. Das Ziel stellen Rückschlüsse auf               können (vgl. Mayring 2002: 114ff.). Die
bestimme Aspekte der Kommunikation                     Kategorien ergaben sich deduktiv aus
dar (vgl. Mayring 2015: 12f.).                         dem Interviewleitfaden und mithilfe von
                                                       Kodierregeln wurde festgelegt welche
Da die Inhaltsanalyse kein Standard-                   Inhalte der jeweiligen Kategorie zuge-
instrument darstellt, muss zunächst                    wiesen werden. Anschließend wurden
der Ablauf geklärt sein. Anfänglich                    die Interviews erneut überarbeitet und
wurden die Transkripte durchgelesen                    die Kernaussagen zusammengefasst
und wichtige Inhalte markiert. Danach                  (vgl. Mayring 2015: 61ff.). Die Inhalte
erfolgte die Kategorienbildung, die im                 konnten nicht immer eindeutig und aus-
Zentrum der qualitativen Inhaltsanalyse                schließlich einer Kategorie zugewiesen
steht. Dieses Kategoriensystem legt jene               werden, da diese oftmals mehrere The-
Aspekte fest, die aus dem Material her-                menaspekte beinhalteten. Zudem wurde
ausgefiltert werden sollen, um in Folge                versucht, Aussagen beider Interviews
die Forschungsfragen beantworten zu                    gleichermaßen zu ­berücksichtigen.

3. Theoretischer Teil
 Da diese Arbeit der frauenspezifischen                2016: 6). Laut Freytag et al. (2016) wird
 Migrations- und Fluchtforschung zu-                   Flucht als eine Dimension der Migration
 geordnet werden kann, soll diese kurz                verstanden, die sich aufgrund der Unfrei-
 erläutert werden. Danach folgen länder-               willigkeit von anderen Migrationsformen
 spezifische Informationen über Somalia,               unterscheidet (vgl. Freytag et al. 2016:
 die dem Grundverständnis dieser Arbeit                52). Folgendes Zitat von Hillmann (2016)
 dienen. Im Anschluss werden im Kapitel                soll diese Dimension verdeutlichen:
„Frauenspezifische Fluchtursachen in                  „Je weniger freiwillig eine Migration
 Somalia“ die Inhalte der ausgewählten                 geschieht, desto eher spricht man von
 Studien (Zeitraum 2013–2018) angeführt.               Flucht“ (vgl. Hillmann 2016: 18). In Bezug
                                                       auf die Push- und Pull-Faktoren betont
                                                       Nuscheler (2004), dass Migrationstheo-
                                                       rien Fluchtbewegungen als Migrations-
3.1 Frauenspezifische Migra­
                                                      vorgänge ansehen, die vorwiegend
    tions- und Fluchtforschung
                                                      von „Push-Faktoren“ ausgelöst werden:
                                                      „Der Flüchtling“ flieht vor etwas (vgl.
 Der Begriff Migration hat seinen Ur-
                                                       Nuscheler 2004: 107). Auch De Lange
 sprung im Lateinischen und b ­ edeutet
                                                       et al. (2014) beziehen sich auf die Art der
„wandern“, „Wanderung“ (vgl. Han
                                                       Migration. Erfolgt diese ­gewaltsam und

12            Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia | FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION
erzwungen, handelt es sich um Flucht                       1980er Jahren Zwangsmigration und die
(vgl. De Lange et al. 2014: 144).                          damit einhergehende Genderdimension
                                                           als interdisziplinäres Forschungsfeld
 Das klassische „Push- und Pull-­Modell“                   (vgl. Krause & Scherschel 2018: 2f.).
 ist eine Betrachtungsmöglichkeit von
 Migration und wird herangezogen, um                       Diese Arbeit soll einen Teil zu der
 die multikausalen, komplexen Be-                          bisherigen Forschungsliteratur von
 stimmungsfaktoren der Migration in                        frauenspezifischen Fluchtursachen in
„Schub“ und „Sog“ zu gliedern. Während                     Somalia beitragen und einen Überblick
„Push-Faktoren“ abstoßende Faktoren                        über tradierte Geschlechterverhältnisse
 im Herkunftsland, wie Bürgerkriege oder                   und die weibliche Genitalbeschneidung
 religiöse Verfolgung, darstellen, sind                    im Kontext frauenspezifischer Flucht­
„Pull-Faktoren“ jene Faktoren im Zielland,                 ursachen geben.
 die für eine Migration motivierend sind,
 wie politische Stabilität oder Glaubens-
 freiheit (vgl. Han 2016: 12f.). In dieser                 3.2 Somalia
Arbeit werden primär die sogenannten
„Push-Faktoren“ aus Somalia untersucht,                    In Somalia gibt es derzeit 2,6 Millionen
 die Frauen zu einer Flucht bewegen.                       Binnenvertriebene (Stand: Juni 2018)
                                                           und ungefähr 805.980 Geflüchtete
In der Migrationsforschung wurden                          (Stand: Oktober 2018) (vgl. UNHCR
Frauen bis in die 1990er Jahre kaum                        2018a). Ebenso Conner et al. (2016) ge-
beachtet. Migration wurde als männ-                        ben an, dass ein Drittel der somalischen
liches Phänomen angesehen, das auf-                        Bevölkerung Binnenflüchtlinge oder
grund rational- ökonomischer Motive                        international Vertriebene darstellen
realisiert wurde. Frauen wurden, wenn                      (vgl. Conner et al. 2016b: 346). Bei den
überhaupt, als abhängige Migrierende                       Binnenflüchtlingen bilden Frauen und
angesehen, die bei Familienzusammen-                       Kinder die Überzahl (vgl. IOM 2017: 7).
führungen, beim Nachzug oder im                            Generell stellen Frauen weltweit die
Anhang männlicher Familienangehöri-                        Mehrheit der Geflüchteten und Vertrie-
ger in Erscheinung traten. Erst durch                      benen dar, wobei die Zahl der Frauen,
die Debatten zur Feminisierung der                         die allein und als Mütter nationale Gren-
Migration trat die Genderspezifik hin-                     zen überschreiten, seit den Anfängen
sichtlich des Migrationskontextes in den                   der Migrations- und Fluchtforschung
Fokus der Forschung (vgl. Trzeciak &                       stets gestiegen ist (vgl. Lutz & Amelina
Tuider 2013: 75). Während laut Krause &                    2017: 38). Laut Duyar (2016) fliehen die
Scherschel (2018) in der deutschspra-                      meisten Frauen in Nachbarstaaten, die
chigen Fluchtforschung Forschungs-                         im vorliegenden Fall Äthiopien, Kenia,
lücken hinsichtlich Flucht und Gender                      Jemen, Uganda, Dschibuti und Eritrea
bestehen, behandelte der angelsächsi-                      darstellen (vgl. Duyar 2016: 12).
sche Wissen­schaftsraum bereits in den

FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION | Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia   13
Abbildung 1: Weltkarte mit Einfärbung von Somalia

Datengrundlage: simplemaps.com, © Kathrin Hahn

Somalia liegt am Horn von Afrika im                        ­ awlence (2016) hingegen behauptet,
                                                           R
Osten des Kontinents. Das Land ist                         dass die letzte Volkszählung Somalias
durch eine Meerenge von der Ara-                           im Jahre 1975 stattfand und sich die der-
bischen Halbinsel getrennt (siehe                          zeitige Bevölkerung auf 7 bis 9 Millionen
Abbildung 1) und grenzt im Norden an                       beläuft (vgl. Rawlence 2016: 391).
den Golf von Aden, im Osten an den In-
dischen Ozean, im Westen an Dschibuti                       Die Gesellschaft Somalias ist patriar-
sowie Äthiopien und im Süden an Kenia                       chal und konservativ geprägt. Tetzlaff
(vgl. Albrecht et al. 2015: 419).                           (2018) bezeichnet sie als Nomande-
                                                            gesellschaft, da die Mehrheit eine
Laut Albrecht et al. (2015) beträgt die                     nicht sesshafte Lebensweise aufweist
Landfläche Somalias 637.657 km². Das                        (vgl. Tetzlaff 2018: 116). Die Bevölkerung
Land ist daher nahezu acht Mal größer                       Somalias setzt sich aus unterschied-
als Österreich beziehungsweise fast                         lich großen Abstammungsgruppen, für
doppelt so groß wie Deutschland (ebd.:                      die die Bezeichnungen Klan, Sub-Klan
419, 336, 97). Für das Jahr 2015 wird die                   und Subsubklan gebräuchlich gewor-
Bevölkerung auf 10.806.000 geschätzt                        den sind, zusammen (ebd.: 146). Der
(ebd.: 419). Da laut Voigt (2015) und                       Stammbaum basiert auf zwei Abstam-
Albrecht et al. (2015) die letzte Zählung                   mungslinien: Sab und Samaale. Aus den
im Jahr 1987 stattfand und es in Somalia                    daraus resultierenden sechs großen
keine Geburtsurkunden, Ausweise oder                        Klanfamilien gehen zahlreiche Subklans
Kataster gibt, können nur Schätzun-                         und Subsubklans hervor, sodass eine
gen vorgenommen werden (vgl. ­Voigt                         Klanfamilie aus mehreren Klans besteht
2015: 22, Albrecht et al. 2015: 419).                       (vgl. Höhne 2002: 11f.).

14                 Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia | FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION
Das folgende Zitat von Gardner &                          3.3 Frauenspezifische
 El-Bushra (2016) bezieht sich auf das                         ­Fluchtursachen in Somalia
„Frausein“ in Somalia und die Bürde, die
 somalische Frauen tragen müssen (vgl.                     Wie bereits erwähnt, gibt es zahlreiche
 Gardner & El-Bushra 2016: 1): „Somalia                    frauenspezifische Fluchtursachen. In der
 is one of the worst places in the world                   wissenschaftlichen Forschung wird vor
 to be a woman and the worst to be a                       allem die Gewalt gegen Frauen als frau-
 mother.” Um diese Aussage treffen zu                      enspezifische Fluchtursache behandelt.
 können, wurden folgende Faktoren mit                      Studien über frauenspezifische Flucht-
 einem erhöhten Vorkommen berück-                          ursachen, wie jene von Connor et al.
 sichtigt: Analphabetismus, weibliche                      (2016a), Byrskog et al. (2014) und Jesut-
 Genitalbeschneidung, Früh- bezie-                         hasan et al. (2018), weisen folgende frau-
 hungsweise Zwangsheirat, Säuglings-                       enspezifische Fluchtursachen in Somalia
 sterblichkeit, Vergewaltigungen und an-                   aus: frauenspezifische (sexuelle) Gewalt,
 dere Formen frauenspezifischer Gewalt,                    Zwangsheirat und weibliche Genitalbe-
 unzureichende Gesundheitsversorgung,                      schneidung. Diese frauenspezifischen
Armut, Unterernährung, Vertreibung,                        Fluchtursachen werden in den folgenden
 bewaffnete Konflikte sowie soziale,                       Kapiteln ausführlicher behandelt.
 geschlechtliche, wirtschaftliche und
 politisch Ungleichheit (ebd.).
                                                           3.4 Frauenspezifische
Die patriarchale und konservative Prä-                         ­(sexuelle) Gewalt
gung von Somalias Gesellschaft ­spiegelt
sich in der Stellung der Frau wider, deren                 Die frauenspezifische Gewalt wurde in
Rolle und Position in der Gesellschaft                     den behandelten Studien als häufigste
historisch durch Klan­wesen, Traditionen                   Fluchtursache genannt. In jener von
und Religion definiert wurde (vgl. Horst                   Connor et al. (2016a) gaben 20 von
2017: 390). Gegen die Erwartungen eines                    30 somalischen Frauen an, dass sie
Patriarchats sprechen sich Gardner & El-                   Somalia für Sicherheit und Frieden ver-
Bushra (2016) aus, die der Meinung sind,                   lassen haben. Eine 40-jährige Befragte
dass die somalische „Männlichkeit“ in der                  nannte beispielsweise eine versuchte
Gesellschaftsordnung nicht auf Gewalt                      Vergewaltigung als ausschlaggebendes
oder gewalttätiger Unterdrückung der                       Ereignis für die Flucht mit ihren Kindern
Frau beruht (vgl. Gardner & El-Bushra                      (vgl. Connor et al. 2016a: 11f.). Auch in
2016: 2). Anderer Meinung sind Krahé                       der Studie von Byrskog et al. (2014)
(2018) & Byrskog et al. (2014), die be-                    wurde frauenspezifische Gewalt von
haupten, dass frauenspezifische Gewalt                     den Befragten als Fluchtursache ange-
auf patriarchalen Gesellschaftsstruktu-                    führt. Die Mehrheit der 17 somalischen
ren und gewalttätiger Machtausübung                        Frauen betonte, dass ihre Gewalterfah-
gegenüber Frauen gründet (vgl. Krahé                       rung und die generelle kriegsgebun-
2018: 6 & Byrskog et al. 2014: 8).                         dene Gewalt die Hauptfluchtursachen

FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION | Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia    15
darstellten (vgl. Byrskog et al. 2014: 4).             Schwangerschaft und Zwangsabtrei-
Jene Frauen, die offenbar keine Opfer                  bung. Die physische Gewalt inkludiert
frauenspezifischer Gewalt darstellten,                 unter anderem Schläge, erzwungene
nannten die Angst vor sexueller Gewalt                Aufnahme von Substanzen, Verbot
und Zwangsheirat als Auslöser für die                  der medizinischen Versorgung, An-
finale Fluchtentscheidung (ebd.: 6). In                griff und Verletzung mit Objekten oder
der dritten Studie, jener von Jesutha-                ­Waffen. Die psychische Gewalt beinhal-
san et al. (2018), benannte die Mehrheit               tet Drohungen, Stalking, Belästigung,
der 20 somalischen Frauen frauenspe-                   erniedrigende sowie beleidigende
zifische Risiken wie frauenspezifische                 Kommentare, Isolierung, Restriktionen
Gewalt und Zwangsheirat als Fluchtur-                  in der Gesellschaft und Erpressung
sachen. Zwei davon betonten die Angst                  (vgl. ­U NFPA & WAVE 2014: 20f.).
vor der weiblichen Genitalbeschnei-
dung (vgl. J­ esuthasan et al. 2018: 4).
                                                       3.4.2 Gründe

                                                      Frauenspezifische Gewalt äußert sich
3.4.1 Arten
                                                      aufgrund sozialer Konstruktionen, die auf
Zwei verbreitete Formen von Gewalt                    patriarchalische Gesellschaftsstruktur,
an Frauen sind Gewalt innerhalb be-                   ungleiche Geschlechterverhältnisse und
ziehungsweise außerhalb des Familien-                 Machtausübung zurückzuführen sind
und Bekanntenkreises. Die frauenspezi-                (vgl. Krahé 2018: 6 & Byrskog et al. 2014:
fische Gewalt umfasst dabei psychische,               8). Bei der sexuellen Gewalt handelt es
physische und sexuelle Gewalt familiärer              sich meist nicht um das Ausleben sexuel-
und außerfamiliärer Personen gegen-                   ler Bedürfnisse des Täters, sondern um
über Frauen. (vgl. K
                   ­ rahé 2018: 6)                    die Demonstration von Macht und die
                                                      Durchsetzung eigener oder politischer
Der Fokus liegt jedoch auf sexueller                  Ziele (vgl. Bamarni 2015: 18). Die Position
Gewalt, ausgehend von außerfamiliären                 von Frauen in der Gesellschaft beein-
Personen, da diese am häufigsten in                   flusst sowohl das Risiko, sexueller Gewalt
den erwähnten Studien als Fluchtgrund                 ausgesetzt zu sein als auch die Möglich-
genannt wurde. Es kann hinsichtlich                   keit rechtliche Unterstützung zu erhalten.
der frauenspezifischen Gewalt inner-                  Laut Byrskog (2018) besteht in patriar-
halb und außerhalb des Familien- und                  chal geprägten Gesellschaften, in denen
Bekanntenkreises zu inhaltlichen Über-                Frauen eine untergeordnete Position ein-
schneidungen kommen, da die Absich-                   nehmen, ein höheres Risiko für sexuelle
ten und Hintergründe nahezu ident sind.               Gewalt. Im ersten Halbjahr 2013 wurden
                                                      in der Hauptstadt Somalias, Mogadishu,
Zu der sexuellen Gewalt zählen in dieser              800 Fälle sexueller, frauenspezifischer
Arbeit Vergewaltigung und ähnliche                    Gewalt verzeichnet. Die tatsächliche Zahl
­sexuelle Angriffe, sexuelle Belästigung,             liegt im Verborgenen, da zahlreiche (se-
 ­sexuelle Ausbeutung, erzwungene

16            Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia | FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION
xuelle) Übergriffe nicht gemeldet werden                   zen wie Märkten, Straßen, Schulhöfen, in
(vgl. Human Rights Watch 2014: 8).                         Bussen und in Wohngebieten statt. Die
                                                           Gewalttäter/innen stellen meist nationale
Weiters führen Armut und die Normali-                      oder internationale ­Soldat/innen und-/
  sierung von Gewalt auf der gesellschaft-                 oder Milizgruppenmitglieder dar. Des
   lichen, gemeinschaftlichen, familiären                  Weiteren nutzen auch „einfache“ Bürger/
   oder individuellen Ebene zu einem                       innen die lückenhafte Gesetzgebung aus
   erhöhten Risiko für sexuelle Gewalt.                    um, aufgrund von posttraumatischem
­Gesellschaften mit hoher Gewaltakzep-                     Stress, langfristiger Instabilität und dem
  tanz oder Gewaltlegitimation w  ­ eisen                  Konsum von Drogen wie Khat3 Gewalt-
   ebenso erhöhte Raten von s­ exueller                    taten zu verüben (ebd.: 4). Die Angst
 ­Gewalt auf (vgl. Byrskog 2018: 39).                      vor Vergewaltigung oder sexueller Be-
  ­Krahé (2018) bedient sich einer Stu-                    lästigung beschränkt das Alltagsleben
   die, die belegt, dass eine Frau umso                    der somalischen Frauen. Persönliche
   eher Opfer von Gewalt wird, je weniger                  oder telefonische Drohungen wurden
   Macht sie hat (vgl. Krahé 2018: 7).                     von einer somalischen Befragten in der
                                                           Studie von Byrskog (2014) genannt.
                                                           Der Lebensraum von Frauen hinsichtlich
3.4.3 Gesellschaftliche Perspektive
                                                           Kleidung, Beschäftigung und Verhalten
In der somalischen Gesellschaft wird                       ist ebenfalls eingeschränkt und steht in
über die frauenspezifische Gewalt ge-                      Beziehung mit Gewalttaten. Würden
schwiegen, obgleich diese innerhalb                        Frauen das Tragen des Niqab verwei-
oder außerhalb von Partnerschaften                         gern, würde dies zu Schlägen oder einer
stattfindet (vgl. Byrskog 2014: 6). Die                    Gefängnisstrafe führen (vgl. Byrskog
Ergebnisse der Studie von Byrskog et                       2014: 4f.). Der Unterschied zwischen
al. (2014) ergaben, dass das Phänomen                      Niqab und Burka besteht im Ausmaß
von Gewalt innerhalb von Partnerschaf-                     der Verschleierung. Bei beiden handelt
ten von Krieg und der damit einherge-                      es sich zwar um eine Vollverschleierung,
henden Gewalt überschattet wird (ebd.:                     im Gegensatz zur Burka lässt der Niqab
8). Des Weiteren zeigt die Studie, dass                    jedoch die Augen frei (vgl. Hadj-Abdou
sexuelle Gewalt in der Familie als ein                     2012: 48). Die mangelnden Gesetze und
Problem angesehen wird, das innerhalb                      Regulationen wirken sich auf die Frauen-
dieser gelöst werden soll (ebd.: 7).                       rechte aus, da es kaum juristische Unter-
                                                           stützung gibt (vgl. Byrskog 2014: 6f.).
Die frauenspezifische Gewalt hat die so-
malische Gesellschaft auf allen Ebenen                     Kommt es zu gewalttätigen (sexuellen)
beeinträchtigt. Unerwartete gewalttätige                   Übergriffen, bestrafen Familien den
Übergriffe finden auf öffent­lichen Plät-                  Gewalttäter, aufgrund der mangelnden

3   Hierbei handelt es sich um eine endemische Pflanzenart, deren Konsum zu einer amphetaminarti-
    gen Stimulierung führt (vgl. Byrskog 2014: 4).

FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION | Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia   17
Rechtslage, oftmals selbst. Eine aus einer             ehre verletzen. In den meisten Fällen
Vergewaltigung entstandene Schwan-                     wird das weibliche Opfer für die Tat ver-
gerschaft führt zu Komplikationen für                  antwortlich gemacht. Die Familienehre
die Mutter, das Kind und die Familie.                  und Würde werden vorrangig behandelt,
Schwangerschaftsabbrüche werden als                    Gesundheit und Sicherheitsbedarf des
selten beschrieben, da sie verboten sind               Opfers vernachlässigt, da sexuelle und
und in der Gesellschaft aufgrund des                   andere Formen von frauenspezifischer
islamischen Glaubens nicht akzeptiert                  Gewalt als normal, akzeptiert und in
werden. Die einzige Option für eine ver-               manchen Fällen als erwartet bezeichnet
heiratete Frau ist es vorzugeben, dass                 werden (vgl. Glass et al. 2018: 2).
es sich um das Kind des Ehemannes
handelt. Stellt das Opfer eine unverheira-            Auf der individuellen Ebene hat eine
tete Frau dar, gibt es laut Byrskog (2014)            Frau, die sexuelle Gewalt erfahren
folgende Optionen: Zum einen besteht                  musste, die Option zwischen Akzeptanz,
die Möglichkeit, dass die betroffene Frau             Schweigen, Vertrauen auf Familienent-
umzieht oder flieht, zum anderen könnte               scheidungen oder Flucht (vgl. Byrskog
eine Heirat mit entfernten Verwandten                 et al. 2014: 8). Eine Reaktion auf (frauen-
arrangiert werden. Eine weitere tradi-                spezifische) Gewalt ist das in der soma-
tionelle Variante stellt die Verheiratung             lischen Gesellschaft aufkommende Phä-
des Opfers mit dem Täter dar. Diese wird              nomen Buufis. Die Befragten der Studie
heute selten, aber dennoch angewandt.                 Byrskog et al. (2014) definierten diesen
Im Vordergrund all dieser Möglichkeiten               Begriff als starke Abneigung gegen-
steht die Familienehre (ebd.: 6f.).                   über einer vorherrschenden Situation
                                                      und den Wunsch, in ein anderes Land zu
Um eine dieser Möglichkeiten wählen zu                fliehen. Dieses Phänomen tritt vor allem
können, muss die Familie zunächst über                bei jungen Menschen auf und äußert
den sexuellen Übergriff informiert wer-               sich durch eine emotionale Gefühls-
den. Viele junge Frauen entscheiden sich              lage, Sorgen und Depressionen. Buufis
jedoch dagegen, denn sie fürchten um                  führt zu der Tatsache, dass nichts mehr
ihre Hochzeitschancen, vor allem wenn                 zählt bis auf den Wunsch, die Situation
sie zuvor noch keinen Geschlechts-                    in Somalia zu verlassen, da dies für die
verkehr hatten. Dies ist auf die Tat-                 Betroffenen die einzige Lösung darstellt.
sache zurückzuführen, dass Opfer von                  Letztendlich führt dies in vielen Fällen
Vergewaltigungen oftmals als „unrein“                 zur Flucht (vgl. Byrskog et al. 2014: 5).
und „benutzt“ angesehen werden (vgl.
Ingriis & Höhne 2013: 319). Eine Verge-
                                                       3.4.4 Geschlechterspezifische
waltigung birgt eine Zweideutigkeit, die                     ­Rollenverteilung
Frauen von der Bekanntgabe einer Ver-
gewaltigung abhält, denn die mögliche                  Wie bereits erwähnt, äußert sich frau-
Einwilligung der Frau zu unehelichem                   enspezifische Gewalt aufgrund sozialer
Geschlechtsverkehr würde die Familien-                 Konstruktionen, basierend auf einer pa-

18            Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia | FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION
triarchalischen Struktur und ungleichen                   Die Makroebene bezieht sich auf die
 Geschlechterverhältnissen (vgl. Krahé                     soziale Struktur und das Wertesystem
2018: 6). Die Billigung der traditionellen                 einer Gesellschaft oder einer sozialen
 Männerrolle, die hingenommene Ge-                         Gruppe. Die Akzeptanz und Legitimie-
 walt, die Neigung zu Wut und zusätz-                      rung von Gewalt geht mit der patriar-
 liche Faktoren wie Eifersucht erhöhen                     chalen Gesellschaftsstruktur einher und
 das Risiko der Gewaltausübung von                         fördert diese letztendlich. Diese Art von
(Ehe-)Männern gegenüber Frauen                             Gesellschaft ist durch klare Machtver-
(ebd.: 7). Eine weitere Ursache sexueller                  hältnisse zwischen Männern und Frauen
 Gewalt, die von der Forschung neben                       definiert, in denen Männer sowohl im
 den patriarchalen Machtverhältnissen                      öffentlichen als auch im privaten Raum
 genannt wird, ist, dass männliche Täter                   über Frauen bestimmen. Gewaltför-
 oft Modernisierungsverlierer darstellen.                  dernde Risikofaktoren stellen unter
Wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher                   anderem auch Arbeitslosigkeit und die
Wandel kann bei Männern zu Abwer-                          Existenz eines Drogenmarkts wie jenem
 tung oder Minderwertigkeitsgefühlen                       von Khat dar (ebd.). Die Mikroebene
 führen und sexuelle Aggressionen                          bezieht sich auf die Beziehungsart,
 steigern. Geschlechtsspezifische Gewalt                   situative Handlungen und Reaktionen,
 wird von vielen als einziger Ausweg ge-                   welche die Wahrscheinlichkeit von Ag-
 sehen Macht zu demonstrieren, um ihre                     gressionen erhöhen. Hierbei spielen Un-
 Unsicherheit und Ängste zu verber-                        zufriedenheit und Faktoren wie Alkohol-
 gen (vgl. Pilz 2018: 28). Des Weiteren                    oder Drogenkonsum eine Rolle (ebd.).
 empfinden Männer, die gemäß traditio-                     Die individuelle Ebene fokussiert sich
 neller Rollenbilder sozialisiert sind, das                auf individuelle, sozio-demographische,
„Hereindrängen“ von Frauen in männ-                        biologische und personelle Charakte-
 liche Bereiche als Bedrohung. Frauen                      ristika der gewalttätigen Männer. Krahé
 werden in Folge zu Hassobjekten (vgl.                     (2016) verweist auf junge, u ­ ngebildete,
Wettig 2018: 34f.). Islamisten nutzen die                  wenig wohlhabende Männer, die
 Minderwertigkeitsgefühle und Ängs-                        Frauen eher missbrauchen als ältere,
 te der Männer, um alte Rollenbilder                       gebildete und wohlhabende Männer.
zu propagieren, in denen Frauen im                         Zusammengefasst spielen also Alter,
 öffentlichen Raum unsichtbar sein und                     Bildungsstand und Einkommen eine
 im Falle einer Nichtverschleierung oder                   Rolle. Klarzustellen ist, dass das Leben
 ohne männliche Begleitung beschimpft                      in einer patriarchalen Gesellschaft und
 oder vergewaltigt werden sollen (ebd.).                   das Vorhandensein diverser Probleme
                                                           nicht automatisch zu Gewaltausübung
Gründe, weshalb Männer Gewalt gegen                        gegen Frauen führen. Die genannten
Frauen ausüben, werden von Krahé                           Kriterien stellen lediglich Risikofaktoren
(2018) auf drei Ebenen beleuchtet: der                     dar, welche die Wahrscheinlichkeit der
Makroebene, der Mikroebene und der                         Gewaltausübung erhöhen (ebd.).
individuellen Ebene (vgl. Krahé 2018: 7).

FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION | Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia   19
3.5 Kriegsgebundene                                    der Gesellschaft vorhanden ist, verstärkt
    ­(sexuelle) Gewalt                                 (vgl. Byrskog 2014: 2). Jene die dies nicht
                                                       unbeteiligt hinnehmen wollen, nehmen
In fast allen größeren bewaffneten Kon-                oftmals eine aktive Rolle im Kriegsge-
flikten wurde und wird sexuelle Gewalt                 schehen ein. Ingriis & Höhne (2013) ver-
als Waffe eingesetzt. Gesundheitliche,                 deutlichen, dass nicht alle somalischen
wirtschaftliche und soziale Folgen treffen             Frauen eine passive und folgsame Rolle
nicht nur Individuen, sondern destabilisie-            in der Gesellschaft einnehmen. Die aktive
ren ganze Gemeinschaften (vgl. Pilz 2018:              Teilnahme somalischer Frauen im Krieg
27). Auch Parcesepe et al. (2016) betonen,             als Motivator/innen oder Kämpfer/innen
dass sexuelle Gewalt gegen Mädchen                     hat eine lange Tradition. Diese Teilnahme
und Frauen während eines bewaffne-                     widerspricht dem Klischee der traditio-
ten Konflikts eine historisch bewährte                 nellen somalischen Frau als Mutter und
Kriegsstrategie darstellt (vgl. Parcesepe              Ehefrau in einer patriarchalen Gesell-
et al. 2016: 799). Es ist daher naheliegend,           schaft (vgl. Ingriis & Höhne 2013: 319).
dass auch im somalischen Bürgerkrieg
Vergewaltigungen als Waffe eingesetzt
                                                        3.5.1 Al-Shabaab
werden, um Frauen und Männer zu er-
niedrigen. Diese Art sexueller Gewalt                   Im Laufe des Bürgerkriegs bildeten
führt zu diversen Leiden, unter anderem                 sich mehrere islamistische Milizen, die
zu physischen Schmerzen, psychischen                    als gewaltvollziehende Akteure im
Krankheiten oder dem Tod. Bei diesem                    Kriegsgeschehen fungieren. Die Miliz
Kriegsmittel handelt es sich, laut ­Ingriis &          „Al-Shabaab“ etablierte sich seither am
Höhne (2013), um eine grausame, aber                    stärksten (vgl. Kfir 2017: 772).
effektive Strategie bezüglich „Klan-Reini-
gung“, welche die Vertreibung von Grup-                Al-Shabaab (auch „Harakat al-­Shabaab
pen durch deren Gegner bezeichnet (vgl.                Mujahideen“ genannt) bedeutet „­Jugend“,
Ingriis & Höhne 2013: 318). Des Weiteren               beziehungsweise „die Jüngsten“ und stellt
zielt sie auf die Auflösung von Familien               eine militante islamistische Gruppierung
ab, da viele verheiratete Frauen, die Opfer            in Somalia dar (ebd.). Laut Kfir (2017)
einer Vergewaltigung wurden, nicht                     wird Al-Shabaab als ­Al-Qaida-­Franchise
mehr zu ihren Ehemännern zurückkehren                  in Somalia gesehen, wobei Steinberg
können. Begründet ist dies oftmals durch               (2013) der Ansicht ist, dass Al-Shabaab
die soziale Norm, welche die Schuld der                als unabhängige Organisation agiert und
vergewaltigen Frau zuschreibt (ebd.).                  nicht als Ableger A­ l-Qaidas, denn dafür
                                                       müsste die Organisation Anweisungen
Nach Angaben von Byrskog et al. (2014)                 der A­ l-Qaida befolgen (ebd. & Steinberg
betont die Mehrheit der 17 befragten                   2013: 6). Die Anzahl der Mitglieder von Al-
somalischen Frauen mit Fluchterfahrung,                Shabaab ist unbekannt. Laut Bundesamt
dass der Krieg meist die geschlechts-                  für Fremdenwesen und Asyl (2017) liegt
spezifische Diskriminierung, die bereits in            die Truppenstärke im gesamten Land

20             Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia | FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION
bei 7.000–9.000. Andere Quellen des                        vorstellungen, Fußball, Musik und Tanz
Bundesamtes vermuten 4.000–5.000                           (vgl. ­Maruf & Joseph 2018: 86f.).
Beteiligte (vgl. Bundesamt für Fremden-
wesen und Asyl 2017: 27).                                  Um ihr oberstes Ziel, einen islamischen
                                                           Staat, in Somalia umzusetzen, bedient
Al-Shabaab agiert hauptsächlich in                         sich die islamistische Miliz unter ande-
Süd-/Zentralsomalia (ebd.: 30). Zu                         rem an Strategien, die mit transnatio-
erkennen sind deren Mitglieder meist                       nalen Jihad-Gruppen assoziiert werden
selten, denn zahlreiche Anhänger der                       können. Dazu zählen Selbstmordatten-
Organisation sind inkognito auf den                        tate, Explosionen, Blitzangriffe, Atten-
Straßen Somalias zur Beobachtung der                       tate, Drohungen oder Granatenangriffe
Bevölkerung und Informationsbeschaf-                       (vgl. Kfir 2017: 777).
fung unterwegs (vgl. Maruf & Joseph
2018: 86). Die Observierung geschieht                      Je höher der militärische Druck auf
unter anderem durch eine „Religions-                       Al-Shabaab und je weniger Gebiete sie
polizei“, die sich laut Maruf & Joseph                     effektiv kontrollieren, desto mehr verlegt
(2018) „Army of Hisbah“ nennen soll.                       die Gruppe den Fokus auf eine asym-
Diese kontrolliert per Streifengang die                    metrische Kriegsführung wie Anschläge
Bevölkerung und bringt Beschuldigte                        und Entführungen (vgl. Bundesamt für
bei Verstößen gegen die Scharia vor                        Fremdenwesen und Asyl 2017: 29). Nach
einen islamischen Richter. Ebenso eine                     Angaben von Saikal (2016) gab es in der
Bestrafung in der Öffentlichkeit, welche                   Vergangenheit Vorfälle bei denen Frauen,
die Verbreitung von Angst und die Aus-                     als Selbstmordattentäter herangezogen
übung von Macht und Kontrolle zum                          wurden. Die Überlegung dahinter ist,
Ziel hat, wird praktiziert (ebd.: 86f.).                   dass Frauen weniger Aufmerksamkeit auf
                                                           sich ziehen als Männer. Laut Saikal (2016)
Ursprünglich wollte Al-Shabaab in dem                      wurden im Jahr 2011 70 Frauen von Al-
bürgerkriegsgeplagten Land für Sicher-                     Shabaab zu Selbstmordattentäter/innen
heit und Stabilität sorgen (vgl. Stein-                    ausgebildet (vgl. Saikal 2016: 319).
berg 2013: 3). Steinberg (2013) verdeut-
licht, dass mittlerweile der Fokus auf                     Laut dem dänischen Ministry of Immig-
dem Sturz der bereits geschwächten                         ration and Integration (2017) werden so-
somalischen Regierung, der Macht-                          wohl Männer als auch Frauen rekrutiert.
übernahme und der Errichtung eines                         Frauen werden vor allem für logistische
islamischen Staats auf der Grundla-                        Aufgaben, den Haushalt, als Sexobjekte,
ge ihrer Interpretation des Islam und                      Ehefrauen, Kämpfer/innen, für die Infor-
der Scharia, liegt (ebd.: 5). Die strikte                  mationsbeschaffung und Rekrutierung
Auslegung der Scharia führte allge-                        anderer Frauen eingesetzt (vgl. Ministry
mein zu Verboten beliebter Freizeit-                       of Immigration and Integration 2017: 22).
beschäftigungen, die Al-Shabaab als                        Es sei an dieser Stelle darauf hinge-
un­islamisch betrachtete, darunter Kino-                   wiesen, dass Frauen laut dem Ministry

FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION | Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia    21
of Immigration and Integration (2017)                  tion 2017: 24f.). Gründe für eine freiwilli-
hauptsächlich durch Anreize und/oder                   ge Mitgliedschaft bei Al-Shabaab stellen
Zwang rekrutiert werden. Dagegen steht                 in der Studie von Bardurdeen (2018) die
die Aussage eines Landesdirektors einer                finanzielle Situation, die Liebe zu Sohn
humanitären Organisation in Somalia,                   oder Ehemann/Partner, Vendetta, Aben-
der behauptet, dass es keine Angaben                   teuerlust oder Neugierde dar (ebd.).
hinsichtlich der Freiwilligkeit bezie-
hungsweise der Zwangsrekrutierung                      Nach Angaben von Parker (2017) wurden
von Frauen gibt. Eine gezielte Rekrutie-               Frauen in einem Al-Shabaab-Camp als
rung und Opferwahl von Frauen besteht                  Gefangene gehalten, mehrmals verge-
nicht, denn sowohl Frauen als auch                     waltigt und gezwungen Drogen zu neh-
Männer müssen sich an die Vorgaben                     men, vor allem „Bugizi“. Hierbei handelt
der Miliz halten (ebd.: 22ff.).                        es sich um eine Kombination von Heroin,
                                                       Marihuana und Rohypnol. Diese Droge
Die unfreiwillige Rekrutierung von Mäd-                wird, ebenso wie Khat, von der Mehrheit
chen und Frauen der Al-Shabaab-Miliz                   der Al-Shabaab-Mitglieder konsumiert.
hingegen geht von trügerischen Stra-                   Des Weiteren müssen Frauen sexuell
tegien aus. Badurdeen (2018) stellt fest,             „verfügbar“ sein, um zu verhindern, dass
dass Aussichten auf Ausbildungsmög-                    Mitglieder aufgrund unzureichender se-
lichkeiten, Beschäftigungsmöglichkeiten                xueller Erfüllung aus der Miliz aussteigen
und Freundschaften genutzt werden,                     wollen. Bei Befragungen konnte festge-
um Frauen anzuwerben (vgl. Badurdeen                   stellt werden, dass Frauen gezwungen
2018: 20). Bei der Anwerbung durch                     wurden Verhütungsmittel zu benutzen,
weibliche Rekrutierer/innen verspüren                  um eine Schwangerschaft zu verhindern.
die potenziellen weiblichen Opfer ein ge-              Im Falle einer Schwangerschaft wurden
ringeres Unbehagen als bei männlichen,                 sie zur Abtreibung gezwungen (ebd.).
verdeutlichte Badurdeen (2018) anhand                  Nach Angaben von Attwood (2017)
ihrer Studie (ebd.: 29). Die unfreiwillige             hingegen „züchtet“ die Miliz die nächste
Rekrutierung von Frauen reicht von er-                 Generation von Kämpfer/innen. Da sich
zwungen bis freiwillig. Die zwanghafte                 die Rekrutierung neuer Mitglieder immer
Rekrutierung beinhaltet unter anderem                  schwieriger gestaltet, befürwortet die
Entführungen, Druckausübungen, Dro-                    Miliz die Schwangerschaften vergewal-
hungen oder Einschüchterungen. Damit                   tigter Frauen, um diese Kinder nach ihren
zusammenhängend werden Frauen                         Vorstellungen für den Kampf zu erziehen.
oftmals zu Eheschließungen mit Al-Sha-
baab-Mitgliedern gezwungen (ebd.: 21).                Falls Frauen der Miliz entkommen kön-
                                                      nen, erwartet sie meist ein Leben voller
Abgesehen davon kann eine mögliche                    Ausgrenzung und Stigmatisierung. Durch
Druckausübung oder ein zwanghafter                    den Geschlechtsverkehr mit anderen
Beitritt von den Ehemännern ausgehen                  Männern werden sie beschämt und in der
(vgl. Ministry of Immigration and Integra-            Folge verachtet. Darunter fallen ebenso

22            Frauen auf der Flucht. Frauenspezifische Fluchtursachen in Somalia | FORSCHUNGSPREIS INTEGRATION
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