Herkunft Alles eine Frage des Zeithorizonts - Credit Suisse
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Seit 1895 das Magazin der Credit Suisse Nummer 1 Schweizer Ausgabe / Deutsch April /Mai 2011 Herkunft Alles eine Frage des Zeithorizonts Branchenhandbuch Kurzarbeit bewährt sich in der Krise / Nouriel Roubini Der US -Starökonom im exklusiven Leader-Interview Dossier Immobilienanlagen Nachhaltiges Bauen ist auch in der Schweiz das Gebot der Stunde
TECHART GrandGT und TECHART Magnum. Die neuen Individualisierungsprogramme für Porsche Panamera und Cayenne. TECHART Individualisierungsprogramme sind atemberaubend elegant und aufregend sportlich. Voller Charakter und so unverwechselbar wie Ihre Persönlichkeit. Zum Beispiel die neuen Programme TECHART GrandGT für den Porsche Panamera und TECHART Magnum für die Porsche Cayenne Modelle. Original TECHART bedeutet aber auch: TÜV- und DTC-zertifizierte Entwicklungsprozesse, höchste Material- und Fertigungsqualität, strenge Sicherheitsprüfungen sowie umfangreiche Testzyklen. Im Windkanal und auf der Rennstrecke. Auf dem Prüfstand und im Crashversuch. Ganz nach unserem Grundprinzip: Erstausrüsterqualität. Erleben Sie TECHART Individualisierung selbst. Mit den vielfältigen Programmen für Ihren Porsche Boxster, Cayman, 911, Panamera oder Cayenne. TECHART in der Schweiz: TECHART Schweiz by Sahli & Frei AG Industriestrasse 2, CH-8307 Effretikon Tel.: +41 (0)52 355 30 60, E-Mail: info@techart.ch Internet: http://www.techart.ch
Editorial 1 Meine Geburtsurkunde weist mich als Bürger eines kleinen Dorfes namens Obererlinsbach im Schweizer Mittelland aus. Obwohl Erlinsbach insgesamt kaum mehr als 6000 Einwohner zählt, war es bis vor Kurzem dreigeteilt, und zwar in ein Ober- und Niedererlinsbach Solothurn und Erlinsbach Aargau. Der Erzbach, der mitten durchs Dorf fliesst, ist gleichzeitig auch die Kantonsgrenze. Immerhin haben sich auf der Solothurner Seite vor fünf Jahren die Ober- und Niedererlinsbacher zu einer Gemeinde vereint. kooaba kooaba erkennt Fotos von CDs, Büchern und Zeitungen und liefert Infos aus dem Web. Nun ist mein Vater tatsächlich auch im solothurnischen Obererlinsbach geboren und aufgewachsen. Insofern stimmten bei ihm bezüglich Herkunft Sein und offizieller Schein noch überein. Doch kaum hatte er die Berufslehre abgeschlossen, zog es ihn in die Ostschweiz, wo er nicht nur eine gute Stelle, sondern auch seine künftige Frau fand. Auch wenn er sich am Anfang wegen seines unüberhörbar «fremd- ländischen» Dialektes so manche spitze Bemerkung gefallen lassen musste, fühlte er sich schon bald heimisch und hielt der Ostschweiz und letztlich St. Gallen sein Leben lang die Treue. Solche innerschweizerischen Migrationsgeschichten sind aber noch immer die Ausnahme, erst recht über die Sprachregionen hinaus. Die Schweizer sind in der Regel stark verwurzelt in ihrer Wohngemeinde und gelten im internationalen Vergleich als ausgesprochen migrationsfaul. Das tut der Attraktivität der Schweiz als Immigrationsland aber keinerlei Abbruch. Vergleichsweise gute Löhne und ein hoher Lebensstandard bei gleichzeitig tiefer Arbeitslosenquote ziehen Jahr für Jahr Tausende ausländischer Arbeitskräfte an. Sie sind zu einem wichtigen Motor der Schweizer Wirtschaft und damit unseres Wohlstands geworden. Aber sie verursachen auch Ängste: Gemäss dem vom bulletin bereits zum siebten Mal durchgeführten Identitätsbarometer, das diesem Heft beiliegt, sehen 78 Prozent der Schweizer ihre Identität durch Einwanderung und 67 Prozent durch die internationale Öffnung bedroht. Die Schweizer scheinen vergessen zu haben, dass wir alle irgendwann einmal Einwanderer waren. Man muss bei der Ahnenforschung einfach nur weit genug zurückgehen. Ein reges Kommen und Gehen herrscht im Übrigen auch bei den Tieren und Pflanzen. So streiften im Schweizer Mittelland einst Löwen und Leoparden umher, bevor sie nach Süden abwanderten. Gleichzeitig ist das Edelweiss, das Symbol für Schweizer Alpenfolklore schlechthin, erst relativ spät von der asiatischen Hochsteppe zu uns Gold Winner eingewandert. Auf der Spurensuche nach der Herkunft von Menschen, Tieren und Pflanzen stösst man in diesem bulletin auf so manche Überraschung. Mir hat es gezeigt, dass Herkunft immer nur als Momentaufnahme definiert werden kann. Die Gold Winner Welt ist und bleibt in Bewegung. So habe ich meine eigene, amtlich beglaubigte Herkunftsgeschichte mittlerweile auch wieder aktualisiert, indem ich zusätzlich das St. Galler Bürgerrecht erworben habe. Die Obererlinsbacher mögens mir verzeihen. Foto: Cédric Widmer Daniel Huber, Chefredaktor bulletin Preisträger
L E S A M I S D U C R E D I T S U I S S E Aus Freude an Kunst. Die Credit Suisse pflegt langjährige Partnerschaften mit ausgewählten Kunstinstitutionen. So mit dem Kunsthaus Zürich, dem Singapore Art Museum und der National Gallery in London. credit-suisse.com/sponsorship
Inhalt 3 Invest 10 Aktuelle Analysen und Prognosen Wirtschaft 34_ Branchenhandbuch 2011 Kurzarbeit erweist sich in der Krise als probates Mittel 39_ Experteninterview Warum Herkunft für die Anlagestrategie so wichtig ist Coverfoto: Pia Zanetti | Foto: Pia Zanetti 40_ Afrika Bodenschätze, Landwirtschaft und Mobilfunk treiben Wirtschaftswachstum an 44_ Nano Winzige Technologie mit riesigem Wachstumspotenzial 46_ Schwellenländer Von der Werk bank der Welt zum vielversprechenden Anlagethema Dossier Herkunft Neun Menschen aus sieben verschiedenen Ländern finden in Zürich bei der Credit Suisse zum greenproperty Nachhaltiges Bauen ist auch in der Schweiz das Gebot der Stunde Team «Currency & Commodity Research» zusammen. Wir zeigen sie mit Dingen aus ihrer Heimat, die ihnen Credit Suisse wichtig sind, und befragen sie zum Ur-Schweizerischen. 50_ World Economic Forum Konstruktive Dia loge am Rande des offiziellen Geschehens 4 _ Ahnenforschung Autor Till Hein hofft im genetischen 53_ Region mit Zukunft Gespräch mit Antonio Selbstversuch auf einen Tropfen Wikingerblut. Quintella, Leiter des Amerikageschäfts 55_ San Francisco Diskussionen über Innovation, 6 _ Lebensmittel Konsumenten wollen wissen, woher ihr alternative Energie und Investitionen täglich Brot stammt – regional wäre es ihnen am liebsten. 62_ Ausgezeichnete Mi Zhou Die Cellistin 9 _ Identitätsbarometer Die Schweizer sind stolz auf gewinnt den Prix Credit Suisse Jeunes Solistes ihr Land und glauben an die Stärke der Wirtschaft. 64_ Haubentreffen Das Tessin ist eine kulinarische Hochburg – das ganze Jahr hindurch 10 _ Schmelztiegel Sie kommen aus der ganzen Welt, 66_ Man Ray und Adolf Wölfli Für die Kunst um in Zürich zu einem Team zusammenzufinden. nach Lugano und Bern reisen 26_ Menschheit Eine Reise Millionen Jahre zurück zu den 69_ Uster Dank Branch Excellence ist diese Ursprüngen der menschlichen Baumaterialien. Geschäftsstelle noch attraktiver geworden 70 _ Innovation Erkenntnisse vom Swiss Innovation 29_ Wanderungen Auch bei den Pflanzen und Tieren Forum auf dem Novartis-Campus herrscht ein reges Kommen und Gehen. 71 _ Risikokapital Zehn Jahre Venture Incubator – ein Rückblick mit Chairman Pius Baschera 72 _ Gastkommentar Für Osec-Direktor Daniel Küng ist Neuland in Sicht Leader 73 _ Roger Federer Drei hektische Tage im Dienst seiner Foundation und ein ent spanntes Fotoshooting mit Mario Testino 76 _ Nouriel Roubini Der globale Nomade über die Weltwirtschaft, die Gier und sich selbst Service 72 _ Impressum Ihr Link zu unserem Know-how: www.credit-suisse.com/bulletin
4 Herkunft Ahnenforschung Gene lügen nicht – leider Russische Seele? Französisches Savoire-vivre? Oder Wikingerblut in den Adern? Hobby-Familienforscher können sich bei der Suche nach ihren Urahnen von Genetikern unter die Arme greifen lassen: ein Selbstversuch. Text: Till Hein Wo meine Urururgrosseltern wohl einst gelebt haben? In Patagonien? Hillary Clinton etwa liebt sie ebenfalls heiss. Die Passion für die Auf Sansibar ? Oder gleich hier um die Ecke, im St.- Johann-Quartier nordischen Barbaren hat sie in die Arme ihres Mannes getrieben. «Er in Basel ? Ob sie Jäger waren? Bauern? Oder Piraten? sah aus wie ein Wikinger », schwärmt die US -Aussenministerin in «Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart meistern», ihrer Autobiografie über die erste Begegnung mit Bill 1970 in einem sagen Historiker. Doch über die Herkunft meiner Familie weiss ich Studentenclub. Besonders sexy fand Hillary seinen roten Bart und fast nichts. Vor Generationen soll in Österreich ein Grossonkel von die langen Haare. Einem solchen «Wikinger aus Arkansas» konnte mir gelebt haben, erfuhr ich neulich auf einem Familienfest: Er war sie unmöglich widerstehen. adlig, steinreich – und verspielte sein gesamtes Vermögen. Doch Dabei haben die echten Wikinger im Mittelalter ganz schön ihr vor dem Jahr 1850 ist unsere Familiengeschichte ein einziger blinder Unwesen getrieben: Sie fackelten Klöster und ganze Dörfer ab, stah- Fleck. len Gold und Edelsteine. «O furore Normannorum libera nos, domi- Zum Glück scheint die Wissenschaft in Sachen Ahnenforschung ne!», beteten die Menschen, «Bewahre uns, Herr, vor der Raserei enorme Fortschritte zu machen. Mittlerweile gilt als erwiesen, dass der Wikinger !» Doch heute ist ihnen niemand mehr böse. Sie gelten jeder Mensch in seinem Erbgut (der DNA ) genetische Spuren seiner als Kultfiguren: etwas tollpatschig vielleicht und grobmotorisch ver- Vorfahren trägt, die bis in längst vergangene Epochen der Mensch- anlagt – wie «Hägar der Schreckliche» –, aber unkapriziös, humorvoll heitsgeschichte zurückreichen. Und manche Genforscher behaupten, und authentisch. diese Spuren lesen zu können. Fischkonserven, Würfelzucker, Senf und Autos werden unter dem Es war Zufall, dass ich auf diese Methode aufmerksam wurde: Zeichen des Wikinger-Drachenboots vermarktet, Gurken, Würstchen, Für ein Magazin sollte ich einen Artikel über die Wikinger schreiben. Trüffel, Marzipan. Skandinavische Ernährungswissenschaftler pro- Als grosser Fan von «Hägar dem Schrecklichen» kam mir dieser Auf- pagieren eine «Wikingerdiät » – und auch die Gentest-Firma Igenea trag wie gerufen. Bei der Recherche stiess ich im Internet auf ein nutzt die Wikingerbegeisterung. Dank Erbgutanalysen aus Knochen- Gentest-Unternehmen aus Zürich. «Sind Sie ein Wikinger ?», lockt funden konnten Wissenschaftler nicht nur DNA -Profile der Kelten, die Firma Igenea auf ihrer Website – und bietet diverse Tests zur Perser, Germanen, Skythen, Slawen und Illyrer erstellen, erfahre ich Foto: C Squared Studios, Getty Images genetischen Abklärung an. Ab 199 Franken. auf der Igenea-Website: Durch Analysen von Blutspuren aus dem Eine solche Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen. Denn Nordwesten Englands, die über 1200 Jahre alt seien, habe man nun die meisten meiner Verwandten sind ruhelose Menschen, genau wie auch echtes «Wikingerblut » isoliert ! ich. Ständig packt uns das Fernweh, die Sehnsucht nach der Weite Ob in meinen Adern tatsächlich Wikingerblut fliesst ? Um diese des Meeres. Und waren nicht die Wikinger die grössten Seefahrer Frage zu klären, soll ich eine Speichelprobe einschicken. Die nötigen der Weltgeschichte? Vielleicht ist die Erklärung simpel, dachte ich: Utensilien lässt mir Igenea per Post zukommen. Nun gleite ich mit Wir Heins sind ihre Nachkommen ! Wikinger sind Sympathieträger. einem Wattestäbchen an der Innenseite meiner Wange entlang. bulletin 1/11 Credit Suisse
Ahnenforschung Herkunft 5 Sanft, aber druckvoll, damit genügend Zellmaterial hängen bleibt. Profilen nach «genetischen Vettern» suchen, macht mir Igenea- Ein seltsames Gefühl, denn bisher kannte ich Speichelproben nur Geschäftsführer Roman C. Scholz am Telefon Mut. Das seien aus der TV -Serie «Tatort ». Dann packe ich die Probe in eine Plastik- Menschen, die mit mir in jüngster Zeit einen gemeinsamen Vorfahren dose, schicke sie nach Zürich und überweise die 199 Franken. teilen. «Mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb der letzten 24 Gene- Wochenlang keine Antwort. Ob mich Igenea vergessen hat ? rationen», so Scholz. Ich gebe Testnummer und Passwort in die Schliesslich kommt doch Post. Aus einem grossen, dicken Couvert Suchmaske ein – und sofort identifiziert die Software einen solchen ziehe ich eine dunkelbraune Mappe mit goldenem Firmenzeichen. «Vetter »: in Dänemark. Neue Hoffnung keimt auf. Denn das könnte Die Farbkopie einer handgemalten Weltkarte liegt darin. Völker- auf Wikingerblut hindeuten ! wanderungen sind eingezeichnet: fast 20 unterschiedliche Routen. Doch kein einziger «genetischer Vetter » sitzt in den klassischen Kein leichtes Unterfangen, die Urahnenforschung! Wikingerhochburgen Island und Norwegen. Mist ! Insgesamt identi- Auf einem weiteren Blatt steht mein persönliches Testresultat: fiziert das Computerprogramm 15 «Vettern»: Neben dem aus Däne- «Haplogruppe: R1a1, Urvolk: Germanen oder Slawen.» Ratlos starre mark sind es 3 Polen, 3 Deutsche, 2 Russen, 2 Italiener, 1 Ukrainer, ich auf die Urkunde. Also doch kein Wikinger ? Und was soll das 1 Bulgare, 1 Holländer, 1 Rumäne. Ganz schön rumgekommen, mei- überhaupt sein, eine Haplogruppe? Eine beigelegte Legende hilft ne Sippschaft ! Es sei trotz allem «nicht völlig ausgeschlossen», dass weiter: Haplogruppen seien eine Art «dicke Äste des Stammbaums in meinen Adern Wikingerblut fliesse, tröstet mich Scholz. Und die des Homo sapiens», oder gleichsam «Ethnien der Frühzeit ». Sie ent- Website seiner Firma empfiehlt diverse «Upgrades». Zum Beispiel stehen, wenn sich Populationen einer Art längere Zeit isoliert von- eine «Super-Kombi», die viel genauer sei als der Einsteigertest, den einander entwickeln. So weit, so gut. ich absolviert habe. Dieses Verfahren analysiere zur Abklärung der Meine Haplogruppe R1a1 scheint, nun ja, hundsgewöhnlich zu väterlichen Verwandtschaftslinie auf dem Y-Chromosom der DNA sein: «Über 40 Prozent der Männer, die im Gebiet von Tschechien statt 12 Markern deren 67 und nehme zusätzlich auch die mütterli- bis nach Zentralasien wohnen, gehören dazu», steht im Beitext. Und che Linie unter die Lupe. Kostenpunkt: 899 Franken. Wow ! in Indien jeder dritte Hindi-sprechende Mann ebenfalls. Ganz schön Ich glaube, da lege ich mich lieber gemütlich aufs Sofa und lese unübersichtlich. Was das Wikingerblut angeht, sieht es schlecht aus: weiter im neuen «Hägar der Schreckliche»-Taschenbuch. < In grauer Vorzeit lebten die Angehörigen der Haplogruppe R1a1 wahr- scheinlich im südlichen Asien. Und die Rubrik «Urvolk»? Damit werde das Volk bezeichnet, zu dem meine Ahnen im Zeitraum zwischen 900 vor und 900 nach Christus gehört haben. Eine eindeutige Zuteilung sei aber nicht im- mer möglich. Zum Beispiel bei mir: «Germanen oder Slawen» – ja Till Hein lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Der gebürtige Salzburger was denn nun?! Igenea lässt mich nicht im Stich: Mit Hilfe meines schreibt unter anderem für «Die Weltwoche», «mare», «Die Zeit », DNA-Profils könne ich nun in einer Datei mit rund 3 00 000 weiteren «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» und die «GEO»-Familie. Obwohl oder gerade weil die Wikinger im Mittelalter so gefürchtet waren, wünscht sich so mancher eine direkte Ahnenlinie. Credit Suisse bulletin 1/11
6 Herkunft Lebensmittel Lieber aus der Region Trendforscher stellen in Europa und in den USA ein «neues Bewusstsein für Nahrung» fest. Dabei spielt neben der guten Qualität vor allem die Herkunft eine zentrale Rolle. Lebens- mittel, die aus der Region stammen oder deren Herkunft klar überprüfbar ist, ermöglichen eine emotionale Bindung, die im Zeitalter der Globalisierung zunehmend wichtiger wird. bulletin 1/11 Credit Suisse
Lebensmittel Herkunft 7 Text: Beat Stauffer Was steht hinter diesem Wunsch nach Lebensmitteln aus regionaler Produktion? Zum einen spielt offenbar der Faktor Vertrauen eine Beim Blick in die Speisekarte des Restaurants Krafft in Basel fällt gewisse Rolle. «Man hat mehr Vertrauen in Produkte, die in der dem Gast sofort auf: Hier gibt es nur relativ wenige Gerichte, doch Region hergestellt werden», sagt Stadler. Bei solchen Produkten sind diese umso ausführlicher beschrieben. Ein dreigängiges Menü lasse sich gegebenenfalls auch überprüfen, ob die Vorgaben stimm- könnte wie folgt aussehen: Nach einem «Zweierlei von der Zeininger ten. Eine wichtige Rolle spielt aber auch der ökologische Aspekt. Bei Räucherforelle» werden «Rapssamen-Capuns im Bodensee -Ver jus- lokal hergestellten Lebensmitteln sind die Transportwege wesentlich Sud, Shitakepilze und Belperknolle» aufgetragen. Als Nachspeise kürzer; somit sieht die Ökobilanz in den meisten Fällen auch deutlich stehen Schweizer Rohmilch-Käsespezialitäten auf dem Programm. besser aus als bei importierten Produkten. Ein dritter, sehr wichtiger Dazu gibts weiter hinten detaillierte Angaben zur Herkunft von Faktor ist aber emotionaler Art: Es geht, so die beiden Experten Fleisch, Gemüse, Fischen und Meeresfrüchten. Dasselbe gilt für den übereinstimmend, um Heimat, Identifikation, Verankerung, Bezie- Wein, der ausschliesslich aus identifizierbaren Betrieben stammt. hung. Gerade im Zeitalter der Globalisierung scheint dieses Bedürf- Wer noch mehr wissen möchte – etwa über die Herkunft von Oliven- nis zuzunehmen; in einer Welt, in der regionale, bis anhin selbststän- öl oder Süssigkeiten – , wird auf der Website des altehrwürdigen dige Produzenten aufgekauft und in multinationalen Firmen ein- Hotel-Restaurants fündig. gegliedert werden, die dann weltweit dieselben Produkte verkaufen, Kaum zehn Minuten vom Hotel-Restaurant Krafft entfernt und in wird das Bedürfnis nach «Heimat » zunehmend wichtig. unmittelbarer Nachbarschaft zu grossen Produktionsstätten des Eine gewisse Rolle spielt auch ein Trend unter gut verdienenden, Pharmamultis Novartis liegt der Matthäusplatz – eine Oase inmitten urbanen Menschen, der sich unter dem Begriff LOHAS von den USA eines dicht bewohnten Viertels. Hier findet jeweils am Samstag ein aus in die westlichen Länder verbreitet hat. LOHAS (siehe Box Seite 8) lebendiger, farbiger Markt statt. Es handelt sich um einen echten steht für eine Lebenshaltung, in der gesunde Ernährung und Verant- Produzentenmarkt; rund 80 Prozent der angebotenen Waren sind wortung für die Umwelt zusammenfinden sollen. Oder ist LOHAS aus eigenem Anbau oder eigener Herstellung. Gemüsebauern aus vielleicht eher der schichtspezifische Ausdruck desselben Trends, der Umgebung von Basel – viele aus dem angrenzenden Süddeutsch- der Konsumenten einer anderen Kaufkraftklasse dazu bewegt, im land – verkaufen Obst und Gemüse, Brot und Blumen und dazu eine Winter auf eingeflogene Bohnen oder Spargeln zu verzichten und Reihe von Spezialitäten wie Honig, selbst gemachtem Essig oder stattdessen Wurzelgemüse vom Gemüsebauern aus dem Dorf Schnaps. Der 2006 ins Leben gerufene Markt, dessen Initianten nebenan einzukaufen? kürzlich einen Förderpreis der Stadt Basel entgegennehmen durften, Das Bedürfnis nach genauen Herkunftsbezeichnungen bei Le- ist ein voller Erfolg und zieht mittlerweile zahlreiche Besucher aus bensmitteln ist nicht neu. Bei Qualitätsweinen wird der genaue anderen Quartieren an. Er liegt, so Christof Dietler, Mitinhaber der P roduktionsort schon seit Langem auf der Etikette vermerkt und Beratungsfirma Pluswert , voll im Trend. Derartige Experimente wür- auch bei gewissen Käsesorten spielt die Herkunft eine wichtige den von Experten der Nahrungsmittelindustrie und der Trendfor- Rolle. Mit den gesetzlich geschützten Ursprungsbezeichnungen schung im Bereich Lebensmittel sehr aufmerksam verfolgt, weil sie AOC und IGP (siehe Box Seite 8) versuchen die Hersteller schon seit zukünftige Entwicklungen vorwegnähmen. den 1990 er-Jahren, ihre «authentischen» von qualitativ weniger wert- vollen Produkten abzugrenzen. Dabei spielt auch der Begriff des Irreführende Bezeichnungen Terroir eine wichtige Rolle. International hatte schliesslich die «Slow Heute haben viele Konsumenten das ungute Gefühl, nur ungenügend Food»- Bewegung den Bemühungen um echte, unverfälschte und über die Herkunft von Lebensmitteln informiert oder gelegentlich einzigartige Lebensmittel, die einen hohen Genuss bieten, einen gar betrogen zu werden. Dass Italien seit langen Jahren weit mehr wichtigen Anstoss g egeben. Olivenöl exportiert als es selbst herstellt, dass das so genannte Nachhaltige Beschaffungsketten Bündner Fleisch häufig mit argentinischem Rindfleisch hergestellt wird, wissen mittlerweile nicht nur Eingeweihte. Dazu kommt eine Kleine, lebhafte Produzentenmärkte und Restaurants wie das grosse Verunsicherung der Konsumenten betreffend die Verwendung «Krafft » in Basel mögen zwar wichtige Impulse geben, doch können von Zusatzstoffen und Konservierungsmitteln bei der Herstellung sie die Probleme nicht lösen, die durch nicht nachhaltig produzierte vieler Lebensmittel. Lebensmittel und durch gewaltige Transportwege entstehen. Für Christof Dietler steht fest, dass die überprüfbare und nach Entscheidend sei, sagt Dietler, dass bei den Schweizer Grossver- Möglichkeit regionale Herkunft eines Lebensmittels eine immer teilern in dieser Hinsicht quantitativ Erhebliches in Gang gebracht wichtigere Rolle beim Kauf eines Produktes spielt. Es handle sich wurde. Denn hier gehe es um Tausende von Tieren, die besser ge- um einen Trend, der auch international zu beobachten sei, erklärt halten werden, um gewaltige Mengen an Pestiziden, auf die vielleicht Dietler. Ganz ähnlich schätzt auch Denise Stadler, Mediensprecherin verzichtet wird, um Hunderttausende von Kilometern Lastwagen- von Coop, die Lage ein. Viele Konsumenten wünschten sich nicht transporte, die vielleicht wegfallen. «Es geht letztlich um nachhaltige nur nachhaltig produzierte Lebensmittel, sondern auch solche aus Beschaffungsketten, von denen alle Beteiligten profitieren können», regionaler Produktion. «Wir stellen immer mehr fest, dass die sagt Dietler. Produkte, die in den jeweiligen Regionen hergestellt Foto: Valentyn Volkov, Shutterstock Konsumenten sich nach der Herkunft der Ware erkundigen», sagt werden, schneiden dabei logischerweise besser ab. Stadler. Dies gelte im besonderen Mass für die «bio-affine Kund- Die beiden Schweizer Grossverteiler Coop und Migros hätten in schaft », wie dieses Kundensegment in der Fachsprache der Mar- Sachen Nachhaltigkeit und Regionalität von Lebensmitteln schon ketingexperten heisst. Für Dietler ist bei diesen Konsumenten die beachtliche Schritte unternommen, sagt Dietler. Die Rede ist von regionale Herkunft oft sogar wichtiger als eine zertifizierte biolo- wachsenden Programmen mit Namen wie «Naturaplan» (Coop, Bio gische Produktionsweise. mit Knospe, 760 Millionen Umsatz), «Naturafarm» (Coop, Tier- > Credit Suisse bulletin 1/11
8 Herkunft Lebensmittel LOHAS haltungsprogramm, 480 Millionen), «Terrasuisse» (Migros, IP -Pro- Bedeutet «Lifestyles of Health and Sustain- dukte aus der Schweiz, 650 Millionen), «Aus der Region. Für die ability»; (wörtlich: Lebensstile der Gesundh eit und Nachhaltigkeit), eine Lebenshaltung, Region.» (Migros 750 Millionen) oder «Pro Montagna». Dietler ist sich in der gesunde Ernährung und Verantwortung sicher, dass Coop und Migros mit diesen Umsatzzahlen und den re- gegenüber der Umwelt und den Mitmenschen gional und ökologisch hergestellten Produkten international eine zusammenfinden sollen. Vorreiterrolle gespielt haben und mittlerweile europaweit auf Beach- Terroir tung stossen. Mit dem Begriff Terroir ist der Ursprung eines Erzeugnisses gemeint. Dieser Ursprung Per Mausklick zum Bioproduzenten wiederum setzt sich zusammen aus einem Ort, geprägt durch seine natürlichen Voraus- Für Coop-Sprecherin Stadler ist nicht nur klar, dass ein wachsendes setzungen (Bodenbeschaffenheit, Klima, Kundensegment sich an solchen Trends orientiert; sie ist sogar Fauna, Flora und Topografie), und dem überzeugt davon, dass ihre Firma diesen Trend mitgeprägt hat. Menschen, der die örtlichen Beding ungen wertschätzend umsetzt. Diese Politik betreibe Coop nicht nur im Bereich Bioprodukte, son- dern im gesamten Segment. Falls immer möglich, versuche man AOC - und IGP - Produkte Produkte aus der Schweiz und zusätzlich aus der Region anzubieten. Die offiziellen Qualitätszeichen AOC oder IGP sind (seit 1997) landwirtschaftlichen Gegenwärtig sollen rund 70 Prozent der unter der Coop-Eigenmarke Erzeugnissen mit einer engen und traditionel- angebotenen Lebensmittel aus der Schweiz stammen; bei Frisch- len Verbindung zu ihrem Ursprungsg ebiet produkten ist der Anteil noch wesentlich höher. Ein besonderes vorbehalten. Fleisch- und Käseprodukte G ewicht auf die Herkunft eines Lebensmittels legt Coop dabei machen den Hauptteil der AOC- und IGP- zertifizierten Produkte in der Schweiz aus. mit so genannt regionalen Produktelinien: Bioprodukte, die meist von Kleinproduzenten hergestellt werden, sowie Produkte, welche Slow Food die Label «Pro Montagna» und «Pro Specie Rara» tragen. Das Die Bewegung «Slow Food» ist in den 1990er- Jahren in Italien entstanden und hat sich neuste Projekt in Sachen Transparenz und Rückverfolgbarkeit von dort auf ganz Westeuropa aus gebreitet. von Lebensmitteln ist die auf den Produkten angebrachte «Natura - Im Vordergrund steht dabei die Wiederent- plan- ID ». Es handelt sich um eine drei- bis fünfstellige Nummer, deckung der Genusskultur. mit Hilfe derer die Konsumenten die genaue Herkunft des betref- Buchtipp fenden Lebensmittels in Erfahrung bringen können. Per Mausklick Thilo Bode, «Die Essensfälscher – Was uns gelangen die Kunden auf solche Weise zum Biobauernhof. Diese die Lebensmittelkonzerne auf die Teller neue Anwendung (Webapplikation) steht seit Oktober 2010 zur lügen ». Frankfurt, S. Fischer Verlag, 2010. ISBN -10 : 3-10 - 004308-1 Verfügung. Das Konzept des Terroir Zurück zum direkt am Rhein gelegenen Hotel-Restaurant Krafft, das seinen Gästen vornehmlich Gerichte mit regional hergestellten Lebensmitteln anbietet und deren Herkunft in hohem Mass offenlegt. Küchenchef Steiner ist davon überzeugt, dass seine «Philosophie der frischen und lokalen Produkte» und die weitgehende Herkunfts- deklaration von den Gästen des «Krafft » geschätzt wird. Eine ähn- liche Linie verfolgen auch etwa die Restaurants Terroir in Zürich und Lötschberg in Bern. Im «Terroir » werden ausschliesslich schweizeri- sche, nach Möglichkeit regionale Produkte serviert, deren genaue Herkunft auf der Speisekarte akribisch aufgelistet ist. Mit dem Begriff Terroir ist der Ursprung eines Erzeugnisses gemeint (siehe Box links). 100 -prozentige «Swissness» gilt auch bei den leicht mo- dernisierten Rezepten aus Grossmutters Kochbuch. Im Restaurant Lötschberg in Bern werden in einem etwas ein- facheren Rahmen ebenfalls ausschliesslich Schweizer Produkte ser- viert: Wein und Bier, Käse und Wurstwaren, diverse Fondues und Walliser Raclette. Auch hier finden sich im Glas und auf dem Teller Lebensmittel, deren Herkunft mit AOC -Labels (siehe Box links) zerti- fiziert ist und die sich gelegentlich bis auf die einzelnen Bauernhöfe oder Alpen zurückverfolgen lässt. Was die Zukunft von nachhaltig produzierten Lebensmitteln aus Weblinks www.krafftbasel.ch/restaurant.html der Region oder mit genauer Herkunftsbezeichnung betrifft, so sind www.terroir.ch/ sich alle befragten Experten einig: Der Trend geht ganz klar in diese www.loetschberg-aoc.ch/de/accueil.html Richtung. Herkunft, Terroir oder gar Ursprung sind gefragt, nur schon www.naturli.ch/index.html www.pluswert.ch/ deshalb, weil in diesen Begriffen so viele Gefühle mitschwingen, www.aoc-igp.ch welche die nackte Ökobilanz nicht bieten kann. < bulletin 1/11 Credit Suisse
bulletin plus – das Heft im Heft zum Herausnehmen Credit Suisse Identitätsbarometer 2010 Zusammen mit dem Forschungsinstitut gfs.bern möchte das bulletin aufzeigen, wo die Schweizerinnen und Schweizer der Schuh drückt beziehungsweise wie ihre Einstellung zu verschiedenen Aspekten des Lebens ist. In der Ausgabe Jugend des bulletin berichteten wir im Dezember über die Resultate des Credit Suisse Sorgenbarometers 2010 und des erstmals erhobenen Credit Suisse Jugendbarometers. Nun veröffentlichen wir im Credit Suisse Identitätsbarometer die wichtigsten Ergebnisse der siebten Umfrage zur Identität Schweiz. Diese geben unter anderem Aufschluss über die politisch- gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stärken und Schwächen des Landes. Es lohnt sich, die Erkenntnisse aller Umfragen miteinander zu vergleichen. PDF -Versionen (d/f/i) unter www.credit-suisse.com/bulletin.
10 Herkunft Schmelztiegel Sven Schubert Deutschland Tobias Merath Marcus Hettinger Deutschland Deutschland Julia Dumanskaya Russland Shivani Tharmaratnam Singapur HER Schmelztiegel Schweiz: Neun Menschen aus sieben verschiedenen Ländern finden bei der Credit Suisse in Zürich zur Abteilung Currency & Commodity Research zusammen. Sie alle präsentieren Dinge und Orte, die sie mit ihrer Heimat verbinden. Und sie verraten, was ihnen an der Schweiz so ungemein schweizerisch vorkommt. Notiert: Bettina Bucher, fotografiert: Pia Zanetti bulletin 1/11 Credit Suisse
Schmelztiegel Herkunft 11 Karim Cherif Frankreich Stefan Graber Schweiz Joe Prendergast Irland Anna-Mária Simon Rumänien KUNFT Credit Suisse bulletin 1/11
12 Herkunft Schmelztiegel Julia Dumanskaya Russland Meine Mutter hat mir diesen Schal vor ein paar Jahren in Moskau gekauft. Für mich ist es ein ganz besonderes Gefühl, wenn ich ihn trage, ich freue mich jedes Mal, wenn ich ihn anziehe. Das Muster ist typisch russisch, aber ich habe mir sagen lassen, dass es auch in Westeuropa immer mehr in Mode kommt. Das Buch unter m einem Arm ist ein alter Bildband von M oskau. Eine schöne, ledergebundene Ausgabe, die eigentlich meiner Mutter gehört. Ich nehme ihn hervor, wenn Schweizer Freunde mehr über meine Heimatstadt erfahren wollen. Mein Lieblingsbild darin ist die Abbildung der Kathedralen beim Kreml, dem Wahr- zeichen Moskaus. ... bulletin 1/11 Credit Suisse
Schmelztiegel Herkunft 13 … Ich beobachte in der Schweiz ein ausge- prägtes Verantwortungsbewusstsein im Kleinen genauso wie im Grossen, eine nachhaltige Herangehensweise an alle Dinge. Ein gutes Beispiel dafür ist, wie im Eigental in der Nähe von Kloten während der Amphibienwanderungszeit im Frühjahr die Strasse für Autos gesperrt wird. Dank der Strassensperre können Kröten und Frösche unbeschadet ihre Laich- gewässer erreichen. Das fasziniert mich jedes Jahr aufs Neue. Credit Suisse bulletin 1/11
14 Herkunft Schmelztiegel Joe Prendergast Irland Das graue Gemälde hinter mir stammt von einem unbekannten walisischen Künst- ler. Es ist eines der ersten Bilder, die ich je gekauft habe. 20 Jahre ist das nun her, und trotz seiner gewaltigen Grösse hat es mich immer begleitet. Das Gemälde hat bereits mein Zuhause in London und dann in Irland geziert, nun ist es mit mir in die Schweiz gereist. Ich liebe seine Grösse und Tiefe. Es hat die Unendlichkeit zum Thema und ist w eitaus komplexer, als es auf den ersten Blick scheinen mag. ... bulletin 1/11 Credit Suisse
Schmelztiegel Herkunft 15 … Wie wichtig hier Richtlinien, Anordnungen und Pünktlichkeit genommen werden, mag etwas kalt oder unpersönlich erschei- nen. Doch entsteht daraus eine kollektive Harmonie, die für mich einen wesentlichen Bestandteil der Schweizer Identität darstellt. Ein Vorteil dieser redlichen und verlässlichen Gesellschaft ist es, dass selbst kleine Kinder sicher alleine zur Schule gehen können. Das ist eine grosse Ausnahme in der modernen Welt. Credit Suisse bulletin 1/11
16 Herkunft Schmelztiegel Stefan Graber Schweiz Ich bin in Zürich fast ausschliesslich mit meinem Fahrrad unterwegs. Man ist schnell, verliert keine Zeit, muss nirgends warten, keine Fahrpläne studieren, keinen Parkplatz suchen: Das ist für mich ein Stück Lebens- qualität. In Singapur, wo ich knapp zwei Jahre lang gearbeitet und gelebt habe, fehlte mir diese unkomplizierte Form der Mobi - lität. Nicht nur ist die Verkehrsführung dort ganz aufs Auto ausgelegt, auch das heissfeuchte Klima ist nicht gerade radler- freundlich. Die Entwicklung verläuft in entgegen gesetzten Richtungen – hier vom Auto zum Velo hin, in Asien vom Velo zum Auto hin. ... bulletin 1/11 Credit Suisse
Schmelztiegel Herkunft 17 … In der Schweiz hat die Privatsphäre, das eigene ‹Gärtli›, eine grosse Bedeutung. In öffentlichen Verkehrsmitteln etwa sitzt jeder möglichst allein. Im Restaurant bestellt jeder sein eigenes Gericht, während in Singapur gemeinsam geordert wird, das Essen kommt in die Tischmitte, und alle bedienen sich davon. Auch beim Wohnen sind die Menschen hier oft darauf bedacht, sich möglichst von den Nachbarn abzu- schotten. In Singapur hingegen verfügen die Wohnhäuser stets über einen Gemein- schaftsbereich, wo die Bewohner für alle möglichen Aktivitäten zusammenkommen. Foto: Stefan Jaeggi, Keystone Credit Suisse bulletin 1/11
18 Herkunft Schmelztiegel Sven Schubert Deutschland Geht die Liebe zur Heimat nicht auch ein wenig durch den Magen? Currywurst und Pommes, das ist echte Berliner Kost. In Berlin gibt es ein paar Institutionen, wie etwa den Imbissstand Curry 36 in Kreuzberg, wo die Leute bis nachts um drei Schlange stehen. In der Schweiz hingegen, wo ich seit sechs Jahren lebe, habe ich es noch nicht geschafft, eine richtig leckere Currywurst zu finden. Deshalb gehört bei meinen Besuchen in Berlin die Wurst aller Würste zum Pflichtprogramm. Aber ich bin kuli- narisch durchaus lernfähig. Ich habe erst in der Schweiz angefangen, Käse zu essen, und mittlerweile denke ich, dass Raclette und Fondue schon eine feine Sache sind. ... Marcus Hettinger Deutschland Ein VW -Käfer wars, daran erinnere ich mich genau, wenn ich auch die Farbe vergessen habe. In dem Käfer also zogen meine Eltern aus beruflichen Gründen A nfang der 1970 er-Jahre aus Süddeutsch- land in die Schweiz. Auf dem Rücksitz ich, in diesem Kindersitz. Da ich schon als Kleinkind in die Schweiz kam, spreche ich auch perfekt den Dialekt. Heute lebe ich in der Region Basel, der Sprung aus Süddeutschland war nicht allzu gross. Wohl auch deshalb habe ich ausser dem Kindersitz kaum Erinnerungsstücke aus der alten Heimat aufbewahrt. ... bulletin 1/11 Credit Suisse
Schmelztiegel Herkunft 19 … Anscheinend diente an der Landsgemeinde in Appenzell lange ein Degen als Stimm- rechtsausweis. Der Degen wurde von Generation zu Generation vererbt, und noch heute sollen viele Appenzeller den Degen an der Landsgemeinde tragen. Auf der einen Seite ist das eine Kuriosität, auf der anderen Seite finde ich es schön, wenn Rituale erhalten bleiben, das bereichert die Kultur. Foto: STR, Keystone … Vier Sprachen sind in der Schweiz zu Hause, das geht oft ein wenig vergessen. Es faszi- niert mich, dass man im eigenen Land herumreisen kann, und plötzlich wird eine andere Sprache gesprochen. Ohne die Grenze zu überqueren, befindet man sich auf ‹fremdem› Territorium – ich finde, wir sollten mehr Anstrengungen unternehmen, diese Landessprachen zu sprechen oder zumindest zu verstehen. Foto: Arno Balzarini, Keystone Credit Suisse bulletin 1/11
20 Herkunft Schmelztiegel Shivani Tharmaratnam Singapur Eigentlich fotografiere ich ja lieber selber, als fotografiert zu werden. Und so habe ich, wenn ich geschäftlich reise, auch stets meine Digitalkamera dabei. Aber nicht nur, um meine neuen Eindrücke festzuhalten, sondern auch, weil darauf eine Menge Fotos von meinen Liebsten daheim in Singapur gespeichert sind. Und von vertrauten Orten. Ich bin ein absoluter Familienmensch, und meine Freunde sind mir ebenfalls wichtig. Eines meiner Lieblingsbilder zeigt meine Schwester und meine kleine Nichte. So erlaubt mir die moderne Technik, am anderen Ende der Welt ein Stück Heimat und Gebor- genheit im Taschenformat mitzuführen. ... Tobias Merath Deutschland Mein Lieblingsessen sind Maultaschen, und die sind in der Schweiz leider schwer erhältlich. Man glaubt es nicht – kaum überquert man den Bodensee, bekommt man sie nirgends mehr. Bei meinen Besuchen in Deutschland kaufe ich daher immer einige Päckchen und friere sie ein. Die Taschen aus Nudelteig mit einer Füllung aus Spinat, Brät und Zwiebeln sind eine Spezialität aus meiner schwäbischen Heimat. Umgangssprachlich werden sie manchmal auch als ‹Herrgottsbscheisserle› bezeichnet. Der Name rührt daher, dass man das Fleisch in der Fastenzeit durch das Einrollen im Nudelteig verstecken kann. ... bulletin 1/11 Credit Suisse
Schmelztiegel Herkunft 21 … Mich wundert, dass man in der Schweiz einfach an einem Automaten einen Fahrschein lösen und dann damit in den Zug oder die Strassenbahn steigen kann. Kontrolliert wird nur in Stichproben. In Asien ist es meist so, dass man gar nicht erst bis zum Zug gelangt, wenn man keinen Fahrschein hat. Man scheint in der Schweiz sehr viel Vertrauen in die Benützer des öffentlichen Verkehrs zu haben. … Was mich manchmal erstaunt, ist die grosse Korrektheit, mit der in der Schweiz alles gehandhabt wird. Zum Beispiel muss das Altpapier sauber gebündelt sein, damit es auch abgeholt wird. Am Altglas- container sind die Benützungszeiten streng geregelt und genau einzuhalten. Und ist die Parkzeit auf einem Besucherparkplatz auf vier Stunden begrenzt, so ist die Chance hoch, dass jemand einen Zettel an die Windschutzscheibe hängt, wenn der Wagen dort einmal viereinhalb Stunden steht. Credit Suisse bulletin 1/11
22 Herkunft Schmelztiegel Anna-Mária Simon Rumänien Ich bin eine Ungarin aus dem Szeklerland, das im rumänischen Transsilvanien liegt. Ein Objekt, das mich an meine geliebte Heimat erinnert, ist das Szekler Tor in Miniaturformat. Diese imposanten Holztore sind typisch für die transsilvanische Architektur. Sie sind mit Gemälden oder Schnitzereien verziert und verleihen dem Eingang der Häuser im Dorf etwas Majestä- tisches. Unter einem Dach sind zwei Durch- gänge vereint: der kleinere für Menschen, der grössere für Wagen. Der Besucher, der durch das Szekler Tor tritt, wird von Inschriften begrüsst, etwa ‹Segen für den, der eintritt, und Friede für den, der geht›. ... bulletin 1/11 Credit Suisse
Schmelztiegel Herkunft 23 … Als ich neu in der Schweiz war, suchte ich in einer Buchhandlung nach Lektüre, um mein Deutsch zu verbessern. Mein Blick fiel auf Hugo Loetschers ‹Der Waschküchen- schlüssel›. Da ich bereits festgestellt hatte, dass der Umgang mit der Waschküche durchaus Konfliktpotenzial birgt, war ich neugierig und kaufte das Buch. Zum Glück! Denn es hat mir erklärt, wie die Schweizer Mentalität im Alltag funktioniert und warum es den Schweizern so wichtig ist, dass man sich an all die geschriebenen und u ngeschriebenen Gesetze hält. So hat mir Loetschers geniale Kurzgeschichte den Schlüssel verliehen, um das Schweizer Szekler Tor zu öffnen. Foto: Dirk Holst, DH Foto Credit Suisse bulletin 1/11
24 Herkunft Schmelztiegel Karim Cherif Frankreich In diesem marokkanischen Tea Room fühle ich mich ein bisschen wie zu Hause. Ich habe arabische Wurzeln. Die vielen bunten Kacheln vermitteln orientalisches Flair, und die niedrigen Sofas erinnern an ein arabisches Wohnzimmer. Dort macht man es sich bequem, verbringt Zeit mit der Familie und Freunden, trinkt Tee. Letzterer spielt eine wichtige Rolle in unserer Kultur und unserer Gastfreundschaft. Für einen Tee hat man immer Zeit, es gibt stets einen guten Grund, zusammen einen Tee zu trinken. Empfängt man einen Gast, so landet man unweigerlich im Wohnzimmer – mit einem Tee. Es sind Momente des Teilens und Austauschens, eigentlich des Glücks. ... bulletin 1/11 Credit Suisse
Schmelztiegel Herkunft 25 … Am besten gefällt mir in der Schweiz der Sommer, wenn man am Abend in eine Badi-Bar gehen kann. So etwas kenne ich aus Frankreich nicht. In Paris würde kaum jemand in der Seine baden wollen. Meine Favoriten sind die Rimini-Bar und die Barfuss-Bar in der Frauenbadi. Mich fasziniert, wie sich diese Orte mit Einbruch der Dunkelheit komplett verändern. Aus der Badeanstalt wird ein Ort, wo die Leute zusammenkommen, sich amüsieren, Musik hören. Eine recht einzigartige Kombination aus grossstädtischem Nacht- leben und intakter Natur. Foto: Dagmar Lorenz Die bekannte Fotografin Pia Zanetti lebt und arbeitet seit 1971 in Zürich. Zuvor verbrachte sie acht Jahre in Rom und London. Pia Zanetti machte verschiedentlich mit eindrücklichen Reportagen aus Lateinamerika, Afrika, Nah- und Fernost, Ost- und Westeuropa auf sich aufmerksam. Ihre Fotos sind in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten. Credit Suisse bulletin 1/11
Tausende von Sternen mussten geboren werden und wieder sterben, damit die auf unserer Erde vor- kommenden Materialien entstehen konnten, aus denen wir Menschen letztendlich selbst gebaut sind. Kinder des Weltalls Während die Erklärungsversuche zur Herkunft der Menschheit oft mythische Elemente beinhalten, bleibt unser eigentlicher Ursprung dennoch im Dunkeln. Dagegen ist die Herkunft des «Baumaterials», aus dem der Mensch besteht, wesentlich besser erforscht. bulletin 1/11 Credit Suisse
Elemente Herkunft 27 Text: Andreas Walker Nach heutiger Kenntnis leben wir in einem Universum, das vor etwa verbleibende Materie in konzentrischen Kreisen um die neugeborene 13 Milliarden Jahren entstand. Aus einer gewaltigen Explosion, dem Sonne sammelte, aus der schliesslich vor etwa 4,8 Milliarden Jahren «Urknall», ging ein extrem kleiner Feuerball mit unvorstellbarer Dich- die 8 Planeten, diverse Zwergplaneten, mindestens 60 Monde, Tau- te und Temperatur hervor – das frühe Universum. Als Folge der Ex- sende von Asteroiden und unzählige von Meteoroiden und Kometen plosion begann es, sich auszudehnen, ein Vorgang, der bis heute her vor gingen. immer noch andauert. Mehrere Hunderttausend Jahre nach dem Die Entwicklungsstadien der Sonne und anderer Sterne Urknall hatten sich riesige Mengen an Wasserstoff, dem leichtesten Element, das aus einem Proton und einem Elektron besteht, sowie Die Sonne befindet sich gegenwärtig ziemlich genau in der Mitte etwas Helium und Spuren von Lithium gebildet. ihres Lebens. Für die «nächste Zukunft » – einige 100 Millionen Jah- Physiker rätseln heute noch, warum die Schöpfungsgeschichte re – wird sie mit der gleichen Konstanz strahlen wie heute. Danach nicht schon kurz nach dem Urknall abbrach. Rein theoretisch hätte wird ihre Leuchtkraft langsam zunehmen, und sie wird sich aufblä- sich nämlich der Wasserstoff ziemlich regelmässig im Universum hen, bis sie etwa eineinhalbmal so gross ist wie heute und etwa verteilen können und wäre dann als Wolke im All geblieben, die mit doppelt so hell. Gleichzeitig wird es deshalb auf der Erde unerträg- der Expansion des Universums immer dünner geworden wäre. lich heiss mit der Folge, dass die Polkappen abschmelzen und die Hätte das Universum diese Entwicklung durchgemacht, wäre es Landmassen sich in Wüsten verwandeln. In rund fünf Milliarden gestorben, bevor etwas aus ihm entstanden wäre, oder anders aus- Jahren schliesslich wird der Wasserstoffvorrat im Inneren der Sonne gedrückt: Es hätte in einem gigantischen Raum geendet, in dem nur verbrannt sein. Der Kern schrumpft dann durch seine eigene Schwer- Wasserstoffwolken schwebten. Die Natur hatte aber eine andere kraft zusammen und heizt sich auf, bis die Kernverschmelzungs- Entwicklung vorgesehen. prozesse in äusseren Bereichen einsetzen, wo noch Wasserstoff Durch Zusammenballung von Materie bildeten sich im Laufe der vorhanden ist. Dabei dehnt sich die Sonne noch weiter aus, gleich- Zeit die Sterne, die in riesigen Haufen, den Galaxien, angeordnet zeitig kühlt ihre Oberfläche ab. In diesem Stadium wird sie zu einem waren. Galaxien sind gigantische Ansammlungen von mehreren roten Riesenstern, der etwa 100 - mal heller ist als die heutige Sonne 100 Milliarden Sternen. Auch die Anzahl der Galaxien selbst schätzt und der sich bis zur Merkurbahn ausdehnen wird. Auf unserer Erde man heute auf über 100 Milliarden. wird dann ein «Backofenklima» herrschen, in dem die Ozeane ver- dampfen und die Erdoberfläche glühend heiss wird. Gasmassen verdichteten sich zu Sternen Nach einigen weiteren Millionen von Jahren wird die Temperatur So bildete sich vor Milliarden von Jahren aus Materie der Urwolke im Heliumkern der roten Riesensonne auf rund 100 Millionen Grad auch eine sich drehende Gasspirale – unsere Ur-Milchstrasse. Als ansteigen. Dann wird die Verschmelzung von Heliumatomen zu Koh- sich die Gasmassen langsam zu Sternen verdichteten, entstanden lenstoff- und Sauerstoffatomen beginnen. Von diesem Zeitpunkt an die Sonnen. Massive Sterne der ersten Generation verschmolzen sammelt sich im Zentrum der Sonne Kohlenstoff an. Im weiteren Wasserstoff zu Helium und schwereren Elementen. Da diese mas- Verlauf schrumpft der Kern erneut, und die Heliumbrennzone wan- siven Sterne kurzlebig waren und gegen Ende ihres Lebens dert nach aussen. Damit bläht sich der Rote Riese derart gigantisch instabil wurden, zerbarsten sie «bald» in hellen Supernova-Explo- auf, dass er die Erde verschlucken wird. Foto: Reha Mark, Shutterstock sionen – übrig blieben ein Sternrest und eine gigantische Gaswolke. Schliesslich stösst die Sonne in einem Zeitraum von etwa Vor einigen Milliarden Jahren verdichtete sich auch eine Wolke 100 000 Jahren ihre äusseren Schichten in den Weltraum ab. Diese von Staub und Gas am Rande der Milchstrasse. In ihrem Zentrum Gaswolke expandiert als so genannter planetarischer Nebel immer bildete sich ein dichter, heisser Kern, aus dem ein gelber Stern weiter ins All, und im Zentrum bleibt ein heisser, lichtschwacher Stern e ntstand – unsere Sonne. Man nimmt heute an, dass sich die zurück – es ist der freigelegte Kern der roten Riesensonne. > Credit Suisse bulletin 1/11
28 Herkunft Elemente Nach weiteren Millionen von Jahren schrumpft dieser Stern langsam formierte Überreste längst vergangener Sonnen. Faszinierend die zu einem Weissen Zwerg. Wenn die Sonne dieses Stadium erreicht Vorstellung, dass Menschen, die dieses bulletin gerade lesen, ja hat, besitzt sie etwa noch die halbe Masse der heutigen Sonne, selbst die Teleskope, mit denen sie die Sterne beobachten, und letzt- ist jedoch nur noch etwa so gross wie unsere Erde. Den Rest der lich das gesamte Baumaterial der Erde aus vergangenem Stern- Materie hat sie im Riesenstadium in den Weltraum abgegeben. material bestehen. Wir sind im Wortsinne «Kinder des Weltalls»! Weisse Zwerge haben eine mittlere Dichte von etwa einer Tonne Hier wird die faszinierende Intelligenz sichtbar, die im Universum pro Kubikzentimeter. In ihnen finden keine Kernverschmelzungs- offensichtlich ziemlich zielgerichtet auf das Leben «hinarbeitet ». Aus prozesse mehr statt, sodass sie in einem Zeitraum von mehreren Unmengen an Wasserstoff bildeten sich durch geringfügige Dichte- Milliarden Jahren langsam auskühlen. schwankungen und den Einfluss der Gravitation Galaxien und Ster- Sterne mit bis zu vierfacher Sonnenmasse machen eine ähnliche ne. Hätte sich der Wasserstoff völlig gleichmässig verteilt, gäbe es Entwicklung durch wie die Sonne, allerdings viel schneller. Je mas- uns heute nicht. Die «sehr grossen Sonnen» verbrannten sehr schnell sereicher ein Stern ist, umso kürzer ist seine Lebensdauer. Der Stern und lieferten dadurch die Bausteine, die für einen weiteren Aufbau Sirius zum Beispiel erreicht mit etwa zwei Sonnenmassen nur un- des Universums unbedingt notwendig waren. Nach einigen Stern- gefähr ein Zehntel des Alters unserer Sonne. Sehr massereiche generationen gab es im Weltall auch schwerere Elemente als Was- Sterne existieren sogar «nur » einige Millionen Jahre, was nach kos- serstoff und Helium – unter anderem auch Kohlenstoff und Silizium, mologischen Massstäben sehr kurz ist. die auf unserer Erde für die Entstehung des Lebens eine wichtige Rolle spielen. Schliesslich braucht es gelbe, kleine Sonnen wie die Sternenreste als Baumaterial unsrige, die eine genügend lange Lebensdauer haben und ein Pla- Sehr massereiche Sterne haben zwar eine kurze Lebensdauer – sie netensystem besitzen. In diesem Planetensystem muss es zudem erfüllen jedoch eine ganz wichtige Funktion im Kosmos: Sie produ- einen Planeten mit dem passenden Abstand zur Muttersonne geben. zieren die schweren chemischen Elemente. Im Verlauf ihrer Entwick- Er darf nicht zu nahe oder zu weit von dieser entfernt sein. Ausser- lung werden sie zu Roten Überriesen und im Kernbereich so heiss, dem muss er die richtige Atmosphärendichte und -zusammensetzung dass die Kernverschmelzung weit über das «Heliumbrennen» von haben, weil sonst entweder ein Backofenklima wie auf der Venus sonnenähnlichen Sternen hinausgeht. So entsteht eine Kettenreak- oder eine ewige Eiszeit wie auf dem Mars herrschen dürfte. Unter tion, in der immer schwerere Elemente produziert werden. Nachdem diesen Voraussetzungen können die uns heute bekannten Lebens- der Stern Siliziumkerne zu Eisenkernen verschmolzen hat, endet formen entstehen, falls zudem noch genügend Wasser in geeigneter die Energieproduktion, und der Kern fällt in sich zusammen. Dabei Form (flüssige Ozeane) vorhanden ist. stösst er seine äusseren Bereiche explosionsartig ab, was zu einem Rein statistisch betrachtet sind die 13 Milliarden Jahre, seit denen gigantischen kosmischen Feuerwerk von unvorstellbarem Ausmass der Kosmos besteht, für eine völlig zufällige Entstehung des Lebens führt – einer Supernova. Der Stern kann dabei die Leuchtkraft von viel zu kurz. Mit anderen Worten: Das hoch entwickelte Leben ent- Milliarden normaler Sonnen annehmen und so viel Materie in den stand praktisch in der kürzest möglichen Zeit. Auch wenn es auf den Raum schleudern, wie für etliche Exemplare unseres Sonnensystems ersten Blick scheint, dass sich unsere Erde in einem kalten, lebens- notwendig wäre. Für Beobachter auf der Erde wird der Stern plötz- feindlichen Universum befindet, das so gross ist, dass wir uns viel- lich so hell, dass er seine ganze Galaxie überstrahlt, auch wenn er leicht verloren vorkommen – es ist genau umgekehrt. vorher für uns gänzlich unsichtbar war. Es scheint dann, als ob ein Das Universum ist auf Leben programmiert neuer Stern aus dem Nichts entstanden wäre. Deshalb bezeichnet man das plötzliche Aufleuchten eines sternähnlichen Objekts als Das Universum scheint darauf programmiert zu sein, in immerwäh- Nova, ein ganz grosses derartiges Ereignis sogar als Supernova. renden Zyklen von Werden und Vergehen von Abermilliarden Sonnen Während einer Supernova-Explosion herrschen Bedingungen, eine immer höhere Ordnung der Materie zu schaffen, die zuerst pri- unter denen auch schwerere Elemente als Eisen entstehen können. mitives Leben und schliesslich die höheren Lebensformen entstehen Dabei werden auch so «exotische» Atome wie Gold oder Uran pro- liess. Mehrere Generationen von Sternen mussten geboren werden duziert, die ja ebenfalls auf unserer Erde vorkommen. Mit dieser gi- und wieder sterben, damit diejenigen Materialien entstehen konnten, gantischen Explosion werden die neu entstandenen Elemente in den die auf unserer Erde vorkommen und aus denen wir letztendlich Weltraum hinausgeschleudert, wo sie sich mit anderen Gaswolken selbst gebaut sind. wieder vermischen und später zum Aufbau von neuen Sonnen und Die Frage nach dem Warum scheint das menschliche Denkver- Planeten «verwendet » werden. Alle Elemente, die auf unserem Pla- mögen zu sprengen. Egal ob diese Kraft Gott, höhere Intelligenz, neten vorkommen, wurden in Sternen und Supernovae «ausgebrütet ». Schöpfer oder wie auch immer genannt wird – für menschliche Be- Unsere menschlichen Körper bestehen buchstäblich aus verglühtem griffe wird die Entstehung des Lebens im Universum das faszinie- Sternenstaub – oder anders ausgedrückt: Unsere Körper sind trans- rendste Wunder bleiben, das je stattgefunden hat ! < bulletin 1/11 Credit Suisse
Flora und Fauna Herkunft 29 Ein Kommen und Gehen Seit zwei Millionen Jahren herrscht in der Schweizer Tier- und Pflanzenwelt ein stetes Kommen und Gehen. Ohne Zuwanderung sähe die Landschaft erbärmlich aus. Selbst das Edelweiss ist ursprünglich keine Alpenpflanze, sondern ein Kind der asiatischen Steppe. Text: Mathias Plüss Mit den Pflanzen und Tieren ist es wie mit den Menschen: Wenn man Die Temperaturunterschiede waren dabei in Mitteleuropa so gross, nur weit genug zurückschaut, sind alle Ausländer. dass mit dem Klimawechsel jeweils auch die Tier- und Pflanzenwelt Selbst die Alpen, für viele Schweizer Inbegriff von Heimat, sind zu einem grossen Teil ausgetauscht wurde. In Kaltzeiten verschwand fast ausschliesslich von Einwanderern besiedelt. Als sie sich vor der Wald, und auf die eisfreien Flächen wanderten Tundra- und Step- 25 bis 35 Millionen Jahren auffalteten, bekamen sie Zustrom von penarten ein, die ihr Kerngebiet in Osteuropa und Sibirien hatten. älteren Gebirgen: Alpenrose, Primel und Enzian etwa wanderten aus Dahin zogen sie sich in Warmzeiten auch wieder zurück. Dafür asiatischen Berggebieten in die Alpen ein – Krokus, Margerite und wurde Mitteleuropa dann jeweils von Tieren und Pflanzen wiederbe- Narzisse aus dem Mittelmeerraum. siedelt, die im Mittelmeergebiet «überwintert » hatten. Jeder Klima- Dabei ist die Artenzusammensetzung der Hochalpen noch ver- wechsel war also von gewaltigen Migrationsströmen begleitet. gleichsweise stabil. Ungemein stärker waren die Umwälzungen, die Manche Art blieb bei den Wanderungen auf der Strecke. Die Flora und Fauna des voralpinen Raumes erlebt haben: Es herrschte grossen europäischen Gebirge (Pyrenäen, Alpen, Karpaten) verlau- ein ständiges Kommen und Gehen, angetrieben von Klimaänderungen fen von West nach Ost und erschweren die Rückwanderung von und zuletzt von menschlichen Eingriffen. «So etwas wie ein Urzustand Süden her. Mit jedem Wechsel von warm zu kalt oder umgekehrt unserer Umwelt lässt sich nicht definieren», sagt der Münchner Zoo- gingen daher Arten verloren – deshalb hat Europa heute eine loge Josef Reichholf. «Die Entwicklung war stets sehr dynamisch.» verhältnismässig arme Flora. In Nordamerika (wo die Gebirge in Nord-Süd-Richtung verlaufen) gibt es mehr als 20 Eichenarten, Ein ständiges Hin und Her zwischen Kalt- und Warmzeiten in Europa nur 4. Das prägendste Ereignis vor dem Auftreten des Menschen waren Löwen und Leoparden im Mittelland die Eiszeiten. Für die Tiere und Pflanzen bedeuteten sie eine Katas- trophe: Sechzig Millionen Jahre lang war es stabil warm gewesen – Manchmal brachte der Klimawechsel aber auch Bereicherungen: Das dann rückten vor zwei Millionen Jahren plötzlich die Gletscher vor. Edelweiss, ursprünglich ein zentralasiatischer Hochsteppenbewoh- Nun folgte ein stetes Hin und Her zwischen langen Kalt- und kurzen ner, kam wahrscheinlich erst in der letzten Eiszeit ins europäische Warmzeiten; die vorläufig letzte Kaltzeit ging bei uns erst vor 12 000 Tiefland. Als es wieder wärmer wurde, zog es nicht in die Steppe Jahren zu Ende. zurück, sondern kroch die Berge hoch. Auch die charismatischste > Credit Suisse bulletin 1/11
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