Herkunft Alles eine Frage des Zeithorizonts - Credit Suisse

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Herkunft Alles eine Frage des Zeithorizonts - Credit Suisse
Seit 1895 das Magazin der Credit Suisse                                          Nummer 1
                                       Schweizer Ausgabe / Deutsch                                         April /Mai       2011

                     Herkunft         Alles eine Frage des Zeithorizonts

Branchenhandbuch Kurzarbeit bewährt sich in der Krise / Nouriel Roubini Der US -Starökonom im exklusiven Leader-Interview
Dossier Immobilienanlagen Nachhaltiges Bauen ist auch in der Schweiz das Gebot der Stunde
Herkunft Alles eine Frage des Zeithorizonts - Credit Suisse
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                                         Tel.: +41 (0)52 355 30 60, E-Mail: info@techart.ch
                                         Internet: http://www.techart.ch
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Editorial       1

                                                                     Meine Geburtsurkunde weist mich als Bürger eines kleinen Dorfes namens
                                                                     Obererlinsbach im Schweizer Mittelland aus. Obwohl Erlinsbach insgesamt kaum
                                                                     mehr als 6000 Einwohner zählt, war es bis vor Kurzem dreigeteilt, und zwar in ein
                                                                     Ober- und Niedererlinsbach Solothurn und Erlinsbach Aargau. Der Erzbach, der
                                                                     mitten durchs Dorf fliesst, ist gleichzeitig auch die Kantonsgrenze. Immerhin haben
                                                                     sich auf der Solothurner Seite vor fünf Jahren die Ober- und Niedererlinsbacher
                                                                     zu einer Gemeinde vereint.
                      kooaba
                      kooaba erkennt Fotos von CDs, Büchern
                      und Zeitungen und liefert Infos aus dem Web.   Nun ist mein Vater tatsächlich auch im solothurnischen Obererlinsbach geboren
                                                                     und aufgewachsen. Insofern stimmten bei ihm bezüglich Herkunft Sein und offizieller
                                                                     Schein noch überein. Doch kaum hatte er die Berufslehre abgeschlossen, zog es
                                                                     ihn in die Ostschweiz, wo er nicht nur eine gute Stelle, sondern auch seine künftige
                                                                     Frau fand. Auch wenn er sich am Anfang wegen seines unüberhörbar «fremd-
                                                                     ländischen» Dialektes so manche spitze Bemerkung gefallen lassen musste, fühlte
                                                                     er sich schon bald heimisch und hielt der Ostschweiz und letztlich St. Gallen
                                                                     sein Leben lang die Treue. Solche innerschweizerischen Migrationsgeschichten
                                                                     sind aber noch immer die Ausnahme, erst recht über die Sprachregionen hinaus.
                                                                     Die Schweizer sind in der Regel stark verwurzelt in ihrer Wohngemeinde und
                                                                     gelten im internationalen Vergleich als ausgesprochen migrationsfaul.

                                                                     Das tut der Attraktivität der Schweiz als Immigrationsland aber keinerlei Abbruch.
                                                                     Vergleichsweise gute Löhne und ein hoher Lebensstandard bei gleichzeitig tiefer
                                                                     Arbeitslosenquote ziehen Jahr für Jahr Tausende ausländischer Arbeitskräfte an.
                                                                     Sie sind zu einem wichtigen Motor der Schweizer Wirtschaft und damit unseres
                                                                     Wohlstands geworden. Aber sie verursachen auch Ängste: Gemäss dem vom bulletin
                                                                     bereits zum siebten Mal durchgeführten Identitätsbarometer, das diesem Heft
                                                                     beiliegt, sehen 78 Prozent der Schweizer ihre Identität durch Einwanderung und
                                                                     67 Prozent durch die internationale Öffnung bedroht. Die Schweizer scheinen
                                                                     vergessen zu haben, dass wir alle irgendwann einmal Einwanderer waren. Man
                                                                     muss bei der Ahnenforschung einfach nur weit genug zurückgehen.

                                                                     Ein reges Kommen und Gehen herrscht im Übrigen auch bei den Tieren und Pflanzen.
                                                                     So streiften im Schweizer Mittelland einst Löwen und Leoparden umher, bevor sie
                                                                     nach Süden abwanderten. Gleichzeitig ist das Edelweiss, das Symbol für Schweizer
                                                                     Alpenfolklore schlechthin, erst relativ spät von der asiatischen Hochsteppe zu uns
                       Gold Winner
                                                                     eingewandert. Auf der Spurensuche nach der Herkunft von Menschen, Tieren und
                                                                     Pflanzen stösst man in diesem bulletin auf so manche Überraschung. Mir hat es
                                                                     gezeigt, dass Herkunft immer nur als Momentaufnahme definiert werden kann. Die
                       Gold Winner                                   Welt ist und bleibt in Bewegung. So habe ich meine eigene, amtlich beglaubigte
                                                                     Herkunftsgeschichte mittlerweile auch wieder aktualisiert, indem ich zusätzlich das
                                                                     St. Galler Bürgerrecht erworben habe. Die Obererlinsbacher mögens mir verzeihen.
Foto: Cédric Widmer

                                                                     Daniel Huber, Chefredaktor bulletin

                        Preisträger
Herkunft Alles eine Frage des Zeithorizonts - Credit Suisse
L E S              A M I S                 D U            C R E D I T                       S U I S S E

                                       Aus Freude an Kunst.

Die Credit Suisse pflegt langjährige Partnerschaften
mit ausgewählten Kunstinstitutionen.
So mit dem Kunsthaus Zürich, dem Singapore Art Museum und der National Gallery in London.
credit-suisse.com/sponsorship
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Inhalt      3

                                                                                                                                     Invest

                                             10                                                                                      Aktuelle Analysen und Prognosen

                                                                                                                                     Wirtschaft
                                                                                                                                 34_ Branchenhandbuch 2011 Kurzarbeit
                                                                                                                                     erweist sich in der Krise als probates Mittel
                                                                                                                                 39_ Experteninterview Warum Herkunft
                                                                                                                                     für die Anlagestrategie so wichtig ist
Coverfoto: Pia Zanetti | Foto: Pia Zanetti

                                                                                                                                 40_ Afrika Bodenschätze, Landwirtschaft und
                                                                                                                                     Mobilfunk treiben Wirtschaftswachstum an
                                                                                                                                 44_ Nano Winzige Technologie mit riesigem
                                                                                                                                     Wachstumspotenzial
                                                                                                                                 46_ Schwellenländer Von der Werk bank der
                                                                                                                                     Welt zum vielversprechenden Anlagethema

                                                                                                                                     Dossier
                                             Herkunft Neun Menschen aus sieben verschiedenen
                                             Ländern finden in Zürich bei der Credit Suisse zum                                      greenproperty Nachhaltiges Bauen ist auch
                                                                                                                                     in der Schweiz das Gebot der Stunde
                                             Team «Currency & Commodity Research» zusammen.
                                             Wir zeigen sie mit Dingen aus ihrer Heimat, die ihnen
                                                                                                                                     Credit Suisse
                                             wichtig sind, und befragen sie zum Ur-Schweizerischen.
                                                                                                                                 50_ World Economic Forum Konstruktive
                                                                                                                                     Dia loge am Rande des offiziellen Geschehens
                                              4 _ Ahnenforschung Autor Till Hein hofft im genetischen                            53_ Region mit Zukunft Gespräch mit Antonio
                                                  Selbstversuch auf einen Tropfen Wikingerblut.                                      Quintella, Leiter des Amerikageschäfts
                                                                                                                                 55_ San Francisco Diskussionen über Innovation,
                                              6 _ Lebensmittel Konsumenten wollen wissen, woher ihr
                                                                                                                                     alternative Energie und Investitionen
                                                  täglich Brot stammt – regional wäre es ihnen am liebsten.
                                                                                                                                 62_ Ausgezeichnete Mi Zhou Die Cellistin
                                              9 _ Identitätsbarometer Die Schweizer sind stolz auf                                   gewinnt den Prix Credit Suisse Jeunes Solistes
                                                  ihr Land und glauben an die Stärke der Wirtschaft.                             64_ Haubentreffen Das Tessin ist eine kulinarische
                                                                                                                                     Hochburg – das ganze Jahr hindurch
                                             10 _ Schmelztiegel Sie kommen aus der ganzen Welt,
                                                                                                                                 66_ Man Ray und Adolf Wölfli Für die Kunst
                                                  um in Zürich zu einem Team zusammenzufinden.                                       nach Lugano und Bern reisen
                                             26_ Menschheit Eine Reise Millionen Jahre zurück zu den                             69_ Uster Dank Branch Excellence ist diese
                                                 Ursprüngen der menschlichen Baumaterialien.                                         Geschäftsstelle noch attraktiver geworden
                                                                                                                                 70 _ Innovation Erkenntnisse vom Swiss Innovation
                                             29_ Wanderungen Auch bei den Pflanzen und Tieren
                                                                                                                                      Forum auf dem Novartis-Campus
                                                 herrscht ein reges Kommen und Gehen.
                                                                                                                                 71 _ Risikokapital Zehn Jahre Venture Incubator –
                                                                                                                                      ein Rückblick mit Chairman Pius Baschera
                                                                                                                                 72 _ Gastkommentar Für Osec-Direktor
                                                                                                                                      Daniel Küng ist Neuland in Sicht

                                                                                                                                     Leader
                                                                                                                                 73 _ Roger Federer Drei hektische Tage im
                                                                                                                                      Dienst seiner Foundation und ein ent spanntes
                                                                                                                                      Fotoshooting mit Mario Testino
                                                                                                                                 76 _ Nouriel Roubini Der globale Nomade über
                                                                                                                                      die Weltwirtschaft, die Gier und sich selbst

                                                                                                                                     Service
                                                                                                                                 72 _ Impressum

                                                                  Ihr Link zu unserem Know-how: www.credit-suisse.com/bulletin
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4        Herkunft Ahnenforschung

Gene lügen
nicht – leider
Russische Seele? Französisches Savoire-vivre? Oder Wikingerblut in den Adern?
Hobby-Familienforscher können sich bei der Suche nach ihren Urahnen von Genetikern
unter die Arme greifen lassen: ein Selbstversuch.

Text: Till Hein

Wo meine Urururgrosseltern wohl einst gelebt haben? In Patagonien?      Hillary Clinton etwa liebt sie ebenfalls heiss. Die Passion für die
Auf Sansibar ? Oder gleich hier um die Ecke, im St.- Johann-Quartier    nordischen Barbaren hat sie in die Arme ihres Mannes getrieben. «Er
in Basel ? Ob sie Jäger waren? Bauern? Oder Piraten?                    sah aus wie ein Wikinger », schwärmt die US -Aussenministerin in
   «Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart meistern»,      ihrer Autobiografie über die erste Begegnung mit Bill 1970 in einem
sagen Historiker. Doch über die Herkunft meiner Familie weiss ich       Studentenclub. Besonders sexy fand Hillary seinen roten Bart und
fast nichts. Vor Generationen soll in Österreich ein Grossonkel von     die langen Haare. Einem solchen «Wikinger aus Arkansas» konnte
mir gelebt haben, erfuhr ich neulich auf einem Familienfest: Er war     sie unmöglich widerstehen.
adlig, steinreich – und verspielte sein gesamtes Vermögen. Doch            Dabei haben die echten Wikinger im Mittelalter ganz schön ihr
vor dem Jahr 1850 ist unsere Familiengeschichte ein einziger blinder    Unwesen getrieben: Sie fackelten Klöster und ganze Dörfer ab, stah-
Fleck.                                                                  len Gold und Edelsteine. «O furore Normannorum libera nos, domi-
   Zum Glück scheint die Wissenschaft in Sachen Ahnenforschung          ne!», beteten die Menschen, «Bewahre uns, Herr, vor der Raserei
enorme Fortschritte zu machen. Mittlerweile gilt als erwiesen, dass     der Wikinger !» Doch heute ist ihnen niemand mehr böse. Sie gelten
jeder Mensch in seinem Erbgut (der DNA ) genetische Spuren seiner       als Kultfiguren: etwas tollpatschig vielleicht und grobmotorisch ver-
Vorfahren trägt, die bis in längst vergangene Epochen der Mensch-       anlagt – wie «Hägar der Schreckliche» –, aber unkapriziös, humorvoll
heitsgeschichte zurückreichen. Und manche Genforscher behaupten,        und authentisch.
diese Spuren lesen zu können.                                              Fischkonserven, Würfelzucker, Senf und Autos werden unter dem
   Es war Zufall, dass ich auf diese Methode aufmerksam wurde:          Zeichen des Wikinger-Drachenboots vermarktet, Gurken, Würstchen,
Für ein Magazin sollte ich einen Artikel über die Wikinger schreiben.   Trüffel, Marzipan. Skandinavische Ernährungswissenschaftler pro-
Als grosser Fan von «Hägar dem Schrecklichen» kam mir dieser Auf-       pagieren eine «Wikingerdiät » – und auch die Gentest-Firma Igenea
trag wie gerufen. Bei der Recherche stiess ich im Internet auf ein      nutzt die Wikingerbegeisterung. Dank Erbgutanalysen aus Knochen-
Gentest-Unternehmen aus Zürich. «Sind Sie ein Wikinger ?», lockt        funden konnten Wissenschaftler nicht nur DNA -Profile der Kelten,
die Firma Igenea auf ihrer Website – und bietet diverse Tests zur       Perser, Germanen, Skythen, Slawen und Illyrer erstellen, erfahre ich
                                                                                                                                                Foto: C Squared Studios, Getty Images

genetischen Abklärung an. Ab 199 Franken.                               auf der Igenea-Website: Durch Analysen von Blutspuren aus dem
   Eine solche Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen. Denn        Nordwesten Englands, die über 1200 Jahre alt seien, habe man nun
die meisten meiner Verwandten sind ruhelose Menschen, genau wie         auch echtes «Wikingerblut » isoliert !
ich. Ständig packt uns das Fernweh, die Sehnsucht nach der Weite           Ob in meinen Adern tatsächlich Wikingerblut fliesst ? Um diese
des Meeres. Und waren nicht die Wikinger die grössten Seefahrer         Frage zu klären, soll ich eine Speichelprobe einschicken. Die nötigen
der Weltgeschichte? Vielleicht ist die Erklärung simpel, dachte ich:    Utensilien lässt mir Igenea per Post zukommen. Nun gleite ich mit
Wir Heins sind ihre Nachkommen ! Wikinger sind Sympathieträger.         einem Wattestäbchen an der Innenseite meiner Wange entlang.

bulletin 1/11 Credit Suisse
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Ahnenforschung Herkunft                   5

Sanft, aber druckvoll, damit genügend Zellmaterial hängen bleibt.        Profilen nach «genetischen Vettern» suchen, macht mir Igenea-
Ein seltsames Gefühl, denn bisher kannte ich Speichelproben nur          Geschäftsführer Roman C. Scholz am Telefon Mut. Das seien
aus der TV -Serie «Tatort ». Dann packe ich die Probe in eine Plastik-   Menschen, die mit mir in jüngster Zeit einen gemeinsamen Vorfahren
dose, schicke sie nach Zürich und überweise die 199 Franken.             teilen. «Mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb der letzten 24 Gene-
    Wochenlang keine Antwort. Ob mich Igenea vergessen hat ?             rationen», so Scholz. Ich gebe Testnummer und Passwort in die
Schliesslich kommt doch Post. Aus einem grossen, dicken Couvert          Suchmaske ein – und sofort identifiziert die Software einen solchen
ziehe ich eine dunkelbraune Mappe mit goldenem Firmenzeichen.            «Vetter »: in Dänemark. Neue Hoffnung keimt auf. Denn das könnte
Die Farbkopie einer handgemalten Weltkarte liegt darin. Völker-          auf Wikingerblut hindeuten !
wanderungen sind eingezeichnet: fast 20 unterschiedliche Routen.             Doch kein einziger «genetischer Vetter » sitzt in den klassischen
Kein leichtes Unterfangen, die Urahnenforschung!                         Wikingerhochburgen Island und Norwegen. Mist ! Insgesamt identi-
    Auf einem weiteren Blatt steht mein persönliches Testresultat:       fiziert das Computerprogramm 15 «Vettern»: Neben dem aus Däne-
«Haplogruppe: R1a1, Urvolk: Germanen oder Slawen.» Ratlos starre         mark sind es 3 Polen, 3 Deutsche, 2 Russen, 2 Italiener, 1 Ukrainer,
ich auf die Urkunde. Also doch kein Wikinger ? Und was soll das          1 Bulgare, 1 Holländer, 1 Rumäne. Ganz schön rumgekommen, mei-
überhaupt sein, eine Haplogruppe? Eine beigelegte Legende hilft          ne Sippschaft ! Es sei trotz allem «nicht völlig ausgeschlossen», dass
weiter: Haplogruppen seien eine Art «dicke Äste des Stammbaums           in meinen Adern Wikingerblut fliesse, tröstet mich Scholz. Und die
des Homo sapiens», oder gleichsam «Ethnien der Frühzeit ». Sie ent-      Website seiner Firma empfiehlt diverse «Upgrades». Zum Beispiel
stehen, wenn sich Populationen einer Art längere Zeit isoliert von-      eine «Super-Kombi», die viel genauer sei als der Einsteigertest, den
einander entwickeln. So weit, so gut.                                    ich absolviert habe. Dieses Verfahren analysiere zur Abklärung der
    Meine Haplogruppe R1a1 scheint, nun ja, hundsgewöhnlich zu           väterlichen Verwandtschaftslinie auf dem Y-Chromosom der DNA
sein: «Über 40 Prozent der Männer, die im Gebiet von Tschechien          statt 12 Markern deren 67 und nehme zusätzlich auch die mütterli-
bis nach Zentralasien wohnen, gehören dazu», steht im Beitext. Und       che Linie unter die Lupe. Kostenpunkt: 899 Franken. Wow !
in Indien jeder dritte Hindi-sprechende Mann ebenfalls. Ganz schön           Ich glaube, da lege ich mich lieber gemütlich aufs Sofa und lese
unübersichtlich. Was das Wikingerblut angeht, sieht es schlecht aus:     weiter im neuen «Hägar der Schreckliche»-Taschenbuch. <
In grauer Vorzeit lebten die Angehörigen der Haplogruppe R1a1 wahr-
scheinlich im südlichen Asien.
    Und die Rubrik «Urvolk»? Damit werde das Volk bezeichnet, zu
dem meine Ahnen im Zeitraum zwischen 900 vor und 900 nach
Christus gehört haben. Eine eindeutige Zuteilung sei aber nicht im-
mer möglich. Zum Beispiel bei mir: «Germanen oder Slawen» – ja           Till Hein
                                                                         lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Der gebürtige Salzburger
was denn nun?! Igenea lässt mich nicht im Stich: Mit Hilfe meines        schreibt unter anderem für «Die Weltwoche», «mare», «Die Zeit »,
DNA-Profils könne ich nun in einer Datei mit rund 3 00 000 weiteren      «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» und die «GEO»-Familie.

                                                  Obwohl oder gerade weil die Wikinger
                                                    im Mittelalter so gefürchtet waren,
                                              wünscht sich so mancher eine direkte Ahnenlinie.

                                                                                                                                Credit Suisse bulletin 1/11
Herkunft Alles eine Frage des Zeithorizonts - Credit Suisse
6        Herkunft Lebensmittel

Lieber aus
der Region
Trendforscher stellen in Europa und in den USA ein «neues Bewusstsein für Nahrung» fest.
Dabei spielt neben der guten Qualität vor allem die Herkunft eine zentrale Rolle. Lebens-
mittel, die aus der Region stammen oder deren Herkunft klar überprüfbar ist, ermöglichen
eine emotionale Bindung, die im Zeitalter der Globalisierung zunehmend wichtiger wird.

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Herkunft Alles eine Frage des Zeithorizonts - Credit Suisse
Lebensmittel Herkunft                 7

                                      Text: Beat Stauffer                                                    Was steht hinter diesem Wunsch nach Lebensmitteln aus regionaler
                                                                                                             Produktion? Zum einen spielt offenbar der Faktor Vertrauen eine
                                      Beim Blick in die Speisekarte des Restaurants Krafft in Basel fällt    gewisse Rolle. «Man hat mehr Vertrauen in Produkte, die in der
                                      dem Gast sofort auf: Hier gibt es nur relativ wenige Gerichte, doch    Region hergestellt werden», sagt Stadler. Bei solchen Produkten
                                      sind diese umso ausführlicher beschrieben. Ein dreigängiges Menü       lasse sich gegebenenfalls auch überprüfen, ob die Vorgaben stimm-
                                      könnte wie folgt aussehen: Nach einem «Zweierlei von der Zeininger     ten. Eine wichtige Rolle spielt aber auch der ökologische Aspekt. Bei
                                      Räucherforelle» werden «Rapssamen-Capuns im Bodensee -Ver jus-         lokal hergestellten Lebensmitteln sind die Transportwege wesentlich
                                      Sud, Shitakepilze und Belperknolle» aufgetragen. Als Nachspeise        kürzer; somit sieht die Ökobilanz in den meisten Fällen auch deutlich
                                      stehen Schweizer Rohmilch-Käsespezialitäten auf dem Programm.          besser aus als bei importierten Produkten. Ein dritter, sehr wichtiger
                                          Dazu gibts weiter hinten detaillierte Angaben zur Herkunft von     Faktor ist aber emotionaler Art: Es geht, so die beiden Experten
                                      Fleisch, Gemüse, Fischen und Meeresfrüchten. Dasselbe gilt für den     übereinstimmend, um Heimat, Identifikation, Verankerung, Bezie-
                                      Wein, der ausschliesslich aus identifizierbaren Betrieben stammt.      hung. Gerade im Zeitalter der Globalisierung scheint dieses Bedürf-
                                      Wer noch mehr wissen möchte – etwa über die Herkunft von Oliven-       nis zuzunehmen; in einer Welt, in der regionale, bis anhin selbststän-
                                      öl oder Süssigkeiten – , wird auf der Website des altehrwürdigen       dige Produzenten aufgekauft und in multinationalen Firmen ein-
                                      Hotel-Restaurants fündig.                                              gegliedert werden, die dann weltweit dieselben Produkte verkaufen,
                                          Kaum zehn Minuten vom Hotel-Restaurant Krafft entfernt und in      wird das Bedürfnis nach «Heimat » zunehmend wichtig.
                                      unmittelbarer Nachbarschaft zu grossen Produktionsstätten des             Eine gewisse Rolle spielt auch ein Trend unter gut verdienenden,
                                      Pharmamultis Novartis liegt der Matthäusplatz – eine Oase inmitten     urbanen Menschen, der sich unter dem Begriff LOHAS von den USA
                                      eines dicht bewohnten Viertels. Hier findet jeweils am Samstag ein     aus in die westlichen Länder verbreitet hat. LOHAS (siehe Box Seite 8)
                                      lebendiger, farbiger Markt statt. Es handelt sich um einen echten      steht für eine Lebenshaltung, in der gesunde Ernährung und Verant-
                                      Produzentenmarkt; rund 80 Prozent der angebotenen Waren sind           wortung für die Umwelt zusammenfinden sollen. Oder ist LOHAS
                                      aus eigenem Anbau oder eigener Herstellung. Gemüsebauern aus           vielleicht eher der schichtspezifische Ausdruck desselben Trends,
                                      der Umgebung von Basel – viele aus dem angrenzenden Süddeutsch-        der Konsumenten einer anderen Kaufkraftklasse dazu bewegt, im
                                      land – verkaufen Obst und Gemüse, Brot und Blumen und dazu eine        Winter auf eingeflogene Bohnen oder Spargeln zu verzichten und
                                      Reihe von Spezialitäten wie Honig, selbst gemachtem Essig oder         stattdessen Wurzelgemüse vom Gemüsebauern aus dem Dorf
                                      Schnaps. Der 2006 ins Leben gerufene Markt, dessen Initianten          nebenan einzukaufen?
                                      kürzlich einen Förderpreis der Stadt Basel entgegennehmen durften,        Das Bedürfnis nach genauen Herkunftsbezeichnungen bei Le-
                                      ist ein voller Erfolg und zieht mittlerweile zahlreiche Besucher aus   bensmitteln ist nicht neu. Bei Qualitätsweinen wird der genaue
                                      anderen Quartieren an. Er liegt, so Christof Dietler, Mitinhaber der   P roduktionsort schon seit Langem auf der Etikette vermerkt und
                                      Beratungsfirma Pluswert , voll im Trend. Derartige Experimente wür-    auch bei gewissen Käsesorten spielt die Herkunft eine wichtige
                                      den von Experten der Nahrungsmittelindustrie und der Trendfor-         Rolle. Mit den gesetzlich geschützten Ursprungsbezeichnungen
                                      schung im Bereich Lebensmittel sehr aufmerksam verfolgt, weil sie      AOC und IGP (siehe Box Seite 8) versuchen die Hersteller schon seit
                                      zukünftige Entwicklungen vorwegnähmen.                                 den 1990 er-Jahren, ihre «authentischen» von qualitativ weniger wert-
                                                                                                             vollen Produkten abzugrenzen. Dabei spielt auch der Begriff des
                                      Irreführende Bezeichnungen
                                                                                                             Terroir eine wichtige Rolle. International hatte schliesslich die «Slow
                                      Heute haben viele Konsumenten das ungute Gefühl, nur ungenügend        Food»- Bewegung den Bemühungen um echte, unverfälschte und
                                      über die Herkunft von Lebensmitteln informiert oder gelegentlich       einzigartige Lebensmittel, die einen hohen Genuss bieten, einen
                                      gar betrogen zu werden. Dass Italien seit langen Jahren weit mehr      wichtigen Anstoss g egeben.
                                      Olivenöl exportiert als es selbst herstellt, dass das so genannte
                                                                                                             Nachhaltige Beschaffungsketten
                                      Bündner Fleisch häufig mit argentinischem Rindfleisch hergestellt
                                      wird, wissen mittlerweile nicht nur Eingeweihte. Dazu kommt eine       Kleine, lebhafte Produzentenmärkte und Restaurants wie das
                                      grosse Verunsicherung der Konsumenten betreffend die Verwendung        «Krafft » in Basel mögen zwar wichtige Impulse geben, doch können
                                      von Zusatzstoffen und Konservierungsmitteln bei der Herstellung        sie die Probleme nicht lösen, die durch nicht nachhaltig produzierte
                                      vieler Lebensmittel.                                                   Lebensmittel und durch gewaltige Transportwege entstehen.
                                         Für Christof Dietler steht fest, dass die überprüfbare und nach         Entscheidend sei, sagt Dietler, dass bei den Schweizer Grossver-
                                      Möglichkeit regionale Herkunft eines Lebensmittels eine immer          teilern in dieser Hinsicht quantitativ Erhebliches in Gang gebracht
                                      wichtigere Rolle beim Kauf eines Produktes spielt. Es handle sich      wurde. Denn hier gehe es um Tausende von Tieren, die besser ge-
                                      um einen Trend, der auch international zu beobachten sei, erklärt      halten werden, um gewaltige Mengen an Pestiziden, auf die vielleicht
                                      Dietler. Ganz ähnlich schätzt auch Denise Stadler, Mediensprecherin    verzichtet wird, um Hunderttausende von Kilometern Lastwagen-
                                      von Coop, die Lage ein. Viele Konsumenten wünschten sich nicht         transporte, die vielleicht wegfallen. «Es geht letztlich um nachhaltige
                                      nur nachhaltig produzierte Lebensmittel, sondern auch solche aus       Beschaffungsketten, von denen alle Beteiligten profitieren können»,
                                      regionaler Produktion. «Wir stellen immer mehr fest, dass die          sagt Dietler. Produkte, die in den jeweiligen Regionen hergestellt
Foto: Valentyn Volkov, Shutterstock

                                      Konsumenten sich nach der Herkunft der Ware erkundigen», sagt          werden, schneiden dabei logischerweise besser ab.
                                      Stadler. Dies gelte im besonderen Mass für die «bio-affine Kund-           Die beiden Schweizer Grossverteiler Coop und Migros hätten in
                                      schaft », wie dieses Kundensegment in der Fachsprache der Mar-         Sachen Nachhaltigkeit und Regionalität von Lebensmitteln schon
                                      ketingexperten heisst. Für Dietler ist bei diesen Konsumenten die      beachtliche Schritte unternommen, sagt Dietler. Die Rede ist von
                                      regionale Herkunft oft sogar wichtiger als eine zertifizierte biolo-   wachsenden Programmen mit Namen wie «Naturaplan» (Coop, Bio
                                      gische Produktionsweise.                                               mit Knospe, 760 Millionen Umsatz), «Naturafarm» (Coop, Tier- >

                                                                                                                                                                   Credit Suisse bulletin 1/11
Herkunft Alles eine Frage des Zeithorizonts - Credit Suisse
8        Herkunft Lebensmittel

LOHAS                                              haltungsprogramm, 480 Millionen), «Terrasuisse» (Migros, IP -Pro-
Bedeutet «Lifestyles of Health and Sustain-        dukte aus der Schweiz, 650 Millionen), «Aus der Region. Für die
ability»; (wörtlich: Lebensstile der Gesundh eit
und Nachhaltigkeit), eine Lebenshaltung,           Region.» (Migros 750 Millionen) oder «Pro Montagna». Dietler ist sich
in der gesunde Ernährung und Verantwortung         sicher, dass Coop und Migros mit diesen Umsatzzahlen und den re-
gegenüber der Umwelt und den Mitmenschen           gional und ökologisch hergestellten Produkten international eine
zusammenfinden sollen.
                                                   Vorreiterrolle gespielt haben und mittlerweile europaweit auf Beach-
Terroir                                            tung stossen.
Mit dem Begriff Terroir ist der Ursprung
eines Erzeugnisses gemeint. Dieser Ursprung        Per Mausklick zum Bioproduzenten
wiederum setzt sich zusammen aus einem
Ort, geprägt durch seine natürlichen Voraus-       Für Coop-Sprecherin Stadler ist nicht nur klar, dass ein wachsendes
setzungen (Bodenbeschaffenheit, Klima,             Kundensegment sich an solchen Trends orientiert; sie ist sogar
Fauna, Flora und Topografie), und dem              überzeugt davon, dass ihre Firma diesen Trend mitgeprägt hat.
Menschen, der die örtlichen Beding ungen
wertschätzend umsetzt.                             Diese Politik betreibe Coop nicht nur im Bereich Bioprodukte, son-
                                                   dern im gesamten Segment. Falls immer möglich, versuche man
AOC - und IGP - Produkte                           Produkte aus der Schweiz und zusätzlich aus der Region anzubieten.
Die offiziellen Qualitätszeichen AOC oder
IGP sind (seit 1997) landwirtschaftlichen
                                                   Gegenwärtig sollen rund 70 Prozent der unter der Coop-Eigenmarke
Erzeugnissen mit einer engen und traditionel-      angebotenen Lebensmittel aus der Schweiz stammen; bei Frisch-
len Verbindung zu ihrem Ursprungsg ebiet           produkten ist der Anteil noch wesentlich höher. Ein besonderes
vorbehalten. Fleisch- und Käseprodukte
                                                   G ewicht auf die Herkunft eines Lebensmittels legt Coop dabei
machen den Hauptteil der AOC- und IGP-
zertifizierten Produkte in der Schweiz aus.        mit so genannt regionalen Produktelinien: Bioprodukte, die meist
                                                   von Kleinproduzenten hergestellt werden, sowie Produkte, welche
Slow Food                                          die Label «Pro Montagna» und «Pro Specie Rara» tragen. Das
Die Bewegung «Slow Food» ist in den 1990er-
Jahren in Italien entstanden und hat sich          neuste Projekt in Sachen Transparenz und Rückverfolgbarkeit
von dort auf ganz Westeuropa aus gebreitet.        von Lebensmitteln ist die auf den Produkten angebrachte «Natura -
Im Vordergrund steht dabei die Wiederent-          plan- ID ». Es handelt sich um eine drei- bis fünfstellige Nummer,
deckung der Genusskultur.
                                                   mit Hilfe derer die Konsumenten die genaue Herkunft des betref-
Buchtipp                                           fenden Lebensmittels in Erfahrung bringen können. Per Mausklick
Thilo Bode, «Die Essensfälscher – Was uns          gelangen die Kunden auf solche Weise zum Biobauernhof. Diese
die Lebensmittelkonzerne auf die Teller
                                                   neue Anwendung (Webapplikation) steht seit Oktober 2010 zur
lügen ». Frankfurt, S. Fischer Verlag, 2010.
ISBN -10 : 3-10 - 004308-1                         Verfügung.

                                                   Das Konzept des Terroir

                                                   Zurück zum direkt am Rhein gelegenen Hotel-Restaurant Krafft,
                                                   das seinen Gästen vornehmlich Gerichte mit regional hergestellten
                                                   Lebensmitteln anbietet und deren Herkunft in hohem Mass offenlegt.
                                                   Küchenchef Steiner ist davon überzeugt, dass seine «Philosophie
                                                   der frischen und lokalen Produkte» und die weitgehende Herkunfts-
                                                   deklaration von den Gästen des «Krafft » geschätzt wird. Eine ähn-
                                                   liche Linie verfolgen auch etwa die Restaurants Terroir in Zürich und
                                                   Lötschberg in Bern. Im «Terroir » werden ausschliesslich schweizeri-
                                                   sche, nach Möglichkeit regionale Produkte serviert, deren genaue
                                                   Herkunft auf der Speisekarte akribisch aufgelistet ist. Mit dem
                                                   Begriff Terroir ist der Ursprung eines Erzeugnisses gemeint (siehe
                                                   Box links). 100 -prozentige «Swissness» gilt auch bei den leicht mo-
                                                   dernisierten Rezepten aus Grossmutters Kochbuch.
                                                       Im Restaurant Lötschberg in Bern werden in einem etwas ein-
                                                   facheren Rahmen ebenfalls ausschliesslich Schweizer Produkte ser-
                                                   viert: Wein und Bier, Käse und Wurstwaren, diverse Fondues und
                                                   Walliser Raclette. Auch hier finden sich im Glas und auf dem Teller
                                                   Lebensmittel, deren Herkunft mit AOC -Labels (siehe Box links) zerti-
                                                   fiziert ist und die sich gelegentlich bis auf die einzelnen Bauernhöfe
                                                   oder Alpen zurückverfolgen lässt.
                                                       Was die Zukunft von nachhaltig produzierten Lebensmitteln aus
Weblinks
 www.krafftbasel.ch/restaurant.html               der Region oder mit genauer Herkunftsbezeichnung betrifft, so sind
 www.terroir.ch/                                  sich alle befragten Experten einig: Der Trend geht ganz klar in diese
 www.loetschberg-aoc.ch/de/accueil.html
                                                   Richtung. Herkunft, Terroir oder gar Ursprung sind gefragt, nur schon
 www.naturli.ch/index.html
 www.pluswert.ch/                                 deshalb, weil in diesen Begriffen so viele Gefühle mitschwingen,
 www.aoc-igp.ch                                   welche die nackte Ökobilanz nicht bieten kann. <

bulletin 1/11 Credit Suisse
bulletin plus –
das Heft im Heft
zum Herausnehmen
Credit Suisse Identitätsbarometer 2010
Zusammen mit dem Forschungsinstitut gfs.bern möchte das bulletin aufzeigen, wo die
Schweizerinnen und Schweizer der Schuh drückt beziehungsweise wie ihre Einstellung
zu verschiedenen Aspekten des Lebens ist. In der Ausgabe Jugend des bulletin berichteten
wir im Dezember über die Resultate des Credit Suisse Sorgenbarometers 2010 und
des erstmals erhobenen Credit Suisse Jugendbarometers. Nun veröffentlichen wir
im Credit Suisse Identitätsbarometer die wichtigsten Ergebnisse der siebten Umfrage
zur Identität Schweiz. Diese geben unter anderem Aufschluss über die politisch-
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stärken und Schwächen des Landes. Es lohnt
sich, die Erkenntnisse aller Umfragen miteinander zu vergleichen.
PDF -Versionen (d/f/i) unter www.credit-suisse.com/bulletin.
10          Herkunft Schmelztiegel

                              Sven Schubert
                              Deutschland
                                                                                       Tobias Merath
                                                 Marcus Hettinger                      Deutschland
                                                  Deutschland

                                                                    Julia Dumanskaya
                                                                         Russland

                                                                                                          Shivani
                                                                                                       Tharmaratnam
                                                                                                         Singapur

                                                     HER
Schmelztiegel Schweiz: Neun Menschen aus sieben verschiedenen Ländern finden
bei der Credit Suisse in Zürich zur Abteilung Currency & Commodity Research
zusammen. Sie alle präsentieren Dinge und Orte, die sie mit ihrer Heimat verbinden.
Und sie verraten, was ihnen an der Schweiz so ungemein schweizerisch vorkommt.
Notiert: Bettina Bucher, fotografiert: Pia Zanetti

bulletin 1/11 Credit Suisse
Schmelztiegel Herkunft              11

                  Karim Cherif
                  Frankreich
                                                    Stefan Graber
                                                      Schweiz

Joe Prendergast
     Irland

                                 Anna-Mária Simon
                                    Rumänien

KUNFT
                                                                       Credit Suisse bulletin 1/11
12          Herkunft Schmelztiegel

Julia Dumanskaya
Russland
 Meine Mutter hat mir diesen Schal vor ein
 paar Jahren in Moskau gekauft. Für mich
 ist es ein ganz besonderes Gefühl, wenn ich
 ihn trage, ich freue mich jedes Mal, wenn
 ich ihn anziehe. Das Muster ist typisch
 russisch, aber ich habe mir sagen lassen,
 dass es auch in Westeuropa immer mehr
 in Mode kommt. Das Buch unter m einem
 Arm ist ein alter Bildband von M oskau. Eine
 schöne, ledergebundene Ausgabe, die
 eigentlich meiner Mutter gehört. Ich nehme
 ihn hervor, wenn Schweizer Freunde mehr
 über meine Heimatstadt erfahren wollen.
 Mein Lieblingsbild darin ist die Abbildung
 der Kathedralen beim Kreml, dem Wahr-
 zeichen Moskaus.
...

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Schmelztiegel Herkunft                 13

…
Ich beobachte in der Schweiz ein ausge-
prägtes Verantwortungsbewusstsein
im Kleinen genauso wie im Grossen, eine
nachhaltige Herangehensweise an alle
Dinge. Ein gutes Beispiel dafür ist, wie im
Eigental in der Nähe von Kloten während
der Amphibienwanderungszeit im Frühjahr
die Strasse für Autos gesperrt wird.
Dank der Strassensperre können Kröten
und Frösche unbeschadet ihre Laich-
gewässer erreichen. Das fasziniert mich
jedes Jahr aufs Neue.

                            Credit Suisse bulletin 1/11
14          Herkunft Schmelztiegel

Joe Prendergast
Irland
 Das graue Gemälde hinter mir stammt
 von einem unbekannten walisischen Künst-
 ler. Es ist eines der ersten Bilder, die
 ich je gekauft habe. 20 Jahre ist das nun
 her, und trotz seiner gewaltigen Grösse
 hat es mich immer begleitet. Das Gemälde
 hat bereits mein Zuhause in London und
 dann in Irland geziert, nun ist es mit mir in
 die Schweiz gereist. Ich liebe seine Grösse
 und Tiefe. Es hat die Unendlichkeit zum
 Thema und ist w eitaus komplexer, als es
 auf den ersten Blick scheinen mag.
...

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Schmelztiegel Herkunft                 15

…
Wie wichtig hier Richtlinien, Anordnungen
und Pünktlichkeit genommen werden,
mag etwas kalt oder unpersönlich erschei-
nen. Doch entsteht daraus eine kollektive
Harmonie, die für mich einen wesentlichen
Bestandteil der Schweizer Identität
darstellt. Ein Vorteil dieser redlichen und
verlässlichen Gesellschaft ist es, dass
selbst kleine Kinder sicher alleine zur Schule
gehen können. Das ist eine grosse
Ausnahme in der modernen Welt.

                             Credit Suisse bulletin 1/11
16          Herkunft Schmelztiegel

Stefan Graber
Schweiz
 Ich bin in Zürich fast ausschliesslich mit
 meinem Fahrrad unterwegs. Man ist schnell,
 verliert keine Zeit, muss nirgends warten,
 keine Fahrpläne studieren, keinen Parkplatz
 suchen: Das ist für mich ein Stück Lebens-
 qualität. In Singapur, wo ich knapp zwei
 Jahre lang gearbeitet und gelebt habe, fehlte
 mir diese unkomplizierte Form der Mobi -
 lität. Nicht nur ist die Verkehrsführung dort
 ganz aufs Auto ausgelegt, auch das
 heissfeuchte Klima ist nicht gerade radler-
 freundlich. Die Entwicklung verläuft in
 entgegen gesetzten Richtungen – hier vom
 Auto zum Velo hin, in Asien vom Velo
 zum Auto hin.
...

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…
In der Schweiz hat die Privatsphäre, das
eigene ‹Gärtli›, eine grosse Bedeutung.
In öffentlichen Verkehrsmitteln etwa sitzt
jeder möglichst allein. Im Restaurant
bestellt jeder sein eigenes Gericht, während
in Singapur gemeinsam geordert wird,
das Essen kommt in die Tischmitte, und alle
bedienen sich davon. Auch beim Wohnen
sind die Menschen hier oft darauf bedacht,
sich möglichst von den Nachbarn abzu-
schotten. In Singapur hingegen verfügen
die Wohnhäuser stets über einen Gemein-
schaftsbereich, wo die Bewohner für alle
möglichen Aktivitäten zusammenkommen.

                                                         Foto: Stefan Jaeggi, Keystone

                           Credit Suisse bulletin 1/11
18          Herkunft Schmelztiegel

Sven Schubert
Deutschland
 Geht die Liebe zur Heimat nicht auch ein
 wenig durch den Magen? Currywurst und
 Pommes, das ist echte Berliner Kost.
 In Berlin gibt es ein paar Institutionen, wie
 etwa den Imbissstand Curry 36 in Kreuzberg,
 wo die Leute bis nachts um drei Schlange
 stehen. In der Schweiz hingegen, wo ich seit
 sechs Jahren lebe, habe ich es noch nicht
 geschafft, eine richtig leckere Currywurst
 zu finden. Deshalb gehört bei meinen
 Besuchen in Berlin die Wurst aller Würste
 zum Pflichtprogramm. Aber ich bin kuli-
 narisch durchaus lernfähig. Ich habe erst
 in der Schweiz angefangen, Käse zu essen,
 und mittlerweile denke ich, dass Raclette
 und Fondue schon eine feine Sache sind.
...

Marcus Hettinger
Deutschland
 Ein VW -Käfer wars, daran erinnere ich
 mich genau, wenn ich auch die Farbe
 vergessen habe. In dem Käfer also zogen
 meine Eltern aus beruflichen Gründen
 A nfang der 1970 er-Jahre aus Süddeutsch-
 land in die Schweiz. Auf dem Rücksitz
 ich, in diesem Kindersitz. Da ich schon
 als Kleinkind in die Schweiz kam, spreche
 ich auch perfekt den Dialekt. Heute lebe
 ich in der Region Basel, der Sprung aus
 Süddeutschland war nicht allzu gross.
 Wohl auch deshalb habe ich ausser dem
 Kindersitz kaum Erinnerungsstücke aus
 der alten Heimat aufbewahrt.
...

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…
Anscheinend diente an der Landsgemeinde
in Appenzell lange ein Degen als Stimm-
rechtsausweis. Der Degen wurde von
Generation zu Generation vererbt, und noch
heute sollen viele Appenzeller den Degen
an der Landsgemeinde tragen. Auf der
einen Seite ist das eine Kuriosität, auf der
anderen Seite finde ich es schön, wenn
Rituale erhalten bleiben, das bereichert die
Kultur.

                                                         Foto: STR, Keystone
…
Vier Sprachen sind in der Schweiz zu Hause,
das geht oft ein wenig vergessen. Es faszi-
niert mich, dass man im eigenen Land
herumreisen kann, und plötzlich wird eine
andere Sprache gesprochen. Ohne die
Grenze zu überqueren, befindet man sich
auf ‹fremdem› Territorium – ich finde, wir
sollten mehr Anstrengungen unternehmen,
diese Landessprachen zu sprechen oder
zumindest zu verstehen.
                                                         Foto: Arno Balzarini, Keystone

                           Credit Suisse bulletin 1/11
20          Herkunft Schmelztiegel

Shivani Tharmaratnam
Singapur
 Eigentlich fotografiere ich ja lieber selber,
 als fotografiert zu werden. Und so habe ich,
 wenn ich geschäftlich reise, auch stets
 meine Digitalkamera dabei. Aber nicht nur,
 um meine neuen Eindrücke festzuhalten,
 sondern auch, weil darauf eine Menge Fotos
 von meinen Liebsten daheim in Singapur
 gespeichert sind. Und von vertrauten Orten.
 Ich bin ein absoluter Familienmensch,
 und meine Freunde sind mir ebenfalls wichtig.
 Eines meiner Lieblingsbilder zeigt meine
 Schwester und meine kleine Nichte. So
 erlaubt mir die moderne Technik, am anderen
 Ende der Welt ein Stück Heimat und Gebor-
 genheit im Taschenformat mitzuführen.
...

Tobias Merath
Deutschland
 Mein Lieblingsessen sind Maultaschen,
 und die sind in der Schweiz leider schwer
 erhältlich. Man glaubt es nicht – kaum
 überquert man den Bodensee, bekommt
 man sie nirgends mehr. Bei meinen
 Besuchen in Deutschland kaufe ich daher
 immer einige Päckchen und friere sie ein.
 Die Taschen aus Nudelteig mit einer Füllung
 aus Spinat, Brät und Zwiebeln sind eine
 Spezialität aus meiner schwäbischen
 Heimat. Umgangssprachlich werden sie
 manchmal auch als ‹Herrgottsbscheisserle›
 bezeichnet. Der Name rührt daher, dass
 man das Fleisch in der Fastenzeit durch das
 Einrollen im Nudelteig verstecken kann.
...

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Schmelztiegel Herkunft                 21

…
Mich wundert, dass man in der Schweiz
einfach an einem Automaten einen
Fahrschein lösen und dann damit in den Zug
oder die Strassenbahn steigen kann.
Kontrolliert wird nur in Stichproben. In Asien
ist es meist so, dass man gar nicht erst
bis zum Zug gelangt, wenn man keinen
Fahrschein hat. Man scheint in der Schweiz
sehr viel Vertrauen in die Benützer des
öffentlichen Verkehrs zu haben.

…
Was mich manchmal erstaunt, ist die
grosse Korrektheit, mit der in der Schweiz
alles gehandhabt wird. Zum Beispiel
muss das Altpapier sauber gebündelt sein,
damit es auch abgeholt wird. Am Altglas-
container sind die Benützungszeiten streng
geregelt und genau einzuhalten. Und ist
die Parkzeit auf einem Besucherparkplatz
auf vier Stunden begrenzt, so ist die
Chance hoch, dass jemand einen Zettel
an die Windschutzscheibe hängt, wenn
der Wagen dort einmal viereinhalb Stunden
steht.

                             Credit Suisse bulletin 1/11
22          Herkunft Schmelztiegel

Anna-Mária Simon
Rumänien
 Ich bin eine Ungarin aus dem Szeklerland,
 das im rumänischen Transsilvanien liegt.
 Ein Objekt, das mich an meine geliebte
 Heimat erinnert, ist das Szekler Tor in
 Miniaturformat. Diese imposanten Holztore
 sind typisch für die transsilvanische
 Architektur. Sie sind mit Gemälden oder
 Schnitzereien verziert und verleihen dem
 Eingang der Häuser im Dorf etwas Majestä-
 tisches. Unter einem Dach sind zwei Durch-
 gänge vereint: der kleinere für Menschen,
 der grössere für Wagen. Der Besucher,
 der durch das Szekler Tor tritt, wird von
 Inschriften begrüsst, etwa ‹Segen für den,
 der eintritt, und Friede für den, der geht›.
...

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Schmelztiegel Herkunft                 23

…
Als ich neu in der Schweiz war, suchte ich
in einer Buchhandlung nach Lektüre, um
mein Deutsch zu verbessern. Mein Blick fiel
auf Hugo Loetschers ‹Der Waschküchen-
schlüssel›. Da ich bereits festgestellt hatte,
dass der Umgang mit der Waschküche
durchaus Konfliktpotenzial birgt, war ich
neugierig und kaufte das Buch. Zum Glück!
Denn es hat mir erklärt, wie die Schweizer
Mentalität im Alltag funktioniert und warum
es den Schweizern so wichtig ist, dass
man sich an all die geschriebenen und
u ngeschriebenen Gesetze hält. So hat mir
Loetschers geniale Kurzgeschichte den
Schlüssel verliehen, um das Schweizer
Szekler Tor zu öffnen.

                                                           Foto: Dirk Holst, DH Foto

                             Credit Suisse bulletin 1/11
24          Herkunft Schmelztiegel

Karim Cherif
Frankreich
 In diesem marokkanischen Tea Room fühle
 ich mich ein bisschen wie zu Hause.
 Ich habe arabische Wurzeln. Die vielen
 bunten Kacheln vermitteln orientalisches
 Flair, und die niedrigen Sofas erinnern an ein
 arabisches Wohnzimmer. Dort macht
 man es sich bequem, verbringt Zeit mit der
 Familie und Freunden, trinkt Tee. Letzterer
 spielt eine wichtige Rolle in unserer Kultur
 und unserer Gastfreundschaft. Für einen
 Tee hat man immer Zeit, es gibt stets
 einen guten Grund, zusammen einen Tee zu
 trinken. Empfängt man einen Gast, so
 landet man unweigerlich im Wohnzimmer –
 mit einem Tee. Es sind Momente des Teilens
 und Austauschens, eigentlich des Glücks.
...

bulletin 1/11 Credit Suisse
Schmelztiegel Herkunft                25

                                                                                                        …
                                                                                                        Am besten gefällt mir in der Schweiz der
                                                                                                        Sommer, wenn man am Abend in eine
                                                                                                        Badi-Bar gehen kann. So etwas kenne ich
                                                                                                        aus Frankreich nicht. In Paris würde
                                                                                                        kaum jemand in der Seine baden wollen.
                                                                                                        Meine Favoriten sind die Rimini-Bar
                                                                                                        und die Barfuss-Bar in der Frauenbadi. Mich
                                                                                                        fasziniert, wie sich diese Orte mit Einbruch
                                                                                                        der Dunkelheit komplett verändern.
                                                                                                        Aus der Badeanstalt wird ein Ort, wo die
                                                                                                        Leute zusammenkommen, sich amüsieren,
                                                                                                        Musik hören. Eine recht einzigartige
                                                                                                        Kombination aus grossstädtischem Nacht-
                                                                                                        leben und intakter Natur.

                                                                                                                                                                  Foto: Dagmar Lorenz

Die bekannte Fotografin Pia Zanetti lebt und arbeitet seit 1971 in Zürich. Zuvor verbrachte sie acht Jahre in Rom und London. Pia Zanetti machte
verschiedentlich mit eindrücklichen Reportagen aus Lateinamerika, Afrika, Nah- und Fernost, Ost- und Westeuropa auf sich aufmerksam. Ihre Fotos sind
in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten.

                                                                                                                                    Credit Suisse bulletin 1/11
Tausende von Sternen
mussten geboren
werden und wieder
sterben, damit die auf
unserer Erde vor-
kommenden Materialien
entstehen konnten,
aus denen wir Menschen
letztendlich selbst
gebaut sind.

Kinder des
Weltalls
Während die Erklärungsversuche zur Herkunft der Menschheit oft mythische Elemente
beinhalten, bleibt unser eigentlicher Ursprung dennoch im Dunkeln. Dagegen ist die
Herkunft des «Baumaterials», aus dem der Mensch besteht, wesentlich besser erforscht.

bulletin 1/11 Credit Suisse
Elemente Herkunft                27

                                Text: Andreas Walker

                                Nach heutiger Kenntnis leben wir in einem Universum, das vor etwa      verbleibende Materie in konzentrischen Kreisen um die neugeborene
                                13 Milliarden Jahren entstand. Aus einer gewaltigen Explosion, dem     Sonne sammelte, aus der schliesslich vor etwa 4,8 Milliarden Jahren
                                «Urknall», ging ein extrem kleiner Feuerball mit unvorstellbarer Dich- die 8 Planeten, diverse Zwergplaneten, mindestens 60 Monde, Tau-
                                te und Temperatur hervor – das frühe Universum. Als Folge der Ex- sende von Asteroiden und unzählige von Meteoroiden und Kometen
                                plosion begann es, sich auszudehnen, ein Vorgang, der bis heute her vor gingen.
                                immer noch andauert. Mehrere Hunderttausend Jahre nach dem
                                                                                                       Die Entwicklungsstadien der Sonne und anderer Sterne
                                Urknall hatten sich riesige Mengen an Wasserstoff, dem leichtesten
                                Element, das aus einem Proton und einem Elektron besteht, sowie Die Sonne befindet sich gegenwärtig ziemlich genau in der Mitte
                                etwas Helium und Spuren von Lithium gebildet.                          ihres Lebens. Für die «nächste Zukunft » – einige 100 Millionen Jah-
                                   Physiker rätseln heute noch, warum die Schöpfungsgeschichte re – wird sie mit der gleichen Konstanz strahlen wie heute. Danach
                                nicht schon kurz nach dem Urknall abbrach. Rein theoretisch hätte wird ihre Leuchtkraft langsam zunehmen, und sie wird sich aufblä-
                                sich nämlich der Wasserstoff ziemlich regelmässig im Universum hen, bis sie etwa eineinhalbmal so gross ist wie heute und etwa
                                verteilen können und wäre dann als Wolke im All geblieben, die mit doppelt so hell. Gleichzeitig wird es deshalb auf der Erde unerträg-
                                der Expansion des Universums immer dünner geworden wäre.               lich heiss mit der Folge, dass die Polkappen abschmelzen und die
                                   Hätte das Universum diese Entwicklung durchgemacht, wäre es Landmassen sich in Wüsten verwandeln. In rund fünf Milliarden
                                gestorben, bevor etwas aus ihm entstanden wäre, oder anders aus- Jahren schliesslich wird der Wasserstoffvorrat im Inneren der Sonne
                                gedrückt: Es hätte in einem gigantischen Raum geendet, in dem nur verbrannt sein. Der Kern schrumpft dann durch seine eigene Schwer-
                                Wasserstoffwolken schwebten. Die Natur hatte aber eine andere kraft zusammen und heizt sich auf, bis die Kernverschmelzungs-
                                Entwicklung vorgesehen.                                                prozesse in äusseren Bereichen einsetzen, wo noch Wasserstoff
                                   Durch Zusammenballung von Materie bildeten sich im Laufe der vorhanden ist. Dabei dehnt sich die Sonne noch weiter aus, gleich-
                                Zeit die Sterne, die in riesigen Haufen, den Galaxien, angeordnet zeitig kühlt ihre Oberfläche ab. In diesem Stadium wird sie zu einem
                                waren. Galaxien sind gigantische Ansammlungen von mehreren roten Riesenstern, der etwa 100 - mal heller ist als die heutige Sonne
                                100 Milliarden Sternen. Auch die Anzahl der Galaxien selbst schätzt und der sich bis zur Merkurbahn ausdehnen wird. Auf unserer Erde
                                man heute auf über 100 Milliarden.                                     wird dann ein «Backofenklima» herrschen, in dem die Ozeane ver-
                                                                                                       dampfen und die Erdoberfläche glühend heiss wird.
                                Gasmassen verdichteten sich zu Sternen
                                                                                                           Nach einigen weiteren Millionen von Jahren wird die Temperatur
                                So bildete sich vor Milliarden von Jahren aus Materie der Urwolke im Heliumkern der roten Riesensonne auf rund 100 Millionen Grad
                                auch eine sich drehende Gasspirale – unsere Ur-Milchstrasse. Als ansteigen. Dann wird die Verschmelzung von Heliumatomen zu Koh-
                                sich die Gasmassen langsam zu Sternen verdichteten, entstanden lenstoff- und Sauerstoffatomen beginnen. Von diesem Zeitpunkt an
                                die Sonnen. Massive Sterne der ersten Generation verschmolzen sammelt sich im Zentrum der Sonne Kohlenstoff an. Im weiteren
                                Wasserstoff zu Helium und schwereren Elementen. Da diese mas- Verlauf schrumpft der Kern erneut, und die Heliumbrennzone wan-
                                siven Sterne kurzlebig waren und gegen Ende ihres Lebens dert nach aussen. Damit bläht sich der Rote Riese derart gigantisch
                                instabil wurden, zerbarsten sie «bald» in hellen Supernova-Explo- auf, dass er die Erde verschlucken wird.
Foto: Reha Mark, Shutterstock

                                sionen – übrig blieben ein Sternrest und eine gigantische Gaswolke.        Schliesslich stösst die Sonne in einem Zeitraum von etwa
                                Vor einigen Milliarden Jahren verdichtete sich auch eine Wolke 100 000 Jahren ihre äusseren Schichten in den Weltraum ab. Diese
                                von Staub und Gas am Rande der Milchstrasse. In ihrem Zentrum Gaswolke expandiert als so genannter planetarischer Nebel immer
                                bildete sich ein dichter, heisser Kern, aus dem ein gelber Stern weiter ins All, und im Zentrum bleibt ein heisser, lichtschwacher Stern
                                e ntstand – unsere Sonne. Man nimmt heute an, dass sich die zurück – es ist der freigelegte Kern der roten Riesensonne.                  >

                                                                                                                                                          Credit Suisse bulletin 1/11
28          Herkunft Elemente

Nach weiteren Millionen von Jahren schrumpft dieser Stern langsam       formierte Überreste längst vergangener Sonnen. Faszinierend die
zu einem Weissen Zwerg. Wenn die Sonne dieses Stadium erreicht          Vorstellung, dass Menschen, die dieses bulletin gerade lesen, ja
hat, besitzt sie etwa noch die halbe Masse der heutigen Sonne,          selbst die Teleskope, mit denen sie die Sterne beobachten, und letzt-
ist jedoch nur noch etwa so gross wie unsere Erde. Den Rest der         lich das gesamte Baumaterial der Erde aus vergangenem Stern-
Materie hat sie im Riesenstadium in den Weltraum abgegeben.             material bestehen. Wir sind im Wortsinne «Kinder des Weltalls»!
    Weisse Zwerge haben eine mittlere Dichte von etwa einer Tonne           Hier wird die faszinierende Intelligenz sichtbar, die im Universum
pro Kubikzentimeter. In ihnen finden keine Kernverschmelzungs-          offensichtlich ziemlich zielgerichtet auf das Leben «hinarbeitet ». Aus
prozesse mehr statt, sodass sie in einem Zeitraum von mehreren          Unmengen an Wasserstoff bildeten sich durch geringfügige Dichte-
Milliarden Jahren langsam auskühlen.                                    schwankungen und den Einfluss der Gravitation Galaxien und Ster-
    Sterne mit bis zu vierfacher Sonnenmasse machen eine ähnliche       ne. Hätte sich der Wasserstoff völlig gleichmässig verteilt, gäbe es
Entwicklung durch wie die Sonne, allerdings viel schneller. Je mas-     uns heute nicht. Die «sehr grossen Sonnen» verbrannten sehr schnell
sereicher ein Stern ist, umso kürzer ist seine Lebensdauer. Der Stern   und lieferten dadurch die Bausteine, die für einen weiteren Aufbau
Sirius zum Beispiel erreicht mit etwa zwei Sonnenmassen nur un-         des Universums unbedingt notwendig waren. Nach einigen Stern-
gefähr ein Zehntel des Alters unserer Sonne. Sehr massereiche           generationen gab es im Weltall auch schwerere Elemente als Was-
Sterne existieren sogar «nur » einige Millionen Jahre, was nach kos-    serstoff und Helium – unter anderem auch Kohlenstoff und Silizium,
mologischen Massstäben sehr kurz ist.                                   die auf unserer Erde für die Entstehung des Lebens eine wichtige
                                                                        Rolle spielen. Schliesslich braucht es gelbe, kleine Sonnen wie die
Sternenreste als Baumaterial
                                                                        unsrige, die eine genügend lange Lebensdauer haben und ein Pla-
Sehr massereiche Sterne haben zwar eine kurze Lebensdauer – sie         netensystem besitzen. In diesem Planetensystem muss es zudem
erfüllen jedoch eine ganz wichtige Funktion im Kosmos: Sie produ-       einen Planeten mit dem passenden Abstand zur Muttersonne geben.
zieren die schweren chemischen Elemente. Im Verlauf ihrer Entwick-      Er darf nicht zu nahe oder zu weit von dieser entfernt sein. Ausser-
lung werden sie zu Roten Überriesen und im Kernbereich so heiss,        dem muss er die richtige Atmosphärendichte und -zusammensetzung
dass die Kernverschmelzung weit über das «Heliumbrennen» von            haben, weil sonst entweder ein Backofenklima wie auf der Venus
sonnenähnlichen Sternen hinausgeht. So entsteht eine Kettenreak-        oder eine ewige Eiszeit wie auf dem Mars herrschen dürfte. Unter
tion, in der immer schwerere Elemente produziert werden. Nachdem        diesen Voraussetzungen können die uns heute bekannten Lebens-
der Stern Siliziumkerne zu Eisenkernen verschmolzen hat, endet          formen entstehen, falls zudem noch genügend Wasser in geeigneter
die Energieproduktion, und der Kern fällt in sich zusammen. Dabei       Form (flüssige Ozeane) vorhanden ist.
stösst er seine äusseren Bereiche explosionsartig ab, was zu einem          Rein statistisch betrachtet sind die 13 Milliarden Jahre, seit denen
gigantischen kosmischen Feuerwerk von unvorstellbarem Ausmass           der Kosmos besteht, für eine völlig zufällige Entstehung des Lebens
führt – einer Supernova. Der Stern kann dabei die Leuchtkraft von       viel zu kurz. Mit anderen Worten: Das hoch entwickelte Leben ent-
Milliarden normaler Sonnen annehmen und so viel Materie in den          stand praktisch in der kürzest möglichen Zeit. Auch wenn es auf den
Raum schleudern, wie für etliche Exemplare unseres Sonnensystems        ersten Blick scheint, dass sich unsere Erde in einem kalten, lebens-
notwendig wäre. Für Beobachter auf der Erde wird der Stern plötz-       feindlichen Universum befindet, das so gross ist, dass wir uns viel-
lich so hell, dass er seine ganze Galaxie überstrahlt, auch wenn er     leicht verloren vorkommen – es ist genau umgekehrt.
vorher für uns gänzlich unsichtbar war. Es scheint dann, als ob ein
                                                                        Das Universum ist auf Leben programmiert
neuer Stern aus dem Nichts entstanden wäre. Deshalb bezeichnet
man das plötzliche Aufleuchten eines sternähnlichen Objekts als         Das Universum scheint darauf programmiert zu sein, in immerwäh-
Nova, ein ganz grosses derartiges Ereignis sogar als Supernova.         renden Zyklen von Werden und Vergehen von Abermilliarden Sonnen
    Während einer Supernova-Explosion herrschen Bedingungen,            eine immer höhere Ordnung der Materie zu schaffen, die zuerst pri-
unter denen auch schwerere Elemente als Eisen entstehen können.         mitives Leben und schliesslich die höheren Lebensformen entstehen
Dabei werden auch so «exotische» Atome wie Gold oder Uran pro-          liess. Mehrere Generationen von Sternen mussten geboren werden
duziert, die ja ebenfalls auf unserer Erde vorkommen. Mit dieser gi-    und wieder sterben, damit diejenigen Materialien entstehen konnten,
gantischen Explosion werden die neu entstandenen Elemente in den        die auf unserer Erde vorkommen und aus denen wir letztendlich
Weltraum hinausgeschleudert, wo sie sich mit anderen Gaswolken          selbst gebaut sind.
wieder vermischen und später zum Aufbau von neuen Sonnen und                Die Frage nach dem Warum scheint das menschliche Denkver-
Planeten «verwendet » werden. Alle Elemente, die auf unserem Pla-       mögen zu sprengen. Egal ob diese Kraft Gott, höhere Intelligenz,
neten vorkommen, wurden in Sternen und Supernovae «ausgebrütet ».       Schöpfer oder wie auch immer genannt wird – für menschliche Be-
Unsere menschlichen Körper bestehen buchstäblich aus verglühtem         griffe wird die Entstehung des Lebens im Universum das faszinie-
Sternenstaub – oder anders ausgedrückt: Unsere Körper sind trans-       rendste Wunder bleiben, das je stattgefunden hat ! <

bulletin 1/11 Credit Suisse
Flora und Fauna Herkunft               29

Ein Kommen
und Gehen
Seit zwei Millionen Jahren herrscht in der Schweizer Tier- und Pflanzenwelt ein stetes
Kommen und Gehen. Ohne Zuwanderung sähe die Landschaft erbärmlich aus. Selbst das
Edelweiss ist ursprünglich keine Alpenpflanze, sondern ein Kind der asiatischen Steppe.

Text: Mathias Plüss

Mit den Pflanzen und Tieren ist es wie mit den Menschen: Wenn man      Die Temperaturunterschiede waren dabei in Mitteleuropa so gross,
nur weit genug zurückschaut, sind alle Ausländer.                      dass mit dem Klimawechsel jeweils auch die Tier- und Pflanzenwelt
   Selbst die Alpen, für viele Schweizer Inbegriff von Heimat, sind    zu einem grossen Teil ausgetauscht wurde. In Kaltzeiten verschwand
fast ausschliesslich von Einwanderern besiedelt. Als sie sich vor      der Wald, und auf die eisfreien Flächen wanderten Tundra- und Step-
25 bis 35 Millionen Jahren auffalteten, bekamen sie Zustrom von        penarten ein, die ihr Kerngebiet in Osteuropa und Sibirien hatten.
älteren Gebirgen: Alpenrose, Primel und Enzian etwa wanderten aus      Dahin zogen sie sich in Warmzeiten auch wieder zurück. Dafür
asiatischen Berggebieten in die Alpen ein – Krokus, Margerite und      wurde Mitteleuropa dann jeweils von Tieren und Pflanzen wiederbe-
Narzisse aus dem Mittelmeerraum.                                       siedelt, die im Mittelmeergebiet «überwintert » hatten. Jeder Klima-
   Dabei ist die Artenzusammensetzung der Hochalpen noch ver-          wechsel war also von gewaltigen Migrationsströmen begleitet.
gleichsweise stabil. Ungemein stärker waren die Umwälzungen, die          Manche Art blieb bei den Wanderungen auf der Strecke. Die
Flora und Fauna des voralpinen Raumes erlebt haben: Es herrschte       grossen europäischen Gebirge (Pyrenäen, Alpen, Karpaten) verlau-
ein ständiges Kommen und Gehen, angetrieben von Klimaänderungen        fen von West nach Ost und erschweren die Rückwanderung von
und zuletzt von menschlichen Eingriffen. «So etwas wie ein Urzustand   Süden her. Mit jedem Wechsel von warm zu kalt oder umgekehrt
unserer Umwelt lässt sich nicht definieren», sagt der Münchner Zoo-    gingen daher Arten verloren – deshalb hat Europa heute eine
loge Josef Reichholf. «Die Entwicklung war stets sehr dynamisch.»      verhältnismässig arme Flora. In Nordamerika (wo die Gebirge in
                                                                       Nord-Süd-Richtung verlaufen) gibt es mehr als 20 Eichenarten,
Ein ständiges Hin und Her zwischen Kalt- und Warmzeiten
                                                                       in Europa nur 4.
Das prägendste Ereignis vor dem Auftreten des Menschen waren
                                                                       Löwen und Leoparden im Mittelland
die Eiszeiten. Für die Tiere und Pflanzen bedeuteten sie eine Katas-
trophe: Sechzig Millionen Jahre lang war es stabil warm gewesen – Manchmal brachte der Klimawechsel aber auch Bereicherungen: Das
dann rückten vor zwei Millionen Jahren plötzlich die Gletscher vor. Edelweiss, ursprünglich ein zentralasiatischer Hochsteppenbewoh-
Nun folgte ein stetes Hin und Her zwischen langen Kalt- und kurzen ner, kam wahrscheinlich erst in der letzten Eiszeit ins europäische
Warmzeiten; die vorläufig letzte Kaltzeit ging bei uns erst vor 12 000 Tiefland. Als es wieder wärmer wurde, zog es nicht in die Steppe
Jahren zu Ende.                                                        zurück, sondern kroch die Berge hoch. Auch die charismatischste >

                                                                                                                          Credit Suisse bulletin 1/11
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