II. Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren
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Flüchtlinge im Verschiebebahnhof EU Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren 9 II. Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren Sowohl der Europäische Flüchtlingsrat ECRE10 als auch UNHCR11 haben die Praxis der Dub- lin-Ver fahren EU-weit evaluiert und im Frühjahr 2006 das Ergebnis der Öffentlichkeit vorgelegt. Anlass der Evaluierung war eine parallel von der EU-Kommission durchgeführte Untersuchung (siehe zu den Ergebnissen der Kommission Kapitel III). Die Studien von ECRE und UNHCR ziehen Foto: José Palazón Osma insgesamt eine kritische Bilanz: In Europa werden aufgrund von Dublin II immer mehr Asyl- suchende inhaftiert und abgeschoben. Folter- opfer werden in EU-Länder zurückgeschickt, auch wenn dort keine adäquaten sozialen Auf- nahmebedingungen und keine ausreichenden medizinischen und therapeutischen Behand- lungsmöglichkeiten existieren. Viele Staaten machen kei- Chancen für ihre Zukunft sehen, ziehen es viele Flüchtlinge nen Gebrauch vom Selbsteintrittsrecht und von der huma- vor, sich »illegal« durchzuschlagen. Dies birgt hohe Risiken nitären Klausel, um die schlimmsten Folgen von Dublin II für Schutzsuchende. Werden sie aufgegriffen, droht ihnen zu mildern. Stattdessen wenden sie diese besonderen Be- die sofortige Abschiebung. stimmungen der Zuständigkeitsverordnung inkonsistent Nach Einschätzung des Hungarian Helsinki Committee oder überhaupt nicht an. Zudem informieren viele Mitglied- (HHC) meiden viele Flüchtlinge eine Registrierung in Un- staaten Asylsuchende nicht über die Anwendung der Ver- garn und versuchen das Land »illegal« zu passieren, in der ordnung und deren Konsequenzen. Dazu verdeutlichen die Hoffnung in einem westeuropäischen Land einen Asylan- Studien, dass es vielen Asylsuchenden praktisch unmög- trag stellen zu können. Wie in Ungarn führt die Verordnung lich ist, Rechtsmittel gegen einen Dublin-Bescheid einzu- in der Tschechischen Republik und Slowakei dazu, dass legen. Flüchtlinge sich nicht registrieren lassen.12 Ebenso ver- Diese Trends decken sich mit den Er fahrungen, die suchen Flüchtlinge, die über Griechenland in die EU einrei- PRO ASYL im Rahmen seines Europaprojektes gesammelt sen, eine Registrierung zu vermeiden. Denn die griechische hat. Insgesamt beurteilt PRO ASYL das Dublin-Zuständig- Grenzpolizei betrachtet alle Aufgegriffenen als »illegale keitssystem als unfair, inhuman, ineffizient, ressourcenin- Einwanderer«. Auch Asylsuchende werden regelmäßig in- tensiv. Europa braucht einen völlig anderen Solidaritäts- haftiert.13 Um dies zu vermeiden, versuchen Flüchtlinge, mechanismus bei der Flüchtlingsaufnahme und nicht ein möglichst ohne sich als Asylsuchende zu erkennen zu ge- System, das vor allem die Verantwortung abschiebt. ben, einzureisen und in ein anderes europäisches Land weiterzureisen, in dem die Situation vergleichsweise bes- ser ist. 1. Abdrängen in die Illegalität Die Dublin II-Verordnung verbietet es Flüchtlingen, sich 2. Rechtswidrige Rücküberstellungen den Staat, in dem sie ein Asylver fahren durchlaufen wol- len, selbst auszusuchen. In der Praxis führt dies zu einer Teilweise werden Asylsuchende ohne Prüfung der Dublin II- Illegalisierung der Flüchtlinge. Um nicht in das Asylverfah- Verordnung an der Grenze zurückgewiesen. Die wenigen ren eines Staates gedrängt zu werden, in dem sie keine Schutznormen der Dublin II-Verordnung, z.B. zugunsten 10 ECRE, Report on the Application of the Dublin II Regulation 12 Ergebnisse des Informations- und Kooperationsprojekts, in Europe, March 2006 siehe www.proasyl.de 11 UNHCR, The Dublin II Regulation – A UNHCR 13 PRO ASYL, »The truth may be bitter, but it must be told«, Discussion Paper, April 2006 Über die Situation von Flüchtlingen in der Ägäis und die Praktiken der griechischen Küstenwache, 2007
10 Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren Flüchtlinge im Verschiebebahnhof EU 3. Kein Zugang zum Asylverfahren Familie B. aus dem Irak: Getrennt im Schnellverfahren: Obwohl das Europäische Asylsystem eigentlich den Zu- gang zum Asylver fahren garantiert, führt das Dublin-Sy- Frau B. und ihre Kinder wollten zu ihrem Mann, der als stem in der Praxis dazu, dass Flüchtlinge nach ihrer Rück- anerkannter Flüchtling aus dem Irak in Deutschland lebt. überstellung in dem zuständigen Mitgliedstaat aus dem Als sie versuchten, über Tschechien nach Deutschland ein- Asylverfahren herausfallen. Entweder bekommen die Asyl- zureisen, wurden sie unmittelbar nach Ankunft wieder suchenden nur noch ein Verfahren unter erschwerten Be- nach Tschechien zurückgeschoben. Dieses Vorgehen war dingungen. Das heißt, sie werden behandelt, als würden offensichtlich rechtswidrig. Nach der Dublin II-Verordnung sie bereits zum zweiten Mal einen Asylantrag stellen (Asyl- haben sie ein Recht auf Familieneinheit mit Herrn B. folgeantrag). Dann müssen sie neue Fakten vorbringen So werden Fakten geschaffen, die für die Betroffenen nur oder neue Beweismittel einbringen. Oder aber es wird schwer wieder rückgängig zu machen sind. PRO ASYL ihnen de facto der Zugang zum Verfahren verweigert, wie schaltete unmittelbar nach der Abschiebung die Partner- es besonders in Griechenland zu beobachten ist. Die zu- organisation OPU in Prag ein. Die OPU-Mitarbeiter be- ständige Polizeistation in Athen, in der über 90 % aller suchten Frau B. sofort im Flüchtlingslager, in das man sie Asylanträge eingereicht werden, ist mit der Zahl der An- geschafft hatte. Im engen Kontakt mit PRO ASYL konnte träge heillos überfordert. Nach Angaben der griechischen erreicht werden, dass die Familie nun ein Verfahren in Regierung existieren derzeit 40.000 unbearbeitete Asylan- Tschechien erhielt, in dem ihr Anspruch auf Familienein- träge. Täglich kommen 200 bis 250 neue Asylanträge hin- heit überprüft wird. Dies wurde ihnen in Deutschland vor- zu. Es bestehen jedoch nur Kapazitäten für ca. 100 Regi- enthalten. Letztlich wurde festgestellt, dass Frau B. und die strierungen pro Tag. Das heißt, dass zu den 40.000 un- Kinder der Eheleute B. einen Anspruch haben, in Deutsch- bearbeiteten Asylanträgen täglich über 100 neue dazu land ihr Asylverfahren zu durchlaufen. Monate später sind kommen. Ohne Registrierung findet jedoch keine Anhö- Frau B. und die Kinder wieder zurück in Deutschland. rung und auch keine Prüfung der Schutzbedürftigkeit statt. Der Fall der Familie B. zeigt: Selbst die wenigen Rechte, die Der Zugang zum Asylver fahren wird auf diesen Wege de Flüchtlinge im Dublin II-Verfahren haben, werden missach- facto verweigert. tet. Familien werden auseinandergerissen – unter Aushebe- Zudem werden neu ankommende Flüchtlinge regelmäßig lung der Dublin II-Verordnung. inhaftiert. Dolmetscher, Rechtsberatung etc. sind dort gar nicht oder unzureichend vorhanden.14 Unter diesen Bedin- gungen ist ein effektiver Zugang zum Asylver fahren nicht von Familien oder Minderjährigen, werden in diesen Fällen gewährleistet.15 Hinzu kommt, dass die Anerkennungs- missachtet. Auch wenn ein Anspruch auf Familieneinheit quote gegen Null tendiert – für Iraker lag sie im Jahr 2006 vorliegt, kann dieser nicht geltend gemacht werden. Statt bei 0 %.16 UNHCR fordert die EU-Staaten auf, großzügig der Dublin II-Verordnung wenden Grenzbeamte bilaterale von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen und so Rückübernahmeabkommen an, ohne die Zuständigkeits- Abschiebungen nach Griechenland zu vermeiden.17 kriterien der Dublin II-Verordnung zu beachten. Diese Pra- xis verstößt gegen den Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Trotz der Kritik hält Deutschland an der Rücküberstellungs- Die Dublin II-Verordnung geht bilateralen Rückübernahme- praxis nach Griechenland fest (Stand: Ende Februar 2008). abkommen vor. Wird dies missachtet, so liegt ein europa- Das Bundesinnenministerium behauptet, keinerlei Er- rechtswidriges Verhalten des entsprechenden Mitglied- kenntnis über die Missstände der in Griechenland prakti- staats vor. zierten Asylver fahren zu haben.18 Auf Druck von PRO Auch aus Deutschland werden Fälle berichtet, in denen ASYL hat das Bundeinnenministerium Anfang 2008 ledig- die Asylanträge von Flüchtlingen erst gar nicht entgegenge- lich zugestanden, dass keine unbegleiteten minderjähri- nommen wurden und die Asylsuchenden sofort zurückge- gen Flüchtlinge mehr im Rahmen des Dublin-Ver fahrens schoben wurden. nach Griechenland überstellt werden. 14 PRO ASYL, »The truth may be bitter, but it must be told«, 17 UNHCR, Die Rückführung von Asylsuchenden nach Über die Situation von Flüchtlingen in der Ägäis und die Griechenland vor dem Hintergrund des »Abbruchs« von Praktiken der griechischen Küstenwache, 2007. Asylverfahren, Juli 2007 15 UNHCR Athen, Mitteilung vom 2. Oktober 2007. 18 BT Drs. 16/7216 16 Bericht der Delegation des LIBE-Ausschusses des Europäischen Parlaments über den Besuch in Griechenland (Samos und Athen), 2.7.2007.
Flüchtlinge im Verschiebebahnhof EU Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren 11 Aber nicht nur in Griechenland kommt es zum Ausschluss vom Ver fahren. Auch in anderen Mitgliedstaaten wird es Der kurdische Oppositionelle Mehmet A. den Asylsuchenden nahezu unmöglich gemacht, ihr ur- Die griechische Abbruchpraxis drängt sprüngliches Asylver fahren nach ihrer Rücküberstellung Flüchtlinge aus dem Verfahren wieder aufzugreifen. Sie können teilweise keine Rechts- mittel gegen den (zumeist ablehnenden) Asylbescheid Istanbul, September 1995: Nachdem drei Mitglieder einer mehr einlegen. oppositionellen Partei in der Haft getötet wurden, nimmt Mehmet A. an einer Protestdemonstration teil. Er wird fest- genommen, zu einer Wache gebracht und verprügelt. Man schlägt ihn so lange, bis er ein belastendes Papier unter- Abbruch der Asylverfahren in Griechenland: schreibt. Drei Monate später erfolgt die erneute Festnahme. Beamte in Zivil verbinden Herrn A. die Augen und bringen ihn Seit Anfang des Jahres 2004 haben griechische Behörden an einen unbekannten Ort. Dort wird er geschlagen und mit die Prüfung von Asylanträgen der Asylsuchenden verweigert, den Armen an einer Stange aufgehängt. Man quält ihn mit die aufgrund der Dublin II-Verordnung nach Griechenland Stromstößen und Scheinerschießungen. Anfang 1996 wird überstellt worden waren. Die juristische Basis solcher Ab- der Kurde in ein anderes Gefängnis überführt. Dort erfährt bruchsentscheidungen war Artikel 2(8) eines Präsidenten- er, dass er zu 12 Jahren Haft verurteilt ist. erlasses. Dieser erlaubte dem Ministerium für Öffentliche Ordnung, die Prüfung von Asylgesuchen zu »unterbrechen« Im Frühling 2001 kommt Mehmet A. nach einem Hunger- (faktisch: abzubrechen), wenn der Asylbewerber »willkürlich streik vorübergehend frei. 40 Tage liegt er im Krankenhaus. den zugewiesenen Wohnsitz verlässt«. Wenn die Betroffenen Danach schließt er sich einer Gruppe an, die gegen die aufgrund von Dublin II nach Griechenland zurückgeschoben inhumane Behandlung von Oppositionellen durch den türki- wurden, wurde ihnen der erneute Zugang zum Verfahren schen Staat protestiert. Als die Polizei bewaffnet gegen die verweigert. Die griechischen Behörden haben den Abbruch Demonstranten vorgeht, wird Herr A. angeschossen. des Asylverfahrens noch vor der Abschiebung der betroffe- nen Person nach Griechenland bekannt gegeben. Bei An- Oktober 2002: Mehmet A. erfährt, dass er in einem er- kunft in Griechenland wurde den überstellten Asylsuchen- neuten Verfahren zu einer weiteren langjährigen Haftstrafe den mitgeteilt, dass ein »Abbruchsentscheid« zusammen verurteilt wurde. Er flieht nach Griechenland und stellt dort mit einem Abschiebungsbescheid vorliegt. Die Betroffenen einen Asylantrag. Als dieser abgelehnt wird, erhebt Herr A. wurden direkt in Abschiebehaft genommen. Die Kommission Klage. Als er die Nachricht erhält, dass andere Kurden in hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland die Türkei abgeschoben wurden, flieht er im Sommer 2004 eingeleitet. Daraufhin hat sich Griechenland im November nach Deutschland. Obwohl Herr A. in seiner Anhörung alle 2006 verpflichtet, die kritisierte Praxis einzustellen. Eine ge- erlittenen Verfolgungen glaubhaft vorbringt, erklären sich setzliche Garantie der Wiederaufnahme des Asylverfahrens die deutschen Behörden aufgrund von »Dublin II« für nicht nach der Rücküberstellung gibt es jedoch bis heute nicht. zuständig. Mehmet A. wird zurück nach Griechenland ge- Der Zugang zum Asylverfahren ist nach wie vor ein großes bracht. Dort wird er umgehend inhaftiert. Es droht die un- Problem. In Österreich, Finnland, Frankreich, Italien, den mittelbare Abschiebung in die Türkei. PRO ASYL setzt sich Niederlanden, Norwegen und Schweden wurden erfolgreiche mit dem griechischen Flüchtlingsrat in Athen in Verbindung. Klagen gegen die Zurücküberstellung nach Griechenland Dieser interveniert bei den zuständigen Behörden und leitet eingereicht.19 ein Klageverfahren ein. In letzter Minute wird dadurch die Abschiebung verhindert. 19 ECRE, Summary Report on the Application of the Dublin II Regulation in Europe, 2006, S. 6
12 Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren Flüchtlinge im Verschiebebahnhof EU Keine Wiederaufnahme des Verfahrens oder Abdrängen Ausschluss vom Rechtsschutz ins Folgeverfahren Problematisch sind auch die Fallkonstellationen, in denen Viele Staaten werten die Weiterreise in einen anderen EU- Flüchtlinge nach negativer Asylentscheidung in einen an- Staat als Rücknahme des Asylantrags. Derartige Fälle wur- deren Mitgliedstaat weitergereist sind, ohne Rechtsmittel den in Belgien, Frankreich, Irland, Italien, den Niederlan- gegen den Bescheid eingelegt zu haben. den, Slowenien und Spanien bekannt.20 Einige Staaten er- Werden sie aufgrund der Dublin II-Verordnung in den lauben nach Rückkehr des Flüchtlings nicht, dass das ersten Staat zurücküberstellt, sind die Rechtsmittelfristen Ver fahren wieder aufgenommen wird. Die Asylsuchenden in der Regel abgelaufen. Eine Wiedereröffnung des Ver- können nur noch Asylfolgeanträge stellen. Solche Folge- fahrens wird zumeist nicht gestattet, weil der Asylbewer- verfahren sehen jedoch wesentlich höhere Hürden für die ber nicht rechtzeitig in den zuständigen Mitgliedstaat zu- Begründung des Asylantrags vor als Erstver fahren. Der rückgekehrt ist. Diese Praxis existiert zum Beispiel in Asylsuchende muss neue Tatsachen oder Umstände vor- Schweden, Deutschland und Litauen. Spanien hingegen bringen können, die seine Ver folgungsgefahr begründen. hat die Fristen für das Einreichen von Rechtsmitteln ausge- Aber derartige neue Tatsachen oder Beweise liegen natur- dehnt. 22 gemäß in der Regel nicht so kurz nach der Einreise vor. Mit Sind die Flüchtlinge auf Folgever fahren verwiesen, ha- dem Verweis auf die Folgeverfahren werden Flüchtlinge de ben sie nicht nur das Problem, neue Beweise oder Tatsa- facto von einem fairen Asylver fahren ausgeschlossen. chen vortragen zu müssen. In vielen Mitgliedstaaten wird Das Ergebnis wird in der Regel eine negative Entscheidung zudem ein beschleunigtes Ver fahren angewandt und die sein. Diese Praxis gibt es in Belgien, Ungarn, den Nieder- Rechtsmittel haben keine aufschiebende Wirkung. Ohne landen, Slowenien, Schweden und in Großbritannien. In aufschiebende Wirkung können die Asylbewerber noch Irland werden Asylverfahren nur nach Ermessen des Justiz- während des laufenden Verfahrens abgeschoben werden. ministers wieder eröffnet.21 Die Folge eines solchen Ausschlusses vom Asylverfah- ren ist, dass die Schutzbedürftigkeit der Betroffenen nicht 4. Fehlender Rechtsschutz festgestellt wird. Ihnen droht dann die Abschiebung in den Verfolgerstaat. Eine solche Rückführung in den Verfolger- Der Rechtsschutz gegen Dublin II-Entscheidungen ist in staat verletzt die Genfer Flüchtlingskonvention. den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ausgestaltet. Positiv festzustellen ist, dass in manchen Mitgliedstaa- ten Rechtsschutz gegen eine Überstellung nach Griechen- UNHCR-Studie land gewährt wurde, weil dort der Schutz vor Abschiebung in den Verfolgerstaat nicht gewährleistet ist. Eine derarti- »Prüfung von Asylanträgen: Einige Mitgliedstaaten ge Rechtsprechung ist in Österreich, Finnland, Frankreich, führen keine vollständige und faire Prüfung der Asylanträge den Niederlanden, Slowenien, Schweden und Großbritan- durch, die von Personen gestellt werden, die nach den nien vorzufinden.24 Entsprechende Verwaltungsentschei- Regeln der Dublin II-Verordnung auf ihr Territorium zurück- dungen gab es in Italien und Norwegen. Äußerst problema- gekehrt sind. Dies gibt Anlass zu großer Sorge. Alle Mitglied- tisch ist hingegen, dass andere Mitgliedstaaten faktisch staaten sind dem Grundsatz des »non-refoulement« ver- gar keine Überprüfung zulassen, ob in dem zuständigen pflichtet. Es sollte für Mitgliedstaaten kein Spielraum be- Mitgliedstaat Flüchtlingsschutz effektiv gewährt wird. Zu stehen, sich dieser Verpflichtung dadurch zu entziehen, dass diesen Mitgliedstaaten gehört insbesondere auch Deutsch- sie bestimmte Anträge nach Dublin II als implizit zurückge- land. Es ist kein Fall bekannt, bei der die Rücküberstellung nommen behandeln. Ebenso muss die Drittstaaten-Rege- z.B. nach Griechenland er folgreich mit dem Argument lung, wenn sie im Rahmen eines Dublin-Verfahrens heran- mangelnden Schutzes angefochten worden ist. gezogen wird, in voller Übersteinstimmung mit dem ›non- refoulement‹-Grundsatz und anderen festgelegten Schutz- standards angewandt werden.«23 20 ECRE, Summary Report on the Application of the Dublin II 23 UNHCR, »The Dublin II Regulation – A UNHCR Discussion Regulation in Europe, 2006, S. 6 Paper« Auszugsweise Übersetzung der UNHCR-Studie vom 21 ECRE, Summary Report on the Application of the Dublin II April 2006, S. 9. Regulation in Europe, 2006, S. 7 24 ECRE, Summary Report on the Application of the Dublin II 22 ECRE, Summary Report on the Application of the Dublin II Regulation in Europe, 2006, S. 21 Regulation in Europe, 2006, S. 7
Flüchtlinge im Verschiebebahnhof EU Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren 13 Aufschiebende Wirkung/Einstweiliger Rechtsschutz UNHCR-Studie In der Dublin II-Verordnung werden die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, die Rücküberstellungen auszusetzen so »Rechtsschutz: Asylsuchenden sollte ein effektiver lange ein Rechtsstreit über die Zuständigkeitsentschei- Rechtsschutz gegen Überstellungsentscheidungen offen ste- dung bei Gericht anhängig ist. Rechtsmittel müssen also hen. Dieser sollte das Recht beinhalten, die Herstellung der keine aufschiebende Wirkung haben, d.h. Flüchtlinge kön- aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels zu beantragen, nen während des laufenden Rechtsmittelverfahrens über- falls der Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung hat. stellt werden. Dem Antragsteller sollte der Aufenthalt auf dem Gebiet eines Folge davon, dass hier keine bindenden Vorgaben sei- Mitgliedstaates zumindest so lange erlaubt sein, bis über tens der EU gemacht wurden, ist, dass außer Portugal alle den Antrag auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung ent- Mitgliedstaaten die aufschiebende Wirkung von Rechts- schieden ist. Dies ist von besonderer Bedeutung, da die be- mitteln bei Dublin II-Verfahren ausgeschlossen haben. stehenden Unterschiede in der Auslegung der Flüchtlings- Zwar können in manchen Ländern Anträge auf einstwei- definition durch die Mitgliedstaaten und bei der möglichen ligen Rechtsschutz gestellt werden. Solche Anträge kön- Anwendung der Drittstaaten-Regelung gravierende Auswir- nen im Einzelfall die aufschiebende Wirkung wieder her- kungen auf die Asylsuchenden haben können.«25 stellen. In Deutschland jedoch hat die überwiegende Rechtsprechung sogar den einstweiligen Rechtsschutz ge- nerell ausgeschlossen. Nun hat der Gesetzgeber diesen tern, dass das Ver fahren in deutscher Sprache betrie- Ausschluss ins Gesetz geschrieben (§§ 34a, 27a AsylVfG). ben werden muss. Mit wessen Hilfe soll er, zum Bei- Nur ausnahmsweise wird der einstweilige Rechtsschutz spiel von Griechenland aus, das deutsche Verwaltungs- aus ver fassungsrechtlichen Gründen zugelassen. Wenn gericht überzeugen? Die Möglichkeit, das Verfahren vom es um »inländische Vollstreckungshindernisse« geht, also Ausland zu betreiben, ist vollkommen unrealisitsch. zum Beispiel wegen Krankheit keine Reisefähigkeit be- steht, muss das Gericht den Eilantrag zulassen. Zustellung des Dublin-Bescheides In der Regel können in Deutschland Asylbewerber ihre Rücküberstellung in den anderen EU-Staat nicht verhin- Der Rechtsschutz wird teilweise auch dadurch verunmög- dern. Das Fehlen von effektivem Eilrechtsschutz hebelt licht, dass der Bescheid über die Zuständigkeit eines an- die rechtsstaatliche Kontrolle von Dublin II-Entscheidun- deren Mitgliedstaates erst unmittelbar vor der Rücküber- gen insgesamt aus. Denn praktisch bedeutet dies: stellung oder gleichzeitig mit dieser übergeben wird. Mit der Zustellung des Bescheides werden die Personen zu- ■ Ist der Asylsuchende erst einmal abgeschoben, wird meist inhaftiert und innerhalb weniger Stunden abgescho- das Gerichtsverfahren zumeist eingestellt, obwohl eine ben. Diese Praxis verhindert, dass die Betroffenen noch Verhandlung noch gar nicht stattgefunden hat. Die Ver- rechtzeitig gegen den Dublin-Bescheid Rechtsmittel bei fahren scheitern an formellen Fragen. Bedingung, damit Gericht einreichen können. Die Betroffenen und die Anwäl- das Verfahren weiterbetrieben wird, ist eine ladungs- te wissen zumeist gar nicht, dass eine Rücküberstellung fähige Anschrift des Asylbewerbers. Nach der Rücküber- geplant ist und werden dann, wenn es soweit ist, hiervon stellung ist es dem Anwalt zumeist jedoch nicht mög- überrascht. lich, Kontakt zum Asylbewerber zu halten, so dass er Auch in Deutschland werden Dublin-Bescheide erst un- dem Gericht keine Anschrift mitteilen kann. Ergebnis: mittelbar vor der Abschiebung an den Asylbewerber über- Das Ver fahren ist beendet. Eine gerichtliche Kontrolle geben. Im Vergleich zum sonstigen Asylverfahren ist dies findet nicht statt. eine völlig untypische Zustellungsart. De facto wird so je- ■ Ohne Anwalt ist der rücküberstellte Flüchtling de facto der Versuch, Rechtsschutz zu erlangen, unterbunden. rechtlos. Selbst wenn er Unterlagen über sein deut- sches Ver fahren mitgenommen hat – oftmals geht die Abschiebung so schnell vonstatten, dass nicht einmal dazu genügend Zeit bleibt – , wird er schon daran schei- 25 UNHCR, »The Dublin II Regulation – A UNHCR Discussion 26 ECRE, Summary Report on the Application of the Dublin II Paper« Auszugsweise Übersetzung der UNHCR-Studie vom Regulation in Europe, 2006, S. 14 April 2006, S. 10.
14 Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren Flüchtlinge im Verschiebebahnhof EU 5. Trennung von Familien kann also auch noch während des Klagever fahrens zu- sammengeführt werden. Dies ist sinnvoll. Denn die Be- Die Regelungen über die Familieneinheit, die die Dublin II- grenzung der Familieneinheit auf die Phase bis zur erstin- Verordnung vorsieht, werden oftmals nicht angewandt. stanzlichen Entscheidung führt zu großen Ungerechtigkei- Aber nicht nur die Anwendungspraxis, auch die Regelungen ten. Die Dauer des Ver fahrens bis zur erstinstanzlichen selbst sind mangelhaft. Die Dublin II-Verordnung räumt ei- Entscheidung ist in den Mitgliedstaaten sehr unterschied- nen Anspruch auf Familieneinheit nur der Kernfamilie ein. lich und ist vom Flüchtling nicht zu beeinflussen. Es ist da- Ehen müssen zudem nach staatlichem Recht gültig sein. her willkürlich, eine solche Begrenzung auf die erstinstanz- Viele Asylbewerber sind jedoch nur nach religiösem Recht liche Entscheidung für die Familieneinheit zu definieren. verheiratet und gelten deswegen als ledig. Auch nichtehe- liche Lebensgemeinschaften werden nicht einbezogen in In Deutschland ist eine Ausweitung der Familienzusam- die Familienzusammenführung. Außerdem kann der An- menführung nicht zu beobachten. Viele Familien werden ge- spruch nur bis zum Abschluss der erstinstanzlichen Ent- trennt. Diese restriktive Praxis wirkt der Integration von scheidung geltend gemacht werden. Flüchtlingen entgegen, die maßgeblich durch die Unterstüt- zung von Familienmitgliedern positiv beeinflusst wird. In manchen Mitgliedstaaten wird die Familieneinheit nur dann hergestellt, wenn beide Ehepartner Flüchtlinge sind. In den Niederlanden wurden Fälle dokumentiert, in denen die Familienzusammenführung abgelehnt wurde, weil der 6. Abschiebungen von unbegleiteten in den Niederlande lebende Partner bereits eingebürgert Minderjährigen war, und damit nach der Logik der Behörden kein Flücht- ling mehr ist.26 Die Dublin II-Verordnung enthält spezielle Vorschriften zum Andere Staaten behindern die Familieneinheit dadurch, Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. dass sie übertrieben hohe Anforderungen aufstellen, die Zuständig für die Prüfung des Asylantrages eines unbeglei- Verwandtschaft nachzuweisen – wie zum Beispiel DNA- teten Minderjährigen ist der Staat, in dem ein Familienmit- Untersuchungen. glied des Kindes lebt, wenn dies im Interesse des Minder- Einige Staaten wenden die Familienregelungen großzü- jährigen liegt. Andernfalls soll die Prüfung in dem Staat giger als in der Verordnung vorgesehen an. In Belgien wird stattfinden, in dem der Antrag erstmalig gestellt wurde. abweichend von Art. 8 Dublin II-Verordnung die Familien- Die Untersuchungen von ECRE29 und UNHCR haben erge- einheit auch noch zu einem späteren Zeitpunkt als der ben, dass im Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen erstinstanzlichen Entscheidung zugelassen.27 Die Familie die Praxis in den Mitgliedstaaten besonders problema- tisch ist. Die Interessen des Minderjährigen werden nicht beachtet. UNHCR-Studie Ein Problem ist, dass die Familienangehörigen der Min- derjährigen sehr häufig gar nicht ermittelt werden. Befin- »Familieneinheit: Die Vorschriften, die die Zuständigkeit den sich Familienangehörige in einem anderen Mitglied- auf der Basis des Aufenthalts von Familienangehörigen im staat als die Minderjährigen, so werden die Minderjährigen Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates regeln, sollten über- hierüber oftmals nicht informiert. Es gibt auch Fälle, in arbeitet werden, um die volle Einhaltung des Rechts auf denen die eigene Angabe des Minderjährigen, dass er in Familienleben zu gewährleisten und eine einheitliche Rege- einem anderen Staat Familienangehörige hat, nicht in der lung zur Familienzusammenführung sicherzustellen. Eine Entscheidung berücksichtigt wird. großzügigere Interpretation des Begriffs »Familie« und des Ebenso problematisch ist, dass Mitgliedstaaten Min- Rechts auf Familienzusammenführung würde nicht nur derjährige an andere Mitgliedstaaten abschieben und ver- Härten für Asylsuchende verringern, sondern auch den staat- schweigen, dass sich tatsächlich ein Familienangehöriger lichen Interessen an einer einheitlichen Entscheidungspraxis im selben Staat aufhält. und der Verhinderung von Sekundärwanderungen dienen.«28 Im Gegensatz zu dieser familienfeindlichen Praxis gibt es nur wenige positive Gegenbeispiele. Die Behörden in 27 ECRE, Summary Report on the Application of the Dublin II 29 ECRE, Summary Report on the Application of the Dublin II Regulation in Europe, 2006, S. 14 Regulation in Europe, 2006, S. 11-12. 28 UNHCR, »The Dublin II Regulation – A UNHCR Discussion Paper« Auszugsweise Übersetzung der UNHCR-Studie vom April 2006, S. 10.
Flüchtlinge im Verschiebebahnhof EU Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren 15 Der minderjährige S. aus Eritrea – der Jugendliche aus dem Fenster. Dabei verletzt er sich so mit aller Macht vom Vater getrennt schwer, dass er mehrere Wochen im Krankenhaus verbringt. Trümmerbrüche und offene Wunden drohen zum Verlust eines Im Oktober 2003 flieht der 17-jährige S. aus Eritrea nach Beines zu führen. Dies hindert jedoch die Behörden nicht, die Deutschland. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Abschiebung des Jungen quasi auf der Krankenbahre zu voll- äußert der Jugendliche seine Bitte um Asyl und gibt gleich- ziehen. Im August 2004 findet sich S. in einem italienischen zeitig an, dass sein Vater sich in Deutschland aufhalte. Doch Flüchtlingslager wieder: Immer noch ohne seinen Vater und das Bundesamt fühlt sich für den 17-jährigen nicht zustän- auch ohne die dringend notwendige ärztliche Versorgung. dig. Italien soll den Asylantrag bearbeiten, da der Jugendliche über italienisches Territorium nach Deutschland gelangt ist. Weitere Wochen vergehen, in denen PRO ASYL sich gemein- Dieses Argument ist aber selbst nach der Dublin II-Verord- sam mit S.’ Vater, seinem Rechtsanwalt und dem in Deutsch- nung falsch. Denn danach wäre Deutschland für den Asylan- land behandelnden Arzt bei den verantwortlichen Stellen trag zuständig, weil S. noch minderjährig ist und sein Vater für eine Rückkehr des Jugendlichen einsetzt. Währenddessen rechtmäßig in Deutschland lebt. Auch humanitäre Gründe, verschlechtert sich die gesundheitliche und psychische aufgrund derer das Bundesamt freiwillig die eigene Zustän- Situation des jungen Eritreers zusehends. Nach einem Vater- digkeit für das Asylverfahren erklären kann, will das Bundes- schaftstest und einem Antrag auf Familienzusammenführung amt nicht sehen. erhält S. im Dezember 2004 schließlich doch noch die Ein- reisegenehmigung nach Deutschland, kurz danach endlich Acht Monate vergehen, in denen S. wie ein erwachsener Asyl- auch eine Aufenthaltserlaubnis. Damit hat ein europäisches bewerber in einem Flüchtlingslager untergebracht ist, wäh- Verfahren der abgeschobenen Verantwortung ein Ende ge- rend der Vater sich um ein Aufenthaltsrecht für seinen Sohn funden. Für die Betroffenen ist dieses Ende freilich nicht nur bemüht. Statt dessen stehen eines Nachts Polizisten an S.’ glücklich: S. wird eine dauerhafte Gehbehinderung davon- Tür. Die Abschiebung nach Italien steht an. Im Schock springt tragen. Litauen kooperieren mit dem Roten Kreuz, das EU-weit 7. Keine Prüfung humanitärer Gründe nach Familienmitgliedern der Minderjährigen sucht. Eine ähnliche gute Praxis ist aus Polen bekannt, wo die Behör- Die so genannte humanitäre Klausel ermöglicht es, aus den unbegleitete Minderjährige unterstützen, Familienmit- humanitären Gründen die Familieneinheit herzustellen glieder in anderen Mitgliedstaaten ausfindig zu machen. (Art. 15). Dies ist auch dann möglich, wenn der Asylbewer- Auch in Norwegen und Finnland wird das Dublin II-Ver- ber keinen Anspruch auf Familienzusammenführung hat, fahren den Interessen des Kindes angepasst. Unbegleite- etwa weil es sich um einen entfernteren Verwandten han- te Minderjährige werden an andere Mitgliedstaaten nur delt oder das Asylverfahren schon weiter vorangeschritten überstellt, um sie mit ihrer Familie zusammenzuführen. ist. Dann kann durch die humanitäre Klausel eine Famili- Sie werden jedoch nicht überstellt, wenn sie bereits in ei- entrennung vermieden bzw. wieder aufgehoben werden. nem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt ha- Die ECRE-Studie hat ergeben30, dass Österreich, die ben (was nach Artikel 6 der Dublin II-Verordnung zulässig Tschechische Republik, Finnland, Italien, die Niederlande wäre). und Spanien die humanitäre Klausel anwenden, wenn z.B. Deutschland folgt diesem positiven Beispiel bislang eine Zurückweisung einen Verstoß gegen Artikel 8 der Eu- nicht. Das Bundesamt ordnet die Abschiebung von unbe- ropäischen Menschenrechtskonvention beinhalten würde, gleiteten Minderjährigen in andere EU-Staaten an, wenn eine Überstellung auf der Grundlage der Zuständigkeitsre- sie zuvor in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gelung kranken oder alten Menschen aus gesundheitli- gestellt haben. Es trennt Minderjährige sogar von den in chen Gründen nicht zu zumuten ist oder um eine Familien- Deutschland lebenden Eltern. trennung zu verhindern. Italien wendet zusätzlich die hu- manitäre Klausel bei schwangeren Frauen und Frauen mit 30 ECRE, Summary Report on the Application of the Dublin II Regulation in Europe, 2006, S. 15.
16 Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren Flüchtlinge im Verschiebebahnhof EU neugeborenen Kindern an, so dass diese nicht abgescho- ben werden. Griechenland, Polen und Portugal haben an- 8. Keine Anwendung des dere Mitgliedstaaten gebeten, die Zuständigkeit für Asyl- Selbsteintrittsrechts anträge aus humanitären Gründen zu übernehmen, aber die angefragten Staaten lehnten dies gewöhnlich ab. Die- Eine weitere Bestimmung der Dublin II-Verordnung er- se Verweigerungshaltung ist sehr enttäuschend. Sie lässt möglicht es, dass die Mitgliedstaaten nach humanitären jede Solidarität zwischen den EU-Staaten vermissen. Gesichtspunkten entscheiden, ohne bestimmte Fallkon- stellationen vorzugeben. Nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin II- Besonders in Belgien, Frankreich, Deutschland, Irland, Verordnung können die Mitgliedstaaten Asylanträge selbst Luxemburg, Norwegen und Schweden wird die humanitäre prüfen, auch wenn sie nach den regulären Kriterien der Klausel kaum und in Litauen und Slowenien bisher gar Verordnung eigentlich nicht zuständig wären (Selbstein- nicht angewendet. Da in der Dublin II-Verordnung die Rech- trittsrecht bzw. Souveränitätsklausel). te auf Familieneinheit sehr restriktiv ausgestaltet sind, Grundsätzlich ist das Selbsteintrittsrecht nicht an das könnte die humanitäre Klausel Härten in der Praxis ver- ausdrückliche Einverständnis des betroffenen Asylsuchen- meiden helfen. An Humanität scheinen viele Mitgliedstaa- den gebunden. Deswegen wenden manche Mitgliedstaa- ten bislang jedoch wenig Interesse zu haben. ten das Selbsteintrittsrecht nicht nur zum Vorteil, sondern auch zum Nachteil der Asylsuchenden an. Zum Beispiel werden Zuständigkeiten, die sich aus der Familieneinheit ergeben, durch einen Selbsteintritt ausgehebelt. Deutsch- land, die Niederlande und Norwegen wenden das Selbst- eintrittsrecht gegen den Willen des Asylsuchenden an. Bombenopfer Herr D. aus dem Irak – Slowakei nach Deutschland führte. Die Freude darüber, über Jahre von seiner Familien getrennt. endlich wieder als Familie vereint zu sein, kehrte sich bald um in Angst, schon bald wieder getrennt zu werden. Frau D. Flucht bedeutet nicht nur Verlust von Heimat – oft werden erlitt nach ihrer Anhörung beim Bundesamt einen Zusammen- Flüchtlinge zwangsweise von ihren Familien getrennt. Als Herr bruch, verlor das Bewusstsein und musste stationär behan- D. aus dem Irak floh, musste er zunächst allein fortgehen delt werden. und seine Familie zurücklassen. Als er den Irak verließ war er bereits gezeichnet von Gewalt und militärischen Auseinander- Die Sorge der Familie D. war berechtigt: Das Bundesamt war setzungen, die dort herrschten. Im Jahr 1995 wurde Herr D. wild entschlossen, Frau D., die mittlerweile schwanger war, Opfer einer Bombenexplosion, bei der er beide Beine verlor. und die beiden minderjährigen Kinder in die Slowakei zurück- Seitdem ist er zu 80% schwerbehindert. Er kann sich nur sehr zuschieben. Die Begründung: wegen des Reisewegs sei die mühsam mit Hilfe von zwei Prothesen fortbewegen. Er sitzt Slowakei zuständig. Das Bundesamt sieht keine humanitären die meiste Zeit im Rollstuhl. Monatlich musste er sich opera- Gründe, die Familie nicht zu trennen. Frau und Kinder sollen tiven Eingriffen unterziehen, um Splitter aus seinem Körper in die Slowakei abgeschoben werden. entfernen zu lassen. Seine Erlebnisse im Irak hat Herr D. nicht verarbeiten können. Er leidet an einer posttraumatischen Zusammen mit dem Rechtsanwalt versuchte PRO ASYL zu Belastungsstörung. helfen. Die Zeit drängte: Das Bundesamt hatte bereits die Übernahme von Frau D. und der beiden Kinder beantragt – Im Jahr 2006 wollten die Ehefrau von Herrn D. und seine bei- die Slowakei schien keine Einwände zu haben. Der Anwalt den Kinder endlich nach Deutschland nachkommen. Frau D. trug den Fall im einstweiligen Rechtsschutzverfahren dem hatte für ihre Reise nach Deutschland jahrelang gespart. Verwaltungsgericht Karlsruhe vor. Er war teilweise erfolgreich Auf ihrer Flucht nach Deutschland wurden sie jedoch in der und erreichte einen Aufschub für die Familie. PRO ASYL hat Slowakei aufgegriffen und mussten dort einen Asylantrag stel- sich in der Zwischenzeit direkt an das Bundesinnenministeri- len. Kurze Zeit später reisten sie nach Deutschland weiter. um gewandt – dem obersten Dienstherren des Bundesamtes. PRO ASYL fand Gehör: Das Bundesamt wurde von oberster Frau D. wurde schnell klar, dass die deutschen Behörden sie Stelle angewiesen, die Mutter und Kinder nicht in die Slowa- in die Slowakei zurückbringen wollten. Alles was man von ihr kei abzuschieben. Das Asylverfahren wurde in Deutschland wissen wollte, drehte sich um ihren Reiseweg, der über die durchgeführt.
Flüchtlinge im Verschiebebahnhof EU Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren 17 Positiver sieht die Praxis in Norwegen und Schweden aus. Diese Länder haben Dublin-Abschiebungen nach Griechen- 9. Zunehmende Inhaftierung land ausgesetzt und die Zuständigkeit an sich gezogen.31 von Asylsuchenden Selbst in solchen Fällen, in denen ernsthafte Zweifel über die Schutzbereitschaft eines anderen Mitgliedstaates be- stehen, wendet Deutschland hingegen das Selbsteintritts- recht bisher nicht an. Hinsichtlich Griechenland erklärt die Bundesregierung, dass keine generellen Gründe gegen Abschiebungen nach Griechenland bestehen (BT Drs. 16/ 7216). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge er- klärt, dass es davon ausgehe, dass »aus Deutschland überstellte Asylbewerber in Griechenland entsprechend den Regelungen des europäischen und internationalen Rechts behandelt werden«. Ignoriert werden die Berichte von Menschenrechtsorganisationen über illegale Zurück- weisungen von Flüchtlingen, unmenschliche Haftbedingun- Foto: Anny Knapp gen und ein fehlendes adäquates Aufnahmesystem für Flüchtlinge (Stand: Ende Februar 2008).32 Die generelle Weigerung Deutschlands, in nennens- wertem Umfang vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu ma- chen, ist besonders für die Flüchtlinge problematisch, die traumatisiert oder aus anderen Gründen besonders schutz- Die Anwendung der Dublin II-Verordnung hat dazu ge- bedür ftig sind. Durch die Abschiebung in einen anderen führt, dass immer mehr Asylsuchende inhaftiert werden. Mitgliedstaat kann sich die Situation des Betroffenen ver- Dabei gehört es zu den Grundprinzipien des Flüchtlings- schlimmern, weil etwa die Angst vor Kettenabschiebungen schutzes, dass Schutzsuchende nicht inhaftiert werden in den Herkunftsstaat virulent wird. Eine Überstellung in ei- sollen. UNHCR hat wiederholt betont, dass die Inhaftie- nen anderen Mitgliedstaat ist auch dann unangemessen, rung von Asylsuchenden grundsätzlich abzulehnen ist.33 wenn dort der Zugang zur medizinischen Versorgung und Viele Flüchtlinge haben in ihrem Herkunftsland Haft und therapeutischen Behandlung nicht gewährleistet ist. Folter erleben müssen. Ein erneuter Gefängnisaufenthalt kann für diese Flüchtlinge retraumatisierend wirken und Andere Mitgliedstaaten machen vom Selbsteintrittsrecht daher sehr ernste Folgen haben. Eine Inhaftierung in der- aus einer Reihe von humanitären Gründen und aus Grün- artigen Fällen ist inhuman und stellt eine entwürdigende den der Familieneinheit Gebrauch, wie zum Beispiel Öster- Behandlung für die Betroffenen dar. reich, die Tschechische Republik, Frankreich, Italien, die Die Dublin II-Verordnung ordnet zwar nicht die Inhaftie- Niederlande, Norwegen, Spanien und Schweden. Öster- rung von Asylsuchenden an. Jedoch hat die Anwendung reich hatte das Selbsteintrittsrecht aus humanitären Grün- der Verordnung indirekt zu einer Zunahme von Haft ge- den angewendet, um die Zuständigkeit für traumatisierte führt. Um die Dublin II-Verordnung effizienter vollziehen zu Flüchtlinge zu übernehmen. Österreich begründete dies können, haben die Mitgliedstaaten die Inhaftierung von damit, dass eine Überstellung von Flüchtlingen, die unter Asylsuchenden massiv ausgedehnt. So können sich die ernsten psychologischen Krankheiten leiden, eine zusätz- Betroffenen der Abschiebung nicht entziehen. liche und inhumane Belastung bedeute. Seit Januar 2006 Nach den Ergebnissen der ECRE-Studie34 kommt es zu hat Österreich diese positive Praxis eingestellt. vermehrter Inhaftierung in Belgien, der Tschechischen Re- publik, Finnland, Österreich, den Niederlanden, Großbri- tannien und Luxemburg. Zurücküberstellte Asylbewerber können auch in der Tschechischen Republik, Luxemburg, Belgien und Griechenland in Haft genommen werden. 31 ECRE, Summary Report on the Application of the Dublin II 33 UNHCR, Richtlinie Nr. 1: UNHCR-Richtlinien über anwendba- Regulation in Europe, 2006, S. 9 re Kriterien und Standards betreffend die Haft von 32 PRO ASYL, »The truth may be bitter, but it must be told«, Asylsuchenden; UNHCR, EXCOM-Beschluss Nr. 44 (XXXVII) Über die Situation von Flüchtlingen in der Ägäis und die 34 ECRE, Summary Report on the Application of the Dublin II Praktiken der griechischen Küstenwache, 2007 Regulation in Europe, 2006, S. 17ff.
18 Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren Flüchtlinge im Verschiebebahnhof EU ECRE hat sich in seiner Studie besonders besorgt darüber Frau A. aus Tschetschenien: gezeigt, dass einige Mitgliedstaaten planen, Gesetzent- nach Suizidversuch und Psychiatrie- würfe einzubringen, um Inhaftierungen in »Dublin II - Fällen« aufenthalt in Abschiebungshaft häufiger zu ermöglichen – so ist zum Beispiel in Deutsch- land im August 2007 eine Gesetzesverschärfung in Kraft Die Familie A. ist aus Tschetschenien geflohen, nachdem getreten, die die Dauer der Inhaftierungsmöglichkeit von sie unzählige Gräueltaten miterlebt hatte. Familienmitglieder bisher vier Wochen auf max. die Gesamtdauer des Dublin- und Nachbarn wurden misshandelt, entführt und umge- Verfahrens ausdehnt. Ein Dublin-Verfahren kann viele Mo- bracht. Sie selbst sind immer wieder überfallen und miss- nate dauern. handelt worden. Über Polen ist Familie A. nach Deutschland Seit In-Kraft-Treten der Gesetzesverschärfung ist es ver- gekommen. Frau A. ist schwer traumatisiert. Als das Bundes- mehrt zu Inhaftierungen von Asylbewerbern gekommen. amt die Familie aufgrund der Dublin II-Verordnung nach Polen abschieben will, begeht Frau A. in ihrer Verzweiflung In diesem Zusammenhang ist es sehr beunruhigend, dass einen Selbstmordversuch. Frau A. rammte sich in ihrer Asyl- Asylbewerber in Haft oftmals keinen Zugang zu einer Ver- unterkunft ein Brotmesser in den Bauch. Daraufhin befand fahrensberatung haben. Auch in Deutschland werden die sie sich eine Zeit lang in der Psychiatrie eines Krankenhau- Betroffenen in der Praxis nicht beraten, wenn sie mittellos ses. Als Frau A. aus der Psychiatrie entlassen wurde und sind. beim Sozialamt vorsprach, um einen Krankenschein abzu- holen, wurde sie dort festgenommen und in Abschiebungs- haft genommen. Die zuständige Ausländerbehörde begrün- dete die Inhaftierung von Frau A. mit kaum zu überbieten- 10. Unzureichende dem Zynismus: »Es besteht der begründete Verdacht, dass Aufnahmebedingungen sie sich erneut selbst verletzt, um sich der Abschiebung nach Polen zu entziehen«. Das Amtsgericht Kamen macht Zwar unterstellt das EU-Asylsystem, dass überall in der EU den Skandal komplett und bestätigte am gleichen Tag die einheitliche Standards für Flüchtlinge gelten, jedoch ist Abschiebungshaft mit der Begründung, es bestehe »Flucht- dies bei den sozialen Aufnahmebedingungen ebenso wenig gefahr«, denn Frau A. habe durch »Suizidversuch versucht, der Fall wie bei den Anerkennungschancen. Von den unter- die Abschiebung zu verhindern« (Amtsgericht Kamen, Be- schiedlichen Standards sind besonders Folteropfer und schluss vom 29. Juli 2005). andere besonders schutzbedür ftige Personen betroffen. Insbesondere sind medizinische und psychosoziale Ver- Die Rechtsanwältin von Frau A. legte sofortige Beschwerde sorgungsmöglichkeiten nicht in allen Staaten gleicher- gegen die Haftanordnung beim Landgericht Dortmund ein. maßen zugänglich. Schließlich entschied das Landgericht, dass die Inhaftierung Menschenwürdige Aufnahmebedingungen sind essen- aus formalen Gründen rechtswidrig war. Frau A. wurde aus tiell für Asylsuchende und für die Gewährleistung von fai- dem Gefängnis entlassen. Durch viel Engagement der An- ren und effizienten Asylver fahren. Sie sind auch notwen- wältin und öffentlichen Druck, den PRO ASYL mit Medien- dig für Asylbewerber, denen eine Überstellung bevorsteht, arbeit erzeugen konnte, wurde schließlich erreicht, dass das und für Personen, die bereits unter Dublin II abgeschoben Bundesamt einlenkte. Das Bundsamt hat sein Übernahme- wurden. gesuch an Polen zurückgezogen. Der ECRE-Bericht35 sieht zum Beispiel Mängel bei den Aufnahmestandards in Spanien und Großbritannien (je nach Status des Flüchtlings). In Belgien und Frankreich wird vor In Litauen werden Asylbewerber dann inhaftiert, wenn der Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat der Zu- sie »illegal« eingereist sind. Für Asylfolgeantragsteller ist gang zu grundlegenden Sozialleistungen verweigert. Ledig- dies auch in Deutschland möglich und nicht selten Praxis. lich eine medizinische Notversorgung wird gewährleistet. Dies widerspricht dem internationalen Flüchtlingsrecht, In der Tschechischen Republik, Ungarn und Polen ste- wonach keine Inhaftierung nur wegen des illegalen Grenz- hen gegenwärtig keine oder extrem eingeschränkte psychi- übertritts erfolgen darf. atrische Versorgungseinrichtungen für Folteropfer und trau- matisierte Flüchtlinge zur Ver fügung. Das hat zur Folge, dass Personen, denen nach der EU-Aufnahmerichtlinie be- 35 ECRE, Summary Report on the Application of the Dublin II Regulation in Europe, 2006, S. 8.
Flüchtlinge im Verschiebebahnhof EU Kritik an der Praxis der Dublin-Verfahren 19 Foto: PRO ASYL sonderer Schutz zusteht, diesen nach ihrer Überstellung nicht erhalten. Familie G. aus Tschetschenien: In Polen anerkannt – doch ohne Schutz PRO ASYL hat aufgrund eigener Recherchen die katastro- phalen Aufnahmebedingungen in Griechenland nachge- Familie G. flüchtete aus Tschetschenien nach Polen. Dort wiesen.36 Obwohl im Sommer 2007 wöchentlich bis zu wurden sie als Flüchtlinge anerkannt. Nach der Anerkennung 500 neu ankommende Flüchtlinge zu verzeichnen waren, wurde die Situation für die Familie jedoch unerträglich. existieren in Griechenland insgesamt nur 740 Unterbrin- Familie G. ist aufgrund des Krieges und der erlebten Miss- gungsplätze für Asylbewerber. Diese Unterkünfte er füllen handlungen schwer gezeichnet. Der Mutter geht es beson- laut UNHCR Griechenland nicht einmal minimale Stan- ders schlecht. Sie ist traumatisiert und suizidgefährdet. dards. Mängel bestehen bei der medizinischen Versorgung Nach Abschluss des Asylverfahrens in Polen wurde Familie sowie im Zugang zur Schulbildung. Für Folteropfer und an- G. aus der Asylunterkunft geworfen. Ihnen wurde von Behör- dere besonders verwundbare Gruppen gibt es keine spe- den und Hilfsorganisationen geraten, Polen zu verlassen. ziellen Maßnahmen – wie es die EU-Aufnahmerichtlinie ei- Die Behörden sorgten weder für eine Unterkunft noch für die gentlich vorschreibt. Für unbegleitete minderjährige Flücht- dringend notwendige psychologische Behandlung für Frau linge gibt es lediglich 85 - 100 Unterbringungsplätze. Auch G. Der Familie drohte in Polen die Obdachlosigkeit. diese Zahl liegt weit unterhalb der tatsächlich benötigten Plätze. Daraufhin reiste die Familie nach Deutschland. Noch gilt Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat am 19. in der EU für anerkannte Flüchtlinge keine Freizügigkeit. Des- April 2007 Griechenland verurteilt, weil die EU-Aufnahme- wegen hat Familie G. eigentlich kein Recht in Deutschland richtlinie nicht umgesetzt wurde (Rechtssache C-72/06). zu bleiben. In ihrer Not beantragte Familie G. erneut Asyl – Das Verfahren zur Festlegung von Sanktionen ist nach wie diesmal in Deutschland. Der Asylantrag wurde prompt mit vor anhängig. dem Hinweis abgelehnt, sie seien bereits in Polen vor Ver- folgung sicher gewesen. 36 PRO ASYL, »The truth may be bitter, but it must be told«, Über die Situation von Flüchtlingen in der Ägäis und die Praktiken der griechischen Küstenwache, 2007.
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