Im Dickicht der Gesundheitsreform - "Bürgerversicherung" und "Kopfpauschale"

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Nr. 79
November 2003
                            Argumente
                            zu Marktwirtschaft und Politik

       „Bürgerversicherung” und „Kopfpauschale”

                                      Im Dickicht der
                                     Gesundheitsreform

                       Verkürzte Begriffe verschleiern die inhaltliche
                            Unzulänglichkeit beider Vorschläge

                                        Von Lüder Gerken und Guido Raddatz

                                               Stiftung Marktwirtschaft, Berlin

                                                    ISSN: 1612 – 7072 (Print-Version)

  Vorstand                    Charlottenstraße 60     Telefon: +49 (0)30 206057-0    E-Mail: info@stiftungmarktwirtschaft.de
  Dr. habil. Lüder Gerken     D-10117 Berlin          Telefax: +49 (0)30 206057-57   Internet: www.stiftung-marktwirtschaft.de
„Bürgerversicherung” und „Kopfpauschale”
Im Dickicht der Gesundheitsreform

                                                        chen. Erstens werden die Reformvorschläge durch-
                                                        weg mit irreführenden und teilweise auch pola-
1       Einleitung                                      risierenden Begriffen versehen, die – zumindest dem
                                                        gesundheitsökonomischen Laien, an den sich die
Kontinuierlich steigende Beitragssätze in der Ge-       Politik in der Regel wendet – eine sinnvolle Differen-
setzlichen Krankenversicherung sind für die Politik     zierung erschweren, wenn nicht gar unmöglich ma-
nichts Neues. Seit Jahrzehnten versucht sie dieser      chen. Diese Begriffswahl trägt dazu bei, daß zwei-
Entwicklung durch wiederholte Neuauflagen soge-         tens die entwickelten Modelle inhaltlich nur verkürzt
nannter Gesundheitsreformen entgegenzuwirken.           aufgegriffen werden, so daß die entscheidenden
Die Bezeichnung „Reform“ verdienen diese Pro-           Elemente der einzelnen Konzepte, aber auch die
gramme jedoch allesamt nicht. Denn anstatt effi-        Unterschiede zwischen ihnen unberücksichtigt blei-
zienzsteigernde Systemveränderungen vorzuneh-           ben. Und beides erleichtert es drittens der Politik,
men, hat man bislang mit planwirtschaftlich anmu-       sich vor allem darum zu sorgen, wie mit inhaltsver-
tenden Instrumenten versucht, die Gesundheits-          zerrenden Worthülsen die nächste Wahl zu gewin-
märkte zu steuern – ein Vorgehen, das notwendiger-      nen ist, statt sich um Sachargumente für ein lang-
weise zum Scheitern verurteilt ist. Auch die jüngst     fristig tragfähiges Konzept zu bemühen. Der folgen-
von der Bundesregierung und der CDU/CSU-Oppo-           de Abschnitt setzt sich zunächst mit den ersten bei-
sition gemeinsam beschlossenen Kurzfristmaßnah-         den Problemen auseinander. Im Anschluß daran
men stehen in der bisherigen Tradition.                 wird auf die zentralen inhaltlichen Argumente einge-
                                                        gangen, die in der politischen Diskussion eine Rolle
Inzwischen ist jedoch Bewegung in die politische        spielen sollten.
Diskussion gekommen. Zumindest ein Teil der poli-
tischen Akteure hat erkannt, daß grundlegendere
Reformen als in der Vergangenheit notwendig sind,
um das System der Gesetzlichen Krankenversiche-
                                                        2       Begriffsverwirrung und
rung wieder zukunftsfähig zu machen. Insbesondere
die von der Bundesregierung eingesetzte Rürup-                  inhaltliche Verkürzungen der
Kommission wie auch die von der CDU eingesetzte                 gegenwärtigen Diskussion
Herzog-Kommission haben Vorschläge entwickelt,
die derzeit sowohl in den jeweiligen Parteien als
auch unter Gesundheitsexperten und in der Öffent-       2.1     Die zwei Vorschläge
lichkeit heftig diskutiert werden. Bei allen zu be-             der Rürup-Kommission
rücksichtigenden Unterschieden ist diesen Reform-
modellen eines gemein: Jedes für sich würde das         Begonnen haben die begrifflichen Unzulänglich-
gegenwärtige Krankenversicherungssystem in              keiten mit den Vorschlägen der sogenannten
Deutschland grundlegend verändern. Daß der              Rürup-Kommission. Aufgrund inkompatibler Vor-
Status quo in Frage gestellt wird, ist angesichts der   stellungen der beiden gesundheitspolitischen
bisher zu beobachtenden Beharrungstendenzen im          Hauptakteure, Bert Rürup und Karl Lauterbach,
Gesundheitswesen zu begrüßen. Zentrale Aufgabe          hat sie zwei alternative Grundmodelle zur Dis-
der nächsten Monate muß es daher sein, aus den          kussion gestellt, zwischen denen die Politik eine
diversen Vorschlägen dasjenige Reformkonzept            Wahlentscheidung treffen soll. Beide haben eine
herauszufiltern, das die zukünftigen Herausforde-       Abkopplung der Lohnnebenkosten vom überpro-
rungen im Gesundheitswesen am besten bewältigen         portionalen Ausgabenanstieg im Gesundheits-
kann.                                                   wesen zum Ziel. So soll verhindert werden, daß
                                                        der Faktor Arbeit immer stärker belastet wird,
Es ist allerdings mehr als fraglich, ob der gegenwär-   wenn die Ausgaben im Gesundheitswesen auf-
tige Diskussionsprozeß dazu in der Lage ist. Denn       grund der zunehmenden Altersstruktur und des
die medial geprägte politische und öffentliche          medizinisch-technischen Fortschritts stärker als
Auseinandersetzung über die vorliegenden Vor-           der Rest der Wirtschaft wachsen. Denn im gegen-
schläge ist durch gravierende Defizite charakteri-      wärtigen lohnbezogenen System erhöht jeder
siert, die eine rationale Entscheidung zugunsten des    Anstieg der Beitragssätze die Lohnnebenkosten
besten Reformkonzeptes unwahrscheinlich ma-             und damit die Arbeitslosigkeit.

                                                                                                            3
„Bürgerversicherung” und „Kopfpauschale”
Im Dickicht der Gesundheitsreform

n
    Das „Lauterbach-Modell“                            lich machen. Verantwortlich für die begriffliche
    Kernelement ist erstens die Erweiterung der        und damit auch für die inhaltliche Konfusion sind
    gegenwärtig ausschließlich lohnbezogenen           die beiden Antipoden der Rürup-Kommission
    Bemessungsgrundlage                                                        selbst, die die Begriffe für
    auf alle Einkommensar-             Wer „Bürgerversicherung“                ihre beiden Modelle ge-
    ten; der Versicherungs-          und „Kopfpauschale“ gegen-                prägt haben: Gegen die
    beitrag soll sich also           überstellt, vergleicht Apfelsaft          „Bürgerversicherung“ des
    nicht mehr allein nach                 mit Birnenschnaps.                  Karl Lauterbach stellte man
    dem Arbeitseinkommen                                                       das „Gesundheitsprämien-
    einer Person, sondern nach dem gesamten Ein-       modell“ des Bert Rürup.
    kommen einschließlich z.B. Zinserträgen und
    Mieteinnahmen richten. Kernelement ist zwei-       Als Ausdruck zweier alternativer, einander gegen-
    tens, daß alle Bürger in der Gesetzlichen          überstehender Reformvorschläge ergibt das Be-
    Krankenversicherung pflichtversichert sein sol-    griffspaar „Bürgerversicherung“ versus „Gesund-
    len und so zu ihrer Finanzierung herangezogen      heitsprämie“ oder „Kopfpauschale“ jedoch keinen
    werden. Für die lohnabhängigen Beitragsteile       Sinn. Denn für eine sachgerechte Diskussion die-
    ist weiterhin eine paritätische Finanzierung vor-  ser beiden Vorschläge muß zwingend zwischen
    gesehen; Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollen       zwei inhaltlichen Problemkreisen und damit zwi-
    also insoweit jeweils die Hälfte des Versiche-     schen zwei zu treffenden Entscheidungen differen-
    rungsbeitrags zahlen. Für dieses Modell wurde      ziert werden:
    der Begriff der „Bürgerversicherung“ geprägt.
                                                       — Welcher Personenkreis unterliegt der Versiche-
n
    Das „Rürup-Modell“                                     rungspflicht, wird also in die Versicherung
    Kernelement ist erstens eine pauschale Ver-            gezwungen?
    sicherungsprämie; die erwachsenen Versicher-
    ten einer Krankenkasse sollen also unabhängig      — Wovon hängt die Höhe des Beitrags für den ein-
    von ihrem Einkommen einen einheitlichen Bei-           zelnen Versicherten ab?
    trag zahlen. Kernelement ist zweitens, daß
    nicht sämtliche Bürger in einer solchen Versi-     Beide Fragen sind unabhängig voneinander, so
    cherung zwangsversichert sein sollen, sondern      daß eine Vielzahl von Reformmodellen möglich ist.
    nur – wie bisher auch – Arbeitnehmer bis zu ei-    In der gegenwärtigen Diskussion herrschen jeweils
    ner bestimmten Einkommensgrenze und Rent-          zwei Vorschläge vor.
    ner. Der soziale Ausgleich wird in diesem Mo-
    dell über das Steuer-Transfer-System vollzo-       Beim pflichtversicherten Personenkreis wird diffe-
    gen, indem sozial Schwache eine staatliche         renziert zwischen
    Transferzahlung zur Finanzierung ihrer Versi-
    cherungsprämie erhalten. Für diesen Vorschlag      n
                                                           Arbeitnehmern und
    wurde von der Kommission der Begriff „Ge-          n
                                                           allen Bürgern.
    sundheitsprämien-Modell“ gewählt. In der all-
    gemeinen Diskussion hat sich jedoch der Be-        Die Bemessungsgrundlage für die individuellen
    griff „Kopfprämien-Modell“ oder „Kopfpau-          Versicherungsbeiträge orientiert sich entweder an
    schalen-Modell“ etabliert.
                                                       n
                                                           der einzelnen Person oder
                                                       n
                                                           am Einkommen.
2.2     Begriffsdurcheinander:
        Eine Klarstellung                              Aus der Kombination dieser Vorschläge ergeben
                                                       sich vier Reformmodelle:
Die Begriffe „Bürgerversicherung“ und „Kopfpau-
schale“ kleiden die Reformvorschläge in unge-          (1) Pauschale Arbeitnehmerversicherung
naue, nebulöse und irreführende Worthülsen, die        Pflichtversichert sind nur Arbeitnehmer mit einem
eine sachliche Diskussion und eine sachgerechte        Einkommen unterhalb einer Versicherungspflicht-
Abwägung zwischen beiden Konzepten unmög-              grenze (und Rentner). Der Versicherungsbeitrag

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„Bürgerversicherung” und „Kopfpauschale”
Im Dickicht der Gesundheitsreform

wird pauschal erhoben, ist also innerhalb einer          (4) Einkommensabhängige Bürgerversicherung
Kasse für alle Versicherten gleich. Das ist der Vor-     Pflichtversichert sind alle Bürger. Der Versiche-
schlag Rürups.                                           rungsbeitrag orientiert sich bis zu einer Beitrags-
                                                         bemessungsgrenze am Gesamteinkommen. Das
(2) Pauschale Bürgerversicherung                         ist der Vorschlag Lauterbachs.
Pflichtversichert sind alle Bürger. Auch hier wird
der Versicherungsbeitrag pauschal erhoben. Einen         Diese vier Reformmodelle sind in Abbildung 1
solchen Vorschlag haben beispielsweise Knappe            wiedergegeben. Die modellübergreifenden Be-
und Arnold für die Vereinigung der Bayerischen           griffe „Kopfpauschale“ und „Bürgerversicherung“
Wirtschaft (vbw) entwickelt.                             stehen in dieser Tabelle, wo sie hingehören, also
                                                         gerade nicht dort, wo sie als – falsche – Synonyme
(3) Einkommensabhängige                                  des Rürup-Modells und des Lauterbach-Modells
     Arbeitnehmerversicherung                            in der öffentlichen Diskussion immer wieder auf-
Pflichtversichert sind nur Arbeitnehmer (und Rent-       tauchen. Zum Vergleich wird in der letzten Zeile
ner). Der Versicherungsbeitrag orientiert sich bis       auch der Status quo in dieses Betrachtungskon-
zu einer Versicherungspflichtgrenze am Gesamt-           zept eingeordnet: In der Gesetzlichen Krankenver-
einkommen. Dieses Modell schlägt die Herzog-             sicherung pflichtversichert sind heute nur die
Kommission für einen Übergangszeitraum von               Arbeitnehmer mit Lohneinkommen unterhalb der
rund 10 Jahren vor.                                      Versicherungspflichtgrenze sowie Rentner.

Abbildung 1: Reformkonzepte der Rürup-Kommission und alternative Varianten

                  Pflichtversicherte
                                                                                    Alle Bürger
                                                Arbeitnehmer
                                                                              „Bürgerversicherung“
  Bemessungsgrundlage

 pauschale Beiträge                                pauschale                        pauschale
                                           Arbeitnehmerversicherung             Bürgerversicherung
 „Kopfpauschale“                                (Rürup-Modell)                   (u.a. Knappe/Arnold)

                                            einkommensabhängige                einkommensabhängige
 einkommensabhängige
                                           Arbeitnehmerversicherung              Bürgerversicherung
 Beiträge
                                            (Herzog-Modell, Stufe 1)             (Lauterbach-Modell)

                                                 lohnabhängige
 lohnabhängige
                                           Arbeitnehmerversicherung                       —
 Beiträge
                                                 (Status quo)

                                                                                                          5
„Bürgerversicherung” und „Kopfpauschale”
Im Dickicht der Gesundheitsreform

Die Übersicht macht deutlich, daß unterschiedliche      All dies zeigt, wie kontraproduktiv die bisherige
Sachverhalte undifferenziert miteinander vermischt      Diskussion auf Basis der Begriffe „Bürgerversiche-
werden. Anders ausgedrückt: Wer „Bürger-                rung“ und „Kopfpauschalen“ verläuft. Während
versicherung“ und „Kopfpauschale“ gegenüber-            das Konzept einer pauschalen Bürgerversicherung
stellt, vergleicht Apfelsaft mit Birnenschnaps.         von Arnold und Knappe sowohl eine „Bür-
                                                        gerversicherung“ als auch ein „Kopfpauschalen“-
Die Begriffe „Kopfpauschale“ und „Gesundheits-          Modell ist, fällt die einkommensabhängige Arbeit-
prämie“ umschreiben lediglich, daß es einen ein-        nehmerversicherung der ersten Stufe des Herzog-
heitlichen Beitrag für die Versicherten, unabhängig     Konzepts durch das bisherige Begriffsraster kom-
von ihrem jeweiligen Einkommen, geben soll. Of-         plett hindurch.
fen bleibt dabei, wer zu dem Kreis der Pflichtver-
sicherten gehört. Umgekehrt stellt der Begriff          Zielführend ist dagegen die folgende Begriffsbil-
„Bürgerversicherung“ ausschließlich darauf ab,          dung, welche die beiden relevanten inhaltlichen
wer pflichtversichert ist, und läßt die Grundlage       Dimensionen der Bemessungsgrundlage und des
der Beitragserhebung – lohnabhängige, einkom-           Pflichtversichertenkreises umfaßt. Entsprechend
mensabhängige, pauschale oder vielleicht gar risi-      den in Abbildung 1 dargestellten Kombinations-
koabhängige Beiträge – unbeachtet. Mit dem glei-        möglichkeiten sind vier Alternativen zu unterschei-
chen Recht, mit dem derzeit die einkommensab-           den:
hängige Bürgerversicherung (Lauterbach-Modell)
mit dem Begriff Bürgerversicherung besetzt ist,         n
                                                            die einkommensabhängige Arbeitnehmerver-
könnte man auch eine pauschale Bürgerversiche-              sicherung,
rung (Knappe-Arnold-Modell), als Bürgerversiche-        n
                                                            die pauschale Arbeitnehmerversicherung,
rung bezeichnen. Beide Bürgerversicherungen ha-         n
                                                            die einkommensabhängige Bürgerversiche-
ben jedoch völlig unterschiedliche Implikationen,           rung sowie
so daß man sie auch sprachlich auseinander hal-         n
                                                            die pauschale Bürgerversicherung.
ten muß. In der öffentlichen Diskussion werden
diese verschiedenen Implikationen aufgrund der          Allein eine solche differenzierende Begriffsabgren-
irreführenden Begriffsprägung derzeit nicht einmal      zung kann als Grundlage für eine transparente und
ansatzweise wahrgenommen.                               an Sachargumenten orientierte politische Ausein-
                                                        andersetzung dienen.
Daß die derzeitige Begriffsverwendung zu einer in-
haltlich verkürzten Diskussion führt, wird auch deut-
lich, wenn man das Konzept der Herzog-Kommis-
sion in die Betrachtung einbezieht, welche eine ein-
                                                        3      Pauschale oder
kommensabhängige Arbeitnehmerversicherung
propagiert. Für eine Übergangsphase von circa 10               einkommensabhängige
Jahren fordert die Herzog-Kommission, ähnlich wie              Versicherungsbeiträge?
das Lauterbach-Modell und im Gegensatz zum
Rürup-Modell, eine Ausweitung der Bemessungs-           Für die Frage, ob pauschale oder einkommensab-
grundlage auf alle Einkommenskategorien. Aller-         hängige Versicherungsbeiträge sachgerecht sind,
dings sollen, wie bislang und wie im Rürup-Modell,      spielen die jeweiligen Auswirkungen auf die
aber im Gegensatz zum Lauterbach-Modell, nur Ar-        Arbeitslosigkeit, auf die Einkommensverteilung
beitnehmer (und Rentner) der Versicherungspflicht       und auf den Wettbewerb zwischen den Kranken-
in der Gesetzlichen Krankenversicherung unterlie-       kassen eine wesentliche Rolle.
gen. Beamte, Selbständige und Arbeitnehmer über
der Versicherungspflichtgrenze wären danach nicht       3.1    Auswirkungen
pflichtversichert. Daß aufgrund der vorgesehenen               auf die Arbeitslosigkeit
Erweiterung der Bemessungsgrundlage eine Nähe
zum Lauterbach-Modell besteht, geht in der              Schaffung von Arbeitsplätzen
öffentlichen Diskussion genauso unter wie die Nähe
zum Rürup-Modell hinsichtlich des pflichtversicher-     Nimmt man als Bewertungsmaßstab das erklärte
ten Personenkreises.                                    Ziel der Rürup-Kommission, positive Beschäfti-

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„Bürgerversicherung” und „Kopfpauschale”
Im Dickicht der Gesundheitsreform

gungseffekte für den Arbeitsmarkt zu erzielen, so     kosten und – da hier der Bruttolohn unverändert
schneiden pauschale Versicherungsbeiträge, wie        bleibt – zu geringeren Gesamtarbeitskosten für die
sie auch das Rürup-Modell vorsieht, im langfristi-    Unternehmen. Denn aufgrund der verbreiterten
gen Vergleich besser ab als einkommensabhängi-        Bemessungsgrundlage kann bei gleichem Finan-
ge. Da pauschale Beiträge lohn- und einkom-           zierungsvolumen der Beitragssatz gesenkt wer-
mensunabhängig sind, werden sie vollständig aus       den. Berechnungen der Rürup-Kommission zufol-
den Lohnzusatzkosten eliminiert. Damit gelingt die    ge liegt diese einmalige Beitragssatzsenkung bei
vollständige Entkopplung der Lohnnebenkosten          konstanter Bemessungsgrenze und unveränder-
von den Krankenversicherungsbeiträgen. Ein im         tem Versichertenkreis jedoch nur bei 0,5 Prozent-
Zeitablauf wachsender Finanzierungsbedarf im          punkten.
Gesundheitswesen, der steigende pauschale
Beiträge nach sich zieht, übt damit – anders als in   Pauschale Versicherungsbeiträge sind folglich für
der Vergangenheit – keine negativen Rückwirkun-       die Schaffung von Arbeitsplätzen auf Dauer för-
gen mehr auf die Lohnnebenkosten und damit auf        derlicher als einkommensabhängige Beiträge.
die Beschäftigung aus. Angesichts des zu erwar-
tenden überproportional wachsenden Finanzie-          Anreiz zur Arbeitsaufnahme
rungsbedarfs im Gesundheitswesen ist diese Ent-
kopplung von Beiträgen und Lohnnebenkosten            Außerdem haben die Unterschiede zwischen pau-
von höchster Bedeutung.                               schalen und einkommensabhängigen Beiträgen
                                                      Auswirkungen auf die Bereitschaft der Arbeitneh-
Kurzfristig, zum Zeitpunkt einer Systemumstel-        mer, eine angebotene Arbeit anzunehmen oder
lung, entsteht dagegen kein positiver Beschäfti-      ihren Arbeitseinsatz zu erhöhen. Diese Bereit-
gungseffekt. Zwar sinken die Lohnnebenkosten          schaft wiederum ist neben der Schaffung von Ar-
um den Arbeitgeberbeitrag. Dieser soll jedoch im      beitsplätzen eine wichtige Determinante für die
Rürup-Modell als Lohnbestandteil vollständig an       Situation auf dem Arbeitsmarkt.
die Arbeitnehmer ausgezahlt werden. Folglich ver-
ändern sich die Gesamtkosten der Unternehmen          Hier spielt die sogenannte Grenzbelastung des
nicht.                                                Arbeitseinkommens eine zentrale Rolle. Sie gibt
                                                      an, wie hoch die staatliche Abgabenlast für jeden
Anders sieht die Situation dagegen bei einkom-        zusätzlich verdienten Euro ist oder, anders ausge-
mensabhängigen Beiträgen aus, wie sie auch das        drückt, was dem Arbeitnehmer netto von jedem
Lauterbach-Modell vorsieht. Hier kann von einer       zusätzlich verdienten Euro bleibt. Aus arbeits-
wirklichen Abkopplung der Versicherungsbeiträge       marktpolitischer Sicht sind möglichst niedrige
von den Lohnebenkosten keine Rede sein. Bei den       Grenzbelastungen optimal, denn dann verbleibt
meisten Versicherten machen Lohneinkünfte den         viel beim Arbeitnehmer, was seine Leistungsbe-
mit Abstand größten Teil des Einkommens aus.          reitschaft erhöht.
Wenn jedoch für diesen Teil, wie im Lauterbach-
Modell, weiterhin eine paritätische Finanzierung      Für die Grenzbelastung relevant sind einerseits
durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer vorgesehen         einkommensbezogene Steuern und Sozialabga-
ist, dann führen steigende Beitragssätze wie bis-     ben, andererseits die Kürzung von staatlichen So-
her automatisch zu ansteigenden Lohnneben-            zialleistungen oder anderen Transfers bei der Auf-
kosten (wenn auch absolut in geringerem Maße als      nahme oder Ausweitung einer Beschäftigung.
bei ausschließlich lohnabhängigen Beiträgen, weil
die Beitragssätze aufgrund der breiteren Bemes-       Derartige Transferkürzungen sind vor allem für
sungsgrundlage weniger stark angehoben werden         Arbeitslose und im Bereich niedriger Einkommen
müssen). Der Faktor Arbeit wird verteuert und die     relevant, da sie ein entscheidendes Hindernis für
Arbeitslosigkeit steigt.                              die Aufnahme oder Ausweitung einer Beschäfti-
                                                      gung darstellen. Werden etwa die Transferleistun-
Lediglich kurzfristig, zum Zeitpunkt der Auswei-      gen — z.B. Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe —
tung der Bemessungsgrundlage, kommt es durch          (fast) vollständig um das neue Arbeitseinkommen
die Einbeziehung weiterer Einkommensarten zu          gekürzt, so liegt die Grenzbelastung bei (fast) 100
einem einmaligen Rückgang der Lohnneben-              Prozent. Man spricht in diesem Fall auch von einer

                                                                                                       7
„Bürgerversicherung” und „Kopfpauschale”
Im Dickicht der Gesundheitsreform

Armutsfalle für die Betroffenen: Da sich das Netto-      findet; allerdings nicht innerhalb der Kran-
einkommen durch eine Arbeitsaufnahme nicht oder          kenversicherung, sondern über das allgemeine
nur unwesentlich erhöhen läßt, ist die Arbeitsauf-       Steuer-Transfer-System. Aus ordnungspolitischer
nahme nicht attraktiv. Der Transferempfänger stellt      Sicht ist das auch der richtige Ort für Umver-
sich letztlich besser, wenn er nicht bzw. nicht länger   teilungsmaßnahmen, denn in der Krankenver-
arbeitet.                                                sicherung stellen sie ein systemwidriges Element
                                                         dar, das die Funktionsfähigkeit des gesamten
Pauschale und einkommensabhängige Versiche-              Gesundheitssystems beeinträchtigt.
rungsbeiträge haben unterschiedliche Auswirkun-
gen auf die Grenzbelastung. Nach den Berech-             Der Status quo zeigt, wie problematisch die
nungen der Rürup-Kommission würde eine ein-              Umverteilung innerhalb der Krankenversicherung
kommensabhängige Beitragserhebung (bei kon-              ist. Abgesehen von willkürlichen Verteilungseffek-
stanter Bemessungsgrenze und unverändertem               ten – etwa aufgrund der beitragsfreien Mitver-
Versichertenkreis) im unteren Einkommensbereich          sicherung von nicht erwerbstätigen Ehepartnern
eine Entlastung von 0,25 Prozentpunkten gegen-           im Vergleich zu Doppelverdienern – führt vor allem
über dem heutigen Zustand ergeben. Diese Zahl ist        die Beitragsbemessungsgrenze dazu, daß sich die
vernachlässigbar klein, aber immerhin wird die           Menschen mit sehr hohem Einkommen nicht ent-
Grenzbelastung in diesem Bereich nicht erhöht.           sprechend ihrer Leistungsfähigkeit an dieser Um-
Die Auswirkungen einer pauschalen Beitrags-              verteilung beteiligen. Sind sie Mitglied einer priva-
erhebung auf die Grenzbelastung dagegen hängen           ten Krankenversicherung, so sind sie aus der
zwar in starkem Maße von der näheren Ausge-              krankenversicherungsinternen Umverteilung voll-
staltung des sozialen Ausgleichs über das Steuer-        ständig ausgeklinkt.
Transfer-System ab, insbesondere davon, bis zu
welchen Einkommensgrenzen ein Zuschuß zum                Die Ausgliederung der Umverteilung in das
Versicherungsbeitrag gewährt wird und mit wel-           Steuer-Transfer-System würde ein deutlich er-
cher Rate dieser Zuschuß bei steigendem Ein-             höhtes Maß an Zielgenauigkeit mit sich bringen,
kommen gekürzt wird. Gleichwohl gehen alle               als es im Status quo oder auch mit einkommens-
Berechnungen davon aus, daß die Grenzbelastung           abhängigen Beiträgen möglich ist. Denn erstens
im unteren Einkommensbereich hier gegenüber              berücksichtigt das Steuersystem neben dem Ein-
dem heutigen Zustand ansteigt. Pauschale Ver-            kommen weitere Lebensumstände, die die
sicherungsbeiträge senken also im unteren Ein-           Leistungsfähigkeit der Beitragszahler beeinflus-
kommensbereich den Anreiz Arbeitsloser, eine             sen. Und zweitens werden, wenn man bei der ein-
Arbeit aufzunehmen. Dies spricht für einkommens-         kommensabhängigen Versicherung, wie im
abhängige Beiträge. Im mittleren Einkommens-             Lauterbach-Modell vorgesehen, eine Beitragsbe-
bereich dagegen haben, genau umgekehrt, pau-             messungsgrenze einführt, die Menschen mit den
schale Versicherungsbeiträge deutlich bessere An-        höchsten Einkommen weiterhin nur begrenzt zur
reizwirkungen als einkommensabhängige.                   Umverteilung herangezogen. Im Steuersystem
                                                         existiert eine solche Bemessungsgrenze dagegen
                                                         nicht, so daß die Bezieher hoher Einkommen bei
3.2     Auswirkungen auf die                             einer pauschalen Versicherung stärker belastet
        Einkommensverteilung                             werden als bei einer Umverteilung innerhalb der
                                                         Krankenversicherung.
Die Frage der Umverteilung ist schon deshalb rele-
vant, weil politische Gegner einer pauschalen Prä-       Die konkreten Umverteilungswirkungen eines auf
mienausgestaltung häufig das Argument der sozi-          pauschalen Versicherungsprämien basierenden
alen Kälte vortragen, teilweise polemisch assozi-        Krankenversicherungssystems hängen von der
iert mit Kopf(geld)prämien. An die Wand gemalt           konkreten Ausgestaltung des sozialen Ausgleichs
wird das Schreckgespenst, ein Hausmeister                über das Steuer-Transfer-System ab. Zu den
müßte dann ebenso viel wie ein Vorstandsvorsit-          Stellschrauben gehören
zender für seine Gesundheit bezahlen. Übergan-
gen wird dabei allerdings, daß auch bei einer pau-       n
                                                             die Einkommensgrenzen, bis zu denen ein
schalen Versicherung ein sozialer Ausgleich statt-           Zuschuß gewährt wird,

8
„Bürgerversicherung” und „Kopfpauschale”
Im Dickicht der Gesundheitsreform

n
    die Rate, mit der der Zuschuß bei steigendem     Zentrales Element des Wettbewerbs auf der
    Einkommen gekürzt wird,                          Einnahmenseite ist die Konkurrenz zwischen den
                                                     Krankenversicherungen um die Versicherten. Vo-
n
    die steuerliche Behandlung der Auszahlung des    raussetzung für einen Wettbewerb, der als Anreiz-
    bisherigen Arbeitgeberbeitrags sowie             und Entdeckungsverfahren produktive Wirkungen
                                                     entfaltet, sind Rahmenbedingungen, die den
n
    eventuelle Änderungen im Einkommensteuer-        Wettbewerb nicht auf den Beitragssatz reduzieren,
    tarif oder beim Solidaritätszuschlag, um den     sondern auch Differenzierungen hinsichtlich des
    erhöhten Finanzbedarf im Steuer-Transfer-        Leistungsangebots oder der Vertragsbedingungen
    System zu decken.                                – z.B. in Form von Selbstbehalten oder der Unter-
                                                     scheidung von Grund- und Wahlleistungen – er-
Die Ausgliederung der Umverteilung aus der Kran-     möglichen. Einkommensabhängige Beiträge sind
kenversicherung in das Steuer-Transfer-System ist    insoweit problematisch. Denn Bezieher hoher
neben der besseren Zielorientierung aus einem        Einkommen, insbesondere wenn sie jung und
weiteren Grund vorteilhaft. Sie entzieht dem sozi-   gesund sind, haben besonders hohe Anreize, ein-
alpolitisch motivierten Vorwurf, daß sich die Mit-   zelne Leistungspakete abzuwählen, um sich so
glieder der Privaten Krankenversicherungen nicht     eines Teils der umverteilungsbedingten Lasten zu
am Solidarausgleich beteiligen, den Boden, da        entledigen. Für die Bezieher geringer Einkommen
auch die Gesetzliche Krankenversicherung von         lohnt sich dagegen die Abwahl eines identischen
dieser systemfremden Last befreit wird. Alle Bür-    Leitungspaktes weniger oder überhaupt nicht.
ger, egal ob sie privat oder gesetzlich versichert   Dies führt zu einer unerwünschten negativen Risi-
sind, werden über das Steuersystem zur gesell-       koselektion, die im Zeitablauf steigende Beitrags-
schaftlich gewünschten Umverteilung herangezo-       sätze nach sich zieht. Bei pauschalen Versiche-
gen. Damit gibt es kein verteilungspolitisches Ar-   rungsbeiträgen tritt dieses Problem nur in deutlich
gument mehr gegen die Koexistenz von Privater        abgeschwächter Form auf, da die mit dem Ver-
und Gesetzlicher Krankenversicherung.                zicht auf Wahlleistungen verbundene Beitragsre-
                                                     duktion einkommensunabhängig ist. Allerdings
                                                     läßt sich auch in diesem Fall eine negative Risiko-
3.3     Auswirkungen auf den Wettbewerb              selektion nicht völlig ausschließen, da es vor allem
                                                     für Versicherte mit einer guten Gesundheit vorteil-
Ziel jeder Gesundheitsreform muß eine Verbes-        haft ist, auf Wahlleistungen zu verzichten oder
serung der marktlichen Funktionsfähigkeit des Ge-    Selbstbehalte in Anspruch zu nehmen. Ein von
sundheitssystems und eine Steigerung des Wett-       solchen Verzerrungen freier Wettbewerb wäre nur
bewerbs sein, da nur so Mittelverschwendungen,       bei risikoäquivalenten Prämien möglich.
Ineffizienzen und Organisationsmängel gering
gehalten werden können. Sowohl auf der Aus-
gabenseite der Gesetzlichen Krankenversiche-
rung, also bei den medizinischen Leistungserbrin-
                                                     4      Arbeitnehmerversicherung
gern – Ärzte und ihre Kassenärztlichen Vereinigun-
gen, Krankenhäuser, Apotheken und Pharmaindu-               oder Bürgerversicherung?
strie – als auch auf der Einnahmenseite besteht
diesbezüglich großer Handlungsbedarf.                Die Befürworter einer Bürgerversicherung argu-
                                                     mentieren gerne, daß sich nur durch die Einbe-
Die derzeit diskutierten Reformvorschläge betref-    ziehung aller Bürger in die Gesetzliche Kranken-
fen die Einnahmenseite, so daß der Wettbewerb        versicherung eine Ungleichbehandlung zwischen
zwischen den Leistungserbringern auf der Ausga-      unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verhin-
benseite hier nicht behandelt werden muß. Im üb-     dern lasse; nur eine Bürgerversicherung könne
rigen sind grundlegende Reformen in diesem Be-       alle Bürger gemäß ihrer Leistungsfähigkeit in glei-
reich auch unabhängig von der Ausgestaltung des      chem Maße zur sozialpolitisch gebotenen Umver-
Finanzierungssystems möglich und müßten schon        teilung heranziehen.
heute – ohne Rücksicht auf einzelne Interes-
sengruppen – angegangen werden.

                                                                                                       9
„Bürgerversicherung” und „Kopfpauschale”
Im Dickicht der Gesundheitsreform

Diese Argumentation ergibt jedoch nur einen Sinn,
wenn man eine einkommensabhängige Bürgerver-
                                                        5       Rürup-Modell oder
sicherung propagiert. Denn im Falle einer pau-
schalen Bürgerversicherung ist die Umverteilung                 Lauterbach-Modell – Beide
über das Steuer-Transfer-System nicht nur mög-                  Vorschläge greifen zu kurz
lich, sondern, wie gezeigt, sogar die bessere Wahl.
Folglich knüpft auch das Umverteilungsargument          Zukünftige Generationen können in Zeiten einer
nicht am Gegensatz zwischen Arbeitnehmer- und           alternden Bevölkerungsstruktur nur dann vor per-
Bürgerversicherung an, sondern am Gegensatz             manent steigenden finanziellen Belastungen im
zwischen einkommensabhängiger und personen-             Gesundheitssystem geschützt werden, wenn
bezogener Gestaltung der Versicherungsbeiträge.         unsere Gesellschaft dazu übergeht, daß jede
Es ist kein Argument für eine Bürgerversicherung        Generation im wesentlichen für sich selbst sorgt.
und damit auch kein Argument für eine einkom-           Das erfordert, daß Versicherte in jungen Jahren
mensabhängige Bürgerversicherung, wie sie das           Alterungsrückstellungen aufbauen, mit denen der
Lauterbach-Modell vorsieht.                             Ausgabenanstieg in späteren Jahren ausgeglichen
                                                        werden kann, ohne daß es zu massiven Bei-
Umgekehrt jedoch spricht folgendes gegen die            tragserhöhungen kommt. Welche Dimension das
Einführung einer für alle Menschen verbindlichen        zukünftig zu erwartende Ausgabenwachstum
Bürgerversicherung: Sie hätte die unvermeidliche        annehmen kann, verdeutlichen Prognoserechnun-
Konsequenz, daß die Private Krankenversicherung         gen für den Status quo. Modellrechnungen zufolge
keine Vollversicherungsverträge mehr anbieten           ergäben sich bis zum Jahr 2050 Beitragssätze von
könnte und damit ihres Hauptgeschäftsfeldes             über 30 %, wenn man das gegenwärtige System
beraubt würde. Da die Private Krankenversiche-          der Gesetzlichen Krankenversicherung beibehal-
rung jedoch auf dem gesamtwirtschaftlich überle-        ten würde.
genen Kapitaldeckungsverfahren basiert, hätte
dies negative Auswirkungen für die Volkswirt-           Bedauerlicherweise übergehen beide in der
schaft insgesamt. Nur in einem Kapitaldeckungs-         Rürup-Kommission entwickelten Modelle dieses
verfahren, in dem die Versicherten Alterungsrück-       fundamentale demographische Problem. Schon
stellungen aufbauen, wird der Umverteilungsbe-          deshalb sind sie als Richtschnur für langfristig
darf zwischen den verschiedenen Generationen            orientierte Reformkonzepte ungeeignet. Daran
minimiert.                                              ändert auch die Tatsache nichts, daß beide Alter-
                                                        nativvorschläge marginal demographiefreund-
Daher wäre es trotz aller berechtigten Kritik, die      licher als der Status quo sind, indem die Hauptlast
man dem Wettbewerbsverständnis der Privaten             der Finanzierung infolge der (partiellen) Abkehr
Krankenversicherung in ihrer heutigen Form ent-         vom Lohneinkommen in etwas geringerem Maße
gegenhalten kann, unverantwortlich, dieses              bei den Erwerbstätigen liegt. Generationengerech-
System zugunsten einer Bürgerversicherung, die          tigkeit läßt sich mit diesen Konzepten nicht ver-
dem Umlageverfahren verhaftet bleibt, wie es das        wirklichen.
Lauterbach-Modell vorsieht, zu zerschlagen. Das
Rürup-Modell, das ebenfalls dem Umlageverfah-           Ein optimales Krankenversicherungssystem
ren verhaftet bleibt, unterliegt dieser Kritik nicht,   müßte dagegen auf zwei Säulen ruhen:
weil es als Arbeitnehmerversicherung zumindest
die Kapitaldeckung der Privaten Krankenversiche-        n
                                                            risikoabhängige Versicherungsprämien und
rung aufrechterhält.                                    n
                                                            übertragbare individuelle Alterungsrückstel-
                                                            lungen.

                                                        Bei risikoabhängigen Versicherungsprämien be-
                                                        mißt sich die Prämienhöhe nach dem individuellen
                                                        Krankheitsrisiko der Versicherten. Übertragbare
                                                        individuelle Alterungsrückstellungen teilen die
                                                        Summe der für einen Altersjahrgang gebildeten
                                                        Alterungsrückstellungen entsprechend den indivi-

10
„Bürgerversicherung” und „Kopfpauschale”
Im Dickicht der Gesundheitsreform

duellen Krankheitsrisiken – und damit entsprechend    Sollte sich die Übertragbarkeit individueller Alte-
den zu erwartenden zukünftigen Ausgaben – auf die     rungsrückstellungen politisch nicht durchsetzen
Versicherten auf, und sie werden dem Versicherten     lassen, so sollte zumindest eine Kombination aus
bei einem Wechsel seiner Versicherung mitgege-        pauschalen Versicherungsprämien mit jahrgangs-
ben.                                                  bezogenen Alterungsrückstellungen eingeführt
                                                      werden. Die Grundzüge eines solchen Modells
Die Kombination dieser beiden Elemente löst zum       wurden von der Herzog-Kommission als anzustre-
einen das demographische Problem, weil die Alte-      bendes Langfristziel entwickelt.
rungsrückstellungen die mit zunehmendem Alter an-
steigenden Gesundheitsausgaben kompensieren.

Zum anderen sichern die beiden Säulen ein
                                                      6      Fazit
Maximum an effizienzförderndem Wettbewerb.
Denn nur mit risikoäquivalenten Versicherungsprä-     Das deutsche Gesundheitssystem steht vor ent-
mien lassen sich Selbstbehalte und Wahllei-           scheidenden Weichenstellungen. Nur ein mutiges
stungen korrekt kalkulieren. Angesichts risikoäqui-   Handeln kann es noch vor dem finanziellen Kol-
valenter Versicherungsprämien würde zudem auch        laps retten. Obwohl Teile der Politik den Hand-
der bürokratische und höchst unvollkommene            lungsbedarf endlich erkannt haben, beschränkt
Risikostrukturausgleich überflüssig.                  sich die politische und öffentliche Diskussion
                                                      größtenteils auf Scheingefechte in inhaltlichen
Schreibt man zudem eine Versicherungspflicht von      Randbereichen. Entscheidenden Anteil an dieser
Geburt an vor, wenn das Gesundheitsrisiko noch        Entwicklung hat eine irreführende und ungenaue
hinter einem Schleier der Unwissenheit verborgen      Begriffsbildung, die zwar für emotionale Wahl-
liegt, dann besteht auch nicht die Gefahr, daß Men-   kampfreden, nicht aber für eine konstruktive in-
schen mit einem sehr hohen Risiko keinen finan-       haltliche Auseinandersetzung geeignet ist. Letzte-
zierbaren Versicherungsschutz finden. Das Niveau      re ist unerläßlich, wenn die immensen Herausfor-
der risikoäquivalenten Prämie bei Geburt ist dem      derungen im Gesundheitssystem noch gemeistert
einer Kopfpauschale vergleichbar. Aufgrund der        werden sollen.
übertragbaren individuellen Alterungsrückstellun-
gen bleibt auch in späteren Jahren ein Versiche-      Eine sachliche Diskussion würde erstens zeigen,
rungswechsel für hohe Risiken jederzeit möglich.      daß pauschale Versicherungsprämien im Vergleich
Denn die risikobedingt höhere Versicherungsprä-       zu einer einkommensabhängigen Beitragsgestal-
mie wird dann aus der entsprechend hoch ausfal-       tung die überlegene Lösung sind. Zweitens würde
lenden individuellen Alterungsrückstellung ausge-     auch deutlich, daß eine Bürgerversicherung auf-
glichen, die der Versicherte zur neuen Versicherung   grund ihrer Defizite keine überzeugende Reform-
mitnimmt. Umgekehrt wird guten Risiken bei einem      alternative zur Arbeitnehmerversicherung dar-
Versicherungswechsel nur eine niedrige Alterungs-     stellt. Folglich ist die einkommensabhängige Bür-
rückstellung mitgegeben. Die Krankenversiche-         gerversicherung des Lauterbach-Modells der pau-
rungen haben somit, anders als gegenwärtig in der     schalen Arbeitnehmerversicherung des Rürup-
Privaten Krankenversicherung, einen Anreiz, einen     Modells in beiden Hinsichten unterlegen.
intensiven Wettbewerb um Bestandskunden, un-
abhängig von deren Risikoprofilen, zu führen.         Vor allem aber würde drittens deutlich, daß diese
                                                      derzeit von der Politik schwerpunktmäßig disku-
Ähnlich wie bei pauschalen Versicherungsbei-          tierten konkreten Reformkonzepte beide unzurei-
trägen hat auch in einem solchen System der so-       chend sind, um das deutsche Gesundheitswesen
ziale Ausgleich über das Steuer-Transfer-System       nachhaltig zu reformieren — beiden fehlt die drin-
zu erfolgen. Ein Modell, das auf diesen Grundprin-    gend notwendige Kapitaldeckung.
zipien aufbaut, hat beispielsweise der Kronberger
Kreis im Sommer 2002 entwickelt. Auch der Sach-
verständigenrat zur Begutachtung der gesamt-
wirtschaftlichen Entwicklung hat Sympathien für
eine solche Reform.

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