Im Zeichen der Katze LESEPROBE - Anne Nattermann

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LESEPROBE
Im Zeichen der Katze
           Novelle

      Anne Nattermann
Alle Rechte vorbehalten

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                                            1. Auflage
                               Copyright © 2019 Anne Nattermann
                             Covergestaltung & Satz: Anne Nattermann
                                     Lektorat: Simona Turini
                                   Korrektorat: Eva Lebenheim

                                          Impressum
                                        Anne Nattermann
                                     c/o Bianca Kronsteiner
                                      impressumservice.net
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                                  Website: annenattermann.com
Inhaltsverzeichnis
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Schlusswort
Danksagung
Eins

Das hellste Objekt im bekannten Universum ist ein schwarzes Loch im Sternbild Pegasus.
Wenn Sterne in seinen Strudel geraten und unter der enormen Anziehungskraft wie
Schäfchenwolken im Sturm zerreißen, entbrennt ein kosmisches Leuchtfeuer, das eine
Billiarde Mal heller strahlt als unsere Heimatsonne. Noch in einer Entfernung von acht
Milliarden Lichtjahren kann man mit einem einfachen Fernglas ganzen Sonnensystemen beim
Sterben zusehen.
     Forscher hatten das Objekt 1963 entdeckt und ihm den liebevollen Namen CTA 102
gegeben. Es war wegen seiner ungewöhnlichen Radiowellenstrahlung aufgefallen und zu
weltweitem Ruhm gekommen, weil selbst Wissenschaftler dem Irrglauben erlagen, damit die
erste außerirdische Kontaktaufnahme aufgezeichnet zu haben. Wer sonst funkte so
eigenartige Frequenzen durchs All, wenn nicht eine intelligente Lebensform? Nur waren es
keine Aliens, die dort Hallo sagten, sondern ein supermassives schwarzes Loch, ein
bodenloser Schlund, der Sonnen zum Frühstück fraß und die Überreste in Form von Licht und
Gammastrahlung zufällig in unsere Richtung rülpste. Für Presse und Popkultur endete mit
dieser Erkenntnis der Hype, und CTA 102 verschwand im interstellaren Gruselkatalog
zerstörerischer Urmächte, über die man lieber nicht so genau nachdachte.
     In Karmas Augen war CTA 102 kein Monster. Klar, wenn sie zwischen Urlaub am Grand
Canyon oder am Rand eines schwarzen Lochs hätte entscheiden müssen, wäre die Wahl wohl
auf Arizona gefallen. Wenn nicht mal Sterne, nicht mal das Licht selbst dieser immensen
Sogkraft standhielten, dann hatten auch Astronominnen mit einer körperlichen Kondition, für
die einen sogar Physikstudenten hänselten, keine Chance, mit Urlaubsfotos und intakten
Organen von so einer Reise zurückzukehren. Aber die Wahl wäre ihr trotzdem
schwergefallen, denn CTA 102 war für sie nicht nur eines der faszinierendsten Objekte des
Kosmos, sondern auch das Studienobjekt ihrer Doktorarbeit.
    Für Normalsterbliche mochten schwarze Löcher nur gierige Abflüsse im
Raum-Zeit-Gefüge sein, ein Sinnbild absoluter, gewissenloser Zerstörung. Tatsächlich waren
sie aber die Kraft, die Galaxien im Innern zusammenhielt. Sie brachten eine Ordnung in das
Weltall, ohne die Sterne und Planetensysteme auseinanderdriften würden wie
Kohlensäurebläschen in einer offenen Flasche Mineralwasser. Auch die augenscheinliche
Annahme, dass alles, was in die Fänge eines schwarzen Lochs geriet, wirklich von der
Bildfläche verschwand, als hätte es nie existiert, stand unter Astrophysikern längst infrage.
Diese finsteren Strudel waren für das menschliche Auge eigentlich unsichtbar, weil sie
Lichtpartikel, die über ihren Rand fielen, verschluckten. Doch sie hinterließen
charakteristische Spuren, erzählten eine Geschichte – unendlich viele Geschichten von
zahllosen vergangenen Welten.
Karma arbeitete seit einigen Monaten an einer Reihe von Algorithmen, mit deren Hilfe
man Rückschlüsse auf die verschlungenen Objekte würde ziehen können. Damit wollte sie
beweisen, dass auch für schwarze Löcher keine Ausnahme des obersten Gebots der Physik
galt: Nichts im Universum verschwindet einfach so. Es war ein ehrgeiziges Projekt. Genau
genommen war es ein bisschen wahnsinnig, aber das galt für die meisten Ideen der
Quantenphysik. Aus den wenigen Informationen, die ein schwarzes Loch übrigließ,
herauslesen zu wollen, was es beinhaltete, war ein bisschen so, als bekäme man einen
Smoothie vorgesetzt und müsste nur durch Betrachtung bestimmen, aus welchen Früchten
er zusammengemixt war. Schlimmer noch, man las demjenigen, der den Smoothie trank, das
Rezept an der Nase ab. Gut möglich, dass Karmas Forschung zu keinem brauchbaren Ergebnis
kam, aber irgendwie ließ sich das doch über jeden Schritt sagen, bevor ihn jemand machte.
Außerdem konnte sie sich kaum eine bessere Zeitverschwendung vorstellen, als pixelige
Schwarz-Weiß-Aufnahmen obskurer Objekte vom anderen Ende des Universums zu
betrachten.
    Auf drei Bildschirmen blickten ihr die Messungen der letzten Nacht entgegen. Karma
schlug die Beine übereinander und rückte näher an das Display in der Mitte heran. Obwohl
das Teleskop auf Mount Acutun steinalt war und mehr Zuwendung und Nachsicht forderte
als ihre demente Großtante Shivani, produzierte die Kamera noch immer brauchbare
Aufnahmen. Wenn Karma nicht wieder – wie in den zwei Nächten zuvor – Krisen von
Kühlpumpen und Spiegelmotoren abwenden musste, hätte sie auch endlich Zeit, die
Aufnahmen richtig auszuwerten.
    Sie zuckte zusammen, als etwas hinter ihr auf dem Schreibtisch aufschlug. Ihr Knie stieß
gegen das Eingabepanel des Hauptrechners. Die Tasse, die darauf gestanden hatte, kippte
um, und der Kaffee verteilte sich über die in das Holz eingelassene Tastatur. Karma schrie auf,
sprang vom Stuhl, riss ihre Strickjacke von der Lehne und tupfte damit hastig über die Tasten.
Der helle Stoff sog sich schnell mit der dunklen Brühe voll und rettete die darunterliegende
Elektronik. Hoffentlich.
    Karma blickte über ihre Schulter und sah ihre Kollegin mit harter Miene neben dem
Schreibtisch stehen. Irynas Finger tippelten auf dem Stapel Papiere, den sie dort hingefeuert
hatte.
    „K-keine Sorge“, sagte Karma und lächelte schief. „Das ist russische Technik, oder? Die ist
für die Ewigkeit gemacht.“
    Gönnerhaft klopfte sie mit der flachen Hand auf das abgewetzte Holzfurnier, das mit
Sicherheit vor dieser Ewigkeit produziert worden war und damals schon hässlich gewesen
sein musste. Kaum hatte sie die Bedienoberfläche berührt, wurden alle drei Bildschirme
darüber schwarz und Karma beinahe weiß. Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund sah
sie zwischen den Displays und dem Gesicht ihrer Kollegin hin und her, das mindestens
genauso finster war. „Das war doch jetzt nicht ich, oder?“
Iryna schob die Ärmel ihrer Bluse hoch und knurrte. „Ich bin Ukrainerin.“
    „Ja, w-weiß ich doch. Ich meinte doch nur, dass …“
    Wie immer ließ sich ihre Kollegin nicht durch Unannehmlichkeiten wie gerade
angefangene Sätze von irgendetwas abhalten. Schwungvoll tauchte sie unter dem Panel ab,
das dann durch einen sehr viel härteren Schlag, als Karma ihn platziert hatte, erzitterte. Alle
drei Monitore erwachten gleichzeitig wieder zum Leben. Iryna richtete sich auf, rückte das
rote Brillengestell auf ihrer Nase zurecht und pflückte eine unsichtbare Staubflocke von der
Schulter. Mit spitzen Fingern zog sie die Strickjacke von der Stuhllehne, die dort nass und
fleckig hing, und ließ sie in Karmas eilig ausgestreckte Hände fallen. Auch die Kaffeetasse hob
Iryna auf und hielt sie ihr naserümpfend hin. Das tat sie so langsam und roboterhaft, dass
Karma an die mechanischen Greifarme von Jahrmarkt-Spielautomaten denken musste, die
einen in Wahnsinn und Bankrott trieben, wenn man versuchte, damit nach Kuscheltieren und
anderem Plunder zu fischen.
    Wortlos pflanzte sich Iryna auf einen der Bürostühle und rollte an ihren Arbeitsplatz
heran. Mit Tasse und Jacke in der Hand stand Karma da und überlegte, ob sie sich
entschuldigen oder einfach nur dankbar dafür sein sollte, dass ihre Kollegin sie nicht
gevierteilt hatte. Genau das hatte sie ihr nämlich schon bei der Einarbeitung vor sechs Tagen
für den Fall angedroht, dass sie Kaffee oder andere Flüssigkeiten in die Nähe der
Stationscomputer brachte. Sie hatte ihr sogar das Weinen in unmittelbarer Nähe zu allen
elektronischen und mechanischen Systemen verboten, was Karma für einen Witz gehalten
hatte. Mittlerweile wusste sie, dass Iryna Ivashchenko nicht scherzte.
    Die Uhrzeiger über der Eingangstür rasteten hörbar auf sechs Uhr ein. Der offizielle
Beginn ihrer Dienstzeit im Silo nahm Karma die Entscheidung für oder gegen eine
Entschuldigung ab. Sie verließ das Administrationsbüro, trat aus dem Arbeitsgebäude der
U-förmigen Basisstation und lief über staubtrockenen Fels in die angrenzenden Unterkünfte.
Im Waschbecken ihres winzigen Badezimmers versuchte sie, die Kaffeeflecken aus ihrer
Strickjacke zu waschen, gab es aber schnell auf und ließ sie im Wasser liegen. Nach dem
Unfall im Admin-Büro versäumte sie lieber nicht auch den Dienstantritt im Silo, sonst holte
Iryna die Sache mit dem Vierteilen noch nach.
     Aus ihrem halb ausgepackten Koffer zog Karma einen dicken Pullover und schlüpfte
hinein. Beim Verlassen ihres Zimmers erinnerte ihr knurrender Magen sie daran, dass sie das
Abendbrot beziehungsweise das abendliche Mittagessen vergessen hatte. Auch nach fast
einer Woche auf dem Observatorium hatte sie sich noch nicht an den Tagesrhythmus
gewöhnt. Auf anderen Sternwarten konnte man die Nächte durchschlafen, die
automatisierte Technik des Teleskops walten lassen und die warmen Tagesstunden des
Hochlands in klimatisierten Räumen und mit netten Kollegen oder wenigstens in
komfortablen Unterkünften verbringen. Aber auf Mount Acutun war alles ein bisschen
anders. Politische Unruhen und Naturkatastrophen in Chile sowie Planungen für neue
Weltraum- und Mondteleskope machten weitere Investitionen in das veraltete
Observatorium an der südamerikanischen Küste unwahrscheinlich. Die Acutun-Sternwarte
würde es vermutlich noch genau so lange geben, bis der letzte Motor oder einer der letzten
vier Mitarbeiter aufgab. Wahrscheinlich war Iryna deshalb so mies drauf. Einer dieser vier
Kollegen war nämlich tatsächlich im vergangenen Monat ausgefallen, wenn auch nicht
dauerhaft. Ohne Karma, die eigentlich als Forscherin und nicht als Altenpflegerin eines
Teleskops in die Atacama-Wüste gekommen war, würde Iryna jetzt einen Job allein machen,
der schon zu zweit zu viel Verantwortung war. Der Institutsleiter hatte Karma eine Anstellung
angeboten, bevor er ihr überhaupt die Zusage für ihre Observation geschickt hatte und ohne
sie, geschweige denn ihren Lebenslauf, je zu Gesicht bekommen zu haben. Sie hatte das
Angebot dankend abgelehnt, packte dann aber schon am zweiten Tag nach ihrer Ankunft bei
Reparaturen und Instandhaltung mit an, weil es gar nicht anders ging.
     Karmas Magen rumorte lauter, und sie entschied, dass ihre selbst gebackenen
Ingwer-Kekse, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, als schnelle Mahlzeit herhalten
mussten. Sie verließ die Unterkünfte, betrat noch einmal das Arbeitsgebäude und steuerte
die Stationsküche an, die dem Admin-Büro gegenüberlag. Mit einem verstohlenen Blick
durch die offene Tür sah Karma ihre Kollegin am Schreibtisch sitzen. Iryna blätterte sich durch
Papiere und klapperte auf der Tastatur. Obwohl ihr allnächtlicher Dienst erst nach
Mitternacht begann, wenn Karma Feierabend machte, schien sie schon zu arbeiten.
Eigentlich arbeitete sie immer. Und das musste sie wohl auch, denn sonst war ja niemand
hier, der sich um Technik, IT und Bürokram kümmerte. Kein Wunder, dass die Mitarbeiter des
Observatoriums hier oben durchdrehten oder wie im Fall von Iryna ihre
zwischenmenschlichen Kompetenzen verloren. Wenn Arbeit und Einsamkeit einen nicht
mürbe machten, dann ganz sicher das Konservenfutter, mit dem das Observatorium beliefert
wurde.
    Karma holte die Tupperbox aus ihrem Vorratsschrank, schlang drei Kekse herunter und
betrachtete wehmütig die letzten zwei. Eigentlich hatte sie sich ihre Snacks einteilen wollen.
Sie überlegte kurz, trat dann in den Flur und näherte sich dem Admin-Büro.
    „Möchtest du –“
    Iryna platzte dazwischen, ohne sich auch nur umzudrehen oder die Finger von den
Tasten zu nehmen. „Was ich möchte, sind keine Kekskrümel im Getriebe und keine
Fettabdrücke auf der Spiegelbeschichtung. Und dann hätte ich gerne noch KEINEN KAFFEE IM
KONTROLLRAUM! Vielen Dank.“
    Ein heißes Glühen trat in Karmas Wangen. Iryna hatte vielleicht Nerven, sich so
aufzublasen. Wenn sie sie nicht so erschreckt hätte, wäre die Sache mit dem Kaffee gar nicht
passiert, und das sollte sie ruhig wissen. Karmas Mund öffnete und schloss sich wieder ohne
eine einzige Silbe zu produzieren..
    „Gehst du heute noch hoch zum Silo, wenn es sich einrichten lässt?“, fragte Iryna und
klackerte weiter auf der Tastatur herum.
    Die Tupperdose verformte sich unter Karmas Händen. Auch ihre Lippen zerknautschten,
brachten aber nichts hervor.
    Es sind nur zwei Monate, dachte sie und atmete geräuschlos aus.
    Sie drehte auf der Schwelle um und stellte die Keksdose in der Küche ab. Auf dem Weg
zur Stationstür hallte Irynas Stimme hinter ihr her. „Und fang unterwegs kein neues Studium
an!“
    Wie von selbst stoppten Karmas Schritte. Ihre Beine machten kehrt und trugen sie zurück
zum Admin-Büro. Und genauso selbstständig quollen die Worte aus ihr heraus, zittrig zwar,
aber deutlich. „Du kannst froh sein, dass ich vor dem Abschluss in Physik noch IT und
Mechatronik angefangen habe, sonst würdest du hier oben auf deinem blöden Berg, mit
deinem blöden Urzeit-Teleskop …“
    Karma unterbrach sich, als sie die Kopfhörer auf dem blonden Schopf ihrer Kollegin
bemerkte. Iryna hatte nichts von ihrem Ausbruch mitbekommen. Vielleicht tat sie auch nur
so. Vielleicht war es besser so.
    Es sind nur zwei Monate, wiederholte Karma in Gedanken. Nur noch
vierundfünfzigeinhalb Tage.
    Und zum Glück waren da noch die Nächte.

Das wolkenlose Blau über dem Bergplateau mischte sich mit dem Orange der Dämmerung.
Im Osten verfärbte sich der Himmel fliederfarben. Im Westen zerfloss die Sonne gerade in
einem Lavastrom. Es war, als brächte sie die rostroten Hänge von innen zum Leuchten. Wie
ein versteinertes, glühendes Meer zogen sich die Wellen aus kahlen Hügeln und sandigen
Ebenen vom künstlichen Plateau Acutuns bis zum Horizont. Nichts als Fels und Staub und
Sand, so weit das Auge reichte – jedes organische Auge zumindest.
    Karma sah von all dem nur einen kleinen Ausschnitt durch das winzige Fenster des
Kontrollraums und auch nur, wenn sie von den Displays aufsah. Sie prüfte zum wiederholten
Mal die Zahlen auf dem Monitor, die der Kühlkompressor endlich auf einen stabilen Wert
eingependelt hatte, und initiierte die Öffnungssequenz des Silos. Die Metallschalen des
angrenzenden Teleskopgebäudes quietschen, als sie sich schwerfällig auseinanderschoben.
Die Windgatter zogen sich rasselnd in ihre Betten zurück, die Stickstoffpumpe schnaufte, die
Tasten unter Karmas Fingern klapperten. Nur das tonnenschwere Teleskop drehte sich lautlos
im Innern des neun Meter hohen, schneeweißen Gebäudes, das wohl Silo genannt wurde,
weil jemand meinte, es sehe wie ein Kornspeicher aus. Karma fand eher, dass es etwas von
einem riesigen Salzstreuer hatte.
    Die empfindliche Teleskopkamera richtete ihren Fokus langsam auf einen Punkt im
dunkler werdenden Abendhimmel, auf das gefräßige schwarze Loch CTA 102, das das
geflügelte Pferd Pegasus im Nordosten begleitete. Karma erhob sich von dem Drehstuhl und
warf einen Blick auf die Testbilder der Lichtsensoren, die mit der undankbaren Aufgabe
beschäftigt waren, Fehler aus der nicht mehr ganz taufrischen Technik herauszurechnen.
Dabei versuchten sie, das allnächtliche Rätsel zu lösen, ob sie gerade einen Himmelskörper
oder einen Kratzer auf dem Spiegel fotografierten. Und da das Institut an der dringend
benötigten Neubeschichtung des Spiegels knauserte, gab es eine Menge zu rechnen.
      Noch ein letztes Mal kontrollierte Karma die Funktionstüchtigkeit der Motoren, die das
Teleskop ausrichteten, damit das diffuse, kosmische Licht im richtigen Winkel in die Kamera
fiel. Sie checkte die Parameter der Klimaregulation, die die Luft im Innern des Silos sanft an
die Außenbedingungen anglich, griff dann nach ihrem Smartphone, verließ den Kontrollraum
und trat hinaus auf das Plateau.
     Die Luft war deutlich kühler als noch vor einer Stunde. Mit der Sonne, die soeben in die
Berge abgetaucht war, verzog sich schnell die Wärme des Tages, und bald würde Karma in
ihrem Pullover nicht mehr schwitzen, sondern frieren. Eigentlich hätte sie auch den Rest der
Öffnungsprozedur im Kontrollraum anwesend sein müssen, um sicherzustellen, dass das
Teleskop nicht seinen Altersgebrechen erlag. Doch Karma hatte eine App programmiert, die
fast alle Lebensdaten des Teleskops abfragte und an ihr Handy sendete. Dank der
Remote-Überwachung konnte sie dabei zusehen, wie die Kuppelhälften die letzten
Zentimeter aufschoben wie ein schwerfälliges, eigentümliches Lebewesen, das erst mit
Einbruch der Nacht die schneeweißen Lider öffnete.
     Die Metallschalen rasteten hörbar auf ihren Trägern ein, die Gatter rollten in ihre
Halterung zurück, und es wurde still auf Mount Acutun. Und dunkel. Karma schaute auf in ein
Firmament so voll von Sternen, wie es nur an wenigen Orten auf der Erde zu beobachten
war.
     Wenn jeder Mensch dieses Meer aus Sonnen sehen könnte, wenn jeder seinen Platz und
seine Größe im Universum begreifen würde, so dachte Karma, dann sähe die Welt sicher
anders aus. Besser. Aber das stimmte natürlich nicht, denn sie selbst sah ja quasi
hauptberuflich in die Sterne, viel tiefer und länger, als das Normalsterbliche taten, und
trotzdem stritt sie mit ihrem Vater über Nichtigkeiten, ärgerte sich schwarz über verspätete
U-Bahnen, quälte sich mit Bikini-Diäten und wünschte dem einzigen Menschen, den es im
Umkreis von 50 Kilometern gab, die Pest an den Hals.
     Karma löste den Blick vom Handybildschirm und sah in das Blau des aufziehenden
Nachthimmels, vor dem sich der innere Arm der Milchstraße abzuzeichnen begann. Genau
über ihrem Kopf gingen die zerklüfteten Zuckerwattewolken des galaktischen Zentrums auf,
schwer von Sternenstaub, Milliarden Sonnen, bestimmt noch mal so vielen Planeten und
vielleicht auch schwer von Leben. Die Sternendichte war dort so hoch, dass es nicht länger
eine fantastische Spinnerei, sondern eine simple, mathematische Wahrscheinlichkeit war,
dass von dort jemand zurückblickte.
     Karma hob die Hand und winkte. Mit einer telekommunikativen Verzögerung von
schlappen 25.000 Jahren würde dieser Gruß dort jemanden erreichen, und wenn er ihn
erwiderte, gab es Karma schon lange nicht mehr.
    Dieser Gedanke hätte sie traurig stimmen sollen, aber er beruhigte sie. Was könnte man
nicht alles sagen, wenn die Antwort erst in zwei Ewigkeiten zurückkam.

Die Nacht hing noch sternenschwer über dem Hochland, als sie das Kontrollzentrum an Iryna
übergab. Die Frauen tauschten genau drei Worte miteinander aus, und Karma war froh, dass
das dank ausgebliebener Technik-Katastrophen ausreichte. Sie verließ das Gebäude und trat
hinaus in Dunkelheit und winterliche Kälte. Erst als sie das Ende der Bergebene erreichte, wo
ein schmaler Steinpfad das Plateau mit dem Gelände der Basisstation verband, schaltete sie
die Taschenlampe ihres Handys ein, um den Weg vor sich zu erleuchten. Dabei achtete sie
heute ganz besonders darauf, das Smartphone vom Silo abzuwenden. Selbst die kleinste
künstliche Lichtquelle konnte die Aufnahmen des Teleskops verfälschen und ihre Kollegin
noch mehr verärgern.
     Karma folgte dem Pfad zur Basisstation. Arbeitsgebäude, Unterkünfte, Garage,
Technikschuppen und der ebene Platz, den sie säumten, lagen in der Dunkelheit verborgen.
Mitten auf dem Weg blieb Karma stehen. Hinter ihr hatten sich Kiesel gelöst, die über den
steilen Fels rollten. Das war an sich nichts Ungewöhnliches; der Wind riss öfter mal kleinere
Gerölllawinen los. Aber dabei hechelte er nicht, als würde ihn das außer Atem bringen.
     Nervös schwenkte Karma das Handylicht herum und leuchtete die Hänge links des Pfades
ab, doch da war nichts. Kahl und unbewegt erstreckte sich das nackte Gestein unter ihr.
Selbst Flechten und Moosen fehlte der Ehrgeiz, darauf festzuwachsen. Von Gebüschen, in
denen sich jemand oder etwas hätte verstecken können, ganz zu schweigen. Auch sonst gab
es in diesem Teil der Atacama nur wenige Lebensformen, von denen ihr bis auf das
ukrainische Ungeheuer im Kontrollraum auch keine gefährlich werden konnten. Es war nicht
gänzlich undenkbar, dass Iryna ihr einen gemeinen Streich spielte, aber das täte sie ganz
sicher nicht, während das Teleskop im Arbeitsmodus war. Iryna würde nicht mal von der
Arbeit aufsehen, wenn der Berg unter ihr zusammenbräche.
    Noch einmal lauschte Karma in die Nacht, in der nur das Hintergrundrauschen der
Einöde zu hören war, und lief dann weiter den Pfad hinab. Kaum hatte sie die untere Ebene
erreicht, blieb sie wieder stehen. Diesmal hatte sie nichts gehört, was sie beunruhigte, es war
mehr ein Gefühl; das Gefühl, als würde sie etwas verfolgen. Der rationale Teil ihres Gehirns
lachte sie dafür aus, denn er wusste, dass sich hier oben niemand herumtreiben konnte. Das
benachbarte Observatorium lag 35 Kilometer nördlich von hier, die nächste Stadt war drei
Autostunden entfernt. Sie und Iryna waren allein hier draußen – ein Gedanke, der sie im
Moment nicht trösten wollte. Ganz im Gegenteil.
    Karma beschleunigte ihre Schritte. Nur wenige Augenblicke später erreichte sie den
Eingang des Bürogebäudes und öffnete die Tür, die hier oben nie jemand abschloss. Mit
einem Bein stand sie schon auf dem blanken Linoleum des Korridors, da hörte sie wieder ein
Geräusch hinter sich.
    „Miau.“
    Steif drehte Karma auf der Schwelle um und leuchtete mit der Handylampe in die
pechschwarze Nacht. Hatte sie ernsthaft eine Katze miauen gehört? Hier draußen? 1300
Meter über dem Meeresspiegel? Einer Wildkatze, die sich im Niemandsland der Atacama
durchzuschlagen wusste, wollte sie lieber nicht begegnen. Karma schloss die Tür hinter sich,
knipste das Licht an und erstarrte, als sie die kleine Gestalt im Flur stehen sah.
    Die Katze blinzelte sie aus gelben Augen an. Der Schwanz wiegte sich geschmeidig hin
und her. Ratlos starrte Karma das Tier an, das aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz wie eine
gewöhnliche Hauskatze aussah. Das Fell war von einer seltsam rötlichen Färbung, die Ohren
ein bisschen größer als üblich, vielleicht ein bisschen spitzer, als Karma es bisher gesehen
hatte, aber was wusste sie schon von Katzen. Haustiere im Allgemeinen waren ihr nicht
geheuer, deshalb mied sie sie für gewöhnlich, es sei denn, sie eigneten sich als
Studienobjekte, wie die Ameisenfarm, das Glas Urzeitkrebse und die
Petrischalenpopulationen, die sie als Kind zusammen mit Mama Sarangi gezüchtet hatte.
Tiere, die nur dumm in der Gegend herumlagen, hatten für Karma wenig Reiz. Die Katze
dachte wohl etwas Ähnliches von ihr, denn sie wandte sich gelangweilt ab, schlenderte
unbekümmert den Flur entlang und lief durch die offene Tür des Admin-Büros. Karma folgte
dem Tier und sah ihm dabei zu, wie es erst den einen und dann den benachbarten Raum
erkundete, den Hals reckte und alles neugierig beäugte und beschnupperte. Je länger sie die
Katze betrachtete, desto sicherer war sie sich, tatsächlich ein Haustier vor sich zu haben.
Aber das war unmöglich. So weit draußen lebte niemand, zumindest nicht nah genug, damit
eine Katze mal eben den Acutun hinaufspazierte. Selbst der hartgesottenste Straßenstreuner
würde nicht so weit hinaufkommen.
     „Wo kommst du bloß her?“, fragte Karma nachdenklich.
     Die Katze sah zu ihr auf, blinzelte und schlenderte weiter durch die Station. Als sie ihre
Erkundung beendet hatte, trat sie ihren Rückweg durch den Flur an, blieb vor dem
verschlossenen Ausgang stehen und mauzte. Das tat sie zweimal, bis Karma endlich auf die
Idee kam, ihr die Tür zu öffnen. Sie sah dem Tier dabei zu, wie es über die Schwelle in die
Nacht heraustrat, und beobachtete seine schmale Gestalt, die mit den Schatten verschmolz.
Die Katze verschwand so leise, wie sie aufgetaucht war.
     Noch immer perplex schloss Karma die Tür wieder und brühte sich eine Tasse Tee auf, die
sie in der Küche vergaß und kalt werden ließ, als sie den angrenzenden Com-Raum betrat. Sie
wählte den Eintrag ‚Mama‘ im Skype-Menü des alten Rechners, der für die
Privatkommunikation eingerichtet war, und wartete nur drei Freizeichen, bevor ihre Mutter
das Gespräch annahm. Ein rundes Gesicht mit Augen, die genauso groß und schwarz waren
wie Karmas, erschien auf dem Bildschirm.
Karma hatte kaum ein „Guten Morgen“ herausgebracht, da fing Mama Sarangi schon an,
darüber zu referieren, wie wenig gut dieser Morgen doch war. „Warum tue ich mir das alles
nur an?“, fragte sie gen Himmel, beziehungsweise gen Decke ihres Arbeitszimmers in
Brighton.
    Der Grund dafür, dass sich Mama Sarangi das alles antat, war natürlich, dass sie es liebte.
Die Professur an der Uni, das Theater auf dem Campus, die Diskussionen mit den Kollegen,
sogar – und vermutlich ganz im Besonderen – die Fehde mit dem Dekan der Fakultät
Molekularbiologie.
     Nachdem Mama Sarangi sich ausreichend über ihren Lieblingsfeind ausgelassen hatte,
ließ sie sich von ihrer Tochter versichern, dass diese genug aß, trank und schlief.
     Ungeduldig wippte Karma mit den übereinandergeschlagenen Beinen. Für gewöhnlich
war es gut, dass ihre Mutter so gesprächig war, sonst wären die täglichen Videoanrufe in die
Heimat ziemlich kurz, schließlich gab es von Mount Acutun außer von der unkooperativen
Iryna und der genauso unkooperativen Technik nur wenig zu erzählen. Nicht mal über das
Wetter konnte man sich hier oben beschweren, denn es war schlichtweg traumhaft – für eine
Astronomin zumindest. Trockene, windstille Tage, glasklare Luft, keine Abgase, keine
Lichtverschmutzung, keine Niederschläge, und wenn in der Wüste doch mal ein paar Wolken
aufzogen, dann taten sie es für gewöhnlich weit unter dem Plateau. Nur von streunenden
Katzen hatte bestimmt noch kein Observatorium an der chilenischen Küste zu erzählen
gehabt.
     „Eine was?“, fragte ihre Mutter. „Ich glaube, die Verbindung hakt.“
     „Eine Katze. Eine Hauskatze. Sie war nur kurz hier und ist wieder abgezogen.“ Karma
musste einer Biologie-Professorin nicht erklären, wie ungewöhnlich das hier draußen war.
    Mama Sarangi legte den Kopf schräg und blickte ziellos an der Kamera vorbei. „Wer
weiß“, überlegte sie laut. „Wir haben schließlich auch lange geglaubt, es würde kein Leben in
der Tiefsee geben.“
    „Ja, schon“, dehnte Karma ungeduldig aus. „Aber das Leben dort sieht aus, als wäre es
dem Filmset eines Horrorstreifens entlaufen. Das war eine … Katze.“
    „Man kann nie wissen“, antwortete ihre Mutter, ganz die Wissenschaftlerin, die keine
Eventualitäten ausschloss. „Womöglich sind da in der letzten Zeit Wandertouristen
unterwegs gewesen. Es gibt doch diese verrückten Kids, die in allen möglichen und
unmöglichen Bergländern herumklettern. Vielleicht hatten sie eine Katze dabei.“
    Karmas Mundwinkel kräuselten sich. „Ach so, ja, klar, eine sogenannte Bergführerkatze
sozusagen.“
    „Ja, genau“, sagte Mama Sarangi mit einer Stimme, die verriet, dass sie nicht mehr ganz
bei der Sache war. Offenbar sah sie jemanden an, der gerade in das Büro gekommen war.
    „Tut mir leid, Schatz“, entschuldigte sie sich dann. „Ich muss meinem Studenten bei
seinem ersten eigenständigen Töpfchengang das Händchen halten gehen.“
Der erwähnte Student kannte Professorin Sarangi und ihren Hang zu derben Vergleichen
offenbar noch nicht lange. Karma hörte ein missmutiges Brummen im Hintergrund.
    „Wir sprechen später noch mal, wenn du dann noch wach bist, ja?“
    Karma schaute zu Boden. „Oder am Leben“, murmelte sie.
    Und obwohl Mama Sarangi mit ihren Gedanken immer zwei Schritte weiter war als ihre
Gesprächspartner, entgingen ihr die entscheidenden Dinge doch nie. „So schlimm?“, hakte
sie nach.
     „Hm“, machte Karma nur und zuckte mit den Schultern.
     „Na zum Glück gibt es ja noch einen zweiten Bergbewohner, mit dem du dich anfreunden
kannst.“ Mama Sarangi rückte mit verschwörerischer Miene näher an die Laptopkamera
heran. „Katzen sind sowieso die besseren Menschen. Und sie gehen sogar alleine aufs Klo.“
     Der zweite Satz war nicht für ihre Tochter bestimmt, dafür aber das Lächeln, das auf dem
alten Monitor wie eine Sonne aufging. Es ließ die 12.000 Kilometer zwischen Chile und
England um ein paar Meter schrumpfen.
Zwei

Erst als sie das versäumte Abendessen nachholte, sich Reis und Dosengemüse auf dem Herd
warm machte, kam Karma auf die Idee, dass sie der Katze Futter und Wasser hätte anbieten
sollen. Wenn das Tier wirklich in der Wüste ausgesetzt worden war, dann würde es ohne
Hilfe nicht lange überleben. Schon jetzt musste es Dutzende Kilometer hinter sich gebracht
haben, denn so weit kam niemand in das Bergland hinauf, selbst irgendwelche
Abenteuertouristen nicht, wie Mama Sarangi halbherzig vorgeschlagen hatte. Es war ein
Wunder, dass das Tier nach so einem Marsch überhaupt noch lebte. Und Karma hatte dieses
Wunder einfach davonziehen lassen.
     Sie verließ das Arbeitsgebäude, lief ein paar Schritte über den Platz vor der Station und
schwenkte das Handylicht von der Garage zum Technikschuppen und wieder zurück.
Ungeschickt schnalzte sie ein paar Mal mit der Zunge und wartete vergebens, dass sich die
Katze zeigte. Sie rieb sich die Arme. Die Nachtkälte hatte sich durch ihren dicken Pullover
gefressen. Auch das Tier würde hier draußen bald frieren und spätestens dann wieder zurück
sein. Wohin sonst sollte es auch gehen? Doch die kleine Streunerin ließ Karma keine Ruhe.
Sie trat den Weg hinauf zum Silo an. Vielleicht konnte Iryna das Rätsel um die Katze auflösen.
Womöglich kannte sie das Tier sogar. Das wäre zumindest eine Erklärung dafür, warum es
wie selbstverständlich durch die Station geschlendert war.
     Mit einem vorsichtigen Klopfen kündigte sich Karma im Kontrollraum an, damit ihre
Kollegin nicht erschrak, wenn sie so unerwartet in die Einsamkeit der letzten Nachtwache
platzte. Besonders effektiv schien diese Maßnahme nicht gewesen zu sein. Irynas Gesicht
war noch zerknitterter als sonst.
    „Was hast du jetzt schon wieder kaputt gemacht?“
    Auf halbem Weg durch den Raum blieb Karma stehen. Ärger kniff sie in den Magen. Aber
womöglich kam das Kneifen auch daher, dass ihr beim Würzen die Dosierhilfe der Chiliflasche
mitsamt dem restlichen Inhalt in ihren Gemüsereis gefallen war. „Gibt es hier oben
irgendwas, was noch nicht kaputt ist?“, zankte sie zurück.
    „Wenn, dann wirst du es bestimmt finden.“ Damit wandte sich Iryna wieder den
Monitoren zu.
    Karma atmete tief durch. Sie war nicht zum Streiten noch einmal auf das Plateau
gestiegen. „Ich habe eine Katze gesehen.“
    „Tatsächlich“, antwortete Iryna.
    „Weißt du irgendwas von einer Katze?“
    „Katzen hatte ich hier oben noch nicht, aber dein Vorgänger hat in der zweiten Woche
Ufos gesehen.“
    „Ufos?“
Irynas dünne Lippen verkniffen sich noch mehr und verschwanden dabei beinah in ihrem
blassen Gesicht.
    „Aber ich hab sie wirklich gesehen! Eine Hauskatze, ungefähr so groß.“
    Karma hob die Hände und hielt sie in Katzengröße auseinander, ließ sie aber sofort
wieder sinken. Iryna würde ja doch nicht aufsehen. Sie kritzelte weiter auf einem Papier
herum, hob nur die Augenbrauen und fragte: „Dann hast du ein Foto von dieser neuen
Spezies der chilenischen Bergkatze gemacht, nehme ich an?“
    „Ähm.“
    Iryna gab ein humorloses Lachen von sich. „Die Elite-Wissenschaftlerin aus Cambridge,
meine Damen und Herren.“ Sie rollte mit dem Bürostuhl den langen Schreibtisch entlang und
tippte furchtbar wichtig auf einer Tastatur herum.
    Karma presste die Lippen aufeinander. Schimpfworte stauten sich dahinter, die sie nicht
mal denken wollte.
    Nur 54 Tage, wiederholte sie ihr Mantra. Aber 54 Tage waren eine verdammt lange Zeit,
wenn jeder einzelne davon an einem fraß wie CTA 102 an einer Sonne.
    Das rote Plastikgestell von Irynas Brille, die am Ende des Schreibtischs neben einem
aufgeschlagenen Ordner lag, sprang Karma geradezu ins Gesicht. Ohne nachzudenken, griff
sie danach, verließ das Kontrollzentrum und ließ das Silo hinter sich zurück. Schon auf
halbem Weg hinab zur Station bereute sie, dass sie dem Impuls nachgegeben hatte. Sie trat
in den Flur des Arbeitsgebäudes, schaltete das Licht an und betrachtete die Brille in ihrer
Hand. Karma wusste nicht, was sie damit hatte tun wollen, als sie sie vom Tisch geklaut hatte,
sie wusste nur, dass das hier nicht ihre Art war.
     Sie seufzte, ging in den Admin-Raum und legte die Brille auf Irynas Schreibtisch ab. Der
Tisch brummte, als würde er sich über die paar Gramm mehr, die er neben zwei dicken
Stapeln mit Ordnern zusätzlich tragen musste, beschweren. Karma zuckte zurück, und
erkannte erst dann das Handy, dessen Display mit einem erneuten Brummen aufblinkte. Eine
E-Mail vom Institut ging auf Irynas Smartphone ein. Karma schnaubte heiße Luft durch die
Nase. Ihre Kollegin hatte ihr erzählt, dass es auf der Station aus Sicherheitsgründen kein
Wi-Fi für die Mitarbeiter gab. Alles, was Karma an Kommunikation, Information und
Unterhaltung brauchte, wickelte sie über den langsamen Rechner im Com-Raum ab.
Vielleicht war es auch gelogen, dass gerade in diesem Raum die Klimaanlage nicht
funktionierte. Und wahrscheinlich gab es auf der Station auch noch anderes Toilettenpapier
als das dünne Schmirgelpapier, das bei ihr auf dem Klo hing.
     „Verdammtes Biest“, fluchte Karma und hob die Brille wieder auf. Sie sah sich im Raum
um, fand einen guten Ort zwischen Schreibtischfuß und Wand und ließ das Ding in der Lücke
dazwischen verschwinden. Dort konnte eine Brille schon mal aus Versehen hineinfallen. Und
dort konnte man sie auch wiederfinden, nachdem man sich ein paar Stunden in der Station
schwarzgesucht hatte. Dieser Gedanke half ihr zumindest ein wenig gegen das schlechte
Gewissen, das sich beim Verlassen des Raumes trotz der Genugtuung einstellte.
     Karma betrat die Küche und dachte wieder an die Katze, die sie ohne Fütterung hatte
gehen lassen. Sie nahm zwei Schälchen aus dem Geschirrschrank. Das eine befüllte sie mit
frischem Wasser, in das andere musste irgendwas zu fressen hinein. Unter ihren eigenen
Lebensmitteln fand Karma nichts, was sie einer Katze hätte vorsetzen können, es sei denn,
diese neu entdeckte Spezies der chilenischen Bergkatze lebte vegetarisch. Auch die Vorräte
der Station gaben nicht mehr als Fertiggerichte her, die nicht mal für Menschen eine
artgerechte Ernährung darstellten, geschweige denn für Katzen.
     Karmas Blick fiel auf den Hängeschrank in der gegenüberliegenden Küchenecke – Irynas
Schrank. Langsam und vorsichtig öffnete sie die Tür, als würde sie Sprengfallen oder einen
bösartigen Kobold dahinter vermuten. Doch was sie fand, war ein ganzes Fach beladen mit
Dosen, auf deren Etiketten etwas auf Ukrainisch stand, darunter das Bild einer dunklen,
faserigen Masse – Dosenfleisch, wie Karma vermutete. Von weit hinten stahl sie eine der
Konserven, damit ihre Kollegin das Fehlen nicht bemerkte, öffnete sie und überzeugte sich
mit einem kurzen Riechtest davon, dass sie tatsächlich eingelegtes Fleisch in den Händen
hielt. Naserümpfend zerteilte Karma die Masse und gab sie in das Futterschälchen. Den Rest
versteckte sie in der hintersten Ecke des Kühlschranks.
     Mit Wasser und Futter verließ sie das Gebäude und stellte die Schalen einige Meter
abseits des Haupteingangs neben dem Technikschuppen ab. So würde Iryna sie nicht
entdecken, eine hungrige Katze aber schon. Dann verschwand Karma in ihrem Zimmer, legte
sich ins Bett, und für eine Kriminelle schlief sie in dieser Nacht erstaunlich schnell ein.

Karma band sich das lange, schwarze Haar zu einem Zopf zusammen, steckte das Handy, das
sie sonst in den Unterkünften ließ, in ihre Hosentasche und trat hinaus in das Licht der
Mittagssonne. Auf dem Weg in die Arbeitsräume machte sie einen Abstecher zum
Technikschuppen. Im Schatten des weißen Gebäudes sah sie die Schälchen so stehen, wie sie
sie zurückgelassen hatten. Nur das Fleisch war bis auf den letzten Krümel weggeschleckt.
     Mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen trat sie in den Stationsflur ein und
steuerte die Küche an. Sie brauchte dringend einen Tee. Ihr Magen hatte ihr die späte, viel zu
scharfe Abendmahlzeit noch nicht verziehen. Auf halbem Wege durch den Flur blieb Karma
stehen. Irynas Stimme dröhnte aus dem Kommunikationsraum. Sie klang wütend, und zwar
so richtig wütend und nicht nur so dauerangesäuert wie gewöhnlich. Karma schluckte. Sie
dachte an die angebrochene Dose im Kühlschrank und die versteckte Brille im Admin-Büro.
Schuldbewusst zog sie den Kopf zwischen den Schultern ein und schlich sich an die Tür des
Com-Raums heran, die einen Spalt offenstand, und hoffte, dass sie unbemerkt an Iryna
vorbeikam. Vor der ersten Tasse Tee fühlte sie sich einem Kampf um ihr Leben nicht
gewachsen. Sie huschte auf Zehenspitzen in die angrenzende Küche, schaffte es sogar,
geräuschlos die Tür zu schließen und eine Tasse Wasser in die Mikrowelle zu stellen. Irynas
Stimme hallte weiter durch die ganze Station. Sie schimpfte auf Ukrainisch, machte immer
wieder Pausen, in denen nur leises, entferntes Gemurmel zu hören war, auf das sie dann
noch energischer antwortete. Erst jetzt begriff Karma, dass Iryna telefonierte. Schritte im
Com-Raum donnerten über das alte Linoleum. Irynas Stimme stockte und wechselte dann
von Ukrainisch ins Englische. Karma konnte nicht anders, als zu lauschen. Selbst im
benachbarten Observatorium, fast 40 Kilometer nordwestlich von Acutun, hätte man es
kaum vermeiden können, das Ganze mit anzuhören.
    „Hol Mutter wieder an den Hörer! Ich hab ihr gesagt, dass ich nicht–“ Gebrabbel am
anderen Ende der Leitung.
    Karma wünschte sich, dass sie Irynas Gesprächspartner genauso gut hätte verstehen
können. Nicht, weil sie besonders neugierig gewesen wäre, sondern eher, um zu erfahren,
was es brauchte, um jemanden wie Iryna zum Schweigen zu bringen.
    „Ich habe Mama gerade schon erklärt, dass ich hier nicht wegkann, auch wenn sie noch
so auf die Tränendrüse drückt und der halben Stadt erzählt, was sie für ein undankbares Kind
in die Welt gesetzt hat.“ Iryna kreiste ziellos im Nebenraum umher. „Ja, ich weiß, dass man
Beerdigungen schlecht verschieben kann, aber ich kann auch nicht mal eben nach
Feierabend 14.000 Kilometer hin- und wieder zurückfliegen.“
    Erneut ein kurzes, grimmiges Schweigen und das blecherne Flüstern aus dem Hörer des
Stationstelefons.
    „Dass er auch mein Vater ist, hätte dir letzte Woche einfallen sollen, du blöde Fotze!“
    Der Hörer krachte in seine Halterung. Die Tür des Com-Raums quietschte und schlug
scheppernd gegen die Wand. Schritte näherten sich auf dem Flur, und nur eine Sekunde
später stand Iryna auf der Schwelle der Küche. Ihr Gesicht war gerötet, das sonst so streng
zusammengebundene Haar offen und zerzaust. Sie schnaufte. Wut loderte in ihren Augen,
Augen, die jetzt Karma fixierten.
    Einen Moment lang, in dem sich Karma auf das Schlimmste gefasst machte, sahen sie
einander an. Dann fuhr Iryna herum, stapfte über den Flur und verließ das Gebäude. Lange
hörte man noch die Sohlen ihrer Schuhe, die über Fels und Sand knirschten. Dann war Iryna
verschwunden. Nur ihr Zorn blieb noch wie eine elektrische Ladung in der Luft hängen.

Die Stille auf Mount Acutun war mindestens genauso nervtötend wie Irynas Sticheleien und
ihre fast schon aufdringliche Gewissenhaftigkeit, mit der sie Arbeiten in der Station
ausführte. Dabei hatte sie immer diese Attitüde an sich, mit der Eltern den Abwasch selbst
auf sich nahmen, um dessen Erledigung das herumlungernde Kind schon vor zwei Stunden
gebeten worden war. Karma hätte die ungestörte Freizeit vor Schichtbeginn genießen oder
wenigstens an ihrer Dissertation weiterschreiben sollen, aber das Gespräch, das sie belauscht
hatte, und Irynas wirrer, lodernder Blick, mit dem sie aus der Station gestürmt war, gingen ihr
nicht aus dem Kopf.
Erst hatte Karma geglaubt, dass ihre Kollegin oben am Silo arbeitete. Nach einigen
Stunden, in denen sie weder die Tür des Arbeitsgebäudes noch den Eingang der Unterkünfte
klappern gehört hatte, lief Karma hoch zum Plateau. Sie hatte sich einen guten Vorwand
überlegt, falls sie Iryna dort antraf, schließlich gab es da oben immer etwas zu tun. Doch
Kontrollraum und Silo waren verlassen. Karma hatte sich sogar getraut, in Irynas Zimmer
nachzusehen, ohne Erfolg. Mit einem flauen Gefühl im Magen sah sie auch im
Technikschuppen und in der Garage nach. Doch zum Glück war ihre Kollegin dort nicht
anzutreffen. Natürlich nicht. Iryna war nicht der Typ, der sich in einem dunklen Schuppen
aufhängte.
    Nein, dachte Karma grimmig. Wenn Iryna über Selbstmord nachdächte, würde sie sich
kurz vor Beginn der Rush Hour vor eine U-Bahn werfen, damit eine ganze Großstadt etwas
davon hatte.
    Sofort fühlte Karma sich schlecht wegen ihrer böswilligen Gedanken. Iryna hatte offenbar
gerade ihren Vater verloren. Wenn seine Beerdigung bevorstand, dann musste er schon vor
ein paar Tagen gestorben sein, irgendwann kurz nach Karmas Ankunft. Unter anderen
Umständen hätte sie dieses Wissen milde gestimmt. Doch sie erinnerte sich daran, dass sie
Iryna am zweiten oder dritten Tag nach ihrer Familie gefragt und aufgrund deren wortkarger
Antwort dann von Papa Sarangis Arbeit erzählt und sich nur so halb im Spaß darüber
beschwert hatte, einen Psychologen zum Vater zu haben. Es hatte ein Eisbrecher sein sollen.
Die späte Erkenntnis, dass sie unwissentlich auf dem zu brechenden Eis gestanden hatte,
ärgerte Karma. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie immer zielsicher das Fettnäpfchen
fand, und sie ärgerte sich über Iryna, die sie wiederholt in dieses Fettnäpfchen hatte treten
lassen. Doch als sich der Tag langsam dem Ende zuneigte und ihre Kollegin noch immer nicht
aufgetaucht war, schwand der Ärger. An seine Stelle trat echte Sorge. Die Atacama war kein
geeigneter Ort, an dem man spazieren ging, um seinen Hitzkopf abzukühlen.
     Karma lief wieder hinauf zum Silo, stellte sich an den äußeren Rand des Plateaus und
suchte die roten Hügelhänge und die gewundene Bergstraße nach einem blonden Schopf
und einem blauen T-Shirt ab. Doch keine Spur von Iryna. Im Westen berührte die Sonnenglut
bereits die Bergketten. Karma würde ihren Dienst beginnen, ohne zu wissen, ob es ihrer
Kollegin gut ging. Sie konnte nur hoffen, dass Iryna vor Einbruch der Nacht wieder zurück
war. Der Wetterbericht hatte Minusgrade angesagt. Wenn man sich in der Dunkelheit in den
glatten Hängen keinen Beinbruch zuzog, dann ganz sicher Frostbeulen.
     Karma betrat das Kontrollzentrum, erweckte das Teleskop aus seinem Dornröschenschlaf,
startete die Analyse- und Justierungsdurchläufe und gab die astronomischen Koordinaten für
die anstehenden Observationen ein. Im benachbarten Silo hörte sie das Klimasystem
anspringen.
     „Lass mich jetzt bloß nicht hängen“, flüsterte sie der Stickstoffpumpe entgegen. Aber sie
hätte ihr Stoßgebet gen Hauptrechner senden sollen. Das Silo hatte die Verbindung zu den
Datenservern der Station verloren. Karmas Sorge wurde wieder zu Ärger. Es war Irynas
Aufgabe, die Server zu pflegen und die Informationen, die die Teleskopkamera jede Nacht
aus dem Universum saugte, zu überwachen.
    Mit hängenden Schultern verließ Karma das Kontrollzentrum und lief den Steinpfad
hinab zur Station. Noch bevor sie die Haupttür geöffnet hatte, hörte sie Geräusche aus dem
Serverraum, der eigentlich nur ein besserer Besenschrank am Ende des Flures war. Karma
hätte es nicht zugegeben, aber sie war froh, ihre Kollegin zu sehen. Das heißt, sie sah nur ihr
Hinterteil. Der Rest von Iryna steckte in dem Schrank.
     „Alles okay hier unten?“
     Iryna fuhr zusammen und stieß sich den Kopf an einer Festplatte, die schief aus ihrer
Halterung hing. Sie fluchte und zerrte wütend an dem kastenförmigen Datenträger. Die Kabel
lösten sich mit einem Ruck, und die Festplatte flog im hohen Bogen durch den Flur. Karma
sah der Hardware mit offenem Mund nach. Ihre Kollegin tauchte wieder ab und zog eine
zweite Platte aus dem Cluster.
     Wie lange es dauern würde, bis ein Kranken- oder Polizeiwagen hier oben auftauchte?
Karma linste hinüber zum Com-Raum, aber selbst der Weg zum Telefon schien ihr plötzlich
beunruhigend weit.
     Iryna erhob sich und hielt ihrer Kollegin die Festplatte vor die Nase. „Weißt du, was das
ist?“
     Karma blinzelte nervös. „Ähm, ich bin hier zwar nicht die IT-Spezialistin, aber ich bin mir
ziemlich sicher, dass das kein Papierflieger ist.“
     „Das sind IDE-Platten! In Kalifornien entwickelt man gerade den ersten
Quantencomputer, der mit Sonnenschein und guten Gedanken läuft, und wir schreiben hier
auf Steintafeln.“
    Sie griff erneut in den Serverschrank. Zu Karmas Erleichterung warf sie keine weiteren
Datenträger durch die Gegend. Offenbar ging es doch nicht darum, eine wilde
Zerstörungswut zu entladen. Sie arbeitete an dem Problem mit der unterbrochenen
Verbindung, auch wenn Karma daran zweifelte, dass sie das mit einem klaren Verstand tat.
Wie lange war Iryna da draußen unter der Nachmittagssonne unterwegs gewesen?
    „Und wo, verdammt, ist meine gottverdammte Brille?“
    Iryna warf die blecherne Tür des Serverschranks zu, die sofort wieder aufsprang, und
stürmte an Karma vorbei in das Admin-Büro. Brille war Karmas Stichwort. Gerade wollte sie
umdrehen und sich davonstehlen, da kam Iryna schon wieder aus dem Büro und hielt ihr den
ausgestreckten Zeigefinger hin. „Du hast sie versteckt!“
    „Äh, nein.“
    „Aber zum Glück hat meine Brille einen eingebauten RFID-Chip.“
    Na klar, dachte Karma. Und meine Unterwäsche hat Bluetooth.
    Als Iryna wie eine Irre in einer Schublade zu wühlen anfing, bereute Karma nicht nur die
blöde Idee mit der versteckten Brille, sondern überhaupt nach Acutun gekommen zu sein.
Iryna behielt recht. Auf diesem Berg verlor jeder früher oder später den Verstand. Aber bei
ihrer Prophezeiung hatte sie bestimmt nicht gedacht, dass sie selbst die Nächste sein würde.
    „Ha!“, sagte Iryna und hielt ein kleines, schwarzes Gerät mit einer kurzen Antenne in die
Höhe. Sie drückte den Knopf in der Mitte, und das Ding begann, wie wild zu piepen. Iryna
folgte der Richtung, die die grün blinkenden LED-Lichter anzeigten, ging zielstrebig auf das
Versteck zwischen Schreibtischbein und Wand zu und zog ihre Brille daraus hervor. Karma
beobachtete, wie sich hinter Irynas Stirn Bosheiten zusammenbrauten. Dann entglitten ihre
Züge, als wäre ihr etwas Wichtiges eingefallen. „Was machst du überhaupt hier? Du solltest
oben sein.“
     Karma schloss und öffnete den Mund wieder. Kam sie wirklich so einfach mit der
Brillensache davon? „Du warst ewig verschwunden“, sagte sie. „Ich hab mir Sorgen gemacht.“
     „Ey, wenn du jetzt auch noch anfängst, mich zu bemuttern, kriegen wir zwei ein richtiges
Problem.“
     Ein vertrautes Glühen schoss Karma in die Wangen. Wenn sie sich ärgerte, bekam sie
immer diese dunklen Flecken im Gesicht, und darüber ärgerte sie sich dann noch mehr.
„Entschuldige bitte, dass ich mir Gedanken mache, wenn der einzige Mensch, der sich das
Nimmerland mit mir teilt, seine Murmeln verliert.“
     „Aber wieso denn?“, dehnte Iryna ulkig aus und gestikulierte wild mit ihren Händen.
„Wenn ich durchdrehe, hast du doch immer noch deine Katzen. Oder du nimmst Kontakt mit
den Ufos auf, die dein Vorgänger nach seiner ersten Doppelschicht entdeckt haben will.“
     Und aus Sorge um dieses Biest hatte Karma jetzt die Mahlzeit vor Schichtbeginn ausfallen
lassen? Sie ballte die Fäuste. „Ich glaube nicht, dass hier oben Ufos landen werden“, sagte
sie. „Es hat sich sicher in der Milchstraße herumgesprochen, dass eine Berghexe auf Mount
Acutun haust.“
     Iryna trat einen Schritt auf sie zu und schnaubte ihr heißen Atem entgegen. „Wen nennst
du hier eine Berghexe, du Bollywood-Prinzessin?“
     Karma schnappte nach Luft. Ihr Kinn bebte vor Wut. Bevor sie die richtigen Worte fand,
um dieser Wut Luft zu machen, mischte sich jemand ein.
     „Miau.“
     Die Köpfe der beiden Frauen fuhren herum. Zwei gelbe Augen sahen vom anderen Ende
des Flurs herüber. Sekundenlang wusste keine von ihnen etwas zu sagen.
     „Karma“, begann Iryna langsam. „Da steht ’ne Katze im Flur.“
     „Ja“, sagte Karma und kämpfte halbherzig gegen die Häme in ihrer Stimme an.
     „Da steht eine Katze im Flur eines Observatoriums im chilenischen Hochland,
anderthalbtausend Meter über dem Meeresspiegel.“
     „Ja“, wiederholte Karma. „Aber weißt du, was das wirklich Erstaunliche daran ist?“
     Ihre Kollegin sah sie fragend an.
Auf Karmas Gesicht breitete sich ein selbstzufriedenes Lächeln aus. „Dass du sie nicht
gleich fotografiert hast, du Elite-Wissenschaftlerin.“
     Iryna wandte ihren verdatterten Blick wieder der Katze zu, der diese Szene offensichtlich
zu langweilig wurde. Das Tier schlenderte in die Küche. Die beiden Frauen folgten ihm und
sahen dabei zu, wie es den Raum erkundete.
     „Und was machen wir jetzt mit ihr?“, fragte Iryna, die offenbar ihre Arbeit und vor allem
ihre Wut vergessen hatte.
     „Gestern habe ich sie gefüttert.“ Zu spät realisierte Karma, dass sie diese Information
besser für sich behalten hätte.
     „Deshalb ist sie vermutlich zurückgekommen“, sagte Iryna, erstaunlicherweise ohne
hörbaren Vorwurf. „Womit hast du sie denn gefüttert?“
     Karma druckste einen Moment herum, dann öffnete sie den Kühlschrank und nahm die
Dose aus dem Fach.
     „Du hast mein Dosenfleisch an die Katze verfüttert?“
     Karma nickte zögerlich.
     Irynas Schultern sanken ein. Ein erschöpftes Seufzen brach aus ihr hervor. „Gott sei
Dank“, sagte sie. „Ich dachte schon, ich muss das alles allein aufessen.“
     Sie nahm der verdutzten Karma die Konserve aus der Hand, verteilte die restlichen
Fleischbrocken auf einem Teller und platzierte ihn auf den Boden. Dann füllte sie Wasser in
ein Schälchen und stellte es dazu. Sie ging neben der Katze in die Hocke und beobachtete das
Tier, das sich davon nicht aus der Ruhe bringen ließ. Es schlang das Futter herunter und
leckte den Teller so sauber, das man ihn fast wieder in den Schrank hätte stellen können.
Iryna streckte vorsichtig die Hand nach der Katze aus, die nur kurz daran schnupperte und
dann ihren Kopf hineinlegte. Sie schloss die Augen und ließ sich ausgiebig hinter den Ohren
kraulen. Karma betrachtete das Schauspiel wie gebannt. Für einen Moment war Iryna für sie
das ungewöhnlichere Lebewesen von beiden.
     „Was denkst du, wo sie herkommt?“, fragte Karma.
     „Ich weiß nicht. Aber eine wilde Katze ist das nicht. Sieh dir mal, an wie gut genährt die
ist und wie gepflegt die aussieht.“
     „Gibt’s hier draußen irgendeine Siedlung, von der wir nichts wissen?“
     „Nee.“
     „Sicher?“
     „Guck dich doch um“, sagte Iryna. „Du kannst bei gutem Wetter fast bis zum Pazifik
sehen. Hier draußen ist nichts.“
     „Aber wo kommt sie dann her?“
     „Was weiß ich. Vielleicht doch Ufos?“
     Aus Reflex gab Karma ihrer Kollegin mit dem Handrücken einen neckischen Klaps auf die
Schulter. Erschrocken über sich selbst zog sie ihre Hand schnell wieder an die Brust, aber
Iryna schien überhaupt keine Notiz davon genommen zu haben. Sie war wie ausgewechselt,
wie gebannt von dem unverhofften Stationsgast, der sich gegen ihr Knie drückte.
    „Hast … hattest du mal Katzen?“, fragte Karma.
    Iryna schüttelte den Kopf. „Hunde. Und ehrlich gesagt find ich die auch viel cooler. Aber
eine chilenische Hochlandkatze, … das hat was.“
    Als hätte das Tier die junge Frau verstanden, schmiegte es sich eng an Iryna, rollte auf
den Rücken und ließ sich den hellen Bauch streicheln.
    „Stell dir mal vor, wir entdecken hier oben eine neue Spezies.“ Sie schaute zu Karma auf
und zog einen Mundwinkel verschmitzt nach oben.
    Karma war von dem Anblick einer beinahe lächelnden Iryna so perplex, dass sie nichts zu
antworten wusste. Sie spürte Unruhe in sich aufsteigen – die Angst, einen besonderen
Moment zu verderben, und eine noch größere Angst, diesen Moment ungenutzt verstreichen
zu lassen. Wenn Karma ihrer Kollegin jetzt nicht die Friedenspfeife anbot, wann dann?
Außerdem sollte niemand wegen eines unterbezahlten Jobs die Beerdigung des eigenen
Vaters versäumen, nicht mal die Berghexe von Acutun.
    „Du, sag mal, Iryna. Wegen heute Morgen.“
    „Will nicht darüber reden.“
    „Ich auch nicht“, entgegnete Karma nicht ganz aufrichtig. „Ich wollte dir nur sagen, dass
du ruhig ein paar Tage wegfahren kannst. Ich krieg das Ding schon geschaukelt hier.“
    „Nee“, sagte Iryna. „Das ist doch zu zweit schon zu viel Arbeit. Und noch mehr Ausfälle
können wir uns echt nicht leisten, sonst laufen uns noch die letzten Geldgeber weg.“
    „Kannst du nicht den anderen Kollegen anrufen und fragen, ob er dich ein bisschen
früher ablöst?“
    „Negativ. Marco verbringt seine Auszeit immer im Vollsuff. Vor Ende des Monats weiß
der gar nicht, wie man ein Telefon, geschweige denn ein Teleskop bedient.“
    „Ich krieg das schon hin.“
    „Wenn du an deiner Elite-Uni gelernt hast, an drei Orten gleichzeitig zu sein, dann
eventuell.“
    Karma kaute auf ihrer Unterlippe. „Kann ich dir mal was zeigen?“
    Iryna legte die Hände auf die Knie und richtete sich auf. Da war er wieder, dieser
dauerargwöhnische Blick. Selbst ihr Frühstücksmüsli sah sie so an. Karma zögerte, lauschte
der inneren Stimme, die ihr sagte, dass sie dem plötzlichen Frieden nicht trauen durfte, und
zog doch ihr Handy aus der Hosentasche. Sie schaltete das Display ein und hielt es ihrer
Kollegin hin.
    „Was ist das?“, fragte die und beäugte mit gerunzelter Stirn die Zahlen, die im
Sekundentakt hin- und hersprangen. „Sind das die Daten vom Temperaturmesser im Silo?“
    Karma nickte.
    „Live?“
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