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STANDPUNKTE 2017
 Der Mindestlohn: Eine erste Bilanz
 Die Trump Steuer: Eine Revolution für die
 internationale Unternehmensbesteuerung
 Die Brexit-Verhandlungen: Deutschland muss
 für Freihandel mit Großbritannien eintreten
 Was es uns kostet, wenn Donald Trump
 Ernst macht
 Die Brexit-Rechnung: Keine exakte
 Wissenschaft, aber hilfreiche politische
 Verhandlungsmasse
 Deutschland kann mit Emmanuel Macron
 gemeinsam die Eurozone reformieren
 Smarter Steuerwettbewerb und der Austritt
 Großbritanniens aus der EU
 Wider die populistische Erpressung der EU
 Die Wirtschaftspolitik der Jamaika-Koalition
 Nachhaltige Finanzpolitik verlangt restriktivere
 Verschuldungsregeln für die Eurozone
ifo Standpunkte

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Anja Hülsewig
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nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars.

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STANDPUNKTE 2017
Clemens Fuest

Der Mindestlohn: Eine erste Bilanz

Die Trump-Steuer: Eine Revolution für die internationale Unternehmensbesteuerung

Die Brexit-Verhandlungen: Deutschland muss für Freihandel mit Großbritannien eintreten

Was es uns kostet, wenn Donald Trump Ernst macht

Die Brexit-Rechnung: Keine exakte Wissenschaft, aber hilfreiche politische
Verhandlungsmasse

Deutschland kann mit Emmanuel Macron gemeinsam die Eurozone reformieren

Smarter Steuerwettbewerb und der Austritt Großbritanniens aus der EU

Wider die populistische Erpressung der EU

Die Wirtschaftspolitik der Jamaika-Koalition

Nachhaltige Finanzpolitik verlangt restriktivere Verschuldungsregeln für die Eurozone

Die „ifo Standpunkte“ sind kurze Kommentare des ifo-Präsidenten zu aktuellen Themen. Sie geben
einen Einblick in die neuesten Forschungsergebnisse des ifo Instituts. Die ifo Standpunkte wurden alle
als Zeitungsaufsätze publiziert und sind online verfügbar:
http://www.cesifo-group.de/standpunkte.
Der Autor schreibt zehn Standpunkte pro Jahr.
STANDPUNKT
                                                                             München, 2. Januar 2017

Nr. 181
Der Mindestlohn: Eine erste Bilanz*
Seit dem 1. Januar 2015 gilt in Deutschland ein flächendeckender Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro
pro Stunde. Ab Januar 2017 wird er auf 8,84 Euro erhöht. Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen. Obwohl die
Debatte sich stark auf die Beschäftigungswirkungen konzentriert, sollte man zunächst fragen, wie der
Mindestlohn sich auf die tatsächlich gezahlten Löhne auswirkt. Im Durchschnitt sind die Löhne in
Deutschland 2015 gegenüber dem Vorjahr um 2,3 Prozent gestiegen. In Ostdeutschland waren es
3,9 Prozent, bei ungelernten Arbeitskräften sogar 7,9 Prozent. Der Mindestlohn scheint also zu wirken.

Aber was bedeutet das für die Beschäftigung? Oft wird behauptet, der Mindestlohn habe hier keinerlei
negative Wirkungen gehabt. Die Warnungen vieler Ökonomen seien unbegründet. In der Tat, die seit
Jahren positive Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland hat sich auch nach der Einführung des
Mindestlohns fortgesetzt. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg von 42,7 Millionen 2014 auf 43 Millionen
im Jahr 2015. Lediglich bei den 450-Euro-Jobs gab es einen Rückgang um etwa 90 000. Teilweise
wurden diese Jobs aber durch voll sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze ersetzt. Aus dem
Anstieg der Beschäftigung folgt allerdings noch nicht, dass der Mindestlohn keine Arbeitsplätze
gekostet hat. Um das festzustellen, müsste man die tatsächliche Arbeitsmarktentwicklung mit der
vergleichen, die sich ohne Mindestlohn ergeben hätte. Das Problem besteht darin, dass Letztere nicht
beobachtbar ist.

Trotzdem ist es möglich, die Wirkungen des Mindestlohns abzuschätzen, indem man untersucht, wie
stark vom Mindestlohn betroffene Bereiche der deutschen Wirtschaft sich im Vergleich zu weniger
betroffenen entwickelt haben. Man kann beispielsweise Arbeitsmarktregionen mit niedrigen Löhnen
und daher hoher Mindestlohnbetroffenheit – etwa in Ostdeutschland – mit Hochlohnregionen wie
dem Raum München vergleichen, in denen der Mindestlohn weniger relevant ist. Tatsächlich war die
Beschäftigungsentwicklung in stark betroffenen Regionen seit Einführung des Mindestlohns nicht
schlechter als in weniger betroffenen Regionen. Anders ist das Ergebnis, wenn man einzelne
Unternehmen betrachtet und vergleicht, ob stärker betroffene Arbeitgeber weniger Mitarbeiter
eingestellt haben. Dieser Ansatz führt zu dem Ergebnis, dass der Mindestlohn im Jahr 2015 etwa
60 000 Arbeitsplätze gekostet hat. Dabei zeigt sich, dass nur wenige Unternehmen mit Entlassungen
auf den Mindestlohn reagiert haben. Stattdessen haben sie weniger neue Arbeitsplätze geschaffen.
Man kann also nicht behaupten, dass keine Arbeitsplatzverluste durch den Mindestlohn sichtbar sind.
Aber die Wirkungen sind zumindest bislang recht klein.

Wenn die Unternehmen kaum Arbeitsplätze abgebaut haben, wie haben sie dann reagiert? Rund ein
Viertel der Unternehmen gibt in Umfragen an, Absatzpreise erhöht zu haben oder das zu planen.
Besonders ausgeprägt ist diese Reaktion im Taxigewerbe. 70 Prozent der Beschäftigten wurden dort
2014 unterhalb des Mindestlohns bezahlt. Die Preise für Taxifahrten sind deutschlandweit um gut
12 Prozent gestiegen, in Ostdeutschland sogar um fast 20 Prozent. Aber auch andere Branchen geben
Mehrkosten an die Kunden weiter. Dazu kamen andere Anpassungen. Rund 14 Prozent der
Unternehmen reduzieren Investitionen und lagern einen Teil ihrer Produktion aus. Verbreitet ist
außerdem die Strategie der Arbeitsverdichtung. Dabei verkürzen Unternehmen die Arbeitszeit und
verlangen von den Mitarbeitern eine höhere Arbeitsintensität. Davon berichten 22 Prozent der
Arbeitgeber.

Diese Anpassungen zeigen, dass der Mindestlohn nicht umsonst zu haben ist. Die Arbeitsplatzverluste
halten sich bislang in engen Grenzen. Aber ob das auch im nächsten Konjunkturabschwung so bleibt,
muss sich zeigen. Klar ist, dass die Integration der vielen Zuwanderer in den deutschen Arbeitsmarkt
nur funktionieren wird, wenn die Lohnkosten nicht zu schnell steigen.

Letztlich wird für die künftigen Wirkungen viel davon abhängen, ob der Mindestlohn unter
Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage behutsam erhöht wird, oder ob es zu einem
Überbietungswettbewerb der Politiker kommt – aus einigen Parteien kommen bereits Forderungen,
den Mindestlohn auf 12 Euro anzuheben. Wenn die Höhe des Mindestlohns zum Wahlkampfthema
wird, könnte das deutsche Beschäftigungswunder schnell sein Ende finden.

* Erschienen unter dem Titel „Der Boom am Arbeitsmarkt überdeckt die Risiken des Mindestlohns“, WirtschaftsWoche,
9. Dezember 2016, S. 37.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
STANDPUNKT
                                                                            München, 9. Februar 2017

Nr. 182
Die Trump-Steuer: Eine Revolution für
die internationale
Unternehmensbesteuerung*
US-Präsident Donald Trump hat in den letzten Wochen immer wieder gewarnt: Ausländische
Unternehmen, die in den USA ihre Produkte absetzen, dort aber nicht produzieren, sollen mit einer
Importsteuer von 35 Prozent bestraft werden. Wie er das umsetzen will, hat er nicht erklärt. Es spricht
aber viel dafür, dass er einen Reformplan des republikanischen Kongressabgeordneten Paul Ryan
aufgreifen könnte. Dieser Plan sieht keine Zölle vor, sondern eine grundlegende Reform der
Besteuerung von Unternehmensgewinnen. Seine Umsetzung würde das System der internationalen
Besteuerung revolutionieren.

Wie funktioniert das neue Steuersystem? Kern der Reform ist ein Grenzausgleich, der bislang nur bei
der Mehrwertsteuer existiert, aber nicht bei Einkommen- oder Gewinnsteuern. Nehmen wir als
Beispiel den Export eines Kraftfahrzeugs aus Deutschland in die USA. Das exportierende
Unternehmen hatte in Deutschland Herstellungskosten von 30 000 Euro, bewertet das Fahrzeug beim
Export mit 40 000 Euro, in den USA entstehen 5 000 Euro Vertriebskosten und der Verkaufspreis
beträgt 50 000 Euro. Bislang versteuert das Unternehmen einen Gewinn von 10 000 Euro in
Deutschland. In den USA fällt ein Gewinn von 5 000 Euro an, das entspricht dem Verkaufspreis
abzüglich der Kosten für das importierte Auto und den Vertrieb. Nach dem neuen Steuersystem wären
die Kosten für das importierte Auto in den USA nicht mehr abzugsfähig, der steuerpflichtige Gewinn in
den USA würde 45 000 Euro betragen. Jetzt kommt es darauf an, wie Deutschland reagiert. Wenn
Deutschland bei seinem Steuersystem bleibt, kommt es zu einer Zusatzbelastung dieses
Exportgeschäfts, die einem Importzoll in Höhe des US-Steuersatzes gleicht – Ryan hat 20 Prozent
vorgeschlagen, Trump will nicht 35, sondern eher 15 Prozent.

Anders wäre die Situation, wenn Deutschland seine Unternehmensbesteuerung ebenfalls auf das US-
System umstellen würde. Denn Exporte sind dann ganz steuerbefreit, die Produktionskosten für die
Exporte wären trotzdem im Inland abzugsfähig. Das exportierende Unternehmen könnte also die
Produktionskosten in Höhe von 30 000 Euro in Deutschland steuerlich geltend machen und
beispielsweise von Gewinnen aus im Inland verkauften Autos abziehen. Vergleicht man das
bestehende und das neue Steuersystem, dann stellt man fest, dass für das Unternehmen die Summe
der steuerpflichtigen Gewinne in Deutschland und den USA in beiden Fällen 15 000 Euro beträgt. Der
Unterschied liegt darin, dass die Verteilung der Gewinne massiv in Richtung USA verschoben wird.
Dort sind statt 5 000 Euro 45 000 Euro zu versteuern, in Deutschland fällt statt eines Gewinns von
10 000 Euro ein abzugsfähiger Verlust von 30 000 Euro an.
Das sieht auf den ersten Blick nach einer Benachteiligung Deutschlands aus. Es würde aber kein
Nachteil entstehen, wenn Deutschland in gleichem Umfang Güter importieren würde. Wenn zum
Beispiel Apple in Deutschland iPhones im Wert von ebenfalls 50 000 Euro absetzen würde, bei
gleichen Vertriebskosten, müssten hierzulande ebenfalls 45 000 Euro an Gewinnen versteuert werden.
Das Problem liegt nun darin, dass Deutschland deutlich mehr Waren exportiert als importiert – der
Außenhandelsüberschuss betrug 2015 rund 280 Milliarden Euro, bei einem Gewinnsteuersatz von
30 Prozent würde eine Umstellung auf das Trump-Steuersystem Deutschland Verluste in Höhe von
rund 84 Milliarden Euro bescheren. Die Defizitländer würden einschließlich der USA entsprechend an
Steueraufkommen gewinnen. Aus globaler Perspektive hätte das neue System den Vorteil,
Steuervermeidung multinationaler Unternehmen zu erschweren. Beispielsweise erzielt Apple derzeit
einen Großteil seiner Gewinne in Steueroasen, weil die Rechte an der Apple-Technologie dort
angesiedelt sind. Im neuen Steuersystem zählt für die Besteuerung nur, wo die Produkte verkauft
werden – ob auf den Cayman Islands Briefkastenfirmen Patente verwalten oder nicht, ist irrelevant.
Das könnte die Attraktivität der Trump-Steuer für die internationale Staatengemeinschaft steigern.
Für Deutschland wäre dieser Vorteil nicht ausreichend, um die durch den Außenhandelsüberschuss
bedingten Steueraufkommensverlust auszugleichen. Man könnte allenfalls darauf setzen, dass mit
zunehmender Alterung der Bevölkerung auch die deutschen Handelsüberschüsse verschwinden. Bis
dahin könnte die Begeisterung der USA für die Trump’sche Steuerrevolution allerdings wieder
verflogen sein.

* Erschienen unter dem Titel „Trumps Steuerrevolution“, Handelsblatt, 9. Februar 2017, S. 48.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
STANDPUNKT
                                                                                München, 28. März 2017

Nr. 183
Die Brexit-Verhandlungen:
Deutschland muss für Freihandel mit
Großbritannien eintreten*
Es ist so weit. Die britische Regierung will in den nächsten Tagen formell erklären, dass das Vereinigte
Königreich aus der EU austreten wird. Die EU-Mitgliedschaft des Landes wird damit voraussichtlich im
März 2019 enden. Bis dahin bleibt Zeit, die Modalitäten des Austritts und die künftigen Beziehungen
zu regeln. Wenn kein Abkommen zustande käme, würden für die Wirtschaftsbeziehungen künftig die
Regeln der Welthandelsorganisation WTO gelten. Für viele Güter fielen Zölle in Größenordnungen
zwischen 5 und 10 Prozent an, teilweise auch deutlich mehr. Bestimmte Dienstleistungen könnten gar
nicht mehr gehandelt werden.

Für die Wirtschaft ist die mit dem Brexit einhergehende Unsicherheit ein Problem, dessen Bedeutung
zunimmt, je näher der Austrittstermin 2019 rückt. Derzeit haben die Unternehmen auf beiden Seiten
des Kanals mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass von 2019 an Zölle anfallen
oder regulatorische Barrieren entstehen, die bestehende Geschäftsmodelle gefährden. Wenn dieses
Risiko nicht ausgeräumt wird, müssen sie sehr bald Anpassungen vornehmen. Die britische Wirtschaft
ist   auf   vielfältige   Weise   in   europaweite     Wertschöpfungsketten       integriert   –   diese
Wertschöpfungsketten für das Szenario eines Scheiterns der Verhandlungen zu reorganisieren wäre
für beide Seiten kostspielig. Um das zu vermeiden, ist es wichtig, so schnell wie möglich zu klären, wie
die Wirtschaftsbeziehungen gestaltet werden. Gerade für Deutschland steht wegen seiner
umfangreichen Handelsbeziehungen zum Vereinigten Königreich viel auf dem Spiel.

Die Verhandlungen werden sich auf drei Punkte konzentrieren: den Handel mit Gütern und
Dienstleistungen, die Personenmobilität und die noch zu leistenden britischen Beiträge zum EU-
Budget. Für beide Seiten gibt es „rote Linien“, also politische Festlegungen, welche die Spielräume für
Verhandlungen begrenzen. Auf britischer Seite gibt es zwei rote Linien, zum einen die Kontrolle über
Zuwanderung aus der EU, zum anderen soll die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für
die Briten nicht mehr gelten. Damit sind zwischenzeitlich diskutierte Varianten mit einem Verbleib
Großbritanniens im Binnenmarkt wie etwa das Norwegen-Modell vom Tisch.

Auf der Seite der EU27 sind die roten Linien weniger klar. Oft ist zu hören, die vier Grundfreiheiten des
Europäischen Binnenmarktes seien unteilbar, deshalb sei eine Aufhebung der Personenmobilität zum
Beispiel unvereinbar damit, dass die britischen Banken weiter in anderen EU-Ländern tätig seien.
Außerdem wird immer wieder behauptet, es dürfe kein „Rosinenpicken“ geben. Allerdings ist unklar,
was das heißen soll. Es besteht kein Zweifel daran, dass es wenn überhaupt ein auf die besonderen
Bedingungen des Brexit zugeschnittenes Abkommen geben wird. Klar ist auch, dass dieses
Abkommen die Interessen beider Seiten widerspiegeln wird.

Für den Güterhandel kommen eine Zollunion oder Freihandelsabkommen in Frage. Für die EU wäre
eine Zollunion attraktiver, denn sie würde Unternehmen aus der EU im britischen Markt Vorteile
verschaffen. Das Vereinigte Königreich könnte keine eigenständigen Freihandelsabkommen mit
Drittländern wie den Vereinigten Staaten schließen, denn man wäre an die gemeinsamen Außenzölle
gebunden. Aus britischer Sicht wäre das allenfalls dann akzeptabel, wenn im Gegenzug trotz
eingeschränkter Zuwanderung der Zugang britischer Banken zum Binnenmarkt aufrechterhalten
würde. Das wiederum wird die EU nicht wollen. Deshalb wird es wohl auf ein Freihandelsabkommen
hinauslaufen, bei dem es keine gemeinsamen Zölle zu Drittländern gibt.

Für Dienstleistungen ist die Lage komplizierter. Die britische Seite hat das größere Interesse an einem
Abkommen über freien Dienstleistungshandel. Der britische Notenbankchef Mark Carney hat zwar
behauptet, die Risiken durch Beschränkungen des Handels von Finanzdienstleistungen bei einem
Hard Brexit seien für das Finanzsystem der EU27 größer als für das Vereinigte Königreich, weil
europäische Unternehmen und Staaten einen Großteil ihrer Finanzierungsoperationen über London
abwickeln. Es ist aber unklar, ob das auch dann gilt, wenn schon jetzt angekündigt wird, dass von
2019 an andere Finanzierungswege gewählt werden müssen. Es ist zu erwarten, dass Londoner
Banken Niederlassungen in Dublin, Frankfurt oder Paris eröffnen würden und – unter Einsatz von
„Back-Office“-Funktionen in London – ähnliche Dienstleistungen anbieten könnten, wenn auch zu
erhöhten Kosten.

All das ist natürlich überflüssig, wenn der Handel mit Finanzdienstleistungen aufrechterhalten wird.
Dies wird in der EU nur durchsetzbar sein, wenn das Vereinigte Königreich bei der Zuwanderung
Kompromisse macht. Im Prinzip wäre es denkbar, bei der Zuwanderung nur eine Art Notbremse
vorzusehen, die bei einer außergewöhnlichen Zuwanderungswelle aktiviert wird, ähnlich wie im Fall
der Schweiz. Aber da die Begrenzung der Zuwanderung beim Brexit-Referendum eine zentrale Rolle
gespielt hat, sind die Spielräume für Kompromisse begrenzt.

Der letzte Punkt ist das EU-Budget. Die Europäische Kommission hat inoffiziell eine „Brexit-
Rechnung“ in Höhe von 60 Milliarden Euro ins Spiel gebracht. Dabei geht es um verschiedene und in
der Höhe unsichere Zahlungsverpflichtungen der EU, darunter auch Pensionsansprüche von EU-
Beamten. Hier wird der Streit besonders lautstark sein, aber man wird sich einigen. Es besteht sogar
die Möglichkeit, Einigung in den anderen Verhandlungsfeldern durch ausgleichende Zahlungen zu
befördern.

Das EU-Budget ist für Deutschland insofern von besonderem Interesse, als unter den EU27 ebenfalls
bis 2019 geklärt werden muss, wie der Wegfall des britischen Nettobeitrags in Höhe von rund
7 Milliarden Euro kompensiert wird. Die Nettoempfänger in der EU werden von Deutschland
verlangen, künftig mehr zu zahlen.
Es wird gleichzeitig auf EU-Seite Forderungen geben, die Briten für den Austritt und die
Einschränkung der Zuwanderung zu bestrafen und dafür Handelsbarrieren aufzubauen. Deutschland
sollte dem entgegentreten und höhere Finanzierungslasten nur unter der Voraussetzung akzeptieren,
dass     die    EU     in    den     Verhandlungen          mit     dem      Vereinigten       Königreich       umfassenden
Freihandelsabkommen bei Gütern und Dienstleistungen zustimmt.

Deutschland hat ein besonders hohes Interesse daran, die Integration der britischen und der
europäischen Wirtschaft auch in der Zeit nach dem Brexit möglichst umfassend zu bewahren. Nur
wenn das gelingt, wird Deutschland verhindern können, durch höhere Beiträge zum EU-Haushalt und
eingeschränkten Handel mit Großbritannien zu einem der Hauptverlierer des Brexit-Prozesses zu
werden.

* Erschienen unter dem Titel „Deutsche Strategie für den Brexit“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. März 2017, S. 17.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
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                                                                                 München, 5. April 2017

Nr. 184
Was es uns kostet, wenn Donald
Trump Ernst macht*
Freihandel? Offene Märkte? Diese Forderungen haben derzeit keine Konjunktur. Stattdessen könnten
2016 und 2017 in die Wirtschaftsgeschichte eingehen – als Jahre, in denen die globale
Wirtschaftspolitik einen drastischen Kurswechsel in Richtung Protektionismus eingeleitet hat. Der
Auftakt dazu war das Brexit-Votum der Briten, bisheriger Höhepunkt die Entscheidung der
Amerikaner, mit Donald Trump einen Präsidenten zu wählen, der sich offen zur Abschottung bekennt.

Vor allem für Deutschland ist das bedrohlich, weil der internationale Handel für unsere
Volkswirtschaft bedeutender ist als für die meisten anderen Staaten. Die Ausfuhren betrugen 2016
rund 38 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). In anderen Ländern vergleichbarer Größe ist dieser
Anteil kleiner, in Frankreich etwa beträgt er 21 Prozent, in Großbritannien nur 15 Prozent. US-
Handelsschranken hätten für den deutschen Außenhandel erhebliche Konsequenzen – zumal die USA
unser größter Exportmarkt sind. 2016 verkauften deutsche Unternehmen dort Güter im Wert von
107 Milliarden Euro.

Auch wenn Donald Trumps Rede vor dem US-Kongress am Dienstag keine neuen Details zur künftigen
Handelspolitik lieferte, so ist doch klar, dass er es mit seiner Abschottungspolitik ernst meint. Er hat
das   Transpazifische    Freihandelsabkommen       (TPP)    gestoppt    und    eine   Aufhebung     der
Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) angekündigt. Die Verhandlungen über das
transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) will er beenden. Er wirft China vor, sich im Handel mit
den USA „unfair“ zu verhalten. Deutschland kritisiert er für das hohe US-Defizit im bilateralen Handel.

Mit welchen Folgen wäre zu rechnen, wenn die USA zu Zöllen oder nicht-tarifären
Handelshemmnissen gegenüber einzelnen oder allen Handelspartnern greifen, um den heimischen
Markt abzuschotten? Und was passiert, wenn die Handelspartner sich wehren, es also zu einem
Handelskrieg kommt?

Das ifo Institut hat dies in einer aktuellen Studie untersucht. In einem drastischen (aber denkbaren)
Szenario führen die USA für Importe aus Mexiko und China einen Zoll von 45 Prozent ein. In diesem
Fall wären die Auswirkungen massiv und würden nicht nur Mexiko und China betreffen, sondern auch
Drittländer. Die US-Importe aus Mexiko dürften um 58 Prozent sinken, die aus China um 52 Prozent.
Der Rückgang würde teilweise durch vermehrte Importe aus vom Zoll nicht betroffenen Ländern
ausgeglichen. Die Importe aus der EU etwa würden um 11 Prozent zunehmen. Insgesamt ist bei den
US-Importen ein Rückgang um 8 Prozent zu erwarten.
Und ein Strafzoll droht, nicht nur die Importe zu senken, sondern auch den US-Export, weil mehr im
Inland abgesetzt wird und das fallende Einkommen im Ausland die Nachfrage nach US-Produkten
dort dämpft. Die Ausfuhren der US-Unternehmen sinken in unserem Szenario um 13 Prozent. Noch
gravierender wären die Folgen, wenn der Strafzoll für alle US-Handelspartner gilt, also auch für die EU
und Deutschland. In diesem Fall wären die Verluste für Mexiko (43 Prozent) etwas und für China
(13 Prozent) deutlich geringer, dafür würden die Importe aus der EU um 34 Prozent zurückgehen.
Insgesamt lägen die US-Importe um 36 Prozent niedriger als ohne die Strafzölle. Die US-Exporte
könnten um 71 Prozent einbrechen.

Wenn die anderen Länder nun Zölle gleicher Höhe auf amerikanische Produkte erheben, droht dem
US-Export ein Absturz um 91 Prozent. Das BIP der USA würde bei einem solchen Handelskrieg um
7 Prozent fallen. In anderen Ländern wären die Verluste relativ zur Wirtschaftskraft geringer. In
Deutschland etwa, das 9 Prozent seiner Exportgüter in die USA verkauft, würde das BIP um
0,5 Prozent sinken.

Sicher: Simulationsanalysen wie diese beruhen auf vielfältigen Annahmen. Sie dienen dazu,
Größenordnungen abzuschätzen. Die Berechnungen beinhalten aber drei wichtige Botschaften.
Erstens: Protektionismus kann allenfalls den Interessen einzelner heimischer Unternehmen oder
Wirtschaftszweige dienen, aber nie dem gesamten Land. Zweitens: Trump vermag, einzelne Länder
wie Mexiko oder China durch Protektionismus durchaus unter Druck zu setzen, und dies bei
überschaubaren Kosten für die eigene Volkswirtschaft. Und drittens: Bei einem Handelskrieg mit allen
Partnerländern wären die USA einer der Hauptverlierer. Deshalb sollten sich die Handelspartner nicht
darauf einlassen, internationale Handelsverträge wie die WTO durch bilaterale Abkommen mit den
USA zu ersetzen.

* Erschienen unter dem Titel „Was es uns kostet, wenn Donald Trump Ernst macht“, WirtschaftsWoche, 3. März 2017, S. 37.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
STANDPUNKT
                                                                                 München, 6. April 2017

Nr. 185
Die Brexit-Rechnung: Keine exakte
Wissenschaft, aber hilfreiche
politische Verhandlungsmasse*
Zum Auftakt der Brexit-Verhandlungen hat EU-Chefunterhändler Michel Barnier den Briten eine
gesalzene Rechnung präsentiert: 60 Milliarden Euro soll der EU-Austritt kosten. Premierministerin
Theresa May war „not amused“, hat aber zugesagt, dass ihr Land seine Verpflichtungen erfüllen wird.
Wie hoch sind diese Verpflichtungen? In den Europäischen Verträgen ist nicht geregelt, wie der
Austritt eines Landes finanziell abzuwickeln ist. Derzeit werden zwei Ansätze diskutiert. Den einen
kann man als Ehescheidungsansatz bezeichnen. Dabei wird ein Inventar der gemeinsamen
Vermögensgegenstände und der Schulden erstellt, und jeder Partner erhält seinen Anteil am
Nettovermögen. Im Fall der EU ist das Nettovermögen negativ. Mit der Brexit-Rechnung würden die
Briten ihren Anteil an den Nettoschulden übernehmen. Der andere Ansatz zieht einen Vergleich zur
Mitgliedschaft in einem Club. Solange man dabei ist, zahlt man Mitgliedsbeiträge, wenn man austritt,
geht es nur um die Frage, wie lange nach Eingang der Kündigung weiter Beiträge zu zahlen sind. Das
Vermögen des Clubs wird nicht aufgeteilt, es wird von den verbleibenden Clubmitgliedern
weitergeführt.

Für den Club-Ansatz spricht, dass bei EU-Beitritten auch nicht gefragt wird, wie hoch das Vermögen
der EU ist – die neuen Mitglieder fangen einfach an, Beiträge zu zahlen. Entsprechend könnten die
Briten ihre Zahlungen an die EU zum Austrittsdatum einstellen, eine Brexit-Rechnung würde entfallen.
Die EU27 wird aber kaum akzeptieren, dass die Briten sich so günstig aus der Affäre ziehen. Sie kann
dafür einige gute Argumente anführen. Zum einen ist die EU etwas anderes als ein Golf- oder
Tennisclub. Wichtiger ist, dass die EU anders als die meisten Sportclubs ein negatives Vermögen hat
und sich deshalb finanziell auf die Mitgliedstaaten stützt. Man kann außerdem auf den Fall
Schottlands verweisen. London besteht darauf, dass Schottland im Fall seiner Unabhängigkeit einen
Teil der Staatsschulden des Vereinigten Königreichs mitnehmen würde.

Die Brexit-Rechnung von Michel Barnier stützt sich auf den Ehescheidungsansatz. Sind 60 Milliarden
Euro angemessen? Die EU selbst veröffentlicht eine Bilanz, nach der Ende 2015 einem Vermögen von
154 Milliarden Euro Schulden von 226 Milliarden Euro gegenüberstanden. Zum EU-Vermögen gehören
Grundstücke, Forderungen aus vergebenen Krediten und Bankguthaben, die Schulden beinhalten
aufgenommene Kredite, aber auch Verpflichtungen zur Zahlung von Pensionen an EU-Beamte. Die
Nettoschulden betragen demnach 72 Milliarden Euro. Großbritannien finanziert etwa 12 Prozent der
EU-Ausgaben, dieser Anteil an den Nettoschulden würde 8,6 Milliarden Euro ausmachen. Der
Unterschied zu den geforderten 60 Milliarden Euro liegt vor allem an zwei Posten, die in der offiziellen
EU-Bilanz nicht vorkommen. Zum einen hat die EU in den letzten Jahren in ihrem Budget deutlich
höhere Ausgabenversprechungen gemacht, als Zahlungen geleistet worden sind. Die Differenz wird
bis Anfang 2019 voraussichtlich auf knapp 250 Milliarden Euro anwachsen. Hinzu kommen
Versprechen der Mitgliedstaaten für künftige Zahlungen im Rahmen der EU-Strukturpolitiken im
Umfang von 150 Milliarden Euro. Die Europäische Kommission betrachtet beides als Verbindlichkeiten
der Mitgliedstaaten und möchte, dass Großbritannien seinen Anteil – insgesamt rund 48 Milliarden
Euro – übernimmt. Damit nähert man sich den geforderten 60 Milliarden Euro.

Rechtlich und politisch sind diese Forderungen höchst umstritten. Nicht nur Großbritannien, sondern
auch andere Nettozahler wie Deutschland, die Niederlande und Schweden bestreiten, dass die
erwähnten Differenzen zwischen Ausgabenversprechen und erfolgten Zahlungen im EU-Haushalt
wirklich Verbindlichkeiten sind. Sie wollen, dass der Betrag durch Ausgabenkürzungen abgebaut wird.

All dies verdeutlicht, dass die Brexit-Rechnung keineswegs rechtlich eindeutig bestimmbar ist. Das
muss kein Nachteil sein – die Zahlungen stellen eine politische Verhandlungsmasse dar, die Einigung
auf anderen Gebieten erleichtern kann. Es wäre möglich, den wirtschaftlichen Schaden des Brexit
durch längere Übergangsfristen und ein umfassendes Freihandelsabkommen für Güter und
Dienstleistungen zu minimieren. Das Problem besteht darin, dass der Brexit für die EU-Seite einen
Gesichtsverlust bedeutet. Deshalb wollen viele die Wirtschaftsbeziehungen mit Großbritannien
einschränken, selbst wenn das auch die EU wirtschaftlich schädigt. Eine Kompromisslinie könnte
darin liegen, dass Großbritannien eine hohe Brexit-Rechnung akzeptiert und die EU im Gegenzug dem
zügigen Abschluss eines Freihandelsabkommens zustimmt.

* Erschienen unter dem Titel „Die Rechnung für den Abschied“, Handelsblatt, 6. April 2017, S. 48.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
STANDPUNKT
                                                                                München, 23. Mai 2017

Nr. 186
Deutschland kann mit Emmanuel
Macron gemeinsam die Eurozone
reformieren*
Die Wahl von Emmanuel Macron zum französischen Staatspräsidenten hat in Deutschland
Erleichterung ausgelöst, aber auch eine Debatte über Macrons Pläne zur Reform der Eurozone.
Kritiker werfen Macron vor, er wolle die Währungsunion gegen die Interessen Deutschlands zu einer
Transferunion umbauen. Seine Anhänger fordern dagegen, Deutschland solle Macron unterstützen,
sonst drohe bei den nächsten Wahlen ein Sieg des Front National. Beide Positionen sind überzogen.
Man sollte Macron Zeit geben, seine Vorschläge über die Reform der Eurozone weiterzuentwickeln
und zu erläutern. Gleichzeitig ist es bei aller Freude über den Sieg des EU-freundlichen Präsidenten
und Kooperationsbereitschaft nicht die Aufgabe der deutschen Politik, dafür zu sorgen, dass er auch
die nächste Wahl gewinnt. Das kann nur er selbst sicherstellen.

Eine enge Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland ist gleichwohl entscheidend für die
Zukunft Europas. Diese Kooperation wird nur gelingen, wenn es möglich ist, offen sowohl über
Gemeinsamkeiten als auch über Differenzen zu sprechen. Die Voraussetzungen dafür sind gut. Macron
ist unideologisch, und er hat brillante Berater, die Deutschland gut kennen.

Für die Eurozone fordert Macron, ein gemeinsames Budget zu schaffen. Macron will, dass der neue
Eurohaushalt erstens Investitionen finanziert, um das Wachstum zu beleben, zweitens soll er in
Wirtschaftskrisen stabilisierend wirken. Verschuldung zur Finanzierung dieses Budgets soll möglich
sein.

Um eine demokratische Kontrolle dieses Budgets sicherzustellen, will Macron ein Eurozonen-
Parlament einrichten. Dieses Parlament könnte sich aus den Mitgliedern des Europaparlaments
zusammensetzen, die aus Euro-Mitgliedstaaten kommen. Eine Variante wäre, dass die nationalen
Parlamente der Mitgliedstaaten Abgesandte in das Eurozonen-Parlament schicken.

Dass dieser Plan in Deutschland Begeisterung auslöst, kann man nicht erwarten. Die zusätzlichen
Ausgaben würde wohl zu einem überproportionalen Teil Deutschland finanzieren müssen. Öffentliche
Investitionen in Europa zu fördern, ist eigentlich Aufgabe des EU-Haushalts.

Auch das Eurozonen-Parlament ist aus deutscher Perspektive keine sehr attraktive Idee. Vor allem
wäre die Sorge groß, dass sich dort schnell eine Koalition von Ländern bildet, die eine notfalls
schuldenfinanzierte Ausdehnung der Ausgaben durchsetzt.
Ist diese Sorge berechtigt? Man kann davon ausgehen, dass ein Land höhere Ausgaben umso eher
unterstützen wird, je niedriger sein Pro-Kopf-Einkommen ist. Man nehme an, dass jedes Land
entsprechend seiner Bevölkerungsgröße nationale Parlamentarier ins Eurozonen-Parlament
entsendet. In diesem Fall würden rund 42 Prozent der Sitze an Länder mit unterdurchschnittlichen
Pro-Kopf-Einkommen gehen. Um eine Mehrheit zu erreichen, müssten sie die Abgeordneten aus
Frankreich, dem Land mit dem nächsthöheren Einkommensniveau, auf ihre Seite ziehen. Frankreich
würde über 19 Prozent der Sitze verfügen. Den französischen Abgeordneten käme deshalb eine
Schlüsselrolle zu. Wenn das Eurozonen-Parlament aus den Abgeordneten der Euro-Mitgliedstaaten im
Europäischen Parlament gebildet würde, wäre das Ergebnis das gleiche. Das erklärt, warum ein
solches Parlament für Frankreich attraktiver erscheint als für Deutschland. Natürlich kann es sein,
dass die Abgeordneten nicht entlang nationaler Grenzen entscheiden. Aber dass Deutschland
Nettozahler wäre, ist absehbar. Wir sollten nicht vergessen, dass den Menschen in Deutschland bei
der Gründung der Währungsunion versprochen wurde, dass sie keine Transferunion wird.

Emmanuel Macron hat allerdings auch gefordert, für die Staaten der Eurozone ein glaubwürdiges
Insolvenzverfahren für Staaten einzuführen, wenngleich er das im Wahlkampf leider nicht betont hat.
Deutschland sollte das aufgreifen und folgenden Kompromiss vorschlagen: Es wird eine Pflicht zur
Eigenkapitalunterlegung von Staatsanleihen in der Bankenregulierung eingeführt. Nur wenn die
Banken aufhören, ohne Eigenkapital heimische Staatsanleihen zu kaufen, ist es glaubwürdig, dass es
bei Finanzkrisen einzelner Mitgliedstaaten zur Haftung privater Gläubiger kommt. Außerdem wird
zwar kein Budget mit permanenten Transfers eingeführt, aber ein neuer Fonds, der Ländern nicht nur
mit Krediten, sondern mit Transfers hilft, wenn sie in eine tiefe Wirtschaftskrise geraten –
beispielsweise einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um mehr als 3 Prozent innerhalb von zwei
Jahren. Die Eurozone braucht ein System zum Auffangen großer Schocks, nicht permanente
Umverteilung. Diese Lösung würde nicht die Interessen einzelner Länder oder Politiker bedienen,
sondern ganz Europa voranbringen.

* Erschienen unter dem Titel „Give Emmanuel Macron time to develop eurozone reforms“, Financial Times, 23. Mai 2017, S. 9.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
STANDPUNKT
                                                                             München, 26. Juni 2017

Nr. 187
Smarter Steuerwettbewerb und der
Austritt Großbritanniens aus der EU*
Der anstehende Austritt Großbritanniens aus der EU hat zu einer Debatte darüber geführt, welche
Strategie die britische Wirtschaftspolitik nach dem Brexit einschlagen könnte. Politiker aus anderen
EU-Staaten befürchten, dass Großbritannien sich als Steuer- und Regulierungsoase vor den Toren der
EU etablieren und Unternehmen ebenso wie wohlhabende EU-Bürger mit seinen steuerlichen
Anreizen ins Land locken könnte. Dies, so die Sorge, könnte negative Folgen auf die
Wirtschaftsentwicklung und Steuereinnahmen der verbleibenden EU-Mitgliedstaaten haben.

Grundsätzlich müssen Staaten im Steuerwettbewerb abwägen: Senken sie beispielsweise den
Steuersatz auf Unternehmensgewinne, verlieren sie Einnahmen aus der Besteuerung von
Unternehmen, die ohnehin im Inland aktiv sind. Diesen Kosten steht der Ertrag in Form zusätzlicher
Investitionen gegenüber, die durch niedrigere Steuern ins Land gelockt werden. Für kleine Staaten ist
die heimische Wirtschaftsaktivität eher klein im Vergleich zu dem, was aus dem Ausland
hinzugewonnen werden kann. Deshalb lohnt sich eine Niedrigsteuerstrategie für sie eher als für große
Länder; Irland ist dafür ein gutes Beispiel. Außerdem können niedrige Steuern Standortnachteile wie
beispielsweise eine geografische Randlage ausgleichen. Das kann erklären, warum viele Staaten in
Osteuropa Unternehmensgewinne niedrig besteuern.

Großbritannien ist allerdings weder klein noch leidet es an geografisch oder durch wirtschaftliche
Rückständigkeit bedingten Standortnachteilen. Sicherlich wird das Ausscheiden aus dem EU-
Binnenmarkt die Insel für einige Investoren weniger attraktiv machen. Dass die britische Regierung
darauf mit massiven Steuersenkungen reagiert, ist dennoch aus zwei Gründen wenig wahrscheinlich.
Erstens sind schon heute die Unternehmensteuern niedriger als in allen anderen großen
Industrieländern. Derzeit werden Unternehmensgewinne in Großbritannien mit 19 Prozent besteuert,
das ist der niedrigste Steuersatz unter den G-20-Staaten. Im Frühjahr dieses Jahres hat die britische
Regierung angekündigt, den Gewinnsteuersatz bis 2020 weiter auf 17 Prozent zu senken. Für
Unternehmen ist Großbritannien steuerlich bereits sehr attraktiv. Zweitens hat Theresa May
wiederholt angekündigt, stärker gegen die hohe Einkommensungleichheit im Land vorgehen zu
wollen. Da sehr niedrige Steuersätze bei der Unternehmensbesteuerung zu Verlagerungen aus der
Einkommensteuer in den Bereich der Unternehmensgewinne führen, sind weiteren Steuersenkungen
Grenzen gesetzt.

Trotzdem dürfte sich der Steuerwettbewerb in Europa intensivieren. Dieser Wettbewerb wird sich
aber nicht in auf breiter Front sinkenden Steuersätzen niederschlagen, sondern in der Schaffung
gezielter und auf bestimmte Aktivitäten zugeschnittener steuerlicher Anreize. Man könnte von einem
sehr differenzierten, „smarten“ Steuerwettbewerb sprechen. Auf diesem Gebiet gewinnt
Großbritannien durch den EU-Austritt erheblich an Handlungsspielräumen. Zwei Aspekte stehen hier
im Vordergrund.

So unterliegt das Land künftig nicht mehr der EU-Beihilfenkontrolle. Diese hat die Spielräume in der
Steuerpolitik in den vergangenen Jahren immer mehr eingeschränkt. Ein aktuelles Beispiel ist der Fall
Apple. Irland hat es dem US-Konzern durch attraktive steuerliche Regelungen ermöglicht, einen
erheblichen Teil seiner Exporte von PCs und iPhones nach Europa über Irland abzuwickeln und dabei
in Europa nur sehr geringe Ertragsteuern zu zahlen. Die Europäische Kommission hält das für eine
unzulässige Beihilfe und fordert von Apple massive Steuernachzahlungen. Derartige Eingriffe der EU
in die nationale Steuerpolitik hat Großbritannien künftig nicht mehr zu fürchten. Es ist also gut
möglich, dass Firmen wie Apple ihre Aktivitäten, soweit sie nicht in der EU angesiedelt sein müssen,
künftig nach Großbritannien verlagern.

Auch die jüngst verabschiedete EU-Richtlinie gegen Steuervermeidung gilt künftig nicht mehr für
Großbritannien. Diese sieht unter anderem vor, dass alle Mitgliedstaaten den zulässigen Abzug von
Zinsen einschränken. Da Großbritannien hier bald gezielt großzügigere Regeln anbieten kann, wird
der Standort für Unternehmen attraktiver. Mehr noch: Die EU will multinationale Unternehmen
künftig zwingen, im Rahmen des sogenannten Country-by-Country-Reporting ihre Steuerzahlungen
und andere Geschäftsinformationen nicht nur den Steuerbehörden verfügbar zu machen, sondern sie
zu veröffentlichen. Unternehmen, deren Steuerlast niedrig erscheint, sollen so unter öffentlichen
Druck gesetzt werden. Viele Unternehmen sehen in dieser Veröffentlichungspflicht einen
Wettbewerbsnachteil und könnten sich auch deshalb entscheiden, ihren Sitz nach Großbritannien zu
verlagern.

Man darf erwarten, dass die britische Steuerpolitik die neuen Handlungsspielräume nutzen wird, um
im Standortwettbewerb durch gezielte und maßgeschneiderte steuerliche Anreize für international
mobile Aktivitäten Vorteile zu erringen. Das muss kein Nachteil sein – wenn es die EU dazu bringt, sich
nicht nur auf die Verschärfung der Unternehmensbesteuerung zu konzentrieren, sondern auch die
eigene Wettbewerbsfähigkeit stärker in den Blick zu nehmen.

* Erschienen unter dem Titel „Wie die Briten die EU unter Druck setzen können“, WirtschaftsWoche, 16. Juni 2017, S. 84.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
STANDPUNKT
                                                                            München, 20. Juli 2017

Nr. 188
Wider die populistische Erpressung
der EU*
Wenn es darum geht, die Missachtung von europäischen Regeln für Staatsschulden oder die
Abwicklung von Banken zu rechtfertigen, hat ein Argument in den letzten Monaten Hochkonjunktur:
Um den populistischen Euro- und EU-Kritikern nur keinen weiteren Auftrieb zu geben, sei es
notwendig, bei der Durchsetzung europäischer Vereinbarungen auch einmal Ausnahmen zu machen.
Die Anwendung dieses Argumentationsmusters ist vielfältig.

So erhielt Frankreich im Vorfeld der französischen Präsidentschaftswahl mildernde Umstände,
obwohl es seit Jahren gegen europäische Vereinbarungen zum Abbau der Staatsverschuldung
verstoßen hat. Es wurden immer wieder neue Fristen gewährt, eigentlich fällige Sanktionen vertagt,
aus Angst, Wasser auf die Mühlen des Front National zu leiten.

Mit ähnlichen Argumenten war schon Spanien vor der letzten Wahl privilegiert worden. Die jüngste
Genehmigung von Staatshilfen zur Rettung der italienischen Banken ist maßgeblich von der Angst
getrieben, der europafeindlichen Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung keine neuen Anti-Brüssel-
Argumente zu liefern. Dafür wird sogar in Kauf genommen, dass die gerade erst in Kraft getretenen
Regeln der Europäischen Bankenunion in ihrer Glaubwürdigkeit beschädigt werden.

Aus dem Europäischen Parlament ist immer wieder zu hören, man sollte Staaten für die Einhaltung
europäischer Vereinbarungen mit Transfers belohnen, statt Überschreitungen zu sanktionieren. Das
ist ungefähr so, als würde man künftig das Unterlassen von Ladendiebstahl belohnen, statt den
Diebstahl zu bestrafen.

In dem gerade veröffentlichten Reflexionspapier der Europäischen Kommission zur Zukunft der
Europäischen Währungsunion kommen Forderungen nach Strukturreformen wie der Flexibilisierung
von Arbeitsmärkten, dem Abbau überzogener Staatsausgaben oder der Beseitigung von
Marktzugangsschranken nicht vor. Stattdessen ist das Papier reich an Ideen für neue Absicherungs-
und Finanzierungsinstrumente zugunsten Südeuropas. Offenbar hat die Sorge vor den Populisten den
Autoren in der Kommission die Hand geführt.

Aber nicht nur für die Europäische Kommission ist dieses Argumentationsmuster inzwischen zu einem
Leitmotiv geworden. Auch das mit Blick auf die ökonomischen Daten nicht mehr verständliche
Zurückschrecken der EZB vor einer Normalisierung der Geldpolitik wird immer wieder mit politischen
Unsicherheiten begründet. Im Klartext heißt dies, dass die EZB deshalb ihre riskante
Negativzinspolitik in Kombination mit umfangreichen Anleihekäufen länger als nötig beibehält, weil
man hofft, dass die historisch günstige Refinanzierung den gemäßigten Parteien in Südeuropa hilft,
an der Macht zu bleiben.

Im Kern laufen solche politisch motivierten Entscheidungen darauf hinaus, dass Europa sich der
Erpressung durch Populisten beugt und deren Erpressungsstrategien sogar noch verstärkt. Die
Konsequenz aus Sicht vernunftbegabter Wähler ist völlig klar: Es ist für Wähler in Südeuropa rational,
für eine populistische Partei zu stimmen. Selbst wenn Wähler in Italien genau erkennen, dass etwa
das wirtschaftspolitische Programm der Fünf-Sterne-Bewegung ökonomischer Unfug ist, kann sich
eine Unterstützung dieser Partei aus der italienischen Perspektive dennoch lohnen. Das Kalkül ist,
dass größere Stimmanteile für die EU-Gegner in Südeuropa der beste Weg sind, um Nordeuropa zu
Konzessionen, Regelaufweichung und letztlich Transfers zu zwingen. Ähnlich ist es dann für
nordeuropäische Wähler rational, ihrerseits Populisten zu wählen, die dagegenhalten.

Dass die EU der populistischen Erpressung nachgibt, ist keine Strategie, die das Überleben des Euro
und der EU sichern kann. Erstens wird dadurch die Glaubwürdigkeit des mühsam verbesserten
Regelwerks auf den Gebieten der fiskalischen Überwachung und Bankenunion geschädigt. Vor diesem
Hintergrund weitere Schritte in Richtung Risikoteilung durchzuführen, wird für die potenziellen
Zahlerländer unmöglich gemacht. Zweitens untergräbt dieses Verhalten das Prinzip, dass es
solidarische Hilfe nur gegen Reformen und Autonomieverlust gibt. Und drittens ist das vermeintliche
Programm zur Eindämmung der Populisten in Südeuropa die beste Wahlkampfmunition für die EU-
Kritiker in Nordeuropa. Die Unterstützung für das europäische Projekt, die angeblich in Südeuropa
bewahrt wird, wird auf diese Weise in Nordeuropa zerstört.

Was kann Europa tun, um nicht dauerhaft Opfer der populistischen Erpressung zu werden?
Kurzfristige, wahlstrategische Überlegungen sollten bei der Auslegung von Regeln in der Eurozone
künftig keine Rolle mehr spielen. Um das zu erreichen, sollten Entscheidungen über den
Stabilitätspakt in unabhängige Institutionen übergehen. Außerdem muss es für die Eurozone endlich
einen Weg für die geordnete Insolvenz von Eurostaaten und als Ultima Ratio für einen Austritt aus der
Eurozone ohne Systemkrise geben. Denn genau in diesem Systemrisiko ist das Erpressungspotenzial
der Populisten begründet, dem Brüssel heute kaum etwas entgegenzusetzen hat. Letztlich können
radikale Populisten nur durch die Erkenntnis der Wähler gestoppt werden, dass deren Rezepte
Wohlstand und Frieden gefährden, und nicht dadurch, dass europäische Institutionen es aufgeben,
europäisches Recht auch durchzusetzen.

* Erschienen unter dem Titel „Populistische Erpressung“, Handelsblatt, 17. Juli 2017, S. 48.

Clemens Fuest                                                        Friedrich Heinemann
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft                Leiter des Forschungsbereichs „Unternehmensbe-
Präsident des ifo Instituts                                          steuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft“ am ZEW in
                                                                     Mannheim
STANDPUNKT
                                                                          München, 29. September 2017

Nr. 189
Die Wirtschaftspolitik der Jamaika-
Koalition*
Die Bundestagswahlen haben die politische Landschaft in Deutschland verändert. Die große Koalition
wurde abgewählt, und mit der AfD ist eine Partei ins Parlament eingezogen, die immer wieder mit
rechtspopulistischen Parolen provoziert. Das sorgt für viel Aufregung. Dabei gerät in den Hintergrund,
dass die AfD letztlich nicht mehr als 13 Prozent der Stimmen erhalten hat und an der
Regierungsbildung nicht beteiligt wird. Es ist Zeit, dass die Politik sich auf die Frage konzentriert, wie
eine neue Regierung gebildet werden kann und was zu tun ist, damit Deutschland die
Herausforderungen meistern und die Chancen nutzen kann, die vor uns liegen.

Wenn Union, FDP und Grüne eine Regierung bilden wollen, müssen sie erhebliche Differenzen
überbrücken. Besonders schwierig wird die Einigung auf die künftige Zuwanderungspolitik. Derzeit
streiten vor allem CSU und Grüne über das Thema einer Obergrenze für Flüchtlinge. Angela Merkel
lehnt ebenso wie die Grünen eine Obergrenze ab. Welche Lösung wäre sinnvoll? Eine Botschaft der
Wähler wird die neue Koalition kaum ignorieren können: Der Eindruck, dass der deutsche Staat die
Kontrolle über die Flüchtlingszuwanderung verloren hat, darf sich nicht wiederholen. Misstrauen hat
außerdem die zur Beruhigung der Bevölkerung verbreitete Behauptung gesät, die Aufnahme der
Flüchtlinge würde Deutschland auch noch wirtschaftlich entlasten. All das heißt nicht, dass die neue
Koalition sich vom bestehenden Asylrecht und humanitärer Hilfe für Flüchtlinge verabschieden oder
dass Deutschland seine Grenzen für Zuwanderung schließen sollte. Im Gegenteil: Deutschland sollte
sich aktiv um qualifizierte Zuwanderung bemühen und denjenigen unter den Flüchtlingen, die
erfolgreich eine Ausbildung absolvieren oder Beschäftigung gefunden haben, eine Bleibeperspektive
bieten. Es ist aber notwendig, die künftige Immigration in einem Zuwanderungsgesetz neu zu regeln.
Im Ergebnis muss die Bevölkerung wieder darauf vertrauen können, dass der deutsche Staat steuern
kann, wer aus Ländern außerhalb der EU zu uns kommt. Eine Obergrenze, was die Zahl von
Zuwanderern oder Flüchtlingen angeht, muss nicht in diesem Gesetz stehen. Gleichzeitig muss
deutlich werden, dass das Zuwanderungsgesetz auch ein Gesetz zur Begrenzung der Immigration ist.

Schwierig wird die Einigung auch im Bereich der Klimapolitik. Einigkeit besteht darin, dass
Deutschland seine Zusagen zum Abbau von CO2-Emissionen erfüllen muss. Umstritten ist der richtige
Weg dahin. Die Grünen möchten beispielsweise, dass ab 2030 keine Autos mit Verbrennungsmotoren
mehr zugelassen werden. Hier sollten die Grünen ihre Position überdenken. Gerade beim
Verbrennungsmotor gibt es eine sehr dynamische Entwicklung hin zu emissionsarmen oder gar
emissionsfreien Techniken. Inwieweit Elektroantriebe als flächendeckende Lösung funktionieren, ist
derzeit unklar. Mit welcher Antriebstechnik die Klimaziele zu den geringsten Kosten erreicht werden,
muss sich letztlich in einem Wettbewerb zeigen, in dem Umweltbelastung dem Verursacher
angelastet wird. Das kann erreicht werden, indem der Verkehr in den Handel von
Emissionszertifikaten einbezogen wird. Klimapolitik wird nur dann nachhaltig auf gesellschaftliche
Akzeptanz stoßen, wenn sie unnötige Kosten vermeidet.

In der Europapolitik sind Union, FDP und Grüne sich einig darüber, dass Deutschland ein großes
Interesse an einer Stabilisierung und Weiterentwicklung der Europäischen Union hat. Klar ist auch,
dass die EU den Binnenmarkt weiter vertiefen und neue Felder der Zusammenarbeit erschließen
sollte: Die liegen zum Beispiel in der Außen- und Sicherheitspolitik und der Entwicklungshilfe. Durch
mehr Kooperation bei der Beschaffung von militärischer Ausrüstung könnten die nationalen
Staatshaushalte entlastet werden.

Ein Stolperstein für die Jamaika-Koalition liegt in der Politik der Europäischen Währungsunion. Die
Grünen haben in ihrem Wahlprogramm der noch amtierenden Bundesregierung vorgeworfen, beim
EU-Haushalt zu knausern, auf eine einseitige Sparpolitik zu beharren, Schuldenerleichterungen für
Griechenland, Eurobonds und öffentliche Investitionen zu behindern und so die Spaltung Europas zu
vertiefen. Entsprechend fordern die Grünen mehr Mittel für EU-Töpfe und eine europäische
Arbeitslosenversicherung. Die FDP dagegen pocht auf die Einhaltung von Verschuldungsregeln und
schlägt vor, ein Verfahren für Staatsinsolvenzen und einen geordneten Austritt aus der Eurozone zu
etablieren, bei dem das austretende Land EU-Mitglied bleiben kann. Die Union vertritt eine mittlere
Position: Sie schließt eine Vergemeinschaftung von Schulden aus und will einen Europäischen
Währungsfonds schaffen, der die europäischen Schuldenregeln konsequenter überwachen soll, als es
die Europäische Kommission bislang getan hat.

Wirklich wichtig für die Zukunft der Eurozone wäre es, dass die Banken künftig weniger
Staatsanleihen ihrer eigenen Länder halten und mehr Eigenkapital vorhalten. Statt eines
umfassenden Verfahrens für Staateninsolvenzen sollten Accountability Bonds eingeführt werden. Das
sind nachrangige Anleihen, mit denen Länder den Teil ihrer laufende Budgetdefizite finanzieren
müssen, der die im Fiskalpakt vereinbarte Grenze von konjunkturbereinigt 0,5 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts überschreitet. Das würde Anreize für solide Finanzpolitik stärken und die
Steuerzahler besser davor schützen, für übermäßige Schulden anderer Euroländer haften zu müssen.
Gleichzeitig würde eine Destabilisierung von Ländern, die in der Vergangenheit hohe Schulden
angehäuft haben, verhindert. Diese Reformen sollten für alle Koalitionspartner akzeptabel sein.

Unterschiedlich sind die Vorstellungen auch im Bereich der Steuerpolitik. Um als Standort
wettbewerbsfähig zu bleiben, wird Deutschland seine Unternehmensbesteuerung reformieren
müssen. Donald Trump will den US-Steuersatz auf Unternehmensgewinne von 35 auf 20 Prozent
reduzieren. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat angekündigt, die Vermögensteuer
abzuschaffen und die Steuern auf Unternehmensgewinne deutlich zu senken. Die Regierungen
Großbritanniens und Schwedens haben ebenfalls Steuerentlastungen für Investitionen angekündigt.

Deutschland wird sich diesem Steuerwettbewerb nicht entziehen können, unabhängig davon ob den
politischen Entscheidungsträgern das gefällt oder nicht. Während die FDP die Wettbewerbsfähigkeit
des Steuersystems in den Vordergrund stellt, betonen die Grünen eher den Kampf gegen
Steuervermeidung. In der Tat sollten die anstehenden Reformen nicht nur Steuerentlastungen
bringen, sondern gleichzeitig verhindern, dass bestimmte Sektoren – vor allem Unternehmen der
digitalen Wirtschaft – sich ganz der Besteuerung entziehen.

Weniger konfliktträchtig ist das wichtige Thema der Digitalisierung. Derzeit schwankt Deutschland
zwischen überzogener Begeisterung für einen landesweiten Glasfaserausbau und Angst vor der Macht
neuer Internetfirmen wie Uber und Airbnb. Hier gilt es, Fehler zu vermeiden. Ein flächendeckendes
Glasfasernetz wäre teuer und ineffizient. Wichtiger ist ein Ausbau dort, wo diese Infrastruktur wirklich
gebraucht wird. Und die Regulierung der digitalen Wirtschaft sollte Missbrauch bekämpfen, aber neue
Geschäftsmodelle nicht behindern.

Außerdem ist die Sorge verbreitet, dass durch Digitalisierung und Automatisierung Arbeitsplätze
verlorengehen. Als Antwort darauf wird immer wieder die Einführung eines bedingungslosen
Grundeinkommens, eventuell in Kombination mit einer Robotersteuer, genannt. Das wäre ein Irrweg
– eine Kapitulation vor den anstehenden Herausforderungen. Statt einen großen Teil der Bevölkerung
von Transfers abhängig zu machen, die von anderen erwirtschaftet werden, sollte die Politik darauf
setzen, die Beschäftigten durch Aus- und Weiterbildung auf die Berufe der Zukunft vorzubereiten.

Auch in der Rentenpolitik haben die Jamaika-Koalitionäre Gemeinsamkeiten. Alle Beteiligten
erkennen an, dass der demographische Wandel die öffentlichen Haushalte erheblich belasten wird,
vor allem die Rentenversicherung. Hier sollte man die Zeit nach 2030 in den Blick nehmen. Im
Bundestagswahlkampf haben SPD und Union ausgeschlossen, das Rentenalter auf 70 Jahre zu
erhöhen, obwohl es triftige Gründe gibt, genau das mittelfristig zu tun. Die Erhöhung des
Rentenzugangsalters wird oft als ungerecht gebrandmarkt, weil man gesundheitlich belastende
Berufe häufig nicht bis zum Alter von 70 ausüben kann. Das ist ein wichtiges Problem, aber es muss
durch höhere Entlohnung und die Erwerbsunfähigkeitsversicherung gelöst werden, nicht durch die
Rentenversicherung. Abgesehen davon sollte der individuelle Renteneintritt flexibel sein, allerdings
mit entsprechenden Ab- oder Zuschlägen.

Wenn die Jamaika-Koalitionäre zu konstruktiven Kompromissen bereit sind, haben sie die Chance,
neue Impulse zu setzen und Deutschland und Europa erheblich voranzubringen.

* Erschienen unter dem Titel „Eine Frage der Lernfähigkeit“, Handelsblatt, 29. September 2017, S. 72 sowie auf Englisch in
ähnlicher Form unter dem Titel „Germany’s Economic Road Ahead“, Project Syndicate, 25. September 2017; ebenso abgedruckt
in: The Financial Express (Bangladesch), The Hindustan Times (Indien), Up Media 上報 (Taiwan), Exclusive Эксклюзив
(Kasachstan), Der Standard (Österreich), Patria.cz (Tschechische Republik), Euronews (Frankreich), Világgazdaság (Ungarn), Il
Sole – 24 Ore (Italien), Kosova Sot (Kosovo), El Economista (Spanien), Revista de Prensa (Spanien), Handelszeitung (Schweiz),
World Economic Forum Spanish (Schweiz), Liga.net (Ukraine), Economia (Großbritannien), Financial News (Großbritannien), La
Nacion (Costa Rica), El Comercio (Ekuador), Espreso (Ekuador), Jordan Times (Jordanien), Al Shabiba ‫ﺣﯾﻔﺔ‬   ‫ﺑﯾﺑﺔ ﺻ‬   ‫( اﻟﺷ‬Oman),
Times of Oman (Oman), Gulf Times (Oman), Al Bayan ‫ﺎن‬          ‫( اﻟﺑﯾ‬Vereinigte Arabische Emirate), RealClearPolitics (Vereinigte
Staaten).

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
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