Imperialismus Globale Machtverhältnisse im Fokus - sozialismus.ch
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antikap antikap Nr. 13 | Herbst 2020 | 3.- CHF Klassenkampf Feminismus Ökosozialismus Imperialismus Globale Machtverhältnisse im Fokus sozialismus.ch antikap – Zeitschrift der Bewegung für den Sozialismus
EDITORIAL Solidarische Alternativen zu einer Welt in der Krise Wir befinden uns aktuell mitten in einer mehrfachen Kri- militärische Kräfte verfügt, zeigen wir im Artikel über se. Und es sieht so aus, als ob die grundsätzlichen Probleme, den Schweizer Imperialismus auf. mit denen wir derzeit konfrontiert sind, nicht so bald wieder Wenn in der Schweiz über Hunger und Armut ge- verschwinden werden. Das Corona-Virus ist seit dem Früh- sprochen wird, dann häufig im Kontext von Migration. jahr 2020 für massive Einschnitte in das soziale und wirt- Seit März 2019 ist eine Asylgesetzrevision in Kraft, die von schaftliche Leben verantwortlich. In der Schweiz, aber auch der Sozialdemokratie mitgetragen wurde und das Asylwe- in vielen anderen Ländern, waren die Antworten und Mass- sen fundamental umgekrempelt hat. Die Befürchtungen, die nahmen auf die Bedrohungen des Virus völlig ungenügend. schon vor der Umsetzung geäussert wurden, haben sich dabei Die Art und Weise, wie die Regierungen auf die Corona-Pan- mehrheitlich bewahrheitet. Dies zeigt ein Bericht unabhän- demie reagieren, offenbart die Unfähigkeit der kapitalisti- giger Rechtsberatungsstellen, auf den wir in dieser Ausgabe schen Gesellschaften, eine adäquate Antwort auf globale Her- eingehen. ausforderungen zu finden. Während die Gesundheitssysteme Eine weitere Dimension der aktuellen mannigfaltigen Kri- in den meisten Regionen der Welt schon völlig ungenügend se ist die drohende Klimakatastrophe. Die Klimabewegung aufgestellt sind, führen die Massnahmen zur Eindämmung kämpft mittlerweile seit zwei Jahren gegen die Untätigkeit des Virus weltweit zu massiver Verelendung, Arbeitslosigkeit, der Herrschenden in dieser Frage. Neuerdings auch mit Mit- Armut und sozialer Isolation. teln des zivilen Ungehorsams. Trotz der Radikalität und der Die Leidtragenden sind wir alle. Sei es durch die physische Bedeutung dieser Proteste tut sich die radikale Linke weiter Bedrohung durch das Virus, den Verlust des Arbeitsplatzes schwer, auf die Klimabewegung zuzugehen. Wir kritisieren oder durch drastische Einschnitte in unsere sozialen Bezie- diese Haltung in unserem Artikel zum «Rise Up for Change». hungen und unsere emotionale Gesundheit. Und im Zuge von Nach langem hin und her verabschiedeten die Schweizer Corona kommt es auch zu einem heftigen wirtschaftlichen Parlamentskammern fast zeitgleich zum Rise Up for Change Einbruch und einer länger andauernden Rezession. ein neues CO2-Gesetz. Das Gesetz trägt den enormen Her- Doch nicht nur in Europa, auch die Volkswirtschaften im ausforderungen, vor die uns die Klimakrise stellt, aber in Globalen Süden brechen aufgrund des Corona-Virus massiv keinster Weise Rechnung. Mit dem Argument, das Gesetz sei ein. Damit werden bestehende strukturelle Probleme massiv besser als nichts, entschieden sich einige Sektionen des Kli- verschärft. Bereits jetzt sind hunderte Millionen Menschen mastreiks Schweiz gegen die Ergreifung des Referendums, durch die Auswirkungen des Virus noch stärker von Armut andere ergriffen wiederum das Referendum, weil das Gesetz und Hunger betroffen. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht unzureichend ist. Die Debatte über das CO2-Gesetz und war- in Sicht. Dass es solche extreme Armut und auch Hunger auf um wir das Referendum für sinnvoll erachten, führen wir im der Welt überhaupt noch gibt, ist auch ohne Pandemie eine Artikel zum CO2-Gesetz aus. Schande. Armut und Hunger im Globalen Süden sind das Die aktuelle Krise führt bereits jetzt zu politischen Kämp- Resultat des Imperialismus des 20. und 21. Jahrhunderts, fen. Weil der bürgerliche Staat dabei nicht den neutralen der die weltweiten Ungleichheiten zugunsten der Industrie- Schiedsrichter spielt, ist es uns wichtig zu betonen, dass wir länder ausnutzt und sie verschärft. Im Artikel «Ungleichheit keine Illusionen in die Rolle des Staates haben dürfen. Dieser und Ausbeutung im Weltmassstab» zeichnen wir detailliert schlägt nämlich aktuell gerade massiv gegen antifaschisti- nach, wie die Ausbeutung im Globalen Süden und die globa- sche Aktivist*innen in Basel zu, die teilweise wegen simpler len Wertschöpfungsketten zur ungleichen Entwicklung bei- Teilnahme an einer Demonstration unbedingte Haftstrafen tragen. Welche Rolle die Schweiz dabei spielt, auch wenn sie bekommen haben. Gleichzeitig ist die Rolle und die Funktion weder historisch eigene Kolonien besass, noch über relevante des Staates und seiner ausführenden Organe, wie der Polizei, 2 | antikap Nr. 13 | Herbst 2020
Editorial & Inhalt Inhalt komplexer, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Mit einem Artikel zu den Prozessen sowie einem 4 Imperialismus: Die globalisierte Weltwirtschaft ist von starken Ungleichheiten geprägt. Ausbeutung im Globalen Süden und globale Wertschöpfungsketten zum Charakter der Poli- tragen zur ungleichen Entwicklung und zum Imperia- zei im bürgerlichen Staat lismus im 21. Jahrhundert bei. wollen wir diesen beiden Themen nachspüren. Die kapitalistische Wirtschaftsweise bringt 10 Schweizer Imperialismus: Um die politische Me- chanik in einem kapitalistischen Land zu verstehen, ist ein Imperialismusbegriff notwendig. Gerade für die vielfältige Krisen her- Schweiz. vor und so wie es aus- sieht, werden sich diese verschärfen und uns vor bedrohliche Zukunftsaus- 16 Das neue CO2-Gesetz: Ein Hindernis im Kampf gegen die Klimakrise. sichten stellen. Unsere Waffe dagegen ist die Solidarität, un- ser ungebrochener Wille und un- 20 Die Klimabewegung und die Linke: Weshalb sich die radikale Linke schwertut, auf die Klimabewegung zuzugehen. Und weshalb sich das schnellstmöglich verrückbare Zuversicht, mit deren Hilfe ändern sollte. wir hoffentlich noch rechtzeitig eine solidarische Alter- native zu Kapitalismus und Umweltzerstörung entwickeln können. 22 Umweltschutz: Mitte Oktober 2020 haben Akti- vist*innen im Kanton Waadt ein Stück Wald besetzt. Die Schweiz hat damit ihre erste zone à défendre. die antikap-Redaktion Abonniere antikap! 24 Neustrukturierung des Asylbereichs: Eine Untersuchung unabhängiger Rechtsberatungsstellen zeigt auf, wie die Rechte von Asylsuchenden missach- tet werden. antikap ist die Deutschschweizer sozialismus.ch/antikap Zeitschrift der Bewegung für den Sozialismus und erscheint vorerst zweimal jährlich. 28 Basel Nazifrei: Das Vorgehen von Polizei und Justiz gegen die antifaschistischen Aktivist*innen der Basel Nazifrei-Demo ist skandalös und jenseits rechts- staatlicher Prinzipien. Sie versteht sich als Ergänzung zu 29 unserer Webseite sozialismus.ch, auf der wir wö- Gemeinsam gegen staatliche Repression: chentlich aktuelle Beiträge veröffentlichen. Obwohl Solierklärung der BFS/MPS mit den Opfern staatlicher antikap unentgeltlich hergestellt wird, fallen für Druck Repression. und Versand Kosten an. Ob wir den Erscheinungsrhyth- 30 mus längerfristig erhöhen können, hängt auch von der Staat und Polizei: Viele Linke sind der Ansicht, dass Unterstützung unserer Leser*innen ab! die Polizei lediglich in den Diensten der Herrschenden Für CHF 10.- kannst du die antikap ein Jahr lang (Früh- steht. Eine solche Analyse greift zu kurz. lings- und Herbstausgabe) abonnieren. Verwende dazu den beiliegenden Einzahlungsschein mit dem Vermerk «Abo». Über zusätzliche Spenden oder ein Soliabo sind wir dir sehr dankbar! 34 Die Linke und Corona: Warum es kontraproduktiv ist, einen Shutdown zu fordern, ohne sozialpolitische Forderungen für eine gesamtgesellschaftliche Trans- formation aufzuzeigen. Adresse: BFS Basel, Zeitschrift antikap, 4057 Basel. Konto: 15-238267-2, Vermerk «Abo». 36 Das Andere Davos 2021: Die jährliche Gegenveran- staltung zum Weltwirtschaftsforum (WEF). antikap Nr. 13 | Herbst 2020 | 3
SCHWERPUNKT IMPERIALISMUS Ungleichheit & Ausbeutung im Weltmassstab Die globalisierte Weltwirtschaft ist von starken Ungleichheiten geprägt. Die meisten grossen international agierenden Unter- nehmen sind immer noch Konzerne aus den ehemaligen Kolo- nialmächten, insbesondere den USA, Westeuropa und Japan. Gleichzeitig konzentriert sich die schwerste Armut weiterhin im Globalen Süden, meist in ehemaligen Kolonien. Neuere Unter- suchungen zum Nord-Süd-Verhältnis zeigen auf, wie sich der Imperialismus im 21. Jahrhundert weiterentwickelt hat und wie Ausbeutung im Globalen Süden und globale Wertschöpfungs- ketten zur ungleichen Entwicklung beitragen. von Jonas Röösli (BFS Zürich) 4 | antikap Nr. 13 | Herbst 2020
Globalisierung & Imperialismus: Ungleichheit & Ausbeutung im Weltmassstab Einführung: Imperialismus und Kapitalismus Unterentwicklung, Abhängigkeit Imperialismus ist die Unterordnungen einer Gesellschaft und Ungleicher Tausch unter die Interessen einer anderen, oder genauer unter die In- Mit der fortschreitenden Befreiung der Kolonien ab 1945 teressen der herrschenden Klasse einer anderen Gesellschaft. schien die alte Form der Domination durch die imperialis- Dies kann zum Beispiel politisch-militärische, ökonomische tischen Mächte ein Ende gefunden zu haben. Es zeigte sich und kulturelle Formen annehmen. Imperialismus ist dabei jedoch, dass die ökonomischen Verhältnisse trotz der formel- nicht auf eine spezifische historische Epoche beschränkt. Er len Unabhängigkeit die gleichen blieben. Die ehemaligen Ko- kann sowohl die Form von antiken Reichen wie den alt-orien- lonien fanden sich in ihrer alten Rolle als Rohstofflieferanten talischen Reichen oder dem römischen Reich annehmen, als wieder, mussten sich mit hohen Zinsen finanzieren und bei auch von Kolonialreichen der Moderne wie dem französischen unliebsamen politischen Entwicklungen intervenierten die oder dem englischen. Formelle und direkte militärische Kont- ehemaligen Kolonialmächte. rolle über ein Gebiet ist nur eine Form, in der sich der Impe- In Lateinamerika entstanden entwicklungstheoretische rialismus äussern kann. Andere Formen sind Zwangsverträge Strömungen, welche die bislang dominante Entwicklungs- oder wirtschaftliche Ausbeutung. Im Folgenden wollen wir theorie, die Modernisierungstheorie, kritisierten. Diese be- uns auf wirtschaftliche Aspekte des Imperialismus in kapita- sagt grob umrissen, dass die ökonomische Entwicklung einer listischen Gesellschaften konzentrieren. kapitalistischen Gesellschaft überall gleich abläuft und damit Unter dem Eindruck des Wettlaufs um Afrika unter- dem Beispiel Englands folgt: Es entsteht eine moderne Indus- suchten Ökonom*innen und marxistische Theoretiker*in- trie, während sich die traditionellen Gesellschaftsformen wie nen (unter anderen Hobson1, Hilferding2, Luxemburg3 und Heimarbeit und Subsistenzwirtschaft auflösen. Die Kritik an Lenin4) um die Jahrhundertwende die spezifische Form des dieser Theorie zielt auf die Vernachlässigung der externen Imperialismus im damaligen Kapitalismus. Der Imperativ Umstände. Einerseits war England das erste Land, in dem der möglichst effizienten Verwertung von Kapital treibt die sich der industrielle Kapitalismus entwickelte, während die Klasse der Kapitalist*innen zur steten Suche nach Ressour- neu unabhängigen Kolonien auf einen entwickelten Welt- cen, Arbeitskräften und Absatzmärkten über nationale Gren- markt trafen. Andererseits war England eine Kolonialmacht, zen hinweg. Ein zunehmend monopolistischer und mit dem während die neu unabhängigen Kolonien infolge des Kolonia- Finanzwesen verbandelter Teil der Bourgeoisie bediente sich lismus global eine untergeordnete Rolle spielten. des politischen und militärischen Apparates des Staates, um Die bürgerliche Variante, der Strukturalismus, erklärt die sich neue Territorien für möglichst günstige Bedingungen Schwierigkeit der Entwicklung des Globalen Südens damit, für die Akkumulation anzueignen. Der Erste Weltkrieg war dass ihre Volkswirtschaften auf den Rohstoffexport ausge- der Höhepunkt dieses Expansionsdrangs, da die Aufteilung legt sind und Rohstoffpreise gegenüber Preisen von Indust- der Welt unter den kapitalistischen Kolonialmächten zu dem rieerzeugnissen tendenziell fallen.5 Ein wichtiges Hindernis Zeitpunkt beinahe abgeschlossen war und somit nur noch für die Entwicklung sei der grosse, vor allem indigene und Territorien anderer Kolonialmächte zur Eroberung vorhan- landwirtschaftlich-selbstversorgerische, informelle Sektor. den waren. Der Strukturalismus sieht die politische Antwort, um aus die- Diese Untersuchungen gingen von der spezifischen his- ser Situation zu entkommen, in der staatlich subventionierten torischen Situation aus, in der kapitalistische Gesellschaften Industrialisierung und Zöllen auf Importen («importsubstitu- auf nicht-kapitalistische Gesellschaften trafen und sich diese ierende Industrialisierung»).6 einverleibten. Heute befinden wir uns in einer anderen Si- Die linke Variante, die Dependenztheorie, geht davon aus, tuation. Mit der Befreiung der meisten Kolonien nach dem dass die Länder der sogenannten Peripherie (Afrika, Latein- Zweiten Weltkrieg und der weltweiten Ausbreitung des Ka- amerika, grosse Teile Asiens) deswegen arm sind und bleiben, pitalismus können wir die alten Erklärungsschemata nicht weil sie vom kapitalistischen Weltmarkt und seinen Institu- einfach auf heute übertragen. Im Folgenden wollen wir eini- tionen abhängig sind (Frank7 & 8) und es den reichen Ländern gen Ansätzen folgen, welche die ökonomischen Verhältnisse des Zentrums (USA, Europa und Japan) gelingt, einen Gross- des weltweiten Kapitalismus als Ganzes untersuchen. Dabei teil der Profite abzuschöpfen (Emmanuel9, Marini10, siehe wollen wir insbesondere die Wechselwirkung zwischen den Beispiele in den nächsten beiden Abschnitten). Exportorien- armen und reichen Ländern und die dadurch angetriebene tierte Länder kommen beispielsweise in die Unterentwick- Entwicklungsdynamik betrachten. lung, wenn die Nachfrage nach einem Exportgut (wie Silber 5 Dies ist als Verschlechterung der «Terms of Tra- de» oder Prebisch-Singer-These bekannt. 6 Die Hauptvertreter dieser Richtung wa- ren Raúl Prebisch und Celso Furtado. 1 J. A. Hobson, Imperialism: A Study, 1902. 7 A. G. Frank, The Development of Underdevelopment, 1966. 2 R. Hilferding, Das Finanzkapital, 1910. 8 A. G. Frank, Capitalism and Underdeve- 3 R. Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, 1913. lopment in Latin America, 1967. 4 W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchs- 9 A. Emmanuel, Unequal Exchange, 1972. tes Stadium des Kapitalismus, 1917. 10 R. M. Marini, Dialéctica de la dependencia, 1973 antikap Nr. 13 | Herbst 2020 | 5
Globalisierung & Imperialismus: Ungleichheit & Ausbeutung im Weltmassstab >$60,000 $50,000 - $60,000 $40,000 - $50,000 $30,000 - $40,000 $20,000 - $30,000 $10,000 - $20,000 $5,000 - $10,000 $2,500 - $5,000 $1,000 - $2,500
Globalisierung & Imperialismus: Ungleichheit & Ausbeutung im Weltmassstab Index (US 1995 = 100) von durchschnitt- lichen Lohnstückkosten (Bruttolohn pro Stunde über Bruttooutput pro Stunde) in der verarbeitenden Industrie in aus- gewählten Ländern, 1995-2014. Wieder sticht der Unterschied zwischen dem Westen und Japan auf der einen und dem Globalen Süden auf der anderen Seite ins Auge. Gemessen am Output ist der Lohn im Globalen Süden wesentlich tiefer, was die im Text erwähnten Folgen hat. Quelle: Monthly Review, https://mon- thlyreview.org/2019/03/01/global-com- modity-chains-and-the-new-imperia- lism. mit dem Agrobusiness und dem Wegfallen von protektionis- Ausbeutung. Dies wiederum senkt langfristig die Löhne in tischen Massnahmen zum Beispiel Indiens standen eine gros- den Industrien mit tieferer Ausbeutung und erhöht sie in se Zahl neuer Arbeiter*innen dem Arbeitsmarkt und insbe- Industrien mit höherer Ausbeutung und führt unter sonst sondere der «industriellen Reservearmee» zur Verfügung. Je gleichen Umständen tendenziell zu einer Ausgleichung der mehr Arbeitskräfte dem Kapital in einem Bereich zur Verfü- Mehrwertrate. gung stehen, desto einfacher können die Kapitalist*innen die Wieso kommt es nicht zu einem solchen Ausgleich der Löhne und die Arbeitsbedingungen zu ihren Gunsten beein- Mehrwertrate, wenn es sich nicht um Industrien eines Lan- flussen. Ein weiterer Aspekt ist die schwächere Organisation des, sondern verschiedener Länder handelt? Sicherlich ver- der Arbeiter*innenklasse im Globalen Süden. langsamen kulturelle Unterschiede, geografische Distanz Um den Argumenten zu folgen sollen hier die relevan- und andere Umstände den Prozess. Ein entscheidender Fak- ten wirtschaftlichen Begriffe kurz eingeführt werden. Der tor sind jedoch die westlichen Grenzregimes, die als frem- Wert einer Ware entspricht der gesellschaftlich notwendigen de Macht und Schranke fungieren, indem sie einen solchen Arbeitszeit, um sie herzustellen. Um Waren produzieren zu migrationsbedingten Ausgleich verhindern und die Aufrecht- können, müssen Kapitalist*innen zunächst in Infrastruktur, erhaltung der Überausbeutung im Globalen Süden ermögli- Maschinen und Rohmaterialien investieren. Marx nennt dies chen. konstantes Kapital und bezeichnet dessen Wert mit c. Ausser- Die erhöhte Mehrwertrate oder Überausbeutung ermög- dem werden Menschen als Arbeitskräfte benötigt, die Lohn- licht dem Kapital höhere Profite im Globalen Süden und kosten bezeichnet Marx als variables Kapital, dessen Wert führt, aufgrund des Strebens des Kapitals nach möglichst mit v. Der Wert der produzierten Ware ist dann c+v+m, wo- hohen Renditen, zu einem Kapitalfluss von Investitionen von bei m die unbezahlte Mehrarbeit bezeichnet, die die Quelle Nord nach Süd, da die Bourgeoisie in den ärmeren Ländern der Profite ist. oft zu wenig Kapital hat, dieses Potential selbst vollständig Smith knüpft hier an Marx’ Untersuchung des Ausgleichs zu nutzen. Die Renditen dieser Investitionen fliessen dann der Profitrate im dritten Band des Kapitals an. Marx unter- zurück in den Norden. Diese Entwicklung wurde nicht zu- sucht die Auswirkung von verschiedener organischer Zu- letzt durch den Fortschritt in der Informations- und Trans- sammensetzung (Verhältnis von konstantem Kapital c zu porttechnologie begünstigt. Die Investitionen geschehen variablem Kapital v), von investiertem Kapital in verschiede- konkret auf zwei verschiedene Arten. Einerseits werden Port- nen Industriezweigen auf die Profitraten m/(c+v) und deren folioinvestitionen (Erwerb von ausländischen Wertpapieren Unterschied auf die Investitionstätigkeit der Kapitalist*innen. und Unternehmensbeteiligungen) und ausländische Direkt- Das Verhältnis m/v, die Mehrwertrate oder Ausbeutungsra- investitionen getätigt, in denen wie zu Lenins Zeiten nörd- te, nimmt Marx dabei als konstant über die verschiedenen liches Kapital im Süden investiert wird. Andererseits werden Industriezweige an. Er begründet dies damit, dass Arbei- Aufträge immer öfters mittels «Outsourcing» an formell un- ter*innen wenn möglich zu Industrien mit besseren Arbeits- abhängige Firmen im Süden vergeben, die effektiv jedoch bedingungen wechseln, also tendenziell von Industrien mit von der Marktmacht von international agierenden westlichen höherer Ausbeutung zu Industrien mit tieferer Ausbeutung. Firmen direkt abhängen. Das Nord-Süd-Verhältnis entspricht Dies erhöht das Angebot an Arbeitskraft in Industrien mit also sehr stark einem Verhältnis von nördlichem Kapital und tieferer Ausbeutung und senkt es in Industrien mit höherer südlicher Arbeit. antikap Nr. 13 | Herbst 2020 | 7
Globalisierung & Imperialismus: Ungleichheit & Ausbeutung im Weltmassstab Lage der Hauptquartiere der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt im Jahr 2020: Die meisten der dargestellten Unter- nehmen sind in den USA, Europa oder Japan angesiedelt. Es fällt jedoch auf, dass ebenfalls viele Unternehmen in Ostasien, vor allem China, angesiedelt sind. Quelle: Fortune, https://interactives.fortune.com/global_500_2020/dashboard/index.html. Smith nennt dies Arbeitsarbitrage: das Ausnutzen eines Konzerne, also die westliche Bourgeoisie, den im Süden Preisunterschieds einer identischen Ware, in diesem Fall produzierten Mehrwert aneignen, wenn sie die Produktion der Arbeitskraft. Unter kompetitiven Verhältnissen sollte nicht direkt kontrollieren? Die indonesische Soziologin In- das Ausnutzen von Arbitragemöglichkeiten dazu führen, tan Suwandi geht genau dieser Frage nach. Wie bei Lenin dass der Preisunterschied identischer Waren verschwindet. spielt bei ihr der monopolistische Charakter der nun inter- Doch ist dies hier im Fall der Arbeitskraft nicht möglich, da national agierenden westlichen Konzerne eine Hauptrolle. die Ausweichmöglichkeit der Arbeiter*innen unterbunden Ein Monopol bezeichnet ein Unternehmen oder allgemei- wird. Der Kapitalfluss in den Süden aufgrund der erhöh- ner eine kleine Anzahl Unternehmen, die als alleinige An- ten Rendite führt jedoch zu einem erhöhten Angebot der bieter oder Nachfrager auf einem Markt auftreten und da- dort produzierten Waren, sowie einem tieferen Angebot mit aufgrund mangelnder Konkurrenz die Preise zu ihren der im Norden produzierten Waren, was die Preise der im Gunsten beeinflussen können. Sie folgt dabei der Monthly- Süden produzierten Waren unter ihren Wert senkt und die Review-Schule18, welche die monopolistischen Aspekte des im Norden produzierten über ihren Wert erhöht. Dies führt modernen Kapitalismus betont. zu einer Angleichung der Profitrate analog dem von Marx Suwandi19 untersucht globale Wertketten, das heisst untersuchten Effekt der unterschiedlichen Profitraten bei den Wertaspekt von globalen Waren- und Lieferketten, unterschiedlicher organischer Zusammensetzung der Ka- also zum Beispiel wo wie viel Gewinne gemacht werden. pitalien in verschiedenen Industrien. Die Arbeitsarbitrage Globale Warenketten sind die oft komplexen Verknüpfun- führt so zu einem ungleichen Tausch («südliche» Arbeit gen von Produkten, von der primären Produktion bis zum wird gegen weniger «nördliche» Arbeit getauscht) und da- Endkonsum und allen Stationen dazwischen, in denen oft mit zu einem Wert- und Reichtumstransfer vom Süden in viele verschiedene Firmen unterschiedlicher Länder betei- den Norden. 18 Monthly Review ist eine 1949 gegründete, marxisti- Globale Wertketten sche Zeitschrift in den USA. Ihr Hauptredaktor ist zurzeit Wenden wir uns nun der neuen Art der Mehrwertex- der Soziologe und Ökosozialist John Bellamy Foster. traktion zu. Wie können sich die international agierenden 19 I. Suwandi, Value Chains, 2019. 8 | antikap Nr. 13 | Herbst 2020
Globalisierung & Imperialismus: Ungleichheit & Ausbeutung im Weltmassstab ligt sind. Gemäss der World Bank finden mittlerweile mehr als (Transport, Löhne, Steuern und Profit) und werden demnach zwei Drittel des Welthandels in Form von Wertschöpfungsket- zum deutschen BIP gerechnet. Die in Bangladesch verbleiben- ten statt.20 Sehr oft ist es der Fall, dass am Anfang dieser Ketten den 0.95 EUR werden auf Löhne und Profite aufgeteilt. Das Bei- kleinere Firmen aus dem Globalen Süden stehen und am Ende spiel verdeutlicht, wie viel des geschaffenen Wertes im Norden grosse monopolistische Firmen aus dem Westen (siehe Bild 3). angeeignet wird. Ausserdem zeigt es nach Smith auch, dass Suwandis konkrete Untersuchung fokussiert auf Indone- das BIP nicht das Gesamtprodukt eines Landes, sondern den sien, nach China und Indien das Land mit den meisten Arbeits- von diesem Land angeeigneten Wert misst. stellen mit Bezug zu den internationalen Warenketten. Die dabei zutage gebrachten Prozesse lassen sich aber weltweit be- Aussicht obachten: Die lokalen Firmen nehmen eine Rolle ähnlich der Das Kapital bewegt sich heute beinahe grenzenlos über den eines Subkontraktors21 ein und befinden sich dabei in einem Planeten, während der Arbeitskraft restriktive Grenzregime abhängigen Verhältnis zu ihren Kunden, den multinationalen im Wege stehen. Dies führt dazu, dass das Kapital auf der Su- Konzernen. che nach maximalem Profit weltweit die günstigste Arbeits- Die Verhandlungsmacht liegt auf Seite der multinationalen kraft sucht, während Arbeiter*innen nicht in besser bezahlte Konzerne. Die vom lokalen Produzenten angewandte Techno- Regionen ausweichen können. Das Resultat davon ist die als logie stammt oft vom Kunden, der die Kontrolle darüber be- Globalisierung bezeichnete Verlagerung der Produktion in den Globalen Süden und die damit einhergehende «Deindustriali- « sierung» des Nordens. Das Nord-Süd-Verhältnis ist jedoch kein symmetrisches International agierende west- Verhältnis, sondern oft ein Verhältnis von nördlichem Kapital liche Konzerne benutzen ihre zu südlicher Arbeit, direkt als ausländische Direktinvestition und Portfolioinvestment oder indirekt über Outsourcing. In Marktmacht, um sich in abhängigen letzterem Fall benutzen international agierende westliche Kon- Firmen produzierten Mehrwert an- zerne ihre Marktmacht (Zugang zu Absatzmärkten, Kontrolle von Technologien) um sich in abhängigen Firmen produzierten zueignen und den Globalen Süden Mehrwert anzueignen und den Globalen Süden nach den Inte- nach den Interessen der Kapital- ressen der Kapitalakkumulation zu formen. Die eben untersuchte Verlagerung der Produktion in den akkumulation zu formen.» Globalen Süden hat die ungleichen und ausbeuterischen Nord- Süd-Verhältnissen mehrheitlich reproduziert. Daneben hat es einzelnen Ländern, insbesondere China, aber auch ermöglicht hält. Ebenso bestimmt der Kunde die Produktspezifikationen eine erfolgreiche Industrialisierung durchzumachen und der und die Anwendung von spezifischen Herstellungsprozessen untergeordneten Rolle auf Weltebene zu entkommen. Wie sich oft im Detail. Aufgrund der Konkurrenz mit anderen lokalen dies weiterentwickelt und inwiefern dadurch neue innerimpe- Firmen ist höchste Flexibilität notwendig. Dabei versuchen die rialistische Spannungen entstehen (z.B. im südchinesischen abhängigen Firmen wo immer möglich den auf ihnen lasten- Meer), ist eine der wichtigen Fragen des 21. Jahrhunderts. Dies den Druck auf ihre Angestellten weiterzugeben. gilt insbesondere, da die Weltordnung, wie sie sich nach dem Unter monopolistischen Bedingungen können die multina- Kalten Krieg etabliert hat, Auflösungserscheinungen zeigt, und tionalen Konzerne wegen fehlender Konkurrenz auf Kaufsei- zuletzt gehäuft unter Schocks wie Terroranschlägen, Finanz- te ihre Marktmacht ausnutzen, um die Preise zu beeinflussen krisen und nun einer Pandemie leidet, alles Entwicklungen, und weit unter den Wert zu drücken. So können sie sich einen die in einem engen Zusammenhang mit der Dynamik von Ka- guten Teil des produzierten Mehrwerts aneignen. Je grösser pitalismus und Imperialismus stehen. Diese Entwicklungen die Konzerne sind und je stärker die Konkurrenz der lokalen führten auch zum Erstarken der Rechten, sowohl im Norden Firmen untereinander ist, desto stärker ist die Verhandlungs- als auch im Süden, und zu zunehmenden nationalistischen macht der Konzerne und desto leichter fällt es ihnen, sich den Spannungen. Gleichzeitig kam es gerade seit 2019 weltweit produzierten Mehrwert anzueignen. auch vermehrt zu Aufständen der Bevölkerung, die für eine Um dies zu veranschaulichen schauen wir uns Smiths Bei- solidarische Welt einsteht. spiel eines in Bangladesch hergestellten T-Shirts an, das von Trotz der internationalen Differenzierung ist das Proleta- H&M in Deutschland zu 4.95 EUR verkauft wird. H&M zahlt riat mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus mehr denn der Manufaktur 1.35 EUR, diese hat 40¢ für die US-amerika- je eine internationale Klasse. Sein Selbstbefreiungskampf muss nische Baumwolle ausgegeben. Der Transport nach Deutsch- damit auch ein internationaler sein. Das heisst auch, dass eine land beträgt 6¢. Folglich verbleiben 3.54 EUR in Deutschland sich als internationalistisch verstehende Linke die Konfronta- tion mit den im Westen angesiedelten international agierenden 20 World Bank, Global Value Chains Development Report 2019. Konzernen suchen muss. Es gilt immer noch der Schlusssatz 21 Ähnliches lässt sich in der Schweiz zum Bei- des kommunistischen Manifests: Arbeiter*innen aller Länder, spiel in der Baubranche beobachten. vereinigt euch! antikap Nr. 13 | Herbst 2020 | 9
SCHWERPUNKT IMPERIALISMUS Der Schweizer Imperialismus Eine marxistische Interpretation Ist die Schweiz imperialistisch? Ein Land, in dem ein Selbstbild der humanitären Tradition, des ver- nünftigen Ausgleichs, des Pazifismus und der poli- tischen Neutralität hochgezüchtet wird, in dem es scheinbar allen gut geht, eine starke «Mittel- schicht» dafür sorgt, dass alles im Lot bleibt? Ein Land, das sich gerne als «Erfolgsmodell» sieht? Im Folgenden wollen wir dieser Frage nachgehen.1 von Willi Eberle (BFS Zürich) 1 Dieser Text ist eine stark gekürzte und aufdatierte Version des Aufsatzes Eberle (2014). Die polit-ökonomische Grundlage des verwendeten Imperialismusbegriffs werden in Eber- le (2020) umrissen. An beiden Orten finden sich weiterführende Literaturhinweise. 10 | antikap Nr. 13 | Herbst 2020
Der Schweizer Imperialismus – Eine marxistische Interpretation In der marxistischen Linie der Imperialismustheorien stand Imperialismustheorien und die Schweiz diese Problematik des Reformismus und der Klassenzusam- Ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts fand eine nach- menarbeit implizit oder explizit im Zentrum des Interesses. haltige und tiefgehende Veränderung des Kapitalismus statt: Bei Lenin wird die Auseinandersetzung mit dem Reformismus Die moderne Staatenbildung akzentuierte sich. Die politischen durch die Diagnose eines «verfaulenden Kapitalismus» und der Strukturen bildeten sich heraus, um die internationale Konkur- «Aktualität der Revolution» beschrieben. In dieser Sicht besteht renz und den Klassenkonflikt politisch auf neue Grundlagen die soziale Basis des Reformismus aus einer Schicht mehr oder zu stellen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurden diese Ver- weniger privilegierter Werktätigen, der sogenannten Arbeiter- änderungen auch von bürgerlichen Theoretiker*innen noch aristokratie – nach heutiger Terminologie der Mittelschichten offen und unverblümt debattiert. Damals standen diese Ver- – und aus politisch eher konservativen Teilen der Arbeiter*in- änderungen auch im Zentrum der marxistischen Debatten um nenschaft. Diese Schichten wollen keinen Bruch mit den Un- revolutionäre politische Strategien. In der Schweiz, die bereits ternehmer*innen und ihrem Staat. Die Bürokratien der Arbei- damals eine besondere Rolle in der sich herausbildenden im- ter*innenorganisationen stützen sich teilweise auf diese eher perialistischen Ordnung der Mehrwertaneignung und -verwal- retardierenden Teile. Sie haben aber auch eigene Interessen, die tung spielte, wurde dies beispielsweise durch den bürgerlichen sie an die Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie binden, auch Ökonomen Richard Behrendt 1931 und durch den Kommunis- wenn dabei wichtige materielle Interessen der grossen Mehr- ten Pollux, Georges Baehler, in den 1940er Jahren geleistet. heit der Werktätigen verletzt werden. Dieser Aspekt ist in der Die Schweizer Industrie produzierte bereits um die Mitte Periode der neoliberalen Offensive geradezu kennzeichnend des 19. Jahrhunderts mehr für den Export als für den Binnen- für die Krise der Organisationen der Arbeiter*innenbewegung. markt. Die Schweizer Handelsgesellschaften hatten seit länge- Die Pfeiler dieser Klassenzusammenarbeit sind in der Schweiz rem eine solide Verankerung rund um den Globus und Teile der die Sozialpartnerschaft mit der absoluten Friedenspflicht und Industrie und die Banken begannen zunehmend, international die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie. eine herausragende Rolle zu spielen. Die Arbeiter*innenklas- se war kämpferisch wie anderswo. Diesem Kampfgeist wurde Die Schweiz im Imperialismus: Ein durch die Unternehmer*innenschaft einerseits mit Repression, «Erfolgsmodell» für wen? andererseits mit Kooptation begegnet. Und – ebenfalls wie an- Die marxistische Imperialismus-Theorie interessierte sich dernorts in Europa und den USA – wurde mit der geförderten schon immer für die Formen von politischer Herrschaft und Immigration von billigeren Arbeitskräften die Löhne gedrückt. ihrer Institutionen, für die Dynamik der kapitalistischen Kon- Was die Schweiz aber bereits damals von den führenden kurrenz im Staatensystem als Konflikt um die Kontrolle über imperialistischen Staaten – Grossbritannien, Deutschland, Märkte und für die Frage, wie diese Herrschaft im Interesse der Frankreich, Italien, Russland, Belgien, den USA und anderen massgeblichen Kapitalfraktionen über die Grenzen des Landes – unterschied, war, dass der Militarismus innenpolitisch zwar ausgedehnt werden kann. Kurzum, die marxistische Imperialis- eine wichtige Rolle spielte, sie aber über keine Kolonien ver- mus-Theorie bemüht sich darum, die historische Entwicklung fügte. Die politischen Eliten beriefen sich seit fast fünf Jahr- des Kapitalismus im grösseren Zusammenhang auf globaler hunderten auf die politische Neutralität. Ab dem späten 19. Ebene zu verstehen (Callinicos, 67). Letztendlich geht es um Jahrhundert hatten die Banken innenpolitisch die Führung die Kontrolle der Produktion und Akkumulation von Mehrwert übernommen.1 Zudem waren die grossen Organisationen der im globalen Massstab.2 Arbeiter*innenbewegung über ihre Führungen spätestens seit In diesem allgemeinen Sinne muss von einem Schweizer dem Ersten Weltkrieg in die politische Ordnung der Klassen- Imperialismus gesprochen werden. So sind pro Kopf die aus- zusammenarbeit eingegossen. Das heisst, die Gewerkschafts- ländischen Direktinvestitionen (FDI) bedeutender als in jedem führungen und die Sozialdemokratie setzten auf Möglichkeiten anderen Land und ihr Wachstum verlief über die vergangenen von Vereinbarungen mit den Unternehmer*innen und deren Jahrzehnte überdurchschnittlich. Dies bedeutet, dass im hel- Organisationen und nicht auf die Stärkung der Kampfkraft vetischen Kapitalismus pro Kopf mehr Mehrwert akkumuliert der Arbeiter*innenbewegung. Die revolutionären Erhebungen wird als anderswo. Und dies liegt an der ausserordentlich ho- seit dem Ersten Weltkrieg in Europa scheiterten letztendlich hen Konzentration von multinationalen Konzernen. Letztere an dieser politischen Grundkonstellation der Hegemonie des sind die eigentlichen Gewinner der neoliberalen Offensive, die Reformismus. Ähnliches spielte sich in allen wichtigen Staaten in den 1970er Jahren einsetzte. Europas ab, aber in der Schweiz wurden die Fäden der Klassen- In diesem Zusammenhang ist auch die starke Entwicklung zusammenarbeit besonders dicht und tief in das gesellschaftli- des globalen Handels und der Freihandelsverträge vor allem che und politische Funktionieren hineingewoben. Dies vor dem ab dem Beginn der 1990er Jahre zu erwähnen. Zwischen 1970 Hintergrund eines äusserst stabilen inneren Zusammenhaltes und 2000 ist das Volumen des Welthandels um den Faktor 24 der Bourgeoisie, der sich darauf stützt, dass die Schweiz von gestiegen, das Volumen des Handels mit Halbfabrikaten gar um den Zerstörungen und tiefen Krisen, wie sie andere Staaten im den Faktor 100! Dies ist ein starkes Indiz für das Vorantreiben 20. Jahrhundert durchlebt hatten, verschont blieb. der internationalen Arbeitsteilung entlang einer Optimierung und Ausdifferenzierung der globalen Wertschöpfungsketten. 1 Immer noch ein Klassiker für die Herausbildung der politi- schen Hegemonie der Schweizer Banken: Pollux (1944). 2 Siehe dazu beispielsweise Smith 2016 und Suwandi 2019. antikap Nr. 13 | Herbst 2020 | 11
Der Schweizer Imperialismus – Eine marxistische Interpretation Das global operierende Kapital hat über die vergangenen Arbeitsbedingungen in Europa und den USA lässt sich gut vier bis fünf Jahrzehnte seine Möglichkeiten ausgebaut, ge- veranschaulichen an der Entwicklung der globalen Lohnquo- rade auch über eine Neuausrichtung der Produktions- und te, das heisst des Anteils der Löhne am Bruttoinlandprodukt Verteilungsketten, die Produktion dort zu platzieren, wo die (BIP). Diese hat sich im Verlaufe der vergangenen vier Jahr- Kosten insbesondere die Löhne am tiefsten und weitere Be- zehnte weltweit im Durchschnitt von etwa 70 % auf unter 60 dingungen (Rechtssicherheit, berufliche Qualifikationen, po- % verringert. In der Schweiz war diese Senkung der Lohn- litische Stabilität, Steuern, fortgeschrittene Liberalisierung quote weniger dramatisch, unter anderem weil der Anteil der des Arbeitsmarktes, geringe Umweltstandards, Repression oberen Lohnsegmente aufgrund der überdurchschnittlichen von Gewerkschaften etc.) optimal sind. Diese Neuausrich- Präsenz von Konzernzentralen und Banken stark gewachsen tung der Produktions- und Verteilungsketten ermöglichte ist. Also aufgrund der Rolle der Schweiz im Imperialismus. eine überdurchschnittliche Akkumulation von Mehrwert für Für diese Konzernzentralen ist die Schweiz attraktiv. wenige hundert Multinationale Konzerne. Dies liegt nicht nur an den ausserordentlich tiefen Steuerre- Die erhöhte Ausbeutung der Lohnabhängigen wurde gimes für Unternehmen und Reiche. Wichtige Faktoren sind aufgrund der neuen Kräfteverhältnisse auch in Europa und auch die Stabilität der Politik, der Währung, ein sehr gut den USA durch eine forsche Durchsetzung von Programmen ausgebauter Schutz des Eigentums, eine moderne und durch des Sozialabbaus, Massenentlassungen und Lohnsenkungen den Staat zur Verfügung gestellte Infrastruktur, die Nähe der umgesetzt. Die Führungen der wichtigsten Organisationen Hochschulen zum Arbeitsmarkt, ein ausgefeiltes Patentrecht, der Arbeiter*innenbewegung – der Sozialdemokratie, der ein liberaler Arbeitsmarkt ohne Kündigungsschutz, hoch Kommunistischen Parteien und der Gewerkschaften – leis- entwickelte Mechanismen der Klassenzusammenarbeit so- teten meist kaum Widerstand dagegen oder waren, sofern in wie eine vergleichsweise tiefe Staatsverschuldung. Seit über der Regierung, eifrig damit beschäftigt, solche Programme zwanzig Jahren rangiert die Schweiz auf den allerobersten selbst durchzusetzen und gegenüber ihrer Basis zu vertreten. Plätzen der WEF-Rangliste der weltweit unternehmens- Tragische Beispiele sind etwa die Agenda 2010 und Hartz freundlichsten Länder, verfügt über eine sehr breite Mittel- IV durch die sozialdemokratische Regierung in Deutschland schicht mit einer guten Ausbildung, eine gute Infrastruktur (2003) und die Umsetzung der harten Abbauprogramme in für Verkehr, Telekom, Wasser- und Energieversorgung, ein Griechenland durch die Syriza-Regierung (2015) oder der sehr gutes Bildungssystem und so weiter. Sie steht aber auch aktuellen «linken» Regierungen in Spanien und Portugal. All an der Spitze bei der Ungleichverteilung. Der Reichtum der dies in der Hoffnung, dadurch von der Bourgeoisie respek- Reichsten hat stark zugenommen: Das Vermögen der obe- tiert zu werden und «Schlimmeres verhindern» zu können. ren 1% hat sich seit 1990 versiebenfacht. Die Frankenrendite Dieser Prozess beschleunigte sich in den 1990er Jahren, vor liegt über jener anderer wichtiger Währungen, und pro Kopf allem auch durch den Zusammenbruch der Sowjetunion, der Bevölkerung wird von Schweizer Banken der höchste den Anschluss der DDR an die BRD und die Herausbildung Betrag an ausländischem Vermögen verwaltet (mehr als das der Europäischen Union und deren Osterweiterungen mit Fünffache des BIP). Damit hat der helvetische Kapitalismus dem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt. in den vergangenen 25 Jahren seine Position in der globalen Dieser wachsende strukturelle Druck auf die Löhne und Konkurrenz gegenüber anderen Staaten im Kontext der Kri- Ende September 2020 traten die Mitarbeiter*innen der Logistik-Firma XPO in den Streik. Sie wehrten sich gegen die Schliessung der Genfer Niederlassung und damit der Entlassung aller Angestellten. 12 | antikap Nr. 13 | Herbst 2020
Die Klimajugend sucht radikale Antworten: Besetzung des Bun- desplatzes im Herbst 2020 vor dem Bundeshaus in Bern, dem Sitz der Schweizer Regierung. sen um 2000/2002, 2008/2009, 2015 und vermutlich auch und breiten zeitweiligen Lohnsenkungen und Arbeitszeiter- 2020 stark ausgebaut. höhungen im Einverständnis mit den Gewerkschaften kam. Für die Reichen, die Reichsten und die Unternehmen ist In der aktuellen Krise wird damit gerechnet, dass zwischen die Schweiz also ein «Erfolgsmodell». Hier werden sie am Mitte 2019 und Mitte 2020 mindestens 70`000 Stellen ver- tiefsten besteuert, können auf eine solide Erhöhung ihres loren gegangen sind. Die Kurzarbeit geht zu Lasten der Ar- Reichtums und ein sehr wohlwollendes politisches Umfeld beitslosenversicherung und der Lohnabhängigen, die häufig zählen. Hierzulande besitzt 1% der Bevölkerung über 40% Lohneinbussen in Kauf nehmen müssen. Das politische Sys- des Reichtums. Zugleich verdienen jedoch auch 8% der ar- tem bestätigt bislang weitgehend die Interessen der Schwei- beitenden Bevölkerung derart tiefe Löhne, dass sie selbst mit zer imperialistischen Bourgeoisie. einem stark eingeschränkten Lebensstil damit nicht über die In Zeiten von starkem Wachstum wie beispielsweise Runden kommen. Ende der 1940er bis Mitte der 1970er Jahre konnten die Arbeitenden teilweise von den Produktivitätsgewinnen pro- Und die Lohnabhängigen? fitieren. Dies zeigt sich daran, dass zwischen 1950 und 1970 Aufgrund der grossen materiellen Bedeutung von mul- die Löhne real um 70% und die Profite um 195% gewachsen tinationalen Konzernen fliesst auch überdurchschnittlich sind. Diese punktuelle Teilhabe der Werktätigen an den Pro- viel des global erbeuteten Mehrwerts in die Schweiz. Dies duktivgewinnen mittels Lohnerhöhungen hat seit der neo- schlägt sich auch in einer im internationalen Vergleich sehr liberalen Wende in den 1970er Jahren abrupt aufgehört. Es tiefen Arbeitslosigkeit, kaum sichtbarer absoluter Armut und wird davon ausgegangen, dass in den vergangenen 30 Jah- einer sehr breiten Mittelschicht nieder. Es existiert ein über ren die Produktivitätsgewinne über 50% betrugen, während die vergangenen vier Jahrzehnte angewachsenes Segment die real verfügbaren Einkommen alles in allem für die grosse von gut bis sehr gut verdienenden Arbeitenden. Vor allem Mehrheit der Arbeitenden jedoch nur leicht gewachsen sind. im Vergleich mit anderen imperialistischen Ländern, wo sich Diese Entwicklung wäre mit einer kämpferischen Politik der unter den Lohnabhängigen breite Verarmungstendenzen Gewerkschaften und der Sozialdemokratie für die Lohnab- verfestigen. Nichtsdestotrotz gibt es in der Schweiz ca. 8% hängigen deutlich besser gewesen. Working Poor. Da es in der Arbeiter*innenschaft jedoch kaum wirksa- In den vergangenen 25 Jahren kam es in mehreren Schü- me politische Widerstandsstrukturen gegen die neoliberalen ben zu bedeutenden Verschlechterungen im politisch-sozia- Angriffe, hingegen starke und historisch durch das Kapital len Kräfteverhältnis. Dies wurde beispielsweise 2015 (Fran- befeuerte fremdenfeindliche und rassistische Tendenzen kenschock) sichtbar, als es zu weit über 20`000 Entlassungen gibt – wie in anderen imperialistischen Staaten – , hat sich antikap Nr. 13 | Herbst 2020 | 13
Der Schweizer Imperialismus – Eine marxistische Interpretation ab den späten 1980er Jahren um die Schweizerische zehn Ländern die institutionelle Linke – und trieb die Volkspartei (SVP) eine Neue Rechte entwickelt. Denn neoliberalen Gegenreformen kräftig voran. Auch in der Rassismus – als hässlicher Zwilling des Nationalis- der Schweiz: Damals kam es zu ersten Abbaumassnah- mus – schafft ideologisch und politisch eine irrationa- men in der Altersvorsorge und dem Service Public, die le politische Solidarisierung der Werktätigen in einem Mehrwertsteuer wurde eingeführt und grosse Steuer- Land mit «ihren» Kapitalist*innen. Demgegenüber wird reformen zugunsten der Reichen und der multinatio- die Solidarität unter den Lohnabhängigen, unter den nalen Konzerne wurden unter sozialdemokratischer Mieter*innen, den Konsument*innen usw. durch die Regierungsverantwortung durchgezogen. Die unsoziale Logik der Konkurrenz laufend zerstört. Finanzierung der Gesundheitsversorgung mittels Kopf- prämien wurde damals verallgemeinert. Was tun: Vom Widerstand zur Revolution Eine zentrale Rolle bei der politischen Umsetzung Die vergangenen 25 Jahre sind weltweit durch drei dieser Offensive spielte bis anhin der Reformismus und Wellen sehr starker sozialer Erhebungen gekennzeich- ab den 1990er Jahren der sogenannte Neoreformismus, net: Mitte der 1990er Jahre bis Anfang der 2000er Jah- der in verschiedenen Ausformungen in der radikalen re der europäisch/lateinamerikanische Zyklus und die Linken Fuss fasste. Derweil wuchs die sogenannte Neue Antiglobalisierungsbewegung, 2008 bis ca. 2012 der Rechte und selbst neue Erscheinungsformen des Fa- mediterrane Zyklus – z.B. in Aegypten, Griechenland, schismus erhoben ihr Haupt. Spanien, Frankreich und anderen Länder im Mittel- Diese Neue Rechte wird in der Schweiz durch die meerraum – und die Occupy-Bewegung. 2020 befinden Schweizerische Volkspartei (SVP) verkörpert. Sie ent- wir uns in einem Zyklus, der ca. 2017 einsetzte und von wickelte sich in der Schweiz um diejenigen Interessen Aufständen gegen die zerstörenden Auswirkungen der in der Bourgeoisie, die auf keinen Fall in eine Dyna- neoliberalen Offensive rund um den Globus gekenn- mik eingebunden werden wollen, die den Interessen « zeichnet ist. des US-Imperialismus entgegengesetzt ist; vor allem die Finanzindustrie und die Pharmaindustrie, die In- Die Anliegen dieser Bewegun- formatik und auch Teile der Autobranche sind eher auf die USA als auf die EU ausgerichtet. Die Ablehnung der gen müssen mit den Sorgen der Ar- Integration in die EU war und ist auch nach der deut- lichen Ablehnung der Kündigungsinitiative der SVP beits- und Lebensrealität der Werk- vom 27. September 2020 weiterhin ein zentraler Pfei- ler des politischen Aufbauprojektes der SVP. Christoph tätigen verbunden werden.» Blocher, deren jahrzehntelanger Chef, und sein Umfeld aus den 1980er Jahren haben zentrale wirtschaftliche Diese sozialen Erhebungen führten nach einigen Interessen in diesen Bereichen. Zudem verkörpern sie Anfangserfolgen fast immer in schwere politische – eine Fraktion der Schweizer Bourgeoisie, der die Kosten und damit soziale – Niederlagen, vor allem in Europa, für die Klassenzusammenarbeit in Europa zu hoch sind, den USA, in Lateinamerika und in Nordafrika. Dabei und die sich eher am aggressiv klassenkämpferischen wurde die neoliberale Offensive weltweit verstärkt US-amerikanischen Modell orientieren, bei dem diese vorangetrieben: Marktliberalisierungen, Privatisierun- Kosten um einiges tiefer liegen als im europäischen Mo- gen, Sozialabbau, ökologische Verwüstungen, Kriege, dell. gewaltsame Vertreibung von Menschen, grossflächige Vor welche Aufgaben stellt uns diese Entwicklung Verarmungsprozesse, Verschärfung von unterdrückeri- als revolutionäre Linke? Wir sehen drei grosse Heraus- schen und repressiven Tendenzen sind die Folgen dieser forderungen: Niederlagen. Das heisst, es tobt weltweit ein verschärf- 1. Die Anliegen dieser Bewegungen müssen mit den ter Klassenkampf. Sorgen der Arbeits- und Lebensrealität der Werktätigen Die progressiven Bewegungen sind vielfältig und verbunden werden. Dies ist angesichts der sogenann- sehr oft radikal: Sie entzünden sich an unerträglichen ten «Corona-Krise» besonders wichtig, da die Schwei- Missständen und wollen sofortige Besserung und for- zer Bourgeoisie wie ihre Klassengenoss*innen rund um dern damit die bestehenden bürgerlichen Herrschafts- den Globus diese Krise erklärtermassen möglichst auf verhältnisse, das heisst das Privateigentum und den Kosten der Arbeiter*innenklasse, das heisst der grossen bürgerlichen Staat, heraus. Weltweit wurden durch sie Mehrheit der Bevölkerung, lösen will. Zehntausende über die vergangenen 25 Jahre zahllose Regierungen von Jugendlichen in der Schweiz haben nach ihrer Aus- gestürzt. Was dann kam, war oft noch schlimmer. An bildung diesen Herbst keine Stelle gefunden. Gleichzei- vielen Orten traten linke Regierungen an, die den Aus- tig macht die Jugend den Lebensnerv der radikalisier- gleich mit den alten Eliten suchten – beispielsweise in ten Sektoren in den sozialen Bewegungen aus. Sie sucht Argentinien, Bolivien, Brasilien, Venezuela, Ecuador, radikale Lösungen für ihre Zukunft. Spanien, Frankreich, Griechenland. In Europa regierte Gleichzeitig gibt es in den Gewerkschaften verein- in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in elf von fünf- zelte Zusammenhänge von linken Kräften, die eine 14 | antikap Nr. 13 | Herbst 2020
Der Schweizer Imperialismus – Eine marxistische Interpretation organische Verbindung zu radikaleren Teilen in den pro- te Organisation spielt dabei eine bemerkbare Rolle. Viel- gressiven Bewegungen suchen. Sie sind sich der fatalen mehr ist es die Gleichzeitigkeit des Problemdrucks und Auswirkungen der absoluten Friedenspflicht auf die Ge- bestimmte lokale Besonderheiten, die jeweils zu einem werkschaften und vor allem auf die Arbeiter*innenklasse Ausbruch führen. Der Zusammenbruch seinerseits ist oft bewusst. Sie geraten denn auch da und dort in Konflikt eine Konsequenz von brutaler Repression, innerer Zerris- mit ihren obersten Gremien. Ein beredtes Beispiel ist ihre senheit und der Orientierungslosigkeit der Bewegung, der scharfe Massregelung durch die Gewerkschaftsführun- Einbindung wichtiger Teile von dieser in die institutionel- gen, als das durch linke Zusammenhänge in den Gewerk- len Mechanismen und eine Erschöpfung der radikalisier- schaften getragene Referendum gegen den Abbau der ten Sektoren. Altersvorsorge («Plan Berset») in der Volksabstimmung Aus den verebbenden sozialen Bewegungen müssen 2017 einen Sieg errang. die Erfahrungen gerettet und diese in einer längeren Zudem gibt es immer wieder Ansätze aus radikalisier- Perspektive der revolutionären Erhebungen der vergan- ten Sektoren der Arbeiter*innenklasse, die eine organi- genen 150 Jahre interpretiert werden, um in der nächs- sche Verbindung zu den progressiven sozialen Bewegun- ten Welle ausgehend von diesen Erfahrungen praktisch gen suchen. Ein aktuelles Beispiel ist Workers for Future, und programmatisch eingreifen zu können: Mit einem eine Gruppe, welche die Klimabewegung mit den Fragen Programm, das die entscheidenden Fragen um Eigentum der Arbeitsrealität und den Fragen der Herrschaft über und staatlicher Macht angeht und die Bourgeoisie heraus- den gesellschaftlichen Produktionsprozess in Zusammen- fordert. Die inneren Motive der progressiven Bewegun- hang bringen will. Auch in der Feministischen Bewegung gen nach einer Umwälzung des «Stoffwechsels zwischen gibt es Segmente, die sich explizit aufgrund von Erfah- Mensch und Natur», des Niederreissens aller Verhält- rungen am Arbeitsplatz radikalisieren und organisieren nisse, welche die Menschen zu geknechteten und ausge- und den Bezug zu anderen sozialen Bewegungen suchen. beuteten Wesen machen, können nur so freigelegt und Beispiele hierfür sind die Kinderbetreuer*innen der Trotz- weitergebracht werden. Dafür braucht es politisch-orga- phase in Zürich oder die Gruppe «Care Work Unite» des nisatorische Handlungszusammenhänge, die auf Dauer Frauen*streikkollektivs Zürich. angelegt sind. Es braucht revolutionäre politische Organi- 2. Der Schluss drängt sich auf, dass eine organisier- sationen, die international handlungsfähig sind und eine te Sichtbarkeit von politischen und sozialen Forderun- glaubwürdige Rolle in den radikalisierten Sektoren der gen, die die Bewegungen beflügeln können, notwendig progressiven Bewegungen spielen. wäre. Dies läuft auf die traditionelle Orientierung eines Aufbaus klassenorientierter, revolutionärer Organisa- tionen hinaus, jenseits aller Mechanismen der Klassen- zusammenarbeit, wie sie durch die Übernahme von Weiterlesen Regierungsverantwortung, Sozialpartnerschaft und der- gleichen verkörpert werden. Dies scheint ein Erfordernis Behrend, Richard: Die Schweiz und der Imperialismus. Die der Stunde zu sein, um dem teilweise starken Einfluss der Volkswirtschaft des hochkapitalistischen Kleinstaates im Mittelschichten und damit den Mechanismen der Verein- Zeitalter des politischen und ökonomischen Nationalis- nahmung der Bewegungen durch die Bourgeoisie etwas mus. Zürich, Leipzig und Stuttgart, 1932. entgegensetzen zu können. Callinicos, Alex: Imperialism and Global Political Economy. Auf diesem Weg lassen sich vorläufig zwar keine Mas- Cambridge, UK, 2009. senparteien aufbauen. Aber mittelfristig könnten schwe- re politische und soziale Rückschläge zumindest abge- Eberle, Willi (2014): Das «Erfolgsmodell Schweiz». mildert werden; die Bewegungen würden nicht spurlos Versuch einer marxistischen Interpretation. zusammenbrechen und ein politisches Trümmerfeld hin- Unter: maulwuerfe.ch terlassen, wie dies beispielsweise in Italien, in Griechen- land, in Spanien, in Portugal, in Venezuela, in Brasilien Eberle, Willi (2020): Imperialismus und die «verborgenen und andernorts geschehen ist. Diese neoreformistischen Stätten» der Mehrwertproduktion. Erfahrungen mit linken Regerungen und Breiten Parteien Unter: maulwuerfe.ch haben der revolutionären Linken und vor allem der Arbei- Pollux (d.i. Georges Baehler): Trusts in der Schweiz. Die ter*innenklasse einen vernichtenden Schaden zugefügt. schweizerische Politik im Schlepptau der Hochfinanz. Zü- 3. Es muss eine internationale revolutionäre Bewe- rich, 1944. gung aufgebaut werden. Interessanterweise gibt es eine Art von sich verdichtendem Auftreten der Aufstände auf Smith, John: Imperialism in the Twentieth-First Century. globaler Ebene. Eine solche globale Gleichzeitigkeit ist Globalization, Super-Exploitation and Capitalisms Final in allen drei erwähnten Wellen erkennbar, insbesondere Crisis. New York, 2016. aber in der seit ca. 2017 andauernden dritten Welle. Auf- fallend ist, dass diese Synchronisierung des Aufschwungs Suwandi, Intan: Value Chains. The New Economic Imperia- und Abschwungs spontan ist; keinerlei internationalisier- lism. New York, 2019. antikap Nr. 13 | Herbst 2020 | 15
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