Imperialismus Globale Machtverhältnisse im Fokus - sozialismus.ch

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Imperialismus Globale Machtverhältnisse im Fokus - sozialismus.ch
antikap
                                                   antikap Nr. 13 | Herbst 2020 | 3.- CHF

Klassenkampf Feminismus Ökosozialismus

    Imperialismus
    Globale Machtverhältnisse im Fokus
sozialismus.ch                     antikap – Zeitschrift der Bewegung für den Sozialismus
Imperialismus Globale Machtverhältnisse im Fokus - sozialismus.ch
EDITORIAL

    Solidarische
    Alternativen zu einer
    Welt in der Krise
        Wir befinden uns aktuell mitten in einer mehrfachen Kri-      militärische Kräfte verfügt, zeigen wir im Artikel über
    se. Und es sieht so aus, als ob die grundsätzlichen Probleme,     den Schweizer Imperialismus auf.
    mit denen wir derzeit konfrontiert sind, nicht so bald wieder         Wenn in der Schweiz über Hunger und Armut ge-
    verschwinden werden. Das Corona-Virus ist seit dem Früh-          sprochen wird, dann häufig im Kontext von Migration.
    jahr 2020 für massive Einschnitte in das soziale und wirt-        Seit März 2019 ist eine Asylgesetzrevision in Kraft, die von
    schaftliche Leben verantwortlich. In der Schweiz, aber auch       der Sozialdemokratie mitgetragen wurde und das Asylwe-
    in vielen anderen Ländern, waren die Antworten und Mass-          sen fundamental umgekrempelt hat. Die Befürchtungen, die
    nahmen auf die Bedrohungen des Virus völlig ungenügend.           schon vor der Umsetzung geäussert wurden, haben sich dabei
    Die Art und Weise, wie die Regierungen auf die Corona-Pan-        mehrheitlich bewahrheitet. Dies zeigt ein Bericht unabhän-
    demie reagieren, offenbart die Unfähigkeit der kapitalisti-       giger Rechtsberatungsstellen, auf den wir in dieser Ausgabe
    schen Gesellschaften, eine adäquate Antwort auf globale Her-      eingehen.
    ausforderungen zu finden. Während die Gesundheitssysteme              Eine weitere Dimension der aktuellen mannigfaltigen Kri-
    in den meisten Regionen der Welt schon völlig ungenügend          se ist die drohende Klimakatastrophe. Die Klimabewegung
    aufgestellt sind, führen die Massnahmen zur Eindämmung            kämpft mittlerweile seit zwei Jahren gegen die Untätigkeit
    des Virus weltweit zu massiver Verelendung, Arbeitslosigkeit,     der Herrschenden in dieser Frage. Neuerdings auch mit Mit-
    Armut und sozialer Isolation.                                     teln des zivilen Ungehorsams. Trotz der Radikalität und der
        Die Leidtragenden sind wir alle. Sei es durch die physische   Bedeutung dieser Proteste tut sich die radikale Linke weiter
    Bedrohung durch das Virus, den Verlust des Arbeitsplatzes         schwer, auf die Klimabewegung zuzugehen. Wir kritisieren
    oder durch drastische Einschnitte in unsere sozialen Bezie-       diese Haltung in unserem Artikel zum «Rise Up for Change».
    hungen und unsere emotionale Gesundheit. Und im Zuge von              Nach langem hin und her verabschiedeten die Schweizer
    Corona kommt es auch zu einem heftigen wirtschaftlichen           Parlamentskammern fast zeitgleich zum Rise Up for Change
    Einbruch und einer länger andauernden Rezession.                  ein neues CO2-Gesetz. Das Gesetz trägt den enormen Her-
        Doch nicht nur in Europa, auch die Volkswirtschaften im       ausforderungen, vor die uns die Klimakrise stellt, aber in
    Globalen Süden brechen aufgrund des Corona-Virus massiv           keinster Weise Rechnung. Mit dem Argument, das Gesetz sei
    ein. Damit werden bestehende strukturelle Probleme massiv         besser als nichts, entschieden sich einige Sektionen des Kli-
    verschärft. Bereits jetzt sind hunderte Millionen Menschen        mastreiks Schweiz gegen die Ergreifung des Referendums,
    durch die Auswirkungen des Virus noch stärker von Armut           andere ergriffen wiederum das Referendum, weil das Gesetz
    und Hunger betroffen. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht       unzureichend ist. Die Debatte über das CO2-Gesetz und war-
    in Sicht. Dass es solche extreme Armut und auch Hunger auf        um wir das Referendum für sinnvoll erachten, führen wir im
    der Welt überhaupt noch gibt, ist auch ohne Pandemie eine         Artikel zum CO2-Gesetz aus.
    Schande. Armut und Hunger im Globalen Süden sind das                  Die aktuelle Krise führt bereits jetzt zu politischen Kämp-
    Resultat des Imperialismus des 20. und 21. Jahrhunderts,          fen. Weil der bürgerliche Staat dabei nicht den neutralen
    der die weltweiten Ungleichheiten zugunsten der Industrie-        Schiedsrichter spielt, ist es uns wichtig zu betonen, dass wir
    länder ausnutzt und sie verschärft. Im Artikel «Ungleichheit      keine Illusionen in die Rolle des Staates haben dürfen. Dieser
    und Ausbeutung im Weltmassstab» zeichnen wir detailliert          schlägt nämlich aktuell gerade massiv gegen antifaschisti-
    nach, wie die Ausbeutung im Globalen Süden und die globa-         sche Aktivist*innen in Basel zu, die teilweise wegen simpler
    len Wertschöpfungsketten zur ungleichen Entwicklung bei-          Teilnahme an einer Demonstration unbedingte Haftstrafen
    tragen. Welche Rolle die Schweiz dabei spielt, auch wenn sie      bekommen haben. Gleichzeitig ist die Rolle und die Funktion
    weder historisch eigene Kolonien besass, noch über relevante      des Staates und seiner ausführenden Organe, wie der Polizei,

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Imperialismus Globale Machtverhältnisse im Fokus - sozialismus.ch
Editorial & Inhalt

                                                                     Inhalt
                     komplexer, als es auf den ersten Blick
                         scheinen mag. Mit einem Artikel
                            zu den Prozessen sowie einem
                                                                4    Imperialismus: Die globalisierte Weltwirtschaft ist
                                                                     von starken Ungleichheiten geprägt. Ausbeutung im
                                                                     Globalen Süden und globale Wertschöpfungsketten
                              zum Charakter der Poli-                tragen zur ungleichen Entwicklung und zum Imperia-
                                zei im bürgerlichen Staat            lismus im 21. Jahrhundert bei.
                                 wollen wir diesen beiden
                                  Themen nachspüren.
                                          Die kapitalistische
                                   Wirtschaftsweise bringt
                                                                10   Schweizer Imperialismus: Um die politische Me-
                                                                     chanik in einem kapitalistischen Land zu verstehen,
                                                                     ist ein Imperialismusbegriff notwendig. Gerade für die
                                   vielfältige Krisen her-           Schweiz.
                                   vor und so wie es aus-
                                  sieht, werden sich diese
                                 verschärfen und uns vor
                               bedrohliche Zukunftsaus-
                                                                16   Das neue CO2-Gesetz: Ein Hindernis im Kampf
                                                                     gegen die Klimakrise.

                             sichten stellen. Unsere Waffe
                           dagegen ist die Solidarität, un-
                       ser ungebrochener Wille und un-
                                                                20   Die Klimabewegung und die Linke: Weshalb sich
                                                                     die radikale Linke schwertut, auf die Klimabewegung
                                                                     zuzugehen. Und weshalb sich das schnellstmöglich
                   verrückbare Zuversicht, mit deren Hilfe           ändern sollte.
wir hoffentlich noch rechtzeitig eine solidarische Alter-
native zu Kapitalismus und Umweltzerstörung entwickeln
können.                                                         22   Umweltschutz: Mitte Oktober 2020 haben Akti-
                                                                     vist*innen im Kanton Waadt ein Stück Wald besetzt.
                                                                     Die Schweiz hat damit ihre erste zone à défendre.
   die antikap-Redaktion

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                                                                24   Neustrukturierung des Asylbereichs: Eine
                                                                     Untersuchung unabhängiger Rechtsberatungsstellen
                                                                     zeigt auf, wie die Rechte von Asylsuchenden missach-
                                                                     tet werden.
  antikap ist die Deutschschweizer
                                       sozialismus.ch/antikap

  Zeitschrift der Bewegung für den
  Sozialismus und erscheint vorerst
  zweimal jährlich.
                                                                28   Basel Nazifrei: Das Vorgehen von Polizei und Justiz
                                                                     gegen die antifaschistischen Aktivist*innen der Basel
                                                                     Nazifrei-Demo ist skandalös und jenseits rechts-
                                                                     staatlicher Prinzipien.
  Sie versteht sich als Ergänzung zu

                                                                29
  unserer Webseite sozialismus.ch, auf der wir wö-
                                                                     Gemeinsam gegen staatliche Repression:
  chentlich aktuelle Beiträge veröffentlichen. Obwohl
                                                                     Solierklärung der BFS/MPS mit den Opfern staatlicher
  antikap unentgeltlich hergestellt wird, fallen für Druck
                                                                     Repression.
  und Versand Kosten an. Ob wir den Erscheinungsrhyth-

                                                                30
  mus längerfristig erhöhen können, hängt auch von der
                                                                     Staat und Polizei: Viele Linke sind der Ansicht, dass
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                                                                     die Polizei lediglich in den Diensten der Herrschenden
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                                                                34   Die Linke und Corona: Warum es kontraproduktiv
                                                                     ist, einen Shutdown zu fordern, ohne sozialpolitische
                                                                     Forderungen für eine gesamtgesellschaftliche Trans-
                                                                     formation aufzuzeigen.
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                                                                36   Das Andere Davos 2021: Die jährliche Gegenveran-
                                                                     staltung zum Weltwirtschaftsforum (WEF).
                                                                                             antikap Nr. 13 | Herbst 2020 |   3
Imperialismus Globale Machtverhältnisse im Fokus - sozialismus.ch
SCHWERPUNKT IMPERIALISMUS

         Ungleichheit &
         Ausbeutung im
         Weltmassstab
           Die globalisierte Weltwirtschaft ist von starken Ungleichheiten
           geprägt. Die meisten grossen international agierenden Unter-
           nehmen sind immer noch Konzerne aus den ehemaligen Kolo-
           nialmächten, insbesondere den USA, Westeuropa und Japan.
           Gleichzeitig konzentriert sich die schwerste Armut weiterhin im
           Globalen Süden, meist in ehemaligen Kolonien. Neuere Unter-
           suchungen zum Nord-Süd-Verhältnis zeigen auf, wie sich der
           Imperialismus im 21. Jahrhundert weiterentwickelt hat und wie
           Ausbeutung im Globalen Süden und globale Wertschöpfungs-
           ketten zur ungleichen Entwicklung beitragen.
           von Jonas Röösli (BFS Zürich)

4 | antikap Nr. 13 | Herbst 2020
Imperialismus Globale Machtverhältnisse im Fokus - sozialismus.ch
Globalisierung & Imperialismus: Ungleichheit & Ausbeutung im Weltmassstab

Einführung: Imperialismus und Kapitalismus                            Unterentwicklung, Abhängigkeit
     Imperialismus ist die Unterordnungen einer Gesellschaft          und Ungleicher Tausch
unter die Interessen einer anderen, oder genauer unter die In-            Mit der fortschreitenden Befreiung der Kolonien ab 1945
teressen der herrschenden Klasse einer anderen Gesellschaft.          schien die alte Form der Domination durch die imperialis-
Dies kann zum Beispiel politisch-militärische, ökonomische            tischen Mächte ein Ende gefunden zu haben. Es zeigte sich
und kulturelle Formen annehmen. Imperialismus ist dabei               jedoch, dass die ökonomischen Verhältnisse trotz der formel-
nicht auf eine spezifische historische Epoche beschränkt. Er          len Unabhängigkeit die gleichen blieben. Die ehemaligen Ko-
kann sowohl die Form von antiken Reichen wie den alt-orien-           lonien fanden sich in ihrer alten Rolle als Rohstofflieferanten
talischen Reichen oder dem römischen Reich annehmen, als              wieder, mussten sich mit hohen Zinsen finanzieren und bei
auch von Kolonialreichen der Moderne wie dem französischen            unliebsamen politischen Entwicklungen intervenierten die
oder dem englischen. Formelle und direkte militärische Kont-          ehemaligen Kolonialmächte.
rolle über ein Gebiet ist nur eine Form, in der sich der Impe-            In Lateinamerika entstanden entwicklungstheoretische
rialismus äussern kann. Andere Formen sind Zwangsverträge             Strömungen, welche die bislang dominante Entwicklungs-
oder wirtschaftliche Ausbeutung. Im Folgenden wollen wir              theorie, die Modernisierungstheorie, kritisierten. Diese be-
uns auf wirtschaftliche Aspekte des Imperialismus in kapita-          sagt grob umrissen, dass die ökonomische Entwicklung einer
listischen Gesellschaften konzentrieren.                              kapitalistischen Gesellschaft überall gleich abläuft und damit
     Unter dem Eindruck des Wettlaufs um Afrika unter-                dem Beispiel Englands folgt: Es entsteht eine moderne Indus-
suchten Ökonom*innen und marxistische Theoretiker*in-                 trie, während sich die traditionellen Gesellschaftsformen wie
nen (unter anderen Hobson1, Hilferding2, Luxemburg3 und               Heimarbeit und Subsistenzwirtschaft auflösen. Die Kritik an
Lenin4) um die Jahrhundertwende die spezifische Form des              dieser Theorie zielt auf die Vernachlässigung der externen
Imperialismus im damaligen Kapitalismus. Der Imperativ                Umstände. Einerseits war England das erste Land, in dem
der möglichst effizienten Verwertung von Kapital treibt die           sich der industrielle Kapitalismus entwickelte, während die
Klasse der Kapitalist*innen zur steten Suche nach Ressour-            neu unabhängigen Kolonien auf einen entwickelten Welt-
cen, Arbeitskräften und Absatzmärkten über nationale Gren-            markt trafen. Andererseits war England eine Kolonialmacht,
zen hinweg. Ein zunehmend monopolistischer und mit dem                während die neu unabhängigen Kolonien infolge des Kolonia-
Finanzwesen verbandelter Teil der Bourgeoisie bediente sich           lismus global eine untergeordnete Rolle spielten.
des politischen und militärischen Apparates des Staates, um               Die bürgerliche Variante, der Strukturalismus, erklärt die
sich neue Territorien für möglichst günstige Bedingungen              Schwierigkeit der Entwicklung des Globalen Südens damit,
für die Akkumulation anzueignen. Der Erste Weltkrieg war              dass ihre Volkswirtschaften auf den Rohstoffexport ausge-
der Höhepunkt dieses Expansionsdrangs, da die Aufteilung              legt sind und Rohstoffpreise gegenüber Preisen von Indust-
der Welt unter den kapitalistischen Kolonialmächten zu dem            rieerzeugnissen tendenziell fallen.5 Ein wichtiges Hindernis
Zeitpunkt beinahe abgeschlossen war und somit nur noch                für die Entwicklung sei der grosse, vor allem indigene und
Territorien anderer Kolonialmächte zur Eroberung vorhan-              landwirtschaftlich-selbstversorgerische, informelle Sektor.
den waren.                                                            Der Strukturalismus sieht die politische Antwort, um aus die-
      Diese Untersuchungen gingen von der spezifischen his-           ser Situation zu entkommen, in der staatlich subventionierten
torischen Situation aus, in der kapitalistische Gesellschaften        Industrialisierung und Zöllen auf Importen («importsubstitu-
auf nicht-kapitalistische Gesellschaften trafen und sich diese        ierende Industrialisierung»).6
einverleibten. Heute befinden wir uns in einer anderen Si-                Die linke Variante, die Dependenztheorie, geht davon aus,
tuation. Mit der Befreiung der meisten Kolonien nach dem              dass die Länder der sogenannten Peripherie (Afrika, Latein-
Zweiten Weltkrieg und der weltweiten Ausbreitung des Ka-              amerika, grosse Teile Asiens) deswegen arm sind und bleiben,
pitalismus können wir die alten Erklärungsschemata nicht              weil sie vom kapitalistischen Weltmarkt und seinen Institu-
einfach auf heute übertragen. Im Folgenden wollen wir eini-           tionen abhängig sind (Frank7 & 8) und es den reichen Ländern
gen Ansätzen folgen, welche die ökonomischen Verhältnisse             des Zentrums (USA, Europa und Japan) gelingt, einen Gross-
des weltweiten Kapitalismus als Ganzes untersuchen. Dabei             teil der Profite abzuschöpfen (Emmanuel9, Marini10, siehe
wollen wir insbesondere die Wechselwirkung zwischen den               Beispiele in den nächsten beiden Abschnitten). Exportorien-
armen und reichen Ländern und die dadurch angetriebene                tierte Länder kommen beispielsweise in die Unterentwick-
Entwicklungsdynamik betrachten.                                       lung, wenn die Nachfrage nach einem Exportgut (wie Silber

                                                                      5 Dies ist als Verschlechterung der «Terms of Tra-
                                                                         de» oder Prebisch-Singer-These bekannt.
                                                                      6 Die Hauptvertreter dieser Richtung wa-
                                                                         ren Raúl Prebisch und Celso Furtado.
1   J. A. Hobson, Imperialism: A Study, 1902.                         7 A. G. Frank, The Development of Underdevelopment, 1966.
2   R. Hilferding, Das Finanzkapital, 1910.                           8 A. G. Frank, Capitalism and Underdeve-
3   R. Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, 1913.                   lopment in Latin America, 1967.
4   W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchs-                         9 A. Emmanuel, Unequal Exchange, 1972.
    tes Stadium des Kapitalismus, 1917.                               10 R. M. Marini, Dialéctica de la dependencia, 1973

                                                                                                       antikap Nr. 13 | Herbst 2020 |   5
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Globalisierung & Imperialismus: Ungleichheit & Ausbeutung im Weltmassstab

          >$60,000
          $50,000 - $60,000
          $40,000 - $50,000
          $30,000 - $40,000
          $20,000 - $30,000
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          $5,000 - $10,000
          $2,500 - $5,000
          $1,000 - $2,500
Imperialismus Globale Machtverhältnisse im Fokus - sozialismus.ch
Globalisierung & Imperialismus: Ungleichheit & Ausbeutung im Weltmassstab

Index (US 1995 = 100) von durchschnitt-
lichen Lohnstückkosten (Bruttolohn pro
Stunde über Bruttooutput pro Stunde)
in der verarbeitenden Industrie in aus-
gewählten Ländern, 1995-2014. Wieder
sticht der Unterschied zwischen dem
Westen und Japan auf der einen und dem
Globalen Süden auf der anderen Seite ins
Auge. Gemessen am Output ist der Lohn
im Globalen Süden wesentlich tiefer, was
die im Text erwähnten Folgen hat.

Quelle: Monthly Review, https://mon-
thlyreview.org/2019/03/01/global-com-
modity-chains-and-the-new-imperia-
lism.

mit dem Agrobusiness und dem Wegfallen von protektionis-          Ausbeutung. Dies wiederum senkt langfristig die Löhne in
tischen Massnahmen zum Beispiel Indiens standen eine gros-        den Industrien mit tieferer Ausbeutung und erhöht sie in
se Zahl neuer Arbeiter*innen dem Arbeitsmarkt und insbe-          Industrien mit höherer Ausbeutung und führt unter sonst
sondere der «industriellen Reservearmee» zur Verfügung. Je        gleichen Umständen tendenziell zu einer Ausgleichung der
mehr Arbeitskräfte dem Kapital in einem Bereich zur Verfü-        Mehrwertrate.
gung stehen, desto einfacher können die Kapitalist*innen die          Wieso kommt es nicht zu einem solchen Ausgleich der
Löhne und die Arbeitsbedingungen zu ihren Gunsten beein-          Mehrwertrate, wenn es sich nicht um Industrien eines Lan-
flussen. Ein weiterer Aspekt ist die schwächere Organisation      des, sondern verschiedener Länder handelt? Sicherlich ver-
der Arbeiter*innenklasse im Globalen Süden.                       langsamen kulturelle Unterschiede, geografische Distanz
    Um den Argumenten zu folgen sollen hier die relevan-          und andere Umstände den Prozess. Ein entscheidender Fak-
ten wirtschaftlichen Begriffe kurz eingeführt werden. Der         tor sind jedoch die westlichen Grenzregimes, die als frem-
Wert einer Ware entspricht der gesellschaftlich notwendigen       de Macht und Schranke fungieren, indem sie einen solchen
Arbeitszeit, um sie herzustellen. Um Waren produzieren zu         migrationsbedingten Ausgleich verhindern und die Aufrecht-
können, müssen Kapitalist*innen zunächst in Infrastruktur,        erhaltung der Überausbeutung im Globalen Süden ermögli-
Maschinen und Rohmaterialien investieren. Marx nennt dies         chen.
konstantes Kapital und bezeichnet dessen Wert mit c. Ausser-          Die erhöhte Mehrwertrate oder Überausbeutung ermög-
dem werden Menschen als Arbeitskräfte benötigt, die Lohn-         licht dem Kapital höhere Profite im Globalen Süden und
kosten bezeichnet Marx als variables Kapital, dessen Wert         führt, aufgrund des Strebens des Kapitals nach möglichst
mit v. Der Wert der produzierten Ware ist dann c+v+m, wo-         hohen Renditen, zu einem Kapitalfluss von Investitionen von
bei m die unbezahlte Mehrarbeit bezeichnet, die die Quelle        Nord nach Süd, da die Bourgeoisie in den ärmeren Ländern
der Profite ist.                                                  oft zu wenig Kapital hat, dieses Potential selbst vollständig
    Smith knüpft hier an Marx’ Untersuchung des Ausgleichs        zu nutzen. Die Renditen dieser Investitionen fliessen dann
der Profitrate im dritten Band des Kapitals an. Marx unter-       zurück in den Norden. Diese Entwicklung wurde nicht zu-
sucht die Auswirkung von verschiedener organischer Zu-            letzt durch den Fortschritt in der Informations- und Trans-
sammensetzung (Verhältnis von konstantem Kapital c zu             porttechnologie begünstigt. Die Investitionen geschehen
variablem Kapital v), von investiertem Kapital in verschiede-     konkret auf zwei verschiedene Arten. Einerseits werden Port-
nen Industriezweigen auf die Profitraten m/(c+v) und deren        folioinvestitionen (Erwerb von ausländischen Wertpapieren
Unterschied auf die Investitionstätigkeit der Kapitalist*innen.   und Unternehmensbeteiligungen) und ausländische Direkt-
Das Verhältnis m/v, die Mehrwertrate oder Ausbeutungsra-          investitionen getätigt, in denen wie zu Lenins Zeiten nörd-
te, nimmt Marx dabei als konstant über die verschiedenen          liches Kapital im Süden investiert wird. Andererseits werden
Industriezweige an. Er begründet dies damit, dass Arbei-          Aufträge immer öfters mittels «Outsourcing» an formell un-
ter*innen wenn möglich zu Industrien mit besseren Arbeits-        abhängige Firmen im Süden vergeben, die effektiv jedoch
bedingungen wechseln, also tendenziell von Industrien mit         von der Marktmacht von international agierenden westlichen
höherer Ausbeutung zu Industrien mit tieferer Ausbeutung.         Firmen direkt abhängen. Das Nord-Süd-Verhältnis entspricht
Dies erhöht das Angebot an Arbeitskraft in Industrien mit         also sehr stark einem Verhältnis von nördlichem Kapital und
tieferer Ausbeutung und senkt es in Industrien mit höherer        südlicher Arbeit.

                                                                                                     antikap Nr. 13 | Herbst 2020 |   7
Imperialismus Globale Machtverhältnisse im Fokus - sozialismus.ch
Globalisierung & Imperialismus: Ungleichheit & Ausbeutung im Weltmassstab

Lage der Hauptquartiere der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt im Jahr 2020: Die meisten der dargestellten Unter-
nehmen sind in den USA, Europa oder Japan angesiedelt. Es fällt jedoch auf, dass ebenfalls viele Unternehmen in Ostasien, vor allem
China, angesiedelt sind.

Quelle: Fortune, https://interactives.fortune.com/global_500_2020/dashboard/index.html.

             Smith nennt dies Arbeitsarbitrage: das Ausnutzen eines      Konzerne, also die westliche Bourgeoisie, den im Süden
         Preisunterschieds einer identischen Ware, in diesem Fall        produzierten Mehrwert aneignen, wenn sie die Produktion
         der Arbeitskraft. Unter kompetitiven Verhältnissen sollte       nicht direkt kontrollieren? Die indonesische Soziologin In-
         das Ausnutzen von Arbitragemöglichkeiten dazu führen,           tan Suwandi geht genau dieser Frage nach. Wie bei Lenin
         dass der Preisunterschied identischer Waren verschwindet.       spielt bei ihr der monopolistische Charakter der nun inter-
         Doch ist dies hier im Fall der Arbeitskraft nicht möglich, da   national agierenden westlichen Konzerne eine Hauptrolle.
         die Ausweichmöglichkeit der Arbeiter*innen unterbunden          Ein Monopol bezeichnet ein Unternehmen oder allgemei-
         wird. Der Kapitalfluss in den Süden aufgrund der erhöh-         ner eine kleine Anzahl Unternehmen, die als alleinige An-
         ten Rendite führt jedoch zu einem erhöhten Angebot der          bieter oder Nachfrager auf einem Markt auftreten und da-
         dort produzierten Waren, sowie einem tieferen Angebot           mit aufgrund mangelnder Konkurrenz die Preise zu ihren
         der im Norden produzierten Waren, was die Preise der im         Gunsten beeinflussen können. Sie folgt dabei der Monthly-
         Süden produzierten Waren unter ihren Wert senkt und die         Review-Schule18, welche die monopolistischen Aspekte des
         im Norden produzierten über ihren Wert erhöht. Dies führt       modernen Kapitalismus betont.
         zu einer Angleichung der Profitrate analog dem von Marx             Suwandi19 untersucht globale Wertketten, das heisst
         untersuchten Effekt der unterschiedlichen Profitraten bei       den Wertaspekt von globalen Waren- und Lieferketten,
         unterschiedlicher organischer Zusammensetzung der Ka-           also zum Beispiel wo wie viel Gewinne gemacht werden.
         pitalien in verschiedenen Industrien. Die Arbeitsarbitrage      Globale Warenketten sind die oft komplexen Verknüpfun-
         führt so zu einem ungleichen Tausch («südliche» Arbeit          gen von Produkten, von der primären Produktion bis zum
         wird gegen weniger «nördliche» Arbeit getauscht) und da-        Endkonsum und allen Stationen dazwischen, in denen oft
         mit zu einem Wert- und Reichtumstransfer vom Süden in           viele verschiedene Firmen unterschiedlicher Länder betei-
         den Norden.
                                                                         18 Monthly Review ist eine 1949 gegründete, marxisti-
         Globale Wertketten                                                 sche Zeitschrift in den USA. Ihr Hauptredaktor ist zurzeit
             Wenden wir uns nun der neuen Art der Mehrwertex-               der Soziologe und Ökosozialist John Bellamy Foster.
         traktion zu. Wie können sich die international agierenden       19 I. Suwandi, Value Chains, 2019.

8 | antikap Nr. 13 | Herbst 2020
Imperialismus Globale Machtverhältnisse im Fokus - sozialismus.ch
Globalisierung & Imperialismus: Ungleichheit & Ausbeutung im Weltmassstab

ligt sind. Gemäss der World Bank finden mittlerweile mehr als         (Transport, Löhne, Steuern und Profit) und werden demnach
zwei Drittel des Welthandels in Form von Wertschöpfungsket-           zum deutschen BIP gerechnet. Die in Bangladesch verbleiben-
ten statt.20 Sehr oft ist es der Fall, dass am Anfang dieser Ketten   den 0.95 EUR werden auf Löhne und Profite aufgeteilt. Das Bei-
kleinere Firmen aus dem Globalen Süden stehen und am Ende             spiel verdeutlicht, wie viel des geschaffenen Wertes im Norden
grosse monopolistische Firmen aus dem Westen (siehe Bild 3).          angeeignet wird. Ausserdem zeigt es nach Smith auch, dass
    Suwandis konkrete Untersuchung fokussiert auf Indone-             das BIP nicht das Gesamtprodukt eines Landes, sondern den
sien, nach China und Indien das Land mit den meisten Arbeits-         von diesem Land angeeigneten Wert misst.
stellen mit Bezug zu den internationalen Warenketten. Die
dabei zutage gebrachten Prozesse lassen sich aber weltweit be-        Aussicht
obachten: Die lokalen Firmen nehmen eine Rolle ähnlich der                Das Kapital bewegt sich heute beinahe grenzenlos über den
eines Subkontraktors21 ein und befinden sich dabei in einem           Planeten, während der Arbeitskraft restriktive Grenzregime
abhängigen Verhältnis zu ihren Kunden, den multinationalen            im Wege stehen. Dies führt dazu, dass das Kapital auf der Su-
Konzernen.                                                            che nach maximalem Profit weltweit die günstigste Arbeits-
    Die Verhandlungsmacht liegt auf Seite der multinationalen         kraft sucht, während Arbeiter*innen nicht in besser bezahlte
Konzerne. Die vom lokalen Produzenten angewandte Techno-              Regionen ausweichen können. Das Resultat davon ist die als
logie stammt oft vom Kunden, der die Kontrolle darüber be-            Globalisierung bezeichnete Verlagerung der Produktion in den
                                                                      Globalen Süden und die damit einhergehende «Deindustriali-

«
                                                                      sierung» des Nordens.
                                                                          Das Nord-Süd-Verhältnis ist jedoch kein symmetrisches
     International agierende west-                                    Verhältnis, sondern oft ein Verhältnis von nördlichem Kapital
liche Konzerne benutzen ihre                                          zu südlicher Arbeit, direkt als ausländische Direktinvestition
                                                                      und Portfolioinvestment oder indirekt über Outsourcing. In
Marktmacht, um sich in abhängigen                                     letzterem Fall benutzen international agierende westliche Kon-
Firmen produzierten Mehrwert an-                                      zerne ihre Marktmacht (Zugang zu Absatzmärkten, Kontrolle
                                                                      von Technologien) um sich in abhängigen Firmen produzierten
zueignen und den Globalen Süden                                       Mehrwert anzueignen und den Globalen Süden nach den Inte-
nach den Interessen der Kapital-                                      ressen der Kapitalakkumulation zu formen.
                                                                          Die eben untersuchte Verlagerung der Produktion in den
akkumulation zu formen.»                                              Globalen Süden hat die ungleichen und ausbeuterischen Nord-
                                                                      Süd-Verhältnissen mehrheitlich reproduziert. Daneben hat es
                                                                      einzelnen Ländern, insbesondere China, aber auch ermöglicht
hält. Ebenso bestimmt der Kunde die Produktspezifikationen            eine erfolgreiche Industrialisierung durchzumachen und der
und die Anwendung von spezifischen Herstellungsprozessen              untergeordneten Rolle auf Weltebene zu entkommen. Wie sich
oft im Detail. Aufgrund der Konkurrenz mit anderen lokalen            dies weiterentwickelt und inwiefern dadurch neue innerimpe-
Firmen ist höchste Flexibilität notwendig. Dabei versuchen die        rialistische Spannungen entstehen (z.B. im südchinesischen
abhängigen Firmen wo immer möglich den auf ihnen lasten-              Meer), ist eine der wichtigen Fragen des 21. Jahrhunderts. Dies
den Druck auf ihre Angestellten weiterzugeben.                        gilt insbesondere, da die Weltordnung, wie sie sich nach dem
    Unter monopolistischen Bedingungen können die multina-            Kalten Krieg etabliert hat, Auflösungserscheinungen zeigt, und
tionalen Konzerne wegen fehlender Konkurrenz auf Kaufsei-             zuletzt gehäuft unter Schocks wie Terroranschlägen, Finanz-
te ihre Marktmacht ausnutzen, um die Preise zu beeinflussen           krisen und nun einer Pandemie leidet, alles Entwicklungen,
und weit unter den Wert zu drücken. So können sie sich einen          die in einem engen Zusammenhang mit der Dynamik von Ka-
guten Teil des produzierten Mehrwerts aneignen. Je grösser            pitalismus und Imperialismus stehen. Diese Entwicklungen
die Konzerne sind und je stärker die Konkurrenz der lokalen           führten auch zum Erstarken der Rechten, sowohl im Norden
Firmen untereinander ist, desto stärker ist die Verhandlungs-         als auch im Süden, und zu zunehmenden nationalistischen
macht der Konzerne und desto leichter fällt es ihnen, sich den        Spannungen. Gleichzeitig kam es gerade seit 2019 weltweit
produzierten Mehrwert anzueignen.                                     auch vermehrt zu Aufständen der Bevölkerung, die für eine
    Um dies zu veranschaulichen schauen wir uns Smiths Bei-           solidarische Welt einsteht.
spiel eines in Bangladesch hergestellten T-Shirts an, das von             Trotz der internationalen Differenzierung ist das Proleta-
H&M in Deutschland zu 4.95 EUR verkauft wird. H&M zahlt               riat mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus mehr denn
der Manufaktur 1.35 EUR, diese hat 40¢ für die US-amerika-            je eine internationale Klasse. Sein Selbstbefreiungskampf muss
nische Baumwolle ausgegeben. Der Transport nach Deutsch-              damit auch ein internationaler sein. Das heisst auch, dass eine
land beträgt 6¢. Folglich verbleiben 3.54 EUR in Deutschland          sich als internationalistisch verstehende Linke die Konfronta-
                                                                      tion mit den im Westen angesiedelten international agierenden
20 World Bank, Global Value Chains Development Report 2019.           Konzernen suchen muss. Es gilt immer noch der Schlusssatz
21 Ähnliches lässt sich in der Schweiz zum Bei-                       des kommunistischen Manifests: Arbeiter*innen aller Länder,
   spiel in der Baubranche beobachten.                                vereinigt euch!

                                                                                                        antikap Nr. 13 | Herbst 2020 |   9
Imperialismus Globale Machtverhältnisse im Fokus - sozialismus.ch
SCHWERPUNKT IMPERIALISMUS

            Der Schweizer
            Imperialismus
            Eine marxistische Interpretation
                Ist die Schweiz imperialistisch? Ein Land, in dem
                ein Selbstbild der humanitären Tradition, des ver-
                nünftigen Ausgleichs, des Pazifismus und der poli-
                tischen Neutralität hochgezüchtet wird, in dem
                es scheinbar allen gut geht, eine starke «Mittel-
                schicht» dafür sorgt, dass alles im Lot bleibt? Ein
                Land, das sich gerne als «Erfolgsmodell» sieht? Im
                Folgenden wollen wir dieser Frage nachgehen.1
                von Willi Eberle (BFS Zürich)

             1 Dieser Text ist eine stark gekürzte und aufdatierte Version des Aufsatzes Eberle (2014).
               Die polit-ökonomische Grundlage des verwendeten Imperialismusbegriffs werden in Eber-
               le (2020) umrissen. An beiden Orten finden sich weiterführende Literaturhinweise.

10 | antikap Nr. 13 | Herbst 2020
Der Schweizer Imperialismus – Eine marxistische Interpretation

                                                                       In der marxistischen Linie der Imperialismustheorien stand
Imperialismustheorien und die Schweiz                              diese Problematik des Reformismus und der Klassenzusam-
    Ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts fand eine nach-    menarbeit implizit oder explizit im Zentrum des Interesses.
haltige und tiefgehende Veränderung des Kapitalismus statt:        Bei Lenin wird die Auseinandersetzung mit dem Reformismus
Die moderne Staatenbildung akzentuierte sich. Die politischen      durch die Diagnose eines «verfaulenden Kapitalismus» und der
Strukturen bildeten sich heraus, um die internationale Konkur-     «Aktualität der Revolution» beschrieben. In dieser Sicht besteht
renz und den Klassenkonflikt politisch auf neue Grundlagen         die soziale Basis des Reformismus aus einer Schicht mehr oder
zu stellen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurden diese Ver-       weniger privilegierter Werktätigen, der sogenannten Arbeiter-
änderungen auch von bürgerlichen Theoretiker*innen noch            aristokratie – nach heutiger Terminologie der Mittelschichten
offen und unverblümt debattiert. Damals standen diese Ver-         – und aus politisch eher konservativen Teilen der Arbeiter*in-
änderungen auch im Zentrum der marxistischen Debatten um           nenschaft. Diese Schichten wollen keinen Bruch mit den Un-
revolutionäre politische Strategien. In der Schweiz, die bereits   ternehmer*innen und ihrem Staat. Die Bürokratien der Arbei-
damals eine besondere Rolle in der sich herausbildenden im-        ter*innenorganisationen stützen sich teilweise auf diese eher
perialistischen Ordnung der Mehrwertaneignung und -verwal-         retardierenden Teile. Sie haben aber auch eigene Interessen, die
tung spielte, wurde dies beispielsweise durch den bürgerlichen     sie an die Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie binden, auch
Ökonomen Richard Behrendt 1931 und durch den Kommunis-             wenn dabei wichtige materielle Interessen der grossen Mehr-
ten Pollux, Georges Baehler, in den 1940er Jahren geleistet.       heit der Werktätigen verletzt werden. Dieser Aspekt ist in der
    Die Schweizer Industrie produzierte bereits um die Mitte       Periode der neoliberalen Offensive geradezu kennzeichnend
des 19. Jahrhunderts mehr für den Export als für den Binnen-       für die Krise der Organisationen der Arbeiter*innenbewegung.
markt. Die Schweizer Handelsgesellschaften hatten seit länge-      Die Pfeiler dieser Klassenzusammenarbeit sind in der Schweiz
rem eine solide Verankerung rund um den Globus und Teile der       die Sozialpartnerschaft mit der absoluten Friedenspflicht und
Industrie und die Banken begannen zunehmend, international         die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie.
eine herausragende Rolle zu spielen. Die Arbeiter*innenklas-
se war kämpferisch wie anderswo. Diesem Kampfgeist wurde           Die Schweiz im Imperialismus: Ein
durch die Unternehmer*innenschaft einerseits mit Repression,       «Erfolgsmodell» für wen?
andererseits mit Kooptation begegnet. Und – ebenfalls wie an-          Die marxistische Imperialismus-Theorie interessierte sich
dernorts in Europa und den USA – wurde mit der geförderten         schon immer für die Formen von politischer Herrschaft und
Immigration von billigeren Arbeitskräften die Löhne gedrückt.      ihrer Institutionen, für die Dynamik der kapitalistischen Kon-
    Was die Schweiz aber bereits damals von den führenden          kurrenz im Staatensystem als Konflikt um die Kontrolle über
imperialistischen Staaten – Grossbritannien, Deutschland,          Märkte und für die Frage, wie diese Herrschaft im Interesse der
Frankreich, Italien, Russland, Belgien, den USA und anderen        massgeblichen Kapitalfraktionen über die Grenzen des Landes
– unterschied, war, dass der Militarismus innenpolitisch zwar      ausgedehnt werden kann. Kurzum, die marxistische Imperialis-
eine wichtige Rolle spielte, sie aber über keine Kolonien ver-     mus-Theorie bemüht sich darum, die historische Entwicklung
fügte. Die politischen Eliten beriefen sich seit fast fünf Jahr-   des Kapitalismus im grösseren Zusammenhang auf globaler
hunderten auf die politische Neutralität. Ab dem späten 19.        Ebene zu verstehen (Callinicos, 67). Letztendlich geht es um
Jahrhundert hatten die Banken innenpolitisch die Führung           die Kontrolle der Produktion und Akkumulation von Mehrwert
übernommen.1 Zudem waren die grossen Organisationen der            im globalen Massstab.2
Arbeiter*innenbewegung über ihre Führungen spätestens seit             In diesem allgemeinen Sinne muss von einem Schweizer
dem Ersten Weltkrieg in die politische Ordnung der Klassen-        Imperialismus gesprochen werden. So sind pro Kopf die aus-
zusammenarbeit eingegossen. Das heisst, die Gewerkschafts-         ländischen Direktinvestitionen (FDI) bedeutender als in jedem
führungen und die Sozialdemokratie setzten auf Möglichkeiten       anderen Land und ihr Wachstum verlief über die vergangenen
von Vereinbarungen mit den Unternehmer*innen und deren             Jahrzehnte überdurchschnittlich. Dies bedeutet, dass im hel-
Organisationen und nicht auf die Stärkung der Kampfkraft           vetischen Kapitalismus pro Kopf mehr Mehrwert akkumuliert
der Arbeiter*innenbewegung. Die revolutionären Erhebungen          wird als anderswo. Und dies liegt an der ausserordentlich ho-
seit dem Ersten Weltkrieg in Europa scheiterten letztendlich       hen Konzentration von multinationalen Konzernen. Letztere
an dieser politischen Grundkonstellation der Hegemonie des         sind die eigentlichen Gewinner der neoliberalen Offensive, die
Reformismus. Ähnliches spielte sich in allen wichtigen Staaten     in den 1970er Jahren einsetzte.
Europas ab, aber in der Schweiz wurden die Fäden der Klassen-          In diesem Zusammenhang ist auch die starke Entwicklung
zusammenarbeit besonders dicht und tief in das gesellschaftli-     des globalen Handels und der Freihandelsverträge vor allem
che und politische Funktionieren hineingewoben. Dies vor dem       ab dem Beginn der 1990er Jahre zu erwähnen. Zwischen 1970
Hintergrund eines äusserst stabilen inneren Zusammenhaltes         und 2000 ist das Volumen des Welthandels um den Faktor 24
der Bourgeoisie, der sich darauf stützt, dass die Schweiz von      gestiegen, das Volumen des Handels mit Halbfabrikaten gar um
den Zerstörungen und tiefen Krisen, wie sie andere Staaten im      den Faktor 100! Dies ist ein starkes Indiz für das Vorantreiben
20. Jahrhundert durchlebt hatten, verschont blieb.                 der internationalen Arbeitsteilung entlang einer Optimierung
                                                                   und Ausdifferenzierung der globalen Wertschöpfungsketten.
1 Immer noch ein Klassiker für die Herausbildung der politi-
  schen Hegemonie der Schweizer Banken: Pollux (1944).             2 Siehe dazu beispielsweise Smith 2016 und Suwandi 2019.

                                                                                                    antikap Nr. 13 | Herbst 2020 |   11
Der Schweizer Imperialismus – Eine marxistische Interpretation

Das global operierende Kapital hat über die vergangenen          Arbeitsbedingungen in Europa und den USA lässt sich gut
vier bis fünf Jahrzehnte seine Möglichkeiten ausgebaut, ge-      veranschaulichen an der Entwicklung der globalen Lohnquo-
rade auch über eine Neuausrichtung der Produktions- und          te, das heisst des Anteils der Löhne am Bruttoinlandprodukt
Verteilungsketten, die Produktion dort zu platzieren, wo die     (BIP). Diese hat sich im Verlaufe der vergangenen vier Jahr-
Kosten insbesondere die Löhne am tiefsten und weitere Be-        zehnte weltweit im Durchschnitt von etwa 70 % auf unter 60
dingungen (Rechtssicherheit, berufliche Qualifikationen, po-     % verringert. In der Schweiz war diese Senkung der Lohn-
litische Stabilität, Steuern, fortgeschrittene Liberalisierung   quote weniger dramatisch, unter anderem weil der Anteil der
des Arbeitsmarktes, geringe Umweltstandards, Repression          oberen Lohnsegmente aufgrund der überdurchschnittlichen
von Gewerkschaften etc.) optimal sind. Diese Neuausrich-         Präsenz von Konzernzentralen und Banken stark gewachsen
tung der Produktions- und Verteilungsketten ermöglichte          ist. Also aufgrund der Rolle der Schweiz im Imperialismus.
eine überdurchschnittliche Akkumulation von Mehrwert für              Für diese Konzernzentralen ist die Schweiz attraktiv.
wenige hundert Multinationale Konzerne.                          Dies liegt nicht nur an den ausserordentlich tiefen Steuerre-
     Die erhöhte Ausbeutung der Lohnabhängigen wurde             gimes für Unternehmen und Reiche. Wichtige Faktoren sind
aufgrund der neuen Kräfteverhältnisse auch in Europa und         auch die Stabilität der Politik, der Währung, ein sehr gut
den USA durch eine forsche Durchsetzung von Programmen           ausgebauter Schutz des Eigentums, eine moderne und durch
des Sozialabbaus, Massenentlassungen und Lohnsenkungen           den Staat zur Verfügung gestellte Infrastruktur, die Nähe der
umgesetzt. Die Führungen der wichtigsten Organisationen          Hochschulen zum Arbeitsmarkt, ein ausgefeiltes Patentrecht,
der Arbeiter*innenbewegung – der Sozialdemokratie, der           ein liberaler Arbeitsmarkt ohne Kündigungsschutz, hoch
Kommunistischen Parteien und der Gewerkschaften – leis-          entwickelte Mechanismen der Klassenzusammenarbeit so-
teten meist kaum Widerstand dagegen oder waren, sofern in        wie eine vergleichsweise tiefe Staatsverschuldung. Seit über
der Regierung, eifrig damit beschäftigt, solche Programme        zwanzig Jahren rangiert die Schweiz auf den allerobersten
selbst durchzusetzen und gegenüber ihrer Basis zu vertreten.     Plätzen der WEF-Rangliste der weltweit unternehmens-
Tragische Beispiele sind etwa die Agenda 2010 und Hartz          freundlichsten Länder, verfügt über eine sehr breite Mittel-
IV durch die sozialdemokratische Regierung in Deutschland        schicht mit einer guten Ausbildung, eine gute Infrastruktur
(2003) und die Umsetzung der harten Abbauprogramme in            für Verkehr, Telekom, Wasser- und Energieversorgung, ein
Griechenland durch die Syriza-Regierung (2015) oder der          sehr gutes Bildungssystem und so weiter. Sie steht aber auch
aktuellen «linken» Regierungen in Spanien und Portugal. All      an der Spitze bei der Ungleichverteilung. Der Reichtum der
dies in der Hoffnung, dadurch von der Bourgeoisie respek-        Reichsten hat stark zugenommen: Das Vermögen der obe-
tiert zu werden und «Schlimmeres verhindern» zu können.          ren 1% hat sich seit 1990 versiebenfacht. Die Frankenrendite
Dieser Prozess beschleunigte sich in den 1990er Jahren, vor      liegt über jener anderer wichtiger Währungen, und pro Kopf
allem auch durch den Zusammenbruch der Sowjetunion,              der Bevölkerung wird von Schweizer Banken der höchste
den Anschluss der DDR an die BRD und die Herausbildung           Betrag an ausländischem Vermögen verwaltet (mehr als das
der Europäischen Union und deren Osterweiterungen mit            Fünffache des BIP). Damit hat der helvetische Kapitalismus
dem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt.                          in den vergangenen 25 Jahren seine Position in der globalen
     Dieser wachsende strukturelle Druck auf die Löhne und       Konkurrenz gegenüber anderen Staaten im Kontext der Kri-

  Ende September 2020 traten die Mitarbeiter*innen der Logistik-Firma XPO in den Streik. Sie wehrten
  sich gegen die Schliessung der Genfer Niederlassung und damit der Entlassung aller Angestellten.

12 | antikap Nr. 13 | Herbst 2020
Die Klimajugend sucht radikale
Antworten: Besetzung des Bun-
desplatzes im Herbst 2020 vor
dem Bundeshaus in Bern, dem Sitz
der Schweizer Regierung.

sen um 2000/2002, 2008/2009, 2015 und vermutlich auch            und breiten zeitweiligen Lohnsenkungen und Arbeitszeiter-
2020 stark ausgebaut.                                            höhungen im Einverständnis mit den Gewerkschaften kam.
    Für die Reichen, die Reichsten und die Unternehmen ist       In der aktuellen Krise wird damit gerechnet, dass zwischen
die Schweiz also ein «Erfolgsmodell». Hier werden sie am         Mitte 2019 und Mitte 2020 mindestens 70`000 Stellen ver-
tiefsten besteuert, können auf eine solide Erhöhung ihres        loren gegangen sind. Die Kurzarbeit geht zu Lasten der Ar-
Reichtums und ein sehr wohlwollendes politisches Umfeld          beitslosenversicherung und der Lohnabhängigen, die häufig
zählen. Hierzulande besitzt 1% der Bevölkerung über 40%          Lohneinbussen in Kauf nehmen müssen. Das politische Sys-
des Reichtums. Zugleich verdienen jedoch auch 8% der ar-         tem bestätigt bislang weitgehend die Interessen der Schwei-
beitenden Bevölkerung derart tiefe Löhne, dass sie selbst mit    zer imperialistischen Bourgeoisie.
einem stark eingeschränkten Lebensstil damit nicht über die           In Zeiten von starkem Wachstum wie beispielsweise
Runden kommen.                                                   Ende der 1940er bis Mitte der 1970er Jahre konnten die
                                                                 Arbeitenden teilweise von den Produktivitätsgewinnen pro-
Und die Lohnabhängigen?                                          fitieren. Dies zeigt sich daran, dass zwischen 1950 und 1970
    Aufgrund der grossen materiellen Bedeutung von mul-          die Löhne real um 70% und die Profite um 195% gewachsen
tinationalen Konzernen fliesst auch überdurchschnittlich         sind. Diese punktuelle Teilhabe der Werktätigen an den Pro-
viel des global erbeuteten Mehrwerts in die Schweiz. Dies        duktivgewinnen mittels Lohnerhöhungen hat seit der neo-
schlägt sich auch in einer im internationalen Vergleich sehr     liberalen Wende in den 1970er Jahren abrupt aufgehört. Es
tiefen Arbeitslosigkeit, kaum sichtbarer absoluter Armut und     wird davon ausgegangen, dass in den vergangenen 30 Jah-
einer sehr breiten Mittelschicht nieder. Es existiert ein über   ren die Produktivitätsgewinne über 50% betrugen, während
die vergangenen vier Jahrzehnte angewachsenes Segment            die real verfügbaren Einkommen alles in allem für die grosse
von gut bis sehr gut verdienenden Arbeitenden. Vor allem         Mehrheit der Arbeitenden jedoch nur leicht gewachsen sind.
im Vergleich mit anderen imperialistischen Ländern, wo sich      Diese Entwicklung wäre mit einer kämpferischen Politik der
unter den Lohnabhängigen breite Verarmungstendenzen              Gewerkschaften und der Sozialdemokratie für die Lohnab-
verfestigen. Nichtsdestotrotz gibt es in der Schweiz ca. 8%      hängigen deutlich besser gewesen.
Working Poor.                                                         Da es in der Arbeiter*innenschaft jedoch kaum wirksa-
    In den vergangenen 25 Jahren kam es in mehreren Schü-        me politische Widerstandsstrukturen gegen die neoliberalen
ben zu bedeutenden Verschlechterungen im politisch-sozia-        Angriffe, hingegen starke und historisch durch das Kapital
len Kräfteverhältnis. Dies wurde beispielsweise 2015 (Fran-      befeuerte fremdenfeindliche und rassistische Tendenzen
kenschock) sichtbar, als es zu weit über 20`000 Entlassungen     gibt – wie in anderen imperialistischen Staaten – , hat sich

                                                                                             antikap Nr. 13 | Herbst 2020 |   13
Der Schweizer Imperialismus – Eine marxistische Interpretation

                ab den späten 1980er Jahren um die Schweizerische          zehn Ländern die institutionelle Linke – und trieb die
                Volkspartei (SVP) eine Neue Rechte entwickelt. Denn        neoliberalen Gegenreformen kräftig voran. Auch in
                der Rassismus – als hässlicher Zwilling des Nationalis-    der Schweiz: Damals kam es zu ersten Abbaumassnah-
                mus – schafft ideologisch und politisch eine irrationa-    men in der Altersvorsorge und dem Service Public, die
                le politische Solidarisierung der Werktätigen in einem     Mehrwertsteuer wurde eingeführt und grosse Steuer-
                Land mit «ihren» Kapitalist*innen. Demgegenüber wird       reformen zugunsten der Reichen und der multinatio-
                die Solidarität unter den Lohnabhängigen, unter den        nalen Konzerne wurden unter sozialdemokratischer
                Mieter*innen, den Konsument*innen usw. durch die           Regierungsverantwortung durchgezogen. Die unsoziale
                Logik der Konkurrenz laufend zerstört.                     Finanzierung der Gesundheitsversorgung mittels Kopf-
                                                                           prämien wurde damals verallgemeinert.
                Was tun: Vom Widerstand zur Revolution                         Eine zentrale Rolle bei der politischen Umsetzung
                    Die vergangenen 25 Jahre sind weltweit durch drei      dieser Offensive spielte bis anhin der Reformismus und
                Wellen sehr starker sozialer Erhebungen gekennzeich-       ab den 1990er Jahren der sogenannte Neoreformismus,
                net: Mitte der 1990er Jahre bis Anfang der 2000er Jah-     der in verschiedenen Ausformungen in der radikalen
                re der europäisch/lateinamerikanische Zyklus und die       Linken Fuss fasste. Derweil wuchs die sogenannte Neue
                Antiglobalisierungsbewegung, 2008 bis ca. 2012 der         Rechte und selbst neue Erscheinungsformen des Fa-
                mediterrane Zyklus – z.B. in Aegypten, Griechenland,       schismus erhoben ihr Haupt.
                Spanien, Frankreich und anderen Länder im Mittel-              Diese Neue Rechte wird in der Schweiz durch die
                meerraum – und die Occupy-Bewegung. 2020 befinden          Schweizerische Volkspartei (SVP) verkörpert. Sie ent-
                wir uns in einem Zyklus, der ca. 2017 einsetzte und von    wickelte sich in der Schweiz um diejenigen Interessen
                Aufständen gegen die zerstörenden Auswirkungen der         in der Bourgeoisie, die auf keinen Fall in eine Dyna-
                neoliberalen Offensive rund um den Globus gekenn-          mik eingebunden werden wollen, die den Interessen

«
                zeichnet ist.                                              des US-Imperialismus entgegengesetzt ist; vor allem
                                                                           die Finanzindustrie und die Pharmaindustrie, die In-
    Die Anliegen dieser Bewegun-                                           formatik und auch Teile der Autobranche sind eher auf
                                                                           die USA als auf die EU ausgerichtet. Die Ablehnung der
gen müssen mit den Sorgen der Ar-                                          Integration in die EU war und ist auch nach der deut-
                                                                           lichen Ablehnung der Kündigungsinitiative der SVP
beits- und Lebensrealität der Werk-                                        vom 27. September 2020 weiterhin ein zentraler Pfei-
                                                                           ler des politischen Aufbauprojektes der SVP. Christoph
tätigen verbunden werden.»                                                 Blocher, deren jahrzehntelanger Chef, und sein Umfeld
                                                                           aus den 1980er Jahren haben zentrale wirtschaftliche
                    Diese sozialen Erhebungen führten nach einigen         Interessen in diesen Bereichen. Zudem verkörpern sie
                Anfangserfolgen fast immer in schwere politische –         eine Fraktion der Schweizer Bourgeoisie, der die Kosten
                und damit soziale – Niederlagen, vor allem in Europa,      für die Klassenzusammenarbeit in Europa zu hoch sind,
                den USA, in Lateinamerika und in Nordafrika. Dabei         und die sich eher am aggressiv klassenkämpferischen
                wurde die neoliberale Offensive weltweit verstärkt         US-amerikanischen Modell orientieren, bei dem diese
                vorangetrieben: Marktliberalisierungen, Privatisierun-     Kosten um einiges tiefer liegen als im europäischen Mo-
                gen, Sozialabbau, ökologische Verwüstungen, Kriege,        dell.
                gewaltsame Vertreibung von Menschen, grossflächige             Vor welche Aufgaben stellt uns diese Entwicklung
                Verarmungsprozesse, Verschärfung von unterdrückeri-        als revolutionäre Linke? Wir sehen drei grosse Heraus-
                schen und repressiven Tendenzen sind die Folgen dieser     forderungen:
                Niederlagen. Das heisst, es tobt weltweit ein verschärf-       1. Die Anliegen dieser Bewegungen müssen mit den
                ter Klassenkampf.                                          Sorgen der Arbeits- und Lebensrealität der Werktätigen
                    Die progressiven Bewegungen sind vielfältig und        verbunden werden. Dies ist angesichts der sogenann-
                sehr oft radikal: Sie entzünden sich an unerträglichen     ten «Corona-Krise» besonders wichtig, da die Schwei-
                Missständen und wollen sofortige Besserung und for-        zer Bourgeoisie wie ihre Klassengenoss*innen rund um
                dern damit die bestehenden bürgerlichen Herrschafts-       den Globus diese Krise erklärtermassen möglichst auf
                verhältnisse, das heisst das Privateigentum und den        Kosten der Arbeiter*innenklasse, das heisst der grossen
                bürgerlichen Staat, heraus. Weltweit wurden durch sie      Mehrheit der Bevölkerung, lösen will. Zehntausende
                über die vergangenen 25 Jahre zahllose Regierungen         von Jugendlichen in der Schweiz haben nach ihrer Aus-
                gestürzt. Was dann kam, war oft noch schlimmer. An         bildung diesen Herbst keine Stelle gefunden. Gleichzei-
                vielen Orten traten linke Regierungen an, die den Aus-     tig macht die Jugend den Lebensnerv der radikalisier-
                gleich mit den alten Eliten suchten – beispielsweise in    ten Sektoren in den sozialen Bewegungen aus. Sie sucht
                Argentinien, Bolivien, Brasilien, Venezuela, Ecuador,      radikale Lösungen für ihre Zukunft.
                Spanien, Frankreich, Griechenland. In Europa regierte          Gleichzeitig gibt es in den Gewerkschaften verein-
                in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in elf von fünf-    zelte Zusammenhänge von linken Kräften, die eine

14 | antikap Nr. 13 | Herbst 2020
Der Schweizer Imperialismus – Eine marxistische Interpretation

organische Verbindung zu radikaleren Teilen in den pro-       te Organisation spielt dabei eine bemerkbare Rolle. Viel-
gressiven Bewegungen suchen. Sie sind sich der fatalen        mehr ist es die Gleichzeitigkeit des Problemdrucks und
Auswirkungen der absoluten Friedenspflicht auf die Ge-        bestimmte lokale Besonderheiten, die jeweils zu einem
werkschaften und vor allem auf die Arbeiter*innenklasse       Ausbruch führen. Der Zusammenbruch seinerseits ist oft
bewusst. Sie geraten denn auch da und dort in Konflikt        eine Konsequenz von brutaler Repression, innerer Zerris-
mit ihren obersten Gremien. Ein beredtes Beispiel ist ihre    senheit und der Orientierungslosigkeit der Bewegung, der
scharfe Massregelung durch die Gewerkschaftsführun-           Einbindung wichtiger Teile von dieser in die institutionel-
gen, als das durch linke Zusammenhänge in den Gewerk-         len Mechanismen und eine Erschöpfung der radikalisier-
schaften getragene Referendum gegen den Abbau der             ten Sektoren.
Altersvorsorge («Plan Berset») in der Volksabstimmung             Aus den verebbenden sozialen Bewegungen müssen
2017 einen Sieg errang.                                       die Erfahrungen gerettet und diese in einer längeren
    Zudem gibt es immer wieder Ansätze aus radikalisier-      Perspektive der revolutionären Erhebungen der vergan-
ten Sektoren der Arbeiter*innenklasse, die eine organi-       genen 150 Jahre interpretiert werden, um in der nächs-
sche Verbindung zu den progressiven sozialen Bewegun-         ten Welle ausgehend von diesen Erfahrungen praktisch
gen suchen. Ein aktuelles Beispiel ist Workers for Future,    und programmatisch eingreifen zu können: Mit einem
eine Gruppe, welche die Klimabewegung mit den Fragen          Programm, das die entscheidenden Fragen um Eigentum
der Arbeitsrealität und den Fragen der Herrschaft über        und staatlicher Macht angeht und die Bourgeoisie heraus-
den gesellschaftlichen Produktionsprozess in Zusammen-        fordert. Die inneren Motive der progressiven Bewegun-
hang bringen will. Auch in der Feministischen Bewegung        gen nach einer Umwälzung des «Stoffwechsels zwischen
gibt es Segmente, die sich explizit aufgrund von Erfah-       Mensch und Natur», des Niederreissens aller Verhält-
rungen am Arbeitsplatz radikalisieren und organisieren        nisse, welche die Menschen zu geknechteten und ausge-
und den Bezug zu anderen sozialen Bewegungen suchen.          beuteten Wesen machen, können nur so freigelegt und
Beispiele hierfür sind die Kinderbetreuer*innen der Trotz-    weitergebracht werden. Dafür braucht es politisch-orga-
phase in Zürich oder die Gruppe «Care Work Unite» des         nisatorische Handlungszusammenhänge, die auf Dauer
Frauen*streikkollektivs Zürich.                               angelegt sind. Es braucht revolutionäre politische Organi-
    2. Der Schluss drängt sich auf, dass eine organisier-     sationen, die international handlungsfähig sind und eine
te Sichtbarkeit von politischen und sozialen Forderun-        glaubwürdige Rolle in den radikalisierten Sektoren der
gen, die die Bewegungen beflügeln können, notwendig           progressiven Bewegungen spielen.
wäre. Dies läuft auf die traditionelle Orientierung eines
Aufbaus klassenorientierter, revolutionärer Organisa-
tionen hinaus, jenseits aller Mechanismen der Klassen-
zusammenarbeit, wie sie durch die Übernahme von                          Weiterlesen
Regierungsverantwortung, Sozialpartnerschaft und der-
gleichen verkörpert werden. Dies scheint ein Erfordernis                 Behrend, Richard: Die Schweiz und der Imperialismus. Die
der Stunde zu sein, um dem teilweise starken Einfluss der                Volkswirtschaft des hochkapitalistischen Kleinstaates im
Mittelschichten und damit den Mechanismen der Verein-                    Zeitalter des politischen und ökonomischen Nationalis-
nahmung der Bewegungen durch die Bourgeoisie etwas                       mus. Zürich, Leipzig und Stuttgart, 1932.
entgegensetzen zu können.
                                                                         Callinicos, Alex: Imperialism and Global Political Economy.
    Auf diesem Weg lassen sich vorläufig zwar keine Mas-
                                                                         Cambridge, UK, 2009.
senparteien aufbauen. Aber mittelfristig könnten schwe-
re politische und soziale Rückschläge zumindest abge-                    Eberle, Willi (2014): Das «Erfolgsmodell Schweiz».
mildert werden; die Bewegungen würden nicht spurlos                      Versuch einer marxistischen Interpretation.
zusammenbrechen und ein politisches Trümmerfeld hin-                     Unter: maulwuerfe.ch
terlassen, wie dies beispielsweise in Italien, in Griechen-
land, in Spanien, in Portugal, in Venezuela, in Brasilien                Eberle, Willi (2020): Imperialismus und die «verborgenen
und andernorts geschehen ist. Diese neoreformistischen                   Stätten» der Mehrwertproduktion.
Erfahrungen mit linken Regerungen und Breiten Parteien                   Unter: maulwuerfe.ch
haben der revolutionären Linken und vor allem der Arbei-
                                                                         Pollux (d.i. Georges Baehler): Trusts in der Schweiz. Die
ter*innenklasse einen vernichtenden Schaden zugefügt.
                                                                         schweizerische Politik im Schlepptau der Hochfinanz. Zü-
    3. Es muss eine internationale revolutionäre Bewe-                   rich, 1944.
gung aufgebaut werden. Interessanterweise gibt es eine
Art von sich verdichtendem Auftreten der Aufstände auf                   Smith, John: Imperialism in the Twentieth-First Century.
globaler Ebene. Eine solche globale Gleichzeitigkeit ist                 Globalization, Super-Exploitation and Capitalisms Final
in allen drei erwähnten Wellen erkennbar, insbesondere                   Crisis. New York, 2016.
aber in der seit ca. 2017 andauernden dritten Welle. Auf-
fallend ist, dass diese Synchronisierung des Aufschwungs                 Suwandi, Intan: Value Chains. The New Economic Imperia-
und Abschwungs spontan ist; keinerlei internationalisier-                lism. New York, 2019.

                                                                                                     antikap Nr. 13 | Herbst 2020 |   15
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