Aufbrechen- sich auf den Weg machen - Evangelische Stiftung Alsterdorf
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Magazin der Evangelischen Stiftung Alsterdorf Themenh ef t 01I 2021 Aufbrech sich en – auf den Weg ma chen ››› Ein Pionier wird 200 ››› Vom Umgang mit der ››› Wahlen inklusiv Herzlichen Glückwunsch, eigenen Geschichte Barrierefreie Wahlinformations- Heinrich Matthias Sengelmann Ein Lern- und Gedenkort entsteht Veranstaltungen
T R E A M IN G - ST U DIO DAS NEUE S D E R K U LT U R K ÜCHE IN Ob Konferenz, Podiumsdiskussion, Theater-Workshop, Konzert, Workout, Vortrag, Tagung, Jodelperformance oder Teamsitzung Wir unterstützen Sie bei der Umsetzung Ihrer digitalen Veranstaltung! Sprechen Sie uns an: Eventmanagement der Ev. Stiftung Alsterdorf Telefon: 0 40.50 77 20 20, E-Mail: events@alsterdorf.de
›››INHALT 01I 21 Wer war Heinrich Matthias Vergangenheit und Zukunft im Blick Wahlen „barrierefrei“ Sengelmann? Ein Lern- und Gedenkort als Ort der leben- Ein inklusives Team bereitet barrierefreie Gedanken, Wirkung und Lebenswerk digen Auseinandersetzung mit der eigenen Wahlinformations-Veranstaltungen vor – zum eines Hamburger Pioniers zu Geschichte und eine Straße der Inklusion Beispiel mit einer Wahlstraße seinem 200. Geburtstag verbinden Vergangenheit und Zukunft Seite 24 Seite 28 Seite 34 ››› Titelthema: ››› Spenden Sich auf den Weg machen – aufbrechen 46 Ein Jahr Pandemie 8 Chancen ergreifen Bilanz und Pläne der Ev. Stiftung Alsterdorf In jedem Menschen ruht das Streben nach kleinen oder großen Veränderungen im Leben ››› Arbeit 12 Eine deutsche Traumreise 44 Sehen – und gehört werden Sopiko Aspanidze – von der georgischen „Wir sehen was, was Ihr nicht seht“ … ein Podcast mal inklusiv Hauptstadt Tiflis nach Hamburg 14 Urvertrauen und glückliche Begegnungen ››› Porträt Buchautor und Lehrer Philip Oprong Spenner schildert im 54 Auf einen Kaffee mit Martina Fredersdorf Interview seine spannende Lebensgeschichte Werner Momsen spricht mit seinem Gast über ein 17 Gebärden für Kleinstkinder Versandzentrum, die Ostsee, Ina Müller und über das Sprache ist das wichtigste Mittel in unserem täglichen Miteinander Sich-mehr-Zeit-Nehmen 20 Baakenhafen: Ein ganz besonderer Aufbruch in die erste eigene Wohnung 22 „Etwas Neues gestalten“ ››› Medizin 42 Raus aus der Krise! Mirjam Vinogradova berichtet über ihren nicht ganz einfachen Inklusive psychiatrische Angebote am Evangelischen Weg durch ihr Studium für Gesundheits- und Sozialmanagement Krankenhaus Alsterdorf für Menschen mit und 24 So geht Wählen ohne Assistenzbedarf Ein inklusives Team organisiert barrierefreie Wahlinformations-Veranstaltungen 26 „Zuerst Friede, dann die Probleme“ ››› Q8 50 Modell Baugemeinschaften: Im Projekt Nachbarschaftszirkel entwickeln Konfliktparteien gemeinsam Lösungen Ein Gewinn für jedes Quartier – auch in Hamburg Fotos: Archiv Ev. Stiftung Alsterdorf, Axel Nordmeier 28 Der Wegbereiter Heinrich Matthias Sengelmann Ein Überblick über das Wirken des Gründers der heutigen ››› Schnappschüsse 10 Aufbrechen … aber wohin? Ev. Stiftung Alsterdorf – anlässlich seines 200. Geburtstags 34 Gedenken und lernen und eine Straße der Inklusion Was haben Sie vor oder wonach sehnen Vom Umgang mit der eigenen Geschichte auf dem Sie sich – nach Corona. Antworten von Weg zur Inklusion Passant*innen auf dem Alsterdorfer Markt 38 „Ich glaube an das Universum“ Luise Schwarzer berichtet über Höhen und Tiefen auf ihrem ››› Rubriken beeindruckenden Lebensweg 4 Editorial 40 Demokratie erleben im Bildungshaus Lurup 6 Auf einen Blick „Sich immer wieder auf den Weg machen“ – als Grundgedanke 7 Veranstaltungen des Bildungshauses 7 Impressum 3
Der Vorstand der Evangelischen Stiftung Alsterdorf: in angemessenem Tempo und mit offenem Blick in die Zukunft die Herausforderungen angehen: v. l. n. r. Ulrich Scheibel, Hanne Stiefvater und Dr. Thilo von Trott. Liebe Leserinnen, liebe Leser, vor einem Jahr haben wir Sie als Vorstand der Evangelischen Stif- Patient*innen sicher? Wie halten wir den Kontakt zu denjenigen, tung Alsterdorf zum ersten Mal gemeinsam im Magazin Alsterdorf die zu Hause bleiben müssen? Wie schützen wir unsere Kollegin- begrüßt. In der damaligen Sonderausgabe betrachteten wir die nen und Kollegen am Arbeitsplatz? Herausforderungen, die mit den neuen Rahmenbedingungen durch das damals noch relativ neue Corona-Virus einhergingen sowie die Eines war sicher: Die Evangelische Stiftung Alsterdorf musste sich Auswirkungen in den unterschiedlichen Bereichen der Stiftung. bewegen, aufbrechen und gewohnte Abläufe sowie bekannte Strukturen flexibel und schnell verändern. Wir mussten Lösun- Innerhalb kürzester Zeit hatten sich im letzten Jahr alle Rahmen- gen finden und zügige Entscheidungen treffen, ohne weit in die bedingungen verändert und wirkten sich im Kleinen und im Großen Zukunft planen zu können. Ein Jahr später nun blicken wir zurück auf unsere tägliche Arbeit aus. Viele Bereiche mussten kurzfristig auf einen erstaunlichen Weg, den vor allem unsere Mitarbeiterin- schließen, gewohnte und gelernte Tagesstrukturen veränderten nen und Mitarbeiter mit immens großen Kraftanstrengungen, aber sich und oft standen vor allem praktische Fragen im Vordergrund: auch mit beeindruckender Souveränität und Kompetenz gegangen Woher bekommen wir schnell ausreichend Schutzkleidung? Wie sind, um mit den ihnen anvertrauten Menschen die bestmögliche stellen wir die Begleitung und Versorgung der Klient*innen und Lösung zu finden. 4
Editorial ‹‹‹ bewusst die Stadt verlassen hat, ist Hamburg mittlerweile um das Wir alle haben gelernt, Stiftungsgelände in Alsterdorf herum gewachsen und wir befinden dass Stehenbleiben keine uns in einem sogar relativ zentral gelegenen Stadtteil einer Millio- nenmetropole. Der geschützte Raum der damaligen Alsterdorfer Alternative ist – weder in Anstalten, der sehr lange eingezäunt war, wurde geöffnet, das abgeschottete Gelände immer mehr zum Teil der Stadt. Gleichzei- Zeiten einer Pandemie noch in tig ist auch die Evangelische Stiftung Alsterdorf aufgebrochen und mit ihren Angeboten in die Stadt gegangen – aus der Exklusion vermeintlich normalen Zeiten wurde das Streben nach Inklusion. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten nicht mehr in einer zentralen Anstalt, sondern an fast 180 Standorten in ganz Hamburg, Schleswig-Holstein und Aufgebrochen ist seinerzeit auch unser Gründer, Pastor Heinrich Niedersachsen. Matthias Sengelmann, indem er vor die Tore Hamburgs ging, um in Alsterdorf einen geschützten Raum zu schaffen für Kinder Für diese Ausgabe haben wir mit vielen Menschen gesprochen, die und Jugendliche mit Behinderung, die damals in der Großstadt aufgebrochen und weite Wege gegangen sind, pandemiebedingt perspektivlos am Rande der Gesellschaft lebten: die Alsterdorfer umdisponieren oder Umwege in Kauf nehmen mussten. In der Anstalten. Erstmals wurden Menschen mit Behinderung bewusst Evangelischen Stiftung Alsterdorf wiederum brechen wir dieses in den Blick genommen. Sengelmann suchte neue Wege, ohne Jahr auch ganz direkt sicht- und anfassbare Strukturen auf: So ent- die damit einhergehenden Folgen bis ins kleinste Detail absehen stehen mitten auf dem Gelände zum Beispiel neue Wohnungen in zu können. Er hatte den Mut, erste neue Schritte zu gehen. Und einem inklusiven Quartier und auch das Evangelische Krankenhaus auch wenn dieser Weg in der Anfangszeit – mit unserem heutigen plant einen Neubau für eine bessere interdisziplinäre Versorgung Blick betrachtet – eine Exklusion von Menschen mit Behinderung der Patient*innen. bedeutete und Sengelmann immer auch als Mann seiner Zeit be- trachtet werden muss, sind viele seiner Ansätze bis heute erstaun- Das spektakulärste Projekt ist sicherlich das Herauslösen des lich modern. Menschen mit Behinderung sollten nicht verwahrt umstrittenen Altarbildes aus unserer Kirche St. Nicolaus und das oder weggeschlossen werden, sondern im Rahmen der damaligen Einbetten des Bildes in einen neuen Lern- und Gedenkort für Möglichkeiten in einem geschützten Raum teilhaben, unter ande- die Opfer der Euthanasie. Ein Projekt, das uns oft unvorstellbar rem in den Lebensbereichen Bildung, Medizin und Arbeit. erschien und doch Schritt für Schritt Gestalt annahm. Auch hier setzt sich damit ein Weg fort, den Pastor Sengelmann begonnen Dieses Jahr feiern wir den 200. Geburtstag unseres Gründers. Ein hat: Die Kirche, von unserem Gründer noch persönlich geplant, wichtiger Anlass, um innezuhalten und den eigenen Standort zu sollte nach seinem Willen ein Ort sein, an dem alle willkommen betrachten. Denn Sengelmanns Wirken bildet die Grundlage un- sind. Genau hier möchten wir nun wieder anschließen und in einer serer Arbeit. Sie hilft uns, auch heute den Kompass auszurichten, offenen, hellen Kirche ohne bauliche oder ideologische Barrieren und findet sich wieder in unseren Leitwerten und unserer Haltung. Raum für inklusive Begegnungen schaffen. Aufzubrechen und sich auf den Weg zu machen bringt immer Ver- Wir alle haben gelernt, dass Stehenbleiben keine Alternative ist – änderungen mit sich und erfordert Mut, Unsicherheiten auszuhal- weder in Zeiten einer Pandemie noch in vermeintlich normalen ten oder aus Rückschlägen zu lernen, kritisch zu bleiben und den Zeiten. Unseren Weg, der mit Pastor Sengelmann begann, setzen Weg immer wieder zu prüfen. Wenn wir dieses Jahr auf die letzten wir fort mit einem kritischen und offenen Blick in die Zukunft. Wir Monate der Corona-Pandemie und zugleich auf unsere Stiftungs- sind noch lange nicht angekommen. Aber wir wissen, dass wir mit geschichte blicken, dann sehen wir beides: das Fundament der einem gut angepassten Tempo und einer angemessenen Schritt- Erfahrungen und Entwicklungen, bestehend aus allen Schritten, länge jeden Tag weitergehen werden. Foto: Boris Rostami-Rabet die wir bereits gegangen sind, und den zukünftigen Weg, der vor uns liegt und trotz aller Unsicherheiten gestaltet werden muss. Wir müssen nur hier in Alsterdorf von der Sengelmannstraße ab- biegen und auf den Alsterdorfer Markt gehen, um die Entwicklun- gen und Veränderungen zu begreifen: Dort, wo Sengelmann einst Ulrich Scheibel Hanne Stiefvater Dr. Thilo von Trott 5
››› Auf einen Blick Foto: Eventteam Hybridveranstaltungen? Streaming-Events? formate optimieren können und welche Tools dabei genutzt Online-Workshop? Ab ins Online-Studio Kulturküche! werden können? Wie Konferenzteilnehmer*innen gleichzeitig In- Wir alle haben in den letzten Monaten viel dazugelernt. halte be- und erarbeiten können? Oder welche zusätzliche Technik Die Nutzung von Besprechungsplattformen, wie zum Beispiel neben Laptop oder Beamer für einige Formate erforderlich ist? ‹‹‹ Microsoft Teams oder Zoom, ist inzwischen selbstverständlich geworden und technische Begriffe aus der Online-Welt, die uns Kurzum: Sie benötigen fachliche Beratung und tragfähige bisher fremd waren, gehören heute zum gängigen Wortschatz. Lösungen? Aber durch die stark nachgefragten Möglichkeiten der Online- Informieren Sie sich über das Leistungsspektrum des neuen Kommunikation steigen die Erwartungen – und damit auch die Online-Studios Kulturküche! Herausforderungen – an alle Organisator*innen und Umsetzer*innen von Veranstaltungen, Meetings oder Workshops. Kontakt Eventteam: events@alsterdorf.de oder Vielleicht haben Sie sich schon gefragt, wie Sie Ihre Präsentations- 0 40.50 77 20 20 Neue Schulleitung für die Bugenhagenschule in Groß Flottbek Seit Februar ist für die Grundschule Bugenhagenschule Groß Flottbek eine neue Schulleiterin tätig. Ulrike Arzenbacher unterrichtete zuvor an einer Nachbarschule und kennt daher das Quartier und die dazugehörige Schullandschaft gut. Die Bugenhagenschule in Groß Flottbek arbeitet in multiprofessionellen Teams Foto: privat aus Grundschullehrer*innen, Sonderpädagog*innen und Erzieher*innen. Der Unterricht findet jahrgangsübergreifend statt. Ab diesem Schuljahr wird auch eine Vorschule für die Kleinsten ab fünf Jahren neu angeboten. ‹‹‹ 6
Bitte informieren Sie sich auf www.alsterdorf.de/veranstaltungen und www.kulturkueche-alsterdorf.de, ob die Veranstaltung Ihrer Wahl wie geplant stattfindet. Hier finden Sie alle aktuellen Änderungen am Programm. Maskenspende ›››Veranstaltungen Der Bedarf an medizinischen Masken (sogenann- FREITAGS, 23./30. JULI, 6., 20., 27. ten OP-Masken und FFP2-Masken) stieg mit Beginn AUGUST 2021 jeweils bei Sonnenuntergang der Pandemie sprunghaft an – die Preise auch. Barrierefreies Open-Air-Sommerkino – Gerade im Frühjahr 2020 waren Masken zeitweise gemeinsam Filme gucken! Mit Best-of „KLAPPE AUF! Kurzfilmfestival“ Mangelware. Glücklicherweise haben großzügige am 6. August – ein Abend mit prämierten Foto: EKA Spenden von der Otto Group (10.000 OP-Masken, internationalen Kurzfilmen. 5.000 FFP2) und der Firma Freudenberg (225.000 Open-Air-Kino, Alsterdorfer Markt OP-Masken) die Vorräte aufgestockt. Die Spenden FREITAG, 13. AUGUST 2021 wurden an das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf geliefert und von dort auch an andere „feat. JGOH“ – Kinopremiere zum 15. Jubilä- um des JugendGitarrenOrchesters Hamburg Stiftungsbereiche weitergegeben, darunter die Heinrich Sengelmann Kliniken, die Alster- Open-Air-Kino, Alsterdorfer Markt dorf-Assistenzgesellschaften West und Ost, die Stadtmission in Kiel und alsterarbeit. Auch an dieser Stelle noch einmal ein herzliches Dankeschön für die Unterstützung! ‹‹‹ DIENSTAG, 3. – 7. AUGUST 2021 So geht Wählen! – eine Ausstellung zum Ausprobieren, Kulturküche Alsterdorf DONNERSTAG, 26. AUGUST 2021 16 – 19 Uhr Verschub des Altarbildes aus St. Nicolaus Sie haben die Wahl! – Wahl-Informations- Nach gut 2 1/2 Stunden war es vollbracht – echte Handarbeit vor imposanter Kulisse: veranstaltung live aus dem Streamingstudio der Kulturküche Alsterdorf Nachdem die Rückwand der Kirche, auf deren Innenseite das umstrittene Altarbild von ESA-YouTube-Kanal: 1938 aufgebracht ist, mit einer diamantbesetzten Trennscheibe aus dem Kirchenbau von https://bit.ly/alsterdorf_youtube St. Nicolaus geschnitten worden war, erfolgte Mitte April der Verschub des 50 Tonnen SONNTAG, 10. OKTOBER 2021 schweren Konstrukts aus Steinwand und stählerner Stützeinrichtung. Rund 1,50 Meter ragt 11 – 18 Uhr es nun aus der Kirche heraus. Alsterdorfer Kartoffelschmaus Was ist der Grund für den Verschub des Altarbildes? Alsterdorfer Markt Die ausgrenzende Aussage des Altarbildes sowie dessen Entstehung in der Zeit der Ver- Adventszeit 2021 strickung der damaligen Alsterdorfer Anstalten in den Nationalsozialismus beeinträchtigte Advent in Alsterdorf bis heute die liturgische Nutzung der Kirche in hohem Maße. Die Evangelische Stiftung FREITAG, 10. DEZEMBER 2021 Alsterdorf setzt sich schon seit vielen Jahren offen und kritisch mit ihrer Geschichte ausein- 20.00 Uhr ander. Daher soll das Altarbild nicht versteckt, sondern bewusst in die Öffentlichkeit – „ans Barrierefreies Open-Air-Winterkino Alsterdorfer Markt Licht“ – gebracht werden. Es wird künftig das zentrale Element eines Lern- und Gedenkorts bilden, der direkt neben St. Nicolaus entsteht. Foto: Axel Nordmeier Doch zurück zum Verschub: Die millimetergenauen Arbeiten erfolgten manuell. Zwei Mit- ›››Impressum arbeiter der mit der sogenannten Translozierung (dem Versetzen) beauftragten Spezialfirma Herausgeber: Evangelische Stiftung Alsterdorf drehten im Gleichklang an zentimeterstarken Stahlgewinden, die mit dem Aufbau verbun- Redaktionsleitung: Katja Tobias (verantwortlich), Hans Georg Krings den waren. Auf bereits vor Wochen einbetonierten Stahlschienen wurde die Kirchenwand Redaktionsteam (Tel.: 0 40.50 77 34 83): so langsam aus St. Nicolaus gezogen. Auch die ESA-Vorstände Hanne Stiefvater, Dr. Thilo Marion Förster, Daniela Steffen-Oschkinat, Valerie Bachmann, Barbara Minta, Ine Barske, von Trott und Ulrich Scheibel ließen es Stefan Drescher, Armin Oertel, Karen Haubenreisser, sich nicht nehmen, den denkwürdigen Regina Mattheis, Hans Georg Krings, Ingo Briechel, Moment des Verschub-Beginns mitzuer- Gerd Nodorp, Melanie Nähring, Gesa Prüne, Berndt Rytlewski, Nadine Wagner, leben. So wurden sie Zeugen vom Einfall Christina von Woedtke der ersten Lichtstrahlen, die nach dem Gestaltung: grafikdeerns.de, Hamburg Titelfoto: Getty Images/iStockphoto Zumauern des bis 1937 vorhandenen Lektorat: Bernd Kuschmann Kirchenfensters nun wieder in den Innen- Druck: alsterspectrum, Hamburg raum der Kirche fielen. Die freistehende Kirchenwand mit dem Spendenkonto: Altarbild erhält einen Witterungsschutz Bank für Sozialwirtschaft BLZ 251 205 10, Kto 44 444 02 und es wird ein Ringbalken betoniert, IBAN: DE32 2512 0510 0004 4444 02 der wiederum in ein Stahlprofil einge- BIC: BFSWDE33HAN fasst wird. Beides wird die Wand statisch halten, bevor sie dann voraussichtlich Ende Mai 2021 mithilfe eines 500 Ton- nen schweren Lastkrans in die Grube des ››› Ausgewählte Artikel zukünftigen Lern- und Gedenkortes vor finden Sie auch auf St. Nicolaus abgesenkt wird. ‹‹‹ www.magazin-alsterdorf.de Lesen Sie dazu mehr ab Seite 34 oder informieren Sie sich unter: Evangelische Stiftung Alsterdorf https://www.strasse-der-inklusion.de/ Öffentlichkeitsarbeit E-Mail: info@alsterdorf.de Telefon: 0 40.50 77 33 44
Oliver Gerkens, alsterarbeit gGmbH: „Ich gehe wählen, weil es hinterher besser werden könnte.“ Thies Straehler-Pohl, Ev. Stiftung Alsterdorf, Q8: „Ich gehe wählen, weil ich neben vielem anderen will, dass Deutschland endlich ernst zu nehmende Klimapolitik macht.“ Florian Erdwig, Ev. Stiftung Alsterdorf, Q8: „Ich gehe Conny Zolker, Ev. Stiftung Alsterdorf, Q8: „Ich gehe wählen, weil ich Demokratie richtig und wichtig finde wählen, weil ich Verantwortung übernehme. Ohne und sie nur funktioniert, wenn ich mitmache.“ unsere Stimme kann Demokratie nicht funktionieren.“ e r g r e i f e n TITELTHEMA Chancen In jedem Menschen ruht das Streben nach kleinen oder großen Veränderungen im Leben. Text: Nadine Wagner, Fotos: Axel Nordmeier 8
Nora Peters, Leben mit Behinderung Hamburg: „Ich gehe wählen, weil in Titelthema‹‹‹ einer Demokratie jede Stimme zählt. Es ist mein Recht und mein Privileg.“ Kerstin Hopf, alsterdorf assistenz west gGmbH: „Ich gehe wählen, weil jede Stimme zählt!“ André Juls, alsterarbeit gGmbH: „Ich gehe wählen, weil es sich lohnt.“ Julia Rath, Ev. Stiftung Alsterdorf, Eventmanagement: „Ich gehe immer wählen! Und in diesem Jahr insbesondere, um dem rechten Populismus etwas entgegenzusetzen.“ Die Segel neu setzen. Veränderungen wagen. Selbstständiger sich stark für die kommende Bundestagswahl, bei welcher werden. Aufbrüche haben für jede*n eine andere Bedeutung, jede*r Einzelne etwas bewirken kann. Sie geben Antworten aber doch eines gemeinsam – sie sind immer etwas ganz auf die Fragen, warum wir eigentlich wählen gehen sollten Besonderes. Bewusst oder aus dem Bauch heraus entscheiden und wieso man sich im September überhaupt auf den Weg sich Menschen dafür, bestimmte Wege zu gehen oder zu zum Briefkasten oder gar direkt ins nahe gelegene Wahllokal neuen Ufern aufzubrechen. Das Alsterdorf-Magazin hat sich machen sollte. mit diesem Thema auf den Weg gemacht. Wir treffen Menschen, die zweite Chancen ergriffen, sich den Wie geht der Weg hin zu einer politischen Wende? Wie Traum eines selbstbestimmten Lebens erfüllt und vermeintlich kann ich mich mit dem Setzen eines Kreuzchens politisch ausweglose Situationen überwunden haben, und fragen nach einmischen? Das inklusive Wahlvorbereitungsteam macht den individuellen Motivationen für diese Aufbrüche. ‹‹‹ 9
››› Schnappschüsse AUFBRECHEN … aber wohin? Das kann im Großen der beginnende neue Lebensabschnitt sein, die Weltreise, die zumindest im Kopf Gestalt annimmt, oder der nächste Schritt auf der Karriereleiter. Es können aber auch die kleinen Dinge sein, die Wünsche und Ideen, all das, was Menschen machen wollen, wenn die Pandemie endlich vorbei ist. Wir haben Passant*innen auf dem Alsterdorfer Markt befragt, was sie vorhaben oder wonach sie sich sehnen – nach Corona. Text: Ingo Briechel, Fotos: Carolin Matysek Thorsten Matthews: „Ich möchte mein Hamburg wiederentdecken: an die Elbe fahren, den Blick schweifen lassen. Mit lieben Freunden auf den Hamburger Dom gehen, Kirmesluft schnuppern.“ 10
René Tölzer: „Ich freue mich auf die Zeit nach Corona: Helma Dahl: „Ich träume von langen Spaziergängen mit Freunden – Maske weg, unter die Leute kommen!“ und hinterher noch das gemeinsame Glas Wein.“ Giesela Kuntz: „Als Erstes lasse ich es mir richtig Nais Söglemez: „Wohin ich ganz persönlich aufbrechen möchte? gut gehen und mache einen ausgedehnten Dahin, um nach Corona wieder die Freiheit zu haben, mich ohne Einkaufsbummel mit Päuschen in der Sonne.“ Einschränkungen zu bewegen und Menschen zu begegnen.“ 11
Sopiko Aspanidze ist in Hamburg angekommen TITELTHEMA Eine deutsche Traum r ei s e Sopiko Aspanidze hat ihren Weg gemacht von der georgischen Hauptstadt Tiflis nach Hamburg. Ihr Antrieb: Sie will arbeiten und dafür angemessen bezahlt werden. Mit großer Energie und der Unterstützung ihrer Freund*innen, Kolleg*innen und Ausbilder*innen nutzt sie die Chancen, die sich ihr in Hamburg bieten. Gerade macht sie eine berufsbegleitende Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin an der fachschule für soziale arbeit in Alsterdorf. 12
Titelthema‹‹‹ Text: Bettina Mertl-Eversmeier, Foto: Axel Nordmeier I ch bin sehr glücklich damit, dass ich Fernsehen und Internet viel gehört. Aber sich an der fachschule für soziale arbeit in in Hamburg gelandet bin. Europa und vor allem war es ihr Vater, der sie dafür Alsterdorf zu bewerben. Seit August 2020 besonders Deutschland sind für mich begeisterte: „Für ihn ist es ein Land der macht Sopiko Aspanidze die dreijährige eine andere Welt. Meiner Meinung Wirtschaft, Stabilität und Stärke.“ berufsbegleitende Ausbildung zur Heil- nach ist Hamburg die Stadt des Lebens, erziehungspflegerin. Für den praktischen der Bildung und der Kultur“, schwärmt Da sie in der Schule nicht die Möglichkeit Teil ihrer Ausbildung konnte sie zurückkeh- die Georgierin Sopiko Aspanidze von ihrer gehabt hatte, Deutsch zu lernen, fing sie ren an ihren Arbeitsplatz in der Inklusiven neuen Heimatstadt Hamburg. im August 2017 an, privaten Unterricht zu Hausgemeinschaft Shanghaiallee in der nehmen. Nach nur vier Monaten bestand HafenCity: „Es ist nicht nur die Arbeit für Ihr Herkunftsland hat nach dem Zerfall der sie die Prüfung am Goethe-Institut und mich, sondern ein Ort, der mich glücklich Sowjetunion 1991 – Sopiko Aspanidze ist erhielt ein Sprachzertifikat. „Das war der macht, es ist wie eine Familie.“ Jahrgang 1992 – einige Erschütterungen erste Schritt meiner deutschen Traumreise.“ erlebt: einen wirtschaftlichen Der Grenzübertritt im Januar 2018 war Frank Köhler hat sich eingesetzt für Totalzusammenbruch, 2003 eine nicht schwierig. Seit März 2017 gilt für Sopiko Aspanidze und „nie aufgehört zu Revolution, 2008 einen Fünf-Tage-Krieg georgische Staatsbürger Visumfreiheit. glauben, dass“ sie „wieder ein Mitglied des mit Russland. Um die Gleichberechtigung Teams sein“ werde. „Um alle bürokratischen der Geschlechter stand es in der In Hamburg hat die damals 26-Jährige Sachen“ habe er sich gekümmert, auch Kaukasusrepublik lange Zeit schlecht. Die schnell Freunde gefunden. „Jeder ist sehr um die Aufenthaltserlaubnis, die sie Arbeitslosigkeit ist hoch und in weiten nett, und ich denke, dass ich großes Glück bekam, weil sie als Pflegekraft arbeitet. Teilen des Landes herrscht Armut. Der habe, diese Menschen in meinem Leben Bei der Finanzierung des Schulgeldes für Auslandsrundfunk der Bundesrepublik, zu haben.“ Glück ist es wohl einfach nicht die fachschule für soziale arbeit erhält die die Deutsche Welle, bezifferte 2018 das nur: Ihre positive Lebenseinstellung, ihre heute 29-Jährige keinerlei Unterstützung: Bruttoinlandsprodukt Georgiens pro Kopf Herzlichkeit und die große Dankbarkeit „Ich bin froh, alles von meinem Gehalt und Monat auf gerade einmal umgerechnet gegenüber Menschen, die sie unterstützen, bezahlen zu können und niemanden 280 Euro. In Deutschland erreichte es zur und für die Chancen, die sich ihr in Ham- zu stören. Hamburg ist eine Stadt der selben Zeit etwa 3.300 Euro. burg bieten, wecken Sympathie. Möglichkeiten, und es ist wichtig, diese Chancen weise zu nutzen.“ „Hamburg ist Am 10. Januar 2018 landet Sopiko Aspanid- ze auf dem Hamburger Flughafen. Geboren Manchmal plagt sie Heimweh: „Es ist un- ist sie in dem kleinen Bergort Aspindza im möglich, das Land, in dem man Süden Georgiens, aufgewachsen in der Hauptstadt Tiflis. Nach dem Abitur hat sie eine Stadt der geboren ist, und geliebte Menschen, besonders meine Eltern, nicht zu dort an der Medizinischen Universität im Fachbereich Public Health studiert, öffentli- Möglichkeiten“ vermissen.“ Doch Sopiko Aspanidze ist belastbar und sie packt die Dinge an. ches Gesundheitswesen und Gesundheits- Das merkt man an der Geschwindigkeit, management. Ihr sehnlichster Wunsch: ein mit der sie ihre E-Mails beantwortet. Die guter Arbeitsplatz im Gesundheitsbereich. Beruflich musste Sopiko Aspanidze starke Frau mit den dunklen langen Haaren „Ich habe in Tiflis dann auch gearbeitet, von vorne anfangen. Das hat sich ihre Möglichkeiten in Hamburg aber es gab keine großen Möglichkeiten.“ Fachkräfteeinwanderungsgesetz, in dem erkämpft: „Ich werde nicht aufhören, mich Trotz des abgeschlossenen Studiums und Universitätsabschlüsse aus Nicht-EU- weiterzuentwickeln und die beste Version obwohl sie immer in Vollzeit tätig war, ver- Staaten anerkannt werden, galt bei ihrer von mir zu erschaffen.“ diente sie so wenig, dass ihre Eltern sie un- Einreise noch nicht. Die junge Georgierin terstützen mussten. „Nach einiger Zeit war absolvierte einen Bundesfreiwilligendienst Auf die Frage, ob es Schwierigkeiten ich sehr enttäuscht, weil mir klar geworden in einer inklusiven Wohneinrichtung der gegeben habe auf ihrem Weg nach ist, dass mein Traum nie wahr werden wür- Leben mit Behinderung Hamburg gGmbH, Deutschland, antwortet die Georgierin: de, – zumindest nicht in Georgien." größter überkonfessioneller Anbieter der „Ich glaube nicht, dass ich irgendwelche Behindertenhilfe in Hamburg. Die Arbeit Schwierigkeiten hatte. Ich denke, es ist Bei Sopiko Aspanidze reifte der Entschluss, mit Menschen mit Behinderung machte ihr sehr wichtig, dass man sich immer an die aufzubrechen und das Land, das sie liebt so viel Spaß, dass sie dort weiter arbeiten Regeln hält. Alles andere kommt mit der und in dem sie Kindheit, Jugend und das wollte, nicht als Freiwillige oder Hilfskraft, Zeit.“ Sicher ist es diese Einstellung, die es junge Erwachsenenalter erlebt hatte, zu sondern als ausgebildete Fachkraft. Der einem leichter macht, in ein fremdes Land verlassen. Über Deutschland hatte sie im Leiter der Einrichtung, Frank Köhler, half ihr, aufzubrechen. ‹‹‹ 13
TITELTHEMA Urvertrauen und glückliche Bege g n u n g e n Von einem auf den nächsten Moment musste sich Philip Oprong Spenner, auf sich allein gestellt, auf den Straßen von Nairobi durchkämpfen. Er war gerade neun Jahre alt. Und dennoch sieht er diesen Augenblick rückblickend als Aufbruch. Text: Johannes Wendland, Fotos: Axel Nordmeier Herr Spenner, Ihr Weg begann als Waise Motivation beziehen, um weiterzumachen. Bücher konnten wir uns nicht leisten, nur in einem Dorf in Kenia und führte über Etwa, dass es gelang, etwas Essbares zu die Bibel, die damals kostenlos verteilt das Dasein als Straßenkind in der Groß- klauen, ohne erwischt zu werden. Oder sich wurde. Durch die Bibel lernte ich zu stadt Nairobi und verschiedene Heime nicht zu vergiften, wenn ich Essen auf der lesen und das Lesen zu lieben. Alle diese nach Deutschland, wo Sie eine Hoch- Müllhalde gesucht habe. Oder nicht, wie Geschichten, die von der zweiten Chance schulausbildung absolviert haben und viele andere, zu Drogen zu greifen. im Leben und vom Aufstieg aus den heute als Lehrer in einer Stadtteilschule unmöglichsten Situationen handelten, „Wir sollten uns in Hamburg arbeiten. Ein Leben voller hatten einen roten Faden: die Hoffnung Aufbrüche, Umbrüche und Veränderun- trotz vermeintlich auswegloser Situationen. gen. Welcher Aufbruch hat Sie rückbli- Und das gab mir das Urvertrauen in ckend am stärksten geprägt? Ich war neuneinhalb Jahre alt, als mein als Handelnde ein höheres Wesen, das einen begleitet und hilft, nicht aufzugeben. Leben als eines von 75.000 Straßenkindern in Nairobi begann. Ich habe jetzt selbst eine sehen, um mit Trotz des täglichen Kampfes ums Tochter in diesem Alter. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es wäre, wenn schwierigen Überleben hat diese Hoffnung gehalten? Ja, aber es waren natürlich auch glückliche sie von heute auf morgen komplett auf sich gestellt wäre und allein klarkommen und Situationen Zufälle und vor allem Begegnungen, die mich schließlich hierhergeführt haben. überleben müsste. Aber damals habe ich es geschafft und heute bin ich dort, wo ich fertigzu- So kam ich irgendwann in ein Waisenheim, wo ich als Einziger ugandische Wurzeln hat- bin. Und deshalb war das für mich bei aller Härte ein wichtiger Aufbruch. werden“ te. Das führte zu Diskriminierung aufgrund meiner anderen ethnischen Herkunft. Ich musste Wäsche waschen, für die anderen Sie wurden von Ihrer Tante in der Sie sprechen von Urvertrauen. beim Kochen mithelfen. Dort absolvierte Großstadt allein gelassen und mussten Woher kann das in einer solchen zu dieser Zeit eine junge Irin ihr Freiwilliges sich durchschlagen. Was waren Ihre Lebenssituation stammen? Soziales Jahr und hat dieses Unrecht beob- ersten Schritte? Bereits mit anderthalb habe ich meine achtet. Und sie ließ es nicht stehen – sie hat Als Straßenkind hat man nicht Zeit, sich Eltern verloren und kam zu einer Tante, mir Unterricht gegeben und durchgesetzt, Gedanken zu machen, was passieren die selbst zwei kleinere Kinder hatte. Für dass ich wieder zur Schule gehen konnte. könnte. Ich habe nur an den nächsten sie war ich ein Maul mehr, das gestopft Schritt gedacht, was mir, von heute aus werden musste. Ich musste für die Wie wäre Ihr Leben ohne die Hilfe von betrachtet, sehr geholfen hat. Es ging Kleineren sorgen, kochen, sie baden und anderen verlaufen? immer nur darum, die nächste Mahlzeit so weiter. Weil ich es nie richtig gemacht Ich hatte meinen inneren Kompass, zu bekommen, den nächsten Tag zu habe, gab es Prügel. Meine Tante war sehr aber ich hatte auch das Glück, dass ich überstehen. Natürlich hatte ich so etwas arm und musste sich auch verkaufen. Ich immer wieder Menschen auf meinem Weg wie einen inneren Kompass. Ich hatte kann ihr dennoch verzeihen, weil sie alles begegnet bin, die bereit waren, mir zu das Urvertrauen, dass alles gut wird. zusammengekratzt hat, um mir eine Art helfen. Nachdem die Studentin wieder weg Aus kleinen Erfolgen konnte ich neue Grundschulbildung zu ermöglichen. war, war ich wieder nur geduldet. 14
Titelthema‹‹‹ "Ich hatte meinen inneren Kompass, aber ich hatte auch das Glück, dass ich immer wieder Menschen auf meinem Weg begegnet bin, die bereit waren, mir zu helfen." 15
››› Titelthema „In meinem Umgang mit den Kindern geht es darum, ihnen Vertrauen zu schenken – Vertrauen in diese Fähigkeiten, die sie mitbringen.“ selbst zu helfen. Sie brauchen das Vertrau- en, dass sie auf ihrem Weg auch Leute finden, die ihnen helfen, Eltern oder Freunde. Und das Vertrauen, diese Netz- werke auch zu nutzen und sich auf sie zu verlassen – diese Hilfe also anzunehmen. Aber vor allem sollen meine Schüler*innen das Vertrauen mitnehmen, dass, egal was passiert, alles gut wird unter der einen Bedingung, dass sie weiterkämpfen. Viele Schüler*innen kommen aus Situationen, in denen der Start ins Leben sehr schwer war, wenn auch unter ganz anderen Umständen in einem reichen Land wie Deutschland. Da ist von Haus aus erst einmal kein Urvertrauen vorhanden. Wie weit können Sie das im Nachhinein vermitteln? Wichtig ist, dass sie sich nicht als Opfer betrachten. Wir sollten uns immer als Handelnde sehen, um mit schwierigen Situationen fertigzuwerden. Ich habe Respekt vor der Unterschiedlichkeit der Menschen, habe Respekt, dass Beeinträch- tigungen oder Behinderungen ihr Leben prägen können. Aber wir leben in einer Gesellschaft mit ganz vielen Chancen, in der Bildung kostenlos ist und es so viele Möglichkeiten gibt, um die uns die Kinder in vielen Ländern nur beneiden können. Ich war aber von Nutzen, weil ich in der Wenn Schüler*innen diese Chancen Schule so gut war, dass man mit mir als nicht nutzen, die Schule schleifen ››› Zur Person Vorzeigeobjekt Spenden sammeln konnte. lassen oder abbrechen – wie gehen Und in diesem Zusammenhang ergab Sie damit um? Ärgern Sie sich darüber? Philip Oprong Spenner, 1979 in Kenia sich auch die Patenschaft mit einem Objektiv betrachtet erleben diese Kinder geboren, ist Lehrer an einer Hamburger Arzt, der meine weitere nicht das, was ich erlebt habe. Doch das Hamburger Stadtteilschule. Er wurde Schulbildung finanziert hat. Ich habe selbst subjektive Empfinden ist vergleichbar. in einem kenianischen Dorf geboren. etwas aus diesen Chancen gemacht, aber Die Einsamkeit, als es schon wieder Nacht Seine Eltern starben früh und er ohne diese Menschen hätte ich es nicht wurde und ich die Nacht allein mit mir, musste einen Teil seiner Kindheit und schaffen können. ungeschützt, verbringen musste – die ist Jugend obdachlos auf den Straßen durchaus vergleichbar. Etwa wenn ein von Nairobi verbringen. Über die Bei Ihrer Arbeit als Lehrer geben Sie Kind Tag für Tag erleben muss, dass es sich Patenschaft eines Hamburger Arztes Ihre Erfahrungen an junge Menschen das nicht leisten kann, was für die anderen kam er nach Deutschland, wo er weiter, die in einer anderen Gesellschaft Kinder in der Umgebung selbstverständlich seine Schul- und Hochschulausbildung aufwachsen und aus ganz anderen ist. Es geht darum, diesen Kindern abschloss. Gründen benachteiligt sind. Wird Ihre klarzumachen: Ja, ich verstehe deine Lage, Er spricht sechs Sprachen und leitet Geschichte von den Schüler*innen als aber du kannst immerhin in die Schule den Verein Kanduyi Children zur Motivation wahrgenommen? gehen und deine Chancen dort nutzen. Förderung von Jugendlichen in Kenia. Kinder sind kein leeres Blatt, das vollge- Aber ich wäre der Letzte, der nicht In dem Buch „Move on up – Ich kam schrieben wird. Sie bringen Fähigkeiten mit. Verständnis dafür hätte, wenn manche aus dem Elend und lernte zu leben“ In meinem Umgang mit den Kindern geht Kinder das nicht schaffen und aufgeben. (Ullstein Verlag) schilderte er 2011 es darum, ihnen Vertrauen zu schenken Es ist immer eine Kombination aus sein Leben. – Vertrauen in diese Fähigkeiten, die sie verschiedenen Faktoren, und glückliche mitbringen. Damit sie sie nutzen, um sich Begegnungen sind da sehr wichtig. ‹‹‹ 16
Titelthema‹‹‹ i n d e r TITELTHEMA Gebärden für Kleins t k Sprache ist das wichtigste Mittel in unserem täglichen Miteinander. Sie ermöglicht direkte Kommunikation, hilft uns, Dinge zu unterscheiden, zu- und einzuordnen. Sprache klärt Missverständnisse und schafft Vertrauen. Text: Ingo Briechel, Fotos: Axel Nordmeier und privat B ereits im frühen Kindesalter ist die Lebensbereichen auf Mitarbeitende treffen, lichen Behinderungen dabei, ihren ganz geistige Entwicklung eng mit dem die deren persönliches Kommunikationssys- eigenen Weg zu finden, sich ihrer Umwelt Erlernen von Sprache verknüpft. tem verstehen und anwenden können. Ein mitzuteilen. Die Expertin für Unterstützte Über die sprachliche Zuwendung der großer Schritt weiter Richtung Inklusion“, Kommunikation nutzt in ihrer Arbeit ins- Eltern lernen die Kleinsten, eine Vorstellung sagt Hanne Stiefvater, Vorständin der ESA. besondere auch Gebärden – also Handzei- von Dingen und Handlungen zu bekommen chen, die sinnbildlich für bestimmte Dinge, sowie ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Doch Seit 2015 unterstützt Gesine Drewes in der Situationen oder Bedürfnisse stehen. „Wir was ist mit den Kindern, die aufgrund einer alsterdorf assistenz west (aawest) Men- versuchen, bei der Förderung von Men- Behinderung verzögert Zugang zur Sprache schen mit geistigen und schwer körper- schen mit ihnen je nach ihren individuellen finden? Hier unterstützen Gebärden, die Eltern und therapeutische Begleiter*innen mit ihnen lernen. Sie nimmt mit dem KUGEL-Programm vor allem die Eltern in den Fokus ihrer Arbeit: Heike Burmeister (WOI) „Kinder benötigen eine Vielzahl an Vorbildern und Gelegenheiten, um so etwas komplexes wie Sprache zu erlernen. Gebärden sind gerade in dieser frühen Phase sehr hilfreich" Gesine Drewes Damit wird einer der Grundsteine für die Nutzung von Unterstützter Kommuni- kation (UK) gelegt, womit alternative Ausdrucksmöglichkeiten gemeint sind, die Lautsprache ergänzen oder ersetzen. Das können Handbewegungen, Gesichtsausdrü- cke, Bilder oder technische Hilfen sein. „Die Evangelische Stiftung Alsterdorf arbeitet derzeit in einem bereichsübergreifenden UK-Projekt daran, dass Menschen, die unterstützt kommunizieren, in allen ihren 17
››› Titelthema Möglichkeiten zu kommunizieren“, erklärt gerfertigkeit ausführen können. Sie werden von Maydell überzeugt. Gemeinsam mit Gesine Drewes. „Hierbei sind die verschie- zumeist in Alltagssituationen wie beim Spie- Dr. Anke Buschmann haben die erfahrenen denen Mittel der Unterstützten Kommuni- len, Essen, Trinken oder beim Zähneputzen Logopädinnen am Werner Otto Institut kation ein wichtiger Baustein.“ parallel zum gesprochenen Wort eingesetzt. (WOI) KUGEL entwickelt. Der eingängige Die Gebärdensprache als eigenständige Name steht für Kommunikation mit un- Gebärden: schnell und unmittelbar Sprache mit umfangreichem Wortschatz terstützenden Gebärden – ein Eltern-Kind- Gerade Kinder zwischen dem ersten und und eigener Grammatik findet in gehörlo- zweiten Lebensjahr verstehen eine Menge, haben aber in der Regel selbst nur wenige sen Familien ihre Anwendung, wo Eltern die Gebärdensprache natürlicherweise an ihre „Gebärden bilden die sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten zur Kinder vermitteln.“ Brücke zum Wort Verfügung: „Kinder benötigen eine Vielzahl an Vorbildern und Gelegenheiten, um so Für hörbehinderte Menschen wie Ines und fördern die etwas Komplexes wie Sprache zu erlernen. Gebärden sind gerade in dieser frühen Phase Helke, Diplom- Sozialpädagogin bei der aawest und Inklusionsbotschafterin, ist sie Sprachentwicklung" sehr hilfreich. Sie sind immer verfügbar, denn ein wichtiger Zugang zu Bildung und Inter- Dorothee von Maydell ich setze meine Hände als Kommunikations- aktion: „Ich habe erst mit zwanzig Jahren mittel ein. Gebärden sind für Kinder schnell zur Deutschen Gebärdensprache gefunden. Gruppenprogramm. „Wir unterstützen mit auszuführen“, so Gesine Drewes. „In der Ar- Vorher habe ich lautsprachlich kommuni- KUGEL Eltern, deren Kinder aufgrund ihrer beit mit Kleinstkindern mit komplexen Beein- ziert. In der Sonderschule waren Gebärden Entwicklungsstörungen nur sehr langsam trächtigungen setzen wir Gebärden ein, um verboten und wir mussten von den Lippen in die Lautsprache kommen und die nicht deren Spracherwerb gezielt zu fördern. Aber ablesen und sprechen. Der erste Kontakt wie Gleichaltrige im Alter von eineinhalb auch Eltern von Kindern ohne Behinderung zur Deutschen Gebärdensprache hat mein bis zwei Jahren zu sprechen beginnen“, nutzen Gebärden, etwa um die gemeinsame Leben nachhaltig positiv geprägt.“ fasst Dorothee von Maydell ihre Arbeit Bindung zu stärken und früh Freude an der zusammen. Nach der Erfahrung der KUGEL- Kommunikation zu vermitteln.“ Anwendungsbeispiele: Entwicklerinnen brauchen die Eltern eine KUGEL und babySignal längere, kontinuierliche Begleitung, um das Also lernen die Kleinsten schon die „Eltern sind die wichtigsten Bezugspersonen Gebärden wirklich im Alltag umzusetzen. Gebärdensprache? ihrer Kinder und brauchen beim Erlernen „Kinder fangen nur dann an, Gebärden zu „Hier muss man klar unterscheiden“, macht der Gebärden eine gute Anleitung. Nur verstehen und später selber einzusetzen, Gesine Drewes deutlich. „In den bereits wenn die Eltern die Gebärden im Alltag wenn ihre Eltern sich mit dieser zunächst genannten Fällen werden vereinfachte kontinuierlich einsetzen, werden ihre Kinder ungewohnten Kommunikation identifizie- oder verkürzte Gebärden genutzt. Das sind in die Gebärdenanwendung gelangen.“ ren und sie mit Engagement und Freude Handzeichen, die die Kleinen mit ihrer Fin- Davon sind Heike Burmeister und Dorothee leben“, ergänzt Heike Burmeister. KUGEL 18
Beziehen Stellung zum Thema: Dorothee von Maydell, Gesine Drewes, Ines Helke und Kristina Enghusen (v. l. n. r) setzt dabei neben der Vermittlung von Gebärden für die Kommunikation mit Klein- konkretem Rüstzeug vor allem auf die Hilfe kindern. Das Kursmodell stellt die Freude an zur Selbsthilfe. In den sieben Modulen des der gemeinsamen Kommunikation zwischen Programms bekommen die Eltern Unter- Eltern und Kind in den Mittelpunkt. „Die im stützung bei der Auswahl und spielerischen babySignal-Kurs gezeigten Gebärden und Einführung erster Gebärden. Sie erarbeiten Spiele sind als Angebote und nicht als frühes gemeinsam mit anderen Eltern, wie sie Lernprogramm zu verstehen“, sagt Kristina ››› KUGEL – Projekt für Gebärden beim Singen, Spielen und im Enghusen. „Für mich sind sie eine Form nicht oder kaum Familienalltag verwenden können. Darüber zur Stärkung der Selbstwirksamkeit und sprechende Kleinkinder hinaus bieten die Treffen mit anderen Eltern der Beziehung von uns Eltern mit unseren entwicklungsverzögerter Kinder Raum, sich Kindern.“ Bereits mit ihrem jetzt vierjährigen Kinder mit Beeinträchtigungen werden über ihre ureigenen Erfahrungen und Her- Sohn hat Kristina Enghusen die einfachen von ihren Eltern teilweise nur schwer auf ausforderungen auszutauschen. „Bei KUGEL Gebärden eingeübt – ganz spielerisch, ohne sprachlichem oder anderem Weg erreicht. lernen Eltern oft erstmalig andere Familien Druck und mit ganz viel Spaß. „Das Schöne Mit gravierenden Folgen: Die Beziehung mit Kindern kennen, die in ihrer Entwicklung am Gebärden ist die Vorhersehbarkeit für der Kinder zu ihren Eltern kann stark eingeschränkt sind. Das Gefühl, nicht allein die Kinder. Durch sie kann ich ankündigen: belastet werden. Diese Kinder zeigen zu sein, stärkt und motiviert sie sehr“, sagt Ich nehme dich jetzt hoch. Wir gehen raus. häufig Entwicklungsverzögerungen bei Dorothee von Maydell. „Viele Eltern haben Achtung, es wird laut!“, schildert Enghusen der Motorik, der Sprachentwicklung anfänglich Angst, der Einsatz der Gebärden ihre Erfahrungen. „Das eigene Gebärden und der Intelligenz. Die unterstützende könnte die Sprachentwicklung ihrer Kinder nimmt den Kindern auch den Frust, wenn Gebärdensprache ist ein erprobtes hemmen. Durch das KUGEL Programm er- sie ab dem ersten Lebensjahr schon viel Mittel für eine bessere Verständigung, fahren die Eltern: Das Gegenteil ist der Fall. verstehen, sich aber noch nicht richtig über sie muss jedoch erlernt werden. Die Gebärden erleichtern die Kommunikati- Sprache mitteilen können. Es geht beim Mit 5.000 € können 25 Familien ein on, und das Interesse ihrer Kinder am Dialog Gebärden also um die Verfeinerung unserer Eltern-Kind-Kommunikationstraining nimmt zu. Gebärden bilden die Brücke zum Kommunikation und um mehr Achtsamkeit.“ absolvieren. Wort und fördern die Sprachentwicklung.“ Auch der große Sohn hat das Gebärden für Weitere Informationen zu: sich übernommen und kommuniziert jetzt Kommunikation mit unterstützenden Auch für Kristina Enghusen haben Gebärden ganz selbstverständlich mit seinem zehn Gebärden – ein Eltern-Kind-Gruppen- einen hohen Wert im gemeinsamen Alltag Monate alten Bruder. programm (KUGEL) unter: mit ihren Kindern. Die Sozialpädagogin an https://www.werner-otto-institut.de/index/ der fachschule für soziale arbeit der ESA Alle gezeigten Ansätze unterstützen das eltern/kugel-seminar.html nutzt in der Frühkommunikation mit ihren Verständnis von Gebärden in der Gesell- beiden Söhnen babySignal, ein System von schaft insgesamt. ‹‹‹ 19
David Olla freut sich schon sehr auf seine erste eigene Wohnung D er Baakenhafen soll ein „Quartier der Generationen“ werden, in dem un- terschiedlichste Menschen leben und den Stadtteil gemeinsam entwickeln. Die alsterdorf assistenz west (aawest) ist hier mit einem besonderen Projekt vertreten: In der Baakenallee und in der Versmannstraße entstehen mehrere Wohnungen, bei denen Klient*innen, die bei der aawest ambulante Leistungen in Anspruch nehmen, direkte Mieter*innen sind. Eine Besonderheit ist, dass das Projektteam sowie die späteren Bewohner*innen schon bei der Bauplanung mit einbezogen wurden. Der Baakenhafen ist das erste Projekt, in dem alle modernen Methoden der Eingliederungshilfe – ressourcenorientierte Assistenzplanung, technisch gestützte Assistenz und Unter- stützte Kommunikation – von vorneherein mitgedacht und kontinuierlich genutzt werden. Das Quartier ist also nicht nur ein Aufbruch für die zukünftigen Mieter*innen, sondern auch für die aawest, die hier eine selbstbewusste Weiterentwicklung ihrer Assistenzkultur vollzieht. Technische Innovationen im Baakenhafen Pamela Heiser, Fachberaterin für tech- nisch gestützte Assistenz und Unterstützte Kommunikation begleitete das Projekt von Baubeginn an. „Die frühe Einbindung er- möglichte uns mit Unterstützung mehrerer Spender, bauliche Voraussetzungen für technische Alltagsunterstützung zu schaf- fen“, erläutert sie. Die Smart-Home-Technik 20
Titelthema‹‹‹ TITELTHEMA Baakenhafen: ein ganz besonderer Aufbruch Als Hafengebiet mit moderner Architektur ist die Hamburger HafenCity per se ein Ort des Aufbruchs. Durch ein innovatives Angebot der alsterdorf assistenz west können hier jetzt auch Menschen mit hohem Assistenzbedarf neu starten – in die erste eigene Wohnung und in ein Leben mit hoher Autonomie. Text: Melanie Nähring, Foto: Axel Nordmeier bietet viele Möglichkeiten: Elektrische Tür- können zum Beispiel Freunde, Familie und kleinen Schwestern ist das keine gute Um- und Fensteröffner, Lichtsteuerung und Not- Vereinsangebote sein. Dann erst folgen gebung. Ich möchte eine ruhigere, familien- ruftechnik sind nur einige. Das Projektteam Überlegungen zu professionellen Dienst- freundliche Umgebung. entwickelte ein variables Konzept für die leistungen. „Die Personenzentrierung wird Installation technischer Hilfen. „Die Basis, von Anfang an konsequent umgesetzt. Das Warum gerade die HafenCity? zum Beispiel Stromquellen über Fenster- sichert ein selbstbestimmtes Leben, auch Ich finde es super, dass das alte Industrie- und Türzargen, ist da – welche technischen für Menschen mit hohem Assistenzbedarf“, gebiet so modern geworden ist. Es gibt viel Geräte die Mieter dann einbauen, bestim- so Judith Beliaeff, Teilhabelotsin im Ein- Grün, viele Freizeitmöglichkeiten. Ich kann men sie selbst“, bringt es Pamela Heiser auf gangsmanagement. es kaum erwarten, die Aussicht auf meinem den Punkt. Balkon zu genießen! Mir gefällt der Blick auf Im Sommer ziehen die ersten Mieter*innen das Wasser. Ein Maßanzug – kein Anzug von ein. Jeder mit ganz persönlichen Vorstel- der Stange lungen vom neuen Wohnen. David Olla ist Wo brauchen Sie Unterstützung? Das gilt auch für alles andere im Baaken- einer von ihnen. Für ihn sei seine Wohnung Ich möchte eine feste Bezugsperson, auf die hafen: Der Wille der Mieter*innen steht im der Beginn eines neuen Lebensabschnittes, ich mich verlassen kann. Ich brauche jeman- Mittelpunkt – nicht nur bei den technischen sagt er. den, der mir bei Behördenangelegenheiten Gegebenheiten, sondern bei allen angebo- hilft und mich bei dem richtigen Umgang tenen Dienstleistungen. Der Entstehungs- mit meiner EC-Karte unterstützt. Vieles prozess der Assistenzdienstleistung selbst ist das große Novum am Projekt Baakenhafen. „Die Mieter mache ich schon selbst – zum Beispiel nutze ich mein Handy, um mir Termine zu merken. „So wie das gesamte Quartier neu entsteht, so gibt es keine vorgefertigten Strukturen, gestalten Warum ist die Wohnung für Sie ein an die sich die Mieter*innen anpassen müs- sen. Sie gestalten diese aktiv mit“, erläutert das Quartier Aufbruch? Ich möchte noch selbstständiger und Tobias Fink, Projektleitung des Assistenz- angebotes Baakenhafen. aktiv mit" unabhängig von meiner Mutter werden. Ich werde an der Abendschule meinen Hauptschulabschluss nachholen und einen Eine zentrale Rolle spielen dabei die Herr Olla, wie sieht denn Ihre jetzige Job auf dem ersten Arbeitsmarkt suchen. Teilhabelots*innen: Sie unterstützen Wohnsituation aus? Im Moment arbeite ich auf einem Außen- Menschen mit Assistenzbedarf von Beginn Ich wohne in einer betreuten Wohngemein- arbeitsplatz von alsterarbeit bei Lufthansa ihrer Anfrage an dabei, ihre persönlichen schaft in St. Georg. Ich lebe gerne in der Technik. Flugzeuge sind meine große Interessen zu klären und zu formulieren. WG, zwei meiner Mitbewohner sind gute Leidenschaft. Irgendwann möchte ich in der Darauf aufbauend werden gemeinsam Freunde geworden. Mit ihnen bin ich vor Flugzeughalle arbeiten. Ich will ins Erwach- passgenaue Unterstützungsarrangements Corona oft ausgegangen. Wir gehen auch senenleben aufbrechen. entwickelt, vorrangig bestehend aus oft Fußball spielen. Aber ich fühle mich in eigenen Ressourcen der Klient*innen. Das St. Georg nicht wohl. Auch für meine zwei Vielen Dank für das Interview! ‹‹‹ 21
Mirjam Vinogradova geht ihr Studium trotz großer Schwierigkeiten bei der Bewilligung von Kommunikationshilfen beherzt an TITELTHEMA „Etwas Neues gestalten“ Im Säuglingsalter verlor Mirjam Vinogradova infolge einer Hirnhautentzündung ihre Fähigkeit zu hören. Heute studiert die 39-Jährige Gesundheits- und Sozialmanagement an der Hamburger Fernhochschule in Alsterdorf. Angemessene Unterstützung wegen ihrer Gehörlosigkeit musste sie sich bei den Kostenträgern erst erkämpfen. Text: Bettina Mertl-Eversmeier, Foto: privat 22
Titelthema‹‹‹ Frau Vinogradova, wie war Ihr berufli- Richtung unseres Lebens ändern. Leben der Gehörlosenkultur lernen können. cher Werdegang? Studieren Sie berufs- bedeutet für mich stetige Entwicklung. Ich möchte mich mit meiner Gehörlo- begleitend an der Hamburger Fernhoch- sigkeit in die Gesellschaft einbringen schule (HFH)? Welche Aufbrüche gab es in Ihrem Leben? und sie mitgestalten. Dank der groß- Mein beruflicher Weg war turbulent: Ich habe viele Aufbrüche erlebt, freiwil- zügigen Spende einer Stiftung konnte Während ich in meinem Ausbildungsberuf lige und unfreiwillige. Ein maßgeblicher ich Gebärdensprachdolmetscher*innen als Informatikerin gearbeitet habe, weckte Aufbruch, der mein Leben auch in Zukunft bezahlen, ohne die ich nicht hätte studieren die ehrenamtliche Tätigkeit für einen Gehör- beeinflussen wird, war es, das Studium zu können. Eine wunderbare Unterstützung losenverband mein Interesse für den Ver- beginnen. war es auch, dass meine Frau mir zugehört waltungsbereich. Als angestellte Bürolei- und mich verstanden hat, wenn ich fast „Gehörlose terin beim Gehörlosenverband Hamburg verzweifelt bin. e. V. habe ich mir dann den Status einer Frauen können Verwaltungsangestellten erarbeitet. Um Welches Ziel hatten Sie dabei vor Augen? meine Fähigkeiten zu erweitern, habe ich Mein Nahziel ist es, mein Studium abzu- in Führungs- das berufsbegleitende Bachelorstudium schließen, damit ich mich beruflich weiter Gesundheits- und Sozialmanagement an entfalten kann. positionen der HFH begonnen. Derzeit bin ich in Berlin in der Verwaltung einer inklusiven bilingu- Welchen Herausforderungen mussten alen Kindertagesstätte für gehörlose und Sie sich stellen? hörende Kinder tätig, in der Lautsprache und Gebärdensprache verwendet werden. aufsteigen" Seit meiner Kindheit bin ich Schwierigkeiten aufgrund meiner Gehörlosigkeit gewohnt. Die Hürden, die sich während meines Sie haben als Baby nach einer Hirnhaut- Gab es dafür spezielle Auslöser? Studiums auftürmten, haben mich trotzdem entzündung Ihr Hörvermögen verloren. Ich hatte den Eindruck, dass wir uns als überrascht: Mein Antrag auf Kostenüber- Wie kommunizieren Sie mit Hörenden? Gesellschaft in einer extrem spannenden nahme für kommunikative Hilfen wurde Lesen Sie von den Lippen ab? Phase befanden und immer noch befinden. immer wieder abgelehnt und erst nach Die Formulierung „Ablesen von den Lippen“ Im Sozial- und Gesundheitswesen gibt es kräftezehrendem Kampf und mithilfe einer ist irreführend: Viele Mundbewegungen für tiefgreifende Veränderungen. Eine nicht auf Anwältin zum vierten Semester bewilligt. verschiedene Wörter sind kaum zu unter- Gewinn ausgerichtete Organisation wie der Ich musste mich als einzige Gehörlose scheiden. Unter optimalen Bedingungen Gehörlosenverband Hamburg e. V. strebt unter hörenden Mitstudent*innen und kann man etwa 30 Prozent des Gesproche- heute nach Wirtschaftlichkeit, weil er einem Dozent*innen fast ohne Kommunikati- nen verstehen, 70 Prozent müssen erraten starken Wettbewerbsdruck ausgesetzt ist. onshilfen durch die ersten drei Semester werden, was häufig zu Missverständnissen Das Studium des Gesundheits- und Sozial- kämpfen – abgesehen von den erwähnten führt. Das „Absehen vom Mund“ – so die managements qualifiziert mich genau für spendenfinanzierten. Nach der Kostenüber- treffendere Bezeichnung – eignet sich für die spannenden Arbeitsbereiche, die infolge nahme erforderte es viel Zeit und Energie, kurze Gespräche zwischen Gehörlosen dieser Veränderungen entstehen. Aber die Assistenzleistungen zu organisieren. und Hörenden, die ihre Lippen deutlich auch noch für ein anderes Gebiet: Schon Alles das hat meine Studienzeit unnötig bewegen. In unserer Kita müssen alle lange beschäftige ich mich mit der Gehör- verlängert. Fest steht: In einem hören- Kolleg*innen die Gebärdensprache beherr- losenkultur. Gehörlose Menschen werden den Studienumfeld fehlen auf Gehörlose schen. Bei wichtigen Gesprächen, an denen in Politik, Kultur und Bildung nach wie vor zugeschnittene Beratungsangebote und Gehörlose und Hörende teilnehmen, ziehen nicht gleichberechtigt behandelt. Dort will Lern- und Kommunikationsstrategien. wir Gebärdensprachdolmetschende oder ich mich weiter engagieren. Immer wieder Energie zum Weitermachen Kommunikationsassistent*innen für Gebär- aufzubringen war für mich letztendlich die densprache hinzu. Der wesentliche Unter- Gab es Vorbilder, an denen Sie sich größte Herausforderung. schied zwischen beiden liegt in der besseren orientiert haben? Ausbildung der Dolmetscher*innen, deren Eines meiner wichtigsten Vorbilder ist die Was planen Sie für Ihre Zukunft? Einsatz aber teurer ist. Neben diesen nutze gehörlose Professorin Sabine Fries, die an Wenn ich mich etwas von den Anstrengun- ich in meinem beruflichen Alltag auch der Hochschule für angewandte Wissen- gen des Studiums erholt habe, werde Mitschreibkräfte und Telefonvermittlungs- schaften in Landshut Gebärdensprachdol- ich mit meinem Arbeitgeber über die dienste als Arbeitsassistenzen. metschen unterrichtet. Ihr Weg zeigt, dass Möglichkeit reden, eine Führungsaufgabe gehörlose Frauen in Führungspositionen in meinem Tätigkeitsbereich zu überneh- Was verbinden Sie damit aufzubrechen? aufsteigen können. Das strebe ich auch an. men. Ansonsten wäre mein Traumjob Aufbrüche können freiwillig oder unfrei- eine Spitzenposition in der Teilhabebera- willig sein. Persönliche Ziele und Träume Was hat Sie angespornt und wer tung oder im Bildungsbereich. Und: bringen uns dazu, uns auf den Weg zu hat Sie unterstützt? Ich wünsche mir, meine Kraft nicht mehr etwas Neuem zu machen. Auch wenn wir Meine grundlegende Motivation beim Verdauen von Altem verbrauchen Leid erfahren und beispielsweise unfreiwillig besteht darin, die Frage zu beantworten, zu müssen. In Zukunft möchte ich etwas Abschied nehmen müssen, kann das die was die Mehrheitsgesellschaften von Neues gestalten. ‹‹‹ 23
Sie können auch lesen