Impulse - Der Besen des Hexenmeisters - EKD Digital
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-Impulse Beiträge zur Religionspädagogik aus EKKW und EKHN 2 20 Der Besen des Hexenmeisters Vom Fluch und Segen künstlicher Intelligenz INKLUSIVE CORONA-Sonderheft mit Veranstaltungsprogramm des RPI
-Impulse 2 | 20 6. Jahrgang EDITORIAL | Nadine Hofmann-Driesch, Anke Kaloudis, Christian Marker, Uwe Martini, Katja Simon..................... 1 PERSONEN & PROJEKTE .................................................................................................................................... 2 Vokationstagung in Kassel im Februar 2020 n Abschied und Willkommen n Islamischer Religionsunterricht in Hessen in Zukunft nicht mehr in Zusammenarbeit mit DITIB n Vokationstagung: „Religion im öffentlichen Raum“ n Die Jahreskonferenz Schulseelsorge im Februar 2020 n SEKD-Materialheft n EKD-Text: „Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit – Aufgaben und Chancen” KIRCHE & STAAT .................................................................................................................................................. 5 Neuer Erlass über den Religionsunterricht in Hessen n Handreichung des HKM zur Unterrichtssituation unter Corona n Text der Theologischen Kammer der EKKW: Christentum und Gewalt. Eine evangelische Perspektive ZUR PERSON | Interview mit Bischöfin Beate Hofmann.......................................................................................... 6 GRUNDSATZARTIKEL n Sarah Spiekermann: Zum künstlichen und natürlichen Wissen in der modernen Zeit ........................................ 10 FACHDIDAKTISCHE BEITRÄGE n Volker Dettmar, Anke Kaloudis, Karsten Müller: Tempo, Tempo! – Vom Umgang mit Zeit in Zeiten der Digitalisierung (Sek. I)......................................................................................................................... 13 n Ilona Nord, Manuela Wiedmaier: 75 Jahre nach Hiroshima: Sadako und die Papierkraniche (Sek. I).................. 15 n Jens Palkowitsch-Kühl, Eva-Maria Leven: „„Wie begegnen wir Künstlicher Intelligenz?“ (Sek. I) ........................ 18 n Anita Seebach: Was unterscheidet Mensch und Maschine? (Sek. II) ................................................................. 20 n Jochen Walldorf: Mensch und Maschine (Sek. II) .............................................................................................. 23 ZWISCHENRUF | Peter Kristen: Handyturm.......................................................................................................... 26 ANFORDERUNGSSITUATION | Anita Seebach: Der Segensroboter BlessU-2 der EKHN................................... 27 KONFIRMANDENARBEIT.................................................................................................................................... 30 n Martin Hahn, Jelena Kaletta, Marie-Christine Weidemeyer, Fabian Woizeschke: „Konfi-Tag: Influencer – Vorbilder für mein Leben“ (Konfirmandenarbeit) PRAXIS TIPPS ..................................................................................................................................................... 32 Artikel zum Thema in früheren Impulse-Heften n Fotogen n Filme zum Thema n Lit-Tipps n Bibel für das 21. Jahrhundert n Mensch, Maschine! n Bibelhaus n Chatstories – Biblische Geschichten erzählen n Mal etwas Neues wagen – Digitalisierung im Religionsunterricht TIEFGANG | Dr. Dr. h.c. Volker Jung...................................................................................................................... 40 Konfessionelle Interreligiöses Digitales Home- Differenzierung in Kooperation Lernen Lernen schooling heterogenen Lerngruppen Impressum Alle Links und Materialien sowie Zusatzinformationen zum Heft Herausgeber: Die RPI-Impulse werden herausgegeben vom Religionspädagogischen Institut finden Sie auf der Webseite (RPI) der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) und der http://www.rpi-impulse.de Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) Redaktion: Nadine Hofmann-Driesch, Anke Kaloudis, Christian Marker, Uwe Martini, Katja Simon Die RPI Impulse inkl. Material Lektorat: Ruth Bittner-Scherhans werden als „Open Educational Resources“ unter der Creative- Anschrift: RPI der EKKW und der EKHN, Rudolf-Bultmann-Straße 4, 35039 Marburg. Commons-Lizensierung BY-NC-SA Redaktionsbüro: Hanna Hirschberger, Tel. 0561-9307-137; (Namensnennung – nicht hanna.hirschberger@rpi-ekkw-ekhn.de kommerziell) veröffentlicht: Einzelheft: € 4,00 zuzüglich Versandkosten. Abonnement: € 10,- pro Jahr https://creativecommons.org/ (inkl. Versand). Alle Unterrichtenden für Evangelische Religion im licenses/by-nc-sa/3.0/de/ Kirchengebiet der EKKW und der EKHN erhalten die Hefte gratis. Layout: Ralf Kopp, Darmstadt · www.ralfkopp.biz Druck: Grafische Werkstatt, Kassel Auflage: 12.500 Exemplare ISSN: 2365-7960
EDITORIAL Aber die Beiträge sind gut. Die Arti- Bildung und Religionsunterricht dar- kel sind hilfreich. Deshalb haben wir legte. Hier gilt es besonders zu be- das Heft nun als Nummer 2/20 et- rücksichtigen, dass dieses Interview was umgestaltet und geben es nun bereits im Februar 2020 aufgezeich- nach den Sommerferien in Ihre Hän- net wurde, zu einem Zeitpunkt, als de. Die fachdidaktischen Beiträge noch niemand von der Corona- wurden dahingehend überarbeitet, Pandemie sprach. dass Sie für jeden Text (inkl. der Konfirmand*innenarbeit) eine alter- „Der Besen des Hexenmeisters“ native Bearbeitung online finden, die – mit dem Titel des Heftes und für das Unterrichten in der Distanz der Anspielung auf den „Zauber- (Homeschooling) gedacht ist. lehrling“ von Altmeister Goethe öffnen wir die Spannbreite der Ambivalenzen in Bezug auf die Im Heft finden Sie eine Beila- Bewertung des digitalen Fort- ge, mit der wir versuchen auf schrittes und insbesondere des die Auswirkungen der Coro- Entstehens Künstlicher Intelli- LIEBE LESERINNEN na-Pandemie und die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung genzen. Wir haben jene Geister gerufen. Wie kann es uns gelin- UND LESER, einzugehen. Außerdem finden Sie in der Beilage eine Über- gen, diese in den Dienst einer menschlichen und gerechten Zu- sicht unserer Fortbildungsver- kunft zu stellen? es war Anfang März 2020 als dieses anstaltungen zwischen Som- Heft der RPI-Impulse gerade fertig mer und Herbst, in der Regel wurde. Wir wollten die Artikel an un- Online-Fortbildungen. Diese Ein Wort in eigener Sache. Wir ha- seren Grafiker, Herrn Ralf Kopp ge- Übersicht ersetzt unsere übli- ben unsere Redaktion erweitert. ben, und dann war innerhalb weni- chen Programmhefte. Im Anke Kaloudis ist nun weiteres Mit- ger Tage alles anders. Durch den nächsten RPI-Impulseheft fin- glied in unserem Kreis (siehe Foto). Ausbruch des Corona-Virus waren den Sie dann eine Übersicht Wir freuen uns! wir nicht nur gezwungen relativ kurz- unserer Veranstaltungen von fristig unsere Fortbildungsveranstal- Herbst bis Schuljahresende. Die Redaktion hofft, Ihnen mit dieser tungen abzusagen, auch das Impul- Ausgabe ein anregendes und hilfrei- seheft konnten wir nicht mehr ches Impulseheft übergeben zu kön- fertigstellen. Wir hätten es an Schu- Ein besonderer Dank geht an nen. Über Rückmeldungen freuen len geschickt, die nicht mehr geöff- Bischöfin Beate Hofmann, die wir uns sehr! net gewesen wären und Sie, die uns für die RPI-Impulse ein Interview Lehrkräfte, hätten das Heft nicht er- gab, in dem sie – auch anhand bio- halten. Außerdem wäre es in der da- grafischer Daten – einiges von Ihren Herzliche Grüße maligen Situation des akuten Lock- Vorstellungen zum Thema religiöser Ihre Redaktion downs nicht angemessen gewesen mit einem Heft zum Thema „Künstli- che Intelligenz“ an Sie heranzutreten: ohne jeden Bezug zur aktuellen ge- sellschaftlichen und schulischen Si- tuation wäre es von allen Empfän- gern als „wie vom Himmel gefallen“ erlebt worden. Wir entschieden, das Heft vorerst nicht zu machen. Wenn Sie diese Zeitschrift, die kostenfrei an alle Unterrichtenden Ev. Religion im Kirchengebiet der EKKW und EKHN verteilt wird, nicht erhalten oder zu viele oder zu wenige Exemplare bekommen, wenden Sie sich bitte an unser Redaktionsbüro: hanna.hirschberger@rpi-ekkw-ekhn.de; Tel.: 0561-9307-137. Katja Simon, Christian Marker, Anke Kaloudis, Uwe Martini, Nadine Hofmann-Driesch (v.l.n.r.) -Impulse 2|20 | Editorial 1
PERSONEN & PROJEKTE VOKATIONSTAGUNG IN KASSEL IM FEBRUAR 2020 Trage ich im Himmel meine Brille und muss ich mich nach dem Tod für meine Taten verantworten? Sehe ich meine Verwandten wieder oder ist nach dem Tod doch alles aus? Mit diesen Fragen begannen Insa Rohrschneider und Anke Trömper die Vokationstagung in Kassel im vergan- genen Februar und schnell waren alle Teilnehmer mitten in der Diskussion und Auseinandersetzung rund um das Thema Auferstehung. Kreative Zugänge, theologische Standpunkte und eigene Glaubenserfahrung kamen gut ins Gespräch miteinander über ein Thema, das für den eigenen Glauben und als Inhalt des Religionsunterrichts eine große Herausforderung ist. Ideenreiche Workshops und der Austausch in der Gruppe wurden als hilfreich und anregend erlebt. Als Stärkung für die Aufgabe der Lehrkräfte in der Schule wurden die Gespräche mit Bi- schöfin Dr. Hofmann und mit Bildungsdezernentin Dr. Neebe wahrgenommen und natürlich nicht zuletzt der feierliche Gottesdienst zum Abschluss der Tagung. ABSCHIED UND WILLKOMMEN Seit der letzten Ausgabe der RPI-Im- Zwenger ging nach 14 Jahren Tätig- schule. Außerdem gab es einen pulse gab es einige Veränderungen keit im RPI zum 1. Dezember 2019 in Wechsel in der Bibliothek des RPI in innerhalb unserer Mitarbeiterschaft. den Ruhestand. Rainer Zwenger war Mainz. Unsere langjährige Mitarbei- Unsere Geschäftsführerin Alexandra verantwortlich für den Bereich Beruf- terin Elke Stiasny-Charbonnier ver- Metz übernahm eine neue Verant- liche Schulen und leitete die Regio- ließ uns und Frau Anne-Dore Harzer wortung im Kirchenkreisamt Kau- nalstelle in Fritzlar. Die neue Studien- hat ihre Tätigkeit bei uns aufgenom- fungen. Für sie kam Philipp Immel zu leiterin in Fritzlar ist Dr. Julia Gerth. men. uns ins RPI. Studienleiter Rainer Sie steht für das Arbeitsfeld Grund- Alexandra Metz Philipp Immel Rainer Zwenger Dr. Julia Gerth Elke Stiasny- Anne-Dore Harzer Charbonnier ISLAMISCHER RELIGIONSUNTERRICHT IN HESSEN IN ZUKUNFT NICHT MEHR IN ZUSAMMENARBEIT MIT DITIB Bereits im April hat das Kultusministerium mitgeteilt, schen religiösen Bildungsangebotes für schulpflichtige dass auf Grund der Zweifel an der grundsätzlichen Un- Kinder und Jugendliche muslimischen Glaubens. Das abhängigkeit von DITIB gegenüber der türkischen Re- Land (wird) auch weiterhin seiner Verantwortung dafür ge- gierung die Kooperation mit DITIB zur Erteilung eines recht werden. Unabhängig davon halten wir im Sinne der bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichtes Gleichbehandlung der Religionen an der Überlegung fest, nicht weitergeführt wird. Der Gesprächsfaden mit DITIB auch für Schülerinnen und Schüler muslimischen Glau- Hessen bleibt grundsätzlich erhalten. „Islamunterricht“ bens bekenntnisorientierten Religionsunterricht zu schaf- als staatliches Angebot für Schülerinnen und Schüler fen – entsprechend beispielsweise dem evangelischen muslimischen Glaubens wird ausgeweitet. Der hessi- oder katholischen Religionsunterricht. In diese Überlegun- sche Kultusminister Prof. Dr. R. Alexander Lorz dazu: gen für die Zukunft werden wir auch Erfahrungen aus an- „Wir glauben fest an die Notwendigkeit eines schuli- deren Bundesländern einbeziehen“. 2 -Impulse 2|20 | Personen & Projekte
PERSONEN & PROJEKTE VOKATIONSTAGUNG: „RELIGION IM ÖFFENTLICHEN RAUM“ Am 22. November 2019 erhielten 20 neue Religionslehr- kräfte aus dem Bereich der EKKW in einem feierlichen Gottesdienst ihre Bevollmächtigungsurkunden. Ihnen wurde seitens Frau Dr. Gudrun Neebe, Bildungsdezer- nentin der EKKW, in Vertretung für die Bischöfin die Un- terstützung der Landeskirche bei der Wahrnehmung ih- res Religionsunterrichtes zugesichert und Gottes Segen auf den neuen Wegen zugesprochen. Die treffend auf die jungen Lehrkräfte zugeschnittene Predigt zu Johan- nes 14,6 brachte die hohe Wertschätzung der Kirche für den Dienst der Religionslehrkräfte in der schulischen Kommunikation des Evangeliums zum Ausdruck. Auf vielfältigen Wegen näherten sich die Teilnehmerin- nen der Vokationstagung vorab dem Thema „Religion im öffentlichen Raum“. Neben informativen und bewegen- den Gesprächen mit Mitarbeitenden des Ethikkomitees des Kasseler Krankenhauses, der Notfallseelsorge und Vertretern des Rates der Religionen in der Stadt Kassel beeindruckte die Teilnehmenden die Führung durch das Museum für Sepulkralkultur – auch als attraktiver außer- schulischer Lernort. SCHULSEELSORGLICH UNTERRICHTEN – DIE JAHRESKONFERENZ SCHULSEELSORGE IM FEBRUAR 2020 Schulseelsorglich unterrichten, geht das überhaupt? Mit Am Freitagmorgen stellte Harmjan Dam den Bildungs- deutlicher Mehrheit hatten die Teilnehmer*innen der Jah- bericht Schulseelsorge des Comenius-Instituts vor. Die- reskonferenz 2019 dieses Thema gewählt. Immerhin 30 ser setzte einen Kontrapunkt zum Vortrag indem er auf der 52 angemeldeten Teilnehmer*innen wagten die Rei- die außerordentliche Dynamik verwies, mit der sich die- se ins Kloster Höchst, trotz dramatischer Warnungen vor ses spezialisierte Arbeitsfeld in allen Landeskirchen ent- Sturm und Orkanböen, trotz Schulschließungen und un- wickelt hat. passierbarer Straßen. Im seinem Impulsreferat zu Beginn der Tagung versuchte Prof. Dr. Kai Horstmann die anwesenden Schulseelsor- ger*innen aus der Reserve zu locken. Seine kritischen Anfra- gen richteten sich auf ein Verständnis von spezialisierter Schulseelsorge, die diese auf einen engen Seelsorgebegriff (im Sinne der Beratung und Begleitung Einzelner) begrenze. Er verwies dabei auf die religionspädagogische Konzep- tion von Dieter Stoodt, der schon in den 60-er Jahren betont hatte, dass die seelsorgliche Dimension dem Re- ligionsunterricht zu eigen sei, weil er das Leben der Schüler*innen selbst zum Thema mache. Diese Form von Religionsunterricht wolle problematische Fixierun- gen durch Religion in der Interaktion lösen und deren emanzipatorisches Potenzial freisetzen. So habe der Religionsunterricht immer auch eine gesellschaftliche und politische Dimension. Intensive Arbeit in Workshops, z.B. zum gendersensib- len Religionsunterricht und kollegialer Austausch vertief- ten die Debatten vom Vormittag, wie üblich tagte auch der Konvent der Schulseelsorger*innen. -Impulse 2|20 | Personen & Projekte 3
PERSONEN & PROJEKTE EKD-MATERIALHEFT: „SCHÖNE NEUE WELT? – MENSCHENRECHTE UND DIGITALISIERUNG“ Unter dem Titel „Schöne neue Welt? – Menschenrechte Für die Arbeit in Gemeinden und Digitalisierung“ beschäftigt sich das Referat für und für Gottesdienste wird Menschenrechte, Migration und Integration der EKD mit liturgisches Material diesem technischen Fortschritt und seinen Auswirkun- bereitgestellt. gen. Im Materialheft werden folgende Fragen beleuchtet: „Was macht den Menschen aus? Was unterscheidet ihn von Maschinen? Was bedeuten Menschenwürde und Menschenrechte im digitalen Zeitalter?“ Anschaulich wird aufgezeigt, welche positiven und negativen Folgen die Digitalisierung weltweit für die Menschenrechte birgt. So wird beispielsweise die Wertschöpfungskette eines Smartphones verfolgt und gezeigt, wo im Produktions- prozess Menschenrechte verletzt werden. Dabei steht auch der Bergbau im Süden Afrikas im Fokus. Auch das Thema „Cyber-Mobbing“ wird in den Blick genommen. Zugleich wird gezeigt, dass die Digitalisierung zahlreiche Ev. Kirche in Deutschland (Hrsg.), Möglichkeiten bietet, die Menschenrechte zu stärken Schöne neue Welt? – Menschenrechte und zu verteidigen: So können verfolgte Christ*innen im und Digitalisierung Iran über das Internet gemeinsam Gottesdienst feiern. Auch können am Computer Menschenrechtsverletzun- Download: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ gen rekonstruiert werden. menschenrechte_digitalisierung_2019.pdf EKD-TEXT: „RELIGIÖSE BILDUNG ANGESICHTS VON KONFESSIONSLOSIGKEIT – AUFGABEN UND CHANCEN” Die religiöse Bildungsarbeit der Evangelischen Kirche in durch Intensivierung taufbezogener Deutschland (EKD) soll sich künftig noch stärker auf das Arbeit, Priorisierung elementarpäda- veränderte gesellschaftliche Umfeld einstellen. Der gogischer Arbeit in kirchlichen Kitas Grundlagentext der EKD-Kammer für Bildung und Erzie- oder der Aus- und Aufbau von Kinder- hung, Kinder und Jugend ist eine Arbeitshilfe für Verant- und Jugendarbeit. Auch die Wissens- wortliche und Mitarbeitende in diesem Arbeitsfeld. Er vermittlung über Religionen als Grund- stellt aber auch erstmals die Gründe und Hintergründe lage einer Gesprächsfähigkeit und von Konfessionslosigkeit systematisch in den Mittel- Teil der Allgemeinbildung wird als punkt. Danach gehört gut ein Drittel der deutschen Be- richtungsweisend genannt. völkerung keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft an. Im Ostteil des Landes sind es – je nach Region – sogar zwischen und 70 und 90 Prozent. Die EKD steht daher vor der Herausforderung, mit religiöser Bildungsarbeit und kirchlichem Handeln eine große Zahl von Menschen zu erreichen, für die christliche Religion nicht selbstver- ständlich ist. „Konfessionslosigkeit ist nicht mit Kirchen- beziehungs- weise Religionsferne oder gar -feindlichkeit gleichzuset- zen; sie ist zumeist eher von Beziehungslosigkeit als von Ev. Kirche in Deutschland (Hrsg.), kontroverser Auseinandersetzung oder Abgrenzung ge- Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit prägt“, so der Ratsvorsitzende Bedford-Strohm. Konkret ISBN 978-3-374-06326-0, EUR 8,- werden in dem EKD-Text zehn mögliche Wege vorge- schlagen, wie Konfessionslose durch Bildungsarbeit er- Download: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ reicht werden können. Dazu zählt die verstärkte Unter- konfessionslosigkeit_2020.pdf stützung religiöser Sozialisation und Erziehung, etwa Bestellungen unter: shop@eva-leipzig.de 4 -Impulse 2|20 | Personen & Projekte
KIRCHE & STAAT NEUER ERLASS ÜBER DEN RELIGIONSUNTERRICHT IN HESSEN Zum 15. April 2020 verabschiedete das Hess. Kultusmi- das Fach in fächerübergreifende und fächerverbindende Projekte und Vor- nisterium einen neuen Erlass über den Religionsunterricht haben eingebunden werden, auch mit der Zielsetzung, Schüler*innen zu be- an öffentlichen Schulen. Was ist neu? Zum einen wird der fähigen, Probleme unter religiös-ethischem Aspekt zu beurteilen. Aus dem RU nicht mehr alleine als evangelischer, katholischer oder Erlass: „Damit kann zugleich die Begegnung von Schülerinnen und Schülern der einer anderen Religionsgemeinschaft definiert, son- unterschiedlicher Religionen und das Verständnis füreinander gefördert wer- dern er gilt als bekenntnisorientierter Religionsunterricht den.“ Das Einvernehmen zwischen den beteiligten Stellen ist herbeizufüh- der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Folgerichtig sind in ren. Auch ist unter bestimmten Voraussetzungen nun die Teilnahme einer einer Anlage alle derzeit in Hessen angebotenen Religi- Schülerin / eines Schülers am Religionsunterricht möglich, der nicht dem onsunterrichte entsprechend diesem Erlass aufgelistet. eigenen Bekenntnis entspricht. Neu ist auch die Regelung für bekenntnis- Es sind insgesamt 12, wobei der IRU in Kooperation mit freie Schüler*innen oder solche, an deren Schule kein Religionsunterricht der DITIB hier in Zukunft herauszurechnen ist. entsprechend ihrem eigenen Bekenntnis angeboten wird, an einem Religi- onsunterricht einer anderen Religionsgemeinschaft teilnehmen zu können. Neu ist die Möglichkeit der Einrichtung von „Projekten und Vorhaben“, die auf Wunsch der Religionsgemein- Den Erlass finden Sie hier: schaften neue Formate der Organisation und Ausgestal- https://www.kirchenrecht-ekhn.de/document/18819/ tung des Religionsunterrichtes erproben sollen. So kann search/religionsunterricht HANDREICHUNG DES HKM ZUR UNTERRICHTSSITUATION UNTER CORONA Das Hessische Kultusministerium hat eine Broschüre Ausgestaltung unterrichtsersetzender herausgegeben mit dem Titel „Rechtliche Klärungen, Lernsituationen; Empfehlungen aus Empfehlungen und Informationen zu unterrichtserset- der Praxis; Kontakt und Kommunika- zenden Lernsituationen“. tion; Vermittlung; Inhaltliche Gestal- tung; Rückmeldeprozesse; Empfeh- Kultusminister Lorz schreibt dazu: „Auf der Grundlage lungen zum Medieneinsatz in der in den vergangenen Wochen gesammelten Erfah- unterrichtsersetzenden Lernsituatio- rungen in den hessischen Schulen wurden deshalb in nen; Angebote der Projektbüros zur dieser Handreichung Erläuterungen und Empfehlungen individuellen Förderung; Weiterfüh- aus der Praxis der unterrichtsersetzenden Lernsituatio- rende Informationen. nen zusammengestellt. Zum Bereich des Medieneinsat- zes erhalten Sie Informationen, Klärungen und Empfeh- Sie finden diese Publikation auf den lungen.“ Internetseiten des Hessischen Kul- tusministeriums www.kultusminis- Aus dem Inhalt: Einordnung und Zielsetzung der unter- terium.hessen.de unter Presse » richtsersetzenden Lernsituationen; Erläuterungen zur Publikationen. TEXT DER THEOLOGISCHEN KAMMER DER EKKW: CHRISTENTUM UND GEWALT. EINE EVANGELISCHE PERSPEKTIVE Wie können Christinnen und Christen angesichts einer Aufgabe, Kriterien für einen Umgang mit gewalthaltigen Texten und Ereignis- beträchtlichen Zahl gewalthaltiger Texte in der Bibel und sen der eigenen Tradition zu finden. So kann man in aktuellen Diskussionen angesichts einer vielfach von Gewalt geprägten Beteili- und Begegnungen sprachfähig werden. Der vorliegende Text ist in erster gung an geschichtlichen Ereignissen behaupten, das Linie als Anregung sowie Denk- und Argumentationshilfe gedacht. Er eignet Christentum sei eine friedliche Religion? Der Vorwurf sich aber auch für ein Gespräch mit Erwachsenen oder älteren Jugendli- „Ohne Religion gäbe es weniger Gewalt!“, der zunächst chen; hier bietet sich vermutlich eher eine Lektüre in Auszügen an. Der Text als Reaktion auf islamistischen Terror laut wurde, richtet ist im Internet unter www.ekkw.de/texte oder direkt unter https://www.ekkw. sich inzwischen auch gegen die christliche Religion. Aus de/christentum_und_gewalt.pdf abrufbar. Gedruckt ist er – auch in größerer diesem Anlass ist es der Synode der EKKW wichtig, sich Stückzahl – zu beziehen über Frau Bettina Schönfeldt im Landeskirchenamt das Gewalt- und auch das Friedenspotenzial der eige- (bettina.schoenfeldt@ekkw.de, 0561-9378-207). nen Religion vor Augen zu führen. Auch stellt sich die -Impulse 2|20 | Kirche & Staat 5
„SCHULE KANN EIN KIRCHLICHER ORT SEIN, AN DEM MENSCHEN ZUSAMMEN LEBEN UND LEBEN GESTALTEN UND DAS IM SINNE DES EVANGELIUMS TUN.“ Interview mit Bischöfin Beate Hofmann Kassel, im Februar 2020 RPI: Liebe Frau Bischöfin Hofmann, vielen Dank, dass Sie bereit sind, sich unseren Fragen in diesem Interview zu stellen. Starten wir mit einer aktuellen Frage. Derzeit gibt es wieder verschiedene Initiativen, die den Religi- onsunterricht als ordentliches Lehrfach an unseren Schulen in Frage stellen. Da ist die Landesschülervertre- tung in Rheinland-Pfalz, die dessen Abschaffung fordert, ebenso wie die Initiative vor dem Petitionsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtages, da ist die in Hessen lebende Autorin Julia Wöllenstein, die in vielen Interviews rund um ihr Buch „Von Kartoffeln und Kanaken“ eben- falls das Fach Religion vehement in Frage stellt. Wie ste- hen Sie zu diesen Initiativen? Hofmann: Mich hat das sehr erschreckt. Ich hatte ei- gentlich die Hoffnung, dass gerade angesichts der De- batten, die wir im Moment in unserer Gesellschaft um so- zialen Zusammenhalt und um Werteorientierung haben, der Wert des Religionsunterrichts deutlich geworden ist. Ich habe selber an einer Brennpunktschule unter- richtet und die Schwierigkeiten des Religionsunterrichts hautnah erlebt. Von daher habe ich eine Idee warum Frau Wöllenstein zu dem Urteil kommt, Religionsunter- richt mache in der vorgegebenen Form heute keinen Sinn mehr. Ich glaube aber, dass es einen Unterschied macht, ob es um allgemeine Religionskunde geht oder © Foto: Schauderna/medio.TV um die Auseinandersetzung mit Menschen, die auch als Zeuginnen und Zeugen für ihre Religion stehen. RPI: Diese neutrale Bearbeitung von Religion, die stets als Forderung gegen den konfessionellen Religionsun- terricht ins Feld geführt wird, ist ja auch immer nur eine vermeintliche Neutralität. Hofmann: Irgendeine Positionalität braucht und gibt es immer, und gerade für junge Menschen ist das auch wichtig. Wenn ich an meine eigene Jugend denke, dann RPI: Wobei es ja frappierend ist, dass vielfach von Kriti- waren für mich die Leute überzeugend, bei denen ich kern des Religionsunterrichtes Religion per se als kon- das Gefühl hatte: da ist ein Profil erkennbar. Da gibt es fliktiv angesehen wird und als eine Kraft, die Konflikte klare Überzeugungen und an denen kann ich mich rei- eher herbeiführt und nicht Konflikte löst. Religiöse Plura- ben. Die kann ich übernehmen oder die kann ich ganz lität gilt heute vielen eher als Quelle von Streit und nicht schrecklich finden, aber daran kann ich mich abarbeiten als Ausgangspunkt friedlichen Miteinanders. und ich finde, genau das braucht es. Es braucht da Men- schen, die sprachfähig sind über das, was sie selber Hofmann: Ja, aber ich finde, das ist zu billig. Durch so- denken, die das aber eben in einer Art und Weise tun, zialwissenschaftliche Studien sehen wir sehr klar, dass die nicht überwältigt. gerade in Deutschland der Kontakt mit Kirche an vielen Stellen eben auch ein wichtiges soziales Kapital unserer Gesellschaft ist, weil dadurch interpersonelles Vertrau- 6 -Impulse 2|20 | Zur Person
ZUR PERSON en, Ambiguitätstoleranz und Pluralitätsfähigkeit geför- Hofmann: Die Grundidee von missionaler Kirche ist ge- dert werden können. Natürlich kann es in dem Zusam- nau diese Bewegung. Nicht zu sagen: „Kommt her zu menhang immer auch negative Effekte geben. Allerdings uns! Wir haben etwas Tolles!“, sondern zu sagen: „Wir kann die Alternative nicht sein, sich von aller Religion zu gehen hin. Und wir gucken: was sind die Themen? Was distanzieren und damit letztlich Fundamentalismen Tür sind die Fragen der Menschen? Was hat das Evangelium und Tor zu öffnen. dazu zu sagen und beizutragen? Wie können wir diese Menschen unterstützen in den Herausforderungen, vor RPI: In Ihrer Rede vor der letzten Synode haben Sie denen sie stehen?“ Und das nicht vorrangig unter dem sehr stark auf die Veränderungsprozesse hingewiesen, Gedanken, wie wir diese Menschen als Mitglieder ge- denen Kirche heute ausgesetzt ist, und dabei deutlich winnen können. Vielmehr geht es vorrangig um den Ge- die Chancen herausgestellt, die diese Veränderungen danken: „Wir wollen euch helfen, euer Leben gut zu be- bieten. Dabei haben Sie den Begriff „missionale Kirche“ wältigen und dabei auch zeigen, welcher Schatz das geprägt. Was bedeutet dies für religiöse Bildung und für Evangelium sein kann.“ Natürlich auch mit der Idee, sie schulische Bildung? für das Evangelium zu begeistern und damit auch, sie für die sozialen Konsequenzen des Evangeliums zu begeis- Hofmann: Ich denke, dass wir heute viel stärker hin- tern – aber das ist eine andere Reihenfolge. schauen müssen, welche Möglichkeiten der Gestaltung wir als Kirche in Kooperation mit den Schulen haben, um Ich glaube, die Schule kann ein kirchlicher Ort sein, ein jungen Menschen Begegnungsflächen mit zentralen Le- Ort, an dem Menschen zusammenleben und Leben ge- bensfragen, mit gesellschaftlichen Herausforderungen stalten und das im Sinne des Evangeliums tun – zum und mit sozialen Lernfeldern zu bieten. Ich bin zum Bei- Beispiel über Schülercafés oder gemeinsame Gottes- spiel ein großer Fan von sozialen bzw. diakonischen Ler- dienste und so weiter. Alles, was Gemeinde ausmacht, nerfahrungen und glaube, dass das eine ganz wichtige wird auch im Raum Schule erlebt. Zu sagen, Schule ist Chance in der Zusammenarbeit von Kirche und Schule nicht Teil der Gemeinde, stellt eine pauschale Engfüh- darstellt. Die Chance für Kirche liegt jetzt im Blick auf rung dar. Schule ist Lebenswelt von Menschen in der das „missionale Verständnis“ darin, sich tatsächlich auf Region. Und damit eben eine Chance der Kontaktauf- den Lebensraum Schule einzulassen und zu fragen, was nahme. es für junge Menschen bedeutet, sich in diesem Lebens- raum bewegen und bewähren zu müssen. RPI: Ich würde gerne mit ihnen einmal genauer auf die Religionslehrer*innen schauen. Interessant ist, dass die- Ich glaube, dass wir in der Zusammenarbeit mit Schule se nach unseren Beobachtungen zunehmend Wert dar- die Chance haben, mit jungen Menschen in Kontakt zu auf legen, dass sie eine offizielle Beauftragung seitens kommen, mit denen wir sonst nirgendwo mehr als Kir- der evangelischen Kirche erhalten. Die Vokation hat für che in Kontakt kommen. Das ist eine unglaubliche Chan- viele eine tiefe religiöse Bedeutung. Trotzdem sind diese ce, wenn ich beispielsweise Schulanfangs-Gottesdiens- Lehrkräfte für Kirche oft nicht sichtbar, weil sie weder te oder auch Schulabschlussfeiern anschaue und Hauptamtliche noch ehrenamtlich Mitarbeitende sind. beobachte, mit welcher Selbstverständlichkeit auch Kin- der aus anderen Religionen oder ohne konfessionelle Hofmann: Religionslehrkräfte sind keine institutionellen Bindung in christlichen Gottesdiensten sitzen und zuhö- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirche. Aber sie ha- ren. Und ich kann mich noch sehr gut an meine erste ben eine spirituelle Bindung, und die wird durch die Vo- Erstklässler-Segnung – ökumenisch in München – erin- kation ausgedrückt, die im Sinne von Auftrag und Sen- nern, als das zweite Kind mit Namen Mohammed vor mir dung zu verstehen ist. Ja, Religionslehrkräfte sind als stand und ich mir dachte: „Gut, Segen schadet nicht.“ Christinnen und Christen gesandt in ein besonders for- derndes Feld. Sie bewältigen ihre Aufgabe nicht nur eh- RPI: Sie sagen, hier muss sich Kirche auf Schule einlas- renamtlich wie jede Christin und jeder Christ, sondern sen. Ich finde es manchmal erstaunlich, wie selbstver- sie tun dies als Teil ihrer Berufsausübung, und da haben ständlich sich Schule auf Kirche einlässt. wir als Kirche eine besondere Begleitungsaufgabe. Hofmann: Das ist aus meiner Erfahrung abhängig vom Ich glaube, die Schule ist tatsächlich einer der herausfor- Direktor oder der Direktorin. Sind das Menschen, die derndsten Orte in der Frage, ob ich eine nachvollziehbare selber einen positiven Bezug zur Kirche haben, oder plausible Sprache über Glauben und über religiöse The- Menschen, die Religion als ein fundamentalistisches men finde oder ob meine Sprache als Formelsprache an Denksystem wahrnehmen, das Demokratiefähigkeit den Leuten völlig vorbeigeht. Das ist eine unserer großen oder Pluralitätsfähigkeit verhindert? Es ist aber auch von Herausforderungen. Wie reden wir von Glaubensfragen Bedeutung, wie Schulleitungen ihre Religionslehrkräfte so, dass Menschen es auch verstehen können? Die im Kollegium erleben. Wenn diese als präsent und enga- Schule ist ein Ort, wo einem überhaupt nicht verziehen giert im Sinne der Schulentwicklung agierend erlebt wer- wird, wenn man das nicht kann und deswegen glaube ich, den, dann hat der Religionsunterricht viele Chancen. dass Religionslehrerinnen und Religionslehrer tatsächlich vor einer ziemlich großen Herausforderung stehen. RPI: Ich fand es eben sehr schön, wie sie entwickelt ha- ben, was es bedeuten kann, wenn Kirche sich auf Schule RPI: Ich gehe noch einmal kurz zurück an den Anfang und auf Jugendliche in ihrer Lebenswelt Schule einlässt. unseres Gespräches. Ich wage zu behaupten, dass der -Impulse 2|20 | Zur Person 7
ZUR PERSON Religionsunterricht selten so gut aufgestellt war wie heu- Unterricht erlebt, der mich auch intellektuell angespro- te. Trotzdem gibt es auch aktuell Rufe und Forderungen chen hat: „Was heißt denn heute, Gott oder eine Welt- nach Abschaffung des Religionsunterrichtes. perspektive mit Religion zu denken?“ Insofern habe ich sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Religionsunter- Hofmann: Nach meinen eigenen Erfahrungen an einer richt gemacht. sogenannten Brennpunktschule stellt sich mir die Frage, ob wir nicht für bestimmte Schulsituationen auch spezi- RPI: Wie sahen dann Ihre eigenen Erfahrungen mit der elle Formen von Religionsunterricht brauchen, die auf die Erteilung von Religionsunterricht aus? Bedingungen vor Ort auch ganz konkret eingehen kön- nen. Entscheidend sind für mich nicht in erster Linie die Hofmann: Meine eigenen Erfahrungen im Vikariat wa- Konzepte, sondern der offene Blick auf die konkreten ren tatsächlich zunächst einmal ziemlich erschütternd. Situationen in den Schulen und die Frage nach dem, Ich habe in einem sozialen Brennpunkt Vikariat gemacht welche Form des Religionsunterrichtes die Schulen in und in diesem Kontext Schulklassen erlebt, mit denen es diesen unterschiedlichen Bedingungskontexten brau- fast unmöglich war, Unterricht zu gestalten. Ich kann chen. mich noch erinnern, dass ich meinem Vater Unterrichts- videos gezeigt habe und er völlig erschüttert war von der Und zu dieser Situation an den Schulen gehört für mich Schulsituation, die mit dem, was er in seinem Edel-Gym- auch die Frage nach anderen Religionsunterrichten, zum nasium erlebt hat überhaupt nicht kompatibel war. Da Beispiel dem Islamischen Religionsunterricht. Daher habe ich gemerkt, der ist mit seinem Latein genauso am stellt sich perspektivisch die Frage, ob es uns gelingt, in Ende wie ich. Ich habe schließlich mit den Jugendlichen irgendeiner Form Religionsunterricht in einem interreligi- viel gespielt, weil ich gemerkt habe, dass Spielen die ösen Kontext zu gestalten, was für mich immer noch Form war, über die ich Aufmerksamkeit gewinnen und was anderes ist als Lebens- und Religionskunde. Ich halten und Interaktion fördern konnte. Ich habe dann glaube, die Herausforderung besteht eben darin, in solch versucht, auch Religion spielerisch einzubringen, weil es hoch multireligiös und pluralen Kontexten zu zeigen, wie neben dem Geschichtenerzählen in diesen neunzig Mi- man ins Gespräch miteinander kommt. Tatsächlich ist nuten das einzige war, was ein geregeltes Miteinander dies aus meiner Sicht auch eine der großen Herausfor- möglich machte. derungen, die wir als Gesellschaft im Moment insgesamt haben. RPI: Danach sind Sie Professorin für Religionspäda- gogik geworden? RPI: Abschließend möchte ich nun noch nach der Per- son Beate Hofmann fragen. Das Biografische hat in eini- Hofmann: Ja, und zwar mit Schwerpunkt Gemeindepä- gen Ihrer Antworten immer schon einmal durchgeschim- dagogik. Aber ich war natürlich bei Lehrproben dabei mert, und einige Ihrer eigenen Erfahrungen sind sichtbar und habe Examensarbeiten bewertet und war auch ein- geworden. bezogen in die Berufsentwicklung der Religionspäda- gog*innen in Bayern. In den letzten Jahren in Nürnberg Hofmann: Ich habe Religionsunterricht mit der Mutter- habe ich an einem Graduierten-Kolleg von zwei Universi- milch eingesogen. Meine Eltern sind beide Lehrkräfte für täten und zwei Fachhochschulen mitgearbeitet, in dem Deutsch und Religion am Gymnasium und gehören zur es um Gestaltung von Bildungslandschaften ging und ersten Generation der Religionsphilolog*innen in Bayern. um die Berührung und Begegnung, Überschneidung Schule war bei uns immer Thema. Am Mittagstisch wur- von formalen und non-formalen Bildungsorten und for- de stets von Schulerfahrungen gesprochen. Mein Vater meller und informeller Bildung ging. Eine Doktorandin war viele Jahre lang bei der Gymnasialpädagogischen stellte bspw. genau die Frage nach dem Professionsver- Materialstelle in Erlangen und hat viele Arbeitshilfen für ständnis von Gemeindepädagog*innen und Religions- den Religionsunterricht erstellt. Meine Mutter war in pädagog*innen, die beides machen, Schulunterricht und Lehrplankommissionen tätig. All dies hat mich sehr in- Gemeindearbeit. Was bedeutet das für mein Rollenver- tensiv begleitet. Mein eigener Religionsunterricht fand ständnis? Bildet sich an den unterschiedlichen Orten ein an einer katholischen Klosterschule statt. Dort gab es unterschiedliches Professionsverständnis heraus oder evangelischen Religionsunterricht nachmittags für drei entwickelt sich ein professionelles Verständnis, das vari- Klassenstufen zusammen. Es war ein Religionsunter- abel ist? Wird das Muster aus dem einen Ort auf den richt, der mit dem Lehrplan relativ wenig zu tun hatte und anderen Ort übertragen? Meine Vermutung war immer, den ich auch nicht als besonders intellektuell herausfor- dass diese Kolleg*innen mit einem schulischen Professi- dernd erlebt habe. Ich erinnere noch sehr genau, dass onsverständnis auch in die Gemeinde kommen und die ich einmal nach Hause kam und vom Religionsunterricht große Überraschung war, dass es eher umgekehrt ist, erzählte: „Heute haben wir begonnen, die zwölf Werke sie gehen mit einem aus der Gemeinde geprägten Ver- des Heiligen Geistes durchzunehmen“, und meine Mut- ständnis auch in den Ort Schule. Das ist erstaunlich we- ter sagte: “Was ist das denn?“, und ich dachte: “Aha, in- nig reflektiert bisher. teressant!“ Das hat sich dankenswerterweise in der Oberstufe geändert, sonst hätte ich auch nicht Theolo- Es gibt zum Beispiel bisher fast keine Arbeiten zur Rolle gie studiert. Mein Religionslehrer in der Oberstufe hat von Moscheen für das Gelingen von Bildungskarrieren vieles wettgemacht von dem, was in den Jahren vorher von muslimischen Kindern und Jugendlichen. Es gab Ar- so schiefgelaufen ist. Und zum ersten Mal habe ich einen beiten, die sich damit beschäftigt haben, wie Leute, die 8 -Impulse 2|20 | Zur Person
ZUR PERSON bildungsfern aufgewachsen sind, es trotzdem geschafft Deswegen bin ich überzeugt, dass medienpädagogi- haben, bildungserfolgreich zu werden. Eine türkische sche Erziehung einen sehr wichtigen Bildungsauftrag in Studentin, die dieses Thema bearbeitet hat, erzählte, unseren Zeiten darstellt. Dieser Auftrag besteht darin, dass sie in mehreren solcher Interviews immer wieder Jugendliche zu unterstützen, mit sozialen Medien ange- auf Moscheeerfahrungen gestoßen ist. messen umzugehen. Die Fähigkeit zu analoger Streitkul- tur und Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Pers- Da liegen offensichtlich Potenziale, die allen Seiten im pektiven droht in den Sozialen Medien immer mehr zu Moment noch nicht ganz klar sind. Insofern bringe ich verkümmern, weil man sich dort so sehr in seinen Blasen eine Leidenschaft für das Thema mit, aber auch gewisse bewegt. Auch das ist eine der Herausforderungen von Distanzen. Mir war immer klar, ich werde keine Religi- Religionsunterricht, Digitalisierung kritisch zu begleiten onslehrerin an der Schule, da gab es zu Hause schon zu und sich mit diesen Medien auseinanderzusetzen, so- viel davon. Aber ich habe mich intensiv mit Konzeption wohl mit ihren Chancen als auch mit den dunklen Seiten. und Ausbildungsfragen beschäftigt, bin von daher mit einem offenen Ohr für die Anliegen schulischer Arbeit Und ich glaube, dass wir nach wie vor einer der Orte in und religiöser Bildung als solcher ausgestattet. der Gesellschaft sind, an denen man auch die analoge Kommunikation noch intensiv erleben kann. In der Aus- RPI: Vielen Dank! Das ist in der Tat heute in dem Ge- einandersetzung mit dem Thema „Digitalisierung“ sehe spräch deutlich erkennbar geworden. Vielleicht zum ich insgesamt eine wichtige Aufgabe des Religionsunter- Schluss noch ein paar Gedanken zum Thema „Digitali- richts. sierung“, unserem aktuellen Heftthema. RPI: Frau Hofmann, vielen Dank für Ihre Offenheit und Hofmann: Das ist tatsächlich ein Thema, das mich im Ihre Bereitschaft zu diesem Gespräch! Moment sehr umtreibt. Ich habe in den letzten Wochen intensiv über das Thema „Sturmstillung“ nachgedacht, Die Fragen für das RPI stellte Uwe Martini. weil für mich die Frage ist, ob und wie wir uns als Kirche an digitalen Sturmstillungen beteiligen können? Und es stellt sich mir mit Dringlichkeit die Frage, was können wir als Kirche tun, um Menschen zu unterstützen und zu schützen. Das beschäftigt mich auch vor dem Hinter- grund rechtsextremer Gewalt und rechtsextremer An- griffe auch auf engagierte Christinnen und Christen. © Foto: Schauderna/medio.TV -Impulse 2|20 | Zur Person 9
ZUM KÜNSTLICHEN UND NATÜRLICHEN WISSEN IN DER MODERNEN ZEIT Für RPI-Impulse angepasster Auszug aus Sarah Spiekermann: „Digitale Ethik – Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert“ Nichts ist in der heutigen Zeit wichtiger was bedeutet es zum Beispiel bei einer klassischen De- batte, ein Publikum von der eigenen Haltung zu über- als die Frage danach, was Wissen ist. zeugen? Es geht darum, erstens sinnvolle Argumente zu haben und zweitens unter diesen auch noch die wesent- In der Antike hat Platon den theoretischen Teil unseres lichen so klug voranzustellen, sodass man am Ende die Wissens einmal definiert als »eine begründete, wahre Wahrheit auf seiner Seite hat. Beide Gegner in so einer Überzeugung« von etwas. Alle drei Komponenten dieser Debatte mögen Argumente bringen, die man durchaus Definition – die Begründung, die Wahrheit und die Über- für wahr halten kann, aber überzeugen tut nur der, der zeugung – waren über die letzten zweieinhalbtausend das meiste Wesentliche und Sinnvolle auf seiner Seite Jahre Gegenstand hitziger philosophischer Debatten, hatte. denn was reicht uns als eine Begründung aus, damit etwas als Wissen anerkannt werden kann? Wann ist et- Maschinen haben es an dieser Bruchstelle zwischen was wahr? Und ist eine Überzeugung dasselbe wie der dem Für-wahr-Halten und dem Wissen nicht leicht, Glaube an etwas? weil sie das Wesentliche und Sinnvolle vom Unwesent- lichen oder Unsinnigen schwer unterscheiden können. Der Begründer der Psychologie Wilhelm Wundt (1832– So könnte ein Kind einen Roboter in der Kirche fragen, 1920) entwickelte eine Herleitung von Wissen, die uns im warum dort auf dem Altar eine Kerze brennt. Und der digitalen Kontext nützlich sein kann: Er unterschied vier Roboter würde durchaus wahrheitsgemäß antworten, Stufen: Glauben, Meinungen, Vermutungen und Wissen. dass die Kerze brennt, weil es Sauerstoff in der Luft Auf der ersten Stufe reden wir von einem subjektiven gibt. Vielleicht könnte er auch noch ausrechnen, dass Für-wahr-Halten. Das ist der persönliche Glaube an et- es wahrscheinlich klüger wäre, zu antworten, dass eine was. Auf der zweiten Stufe steht das objektive Für-wahr- Kerze in einer Kirche Licht spendet oder ein christliches Halten, die Meinung. Dieses objektive Für-wahr-Halten Symbol ist für das Licht in der Welt. Aber warum zün- stützt sich auf eine ganzheitliche Betrachtung möglichst den wir denn eigentlich wirklich Kerzen in der Kirche an? aller verfügbarer Fakten bzw. Beobachtungen, wie etwa Weil Kerzen Wertträger sind. Wenn eine Kerze brennt, einem weitläufig beobachtbaren und bestätigtem Phä- dann können sich Werte wie Heiligkeit oder Frömmigkeit, nomen, einer wiederholt in dieselbe Richtung weisen- den Umfrage oder langfristig bestätigte Ergebnisse von Big Data Analysen. Etwas Für-wahr-Gehaltenes sollte also möglichst wissenschaftlich, rational und breit ab- gesichert sein und gemäß Wundt regelmäßig überprüft werden. Wenn sich solche Meinungen auf etwas Zukünf- tiges beziehen, handelt es sich um eine Vermutung – die dritte Stufe. Interessanterweise argumentierte Wundt, dass es sich bei diesem Für-wahr-Gehaltenen noch Prof. Dr. Sarah Spiekermann-Hoff nicht um »Wissen« handelt – die vierte Stufe –, sondern Leiterin des Instituts Wirtschafts- zunächst mal nur um eine Meinung bzw. eben Vermu- informatik und Gesellschaft tungen. Er würde also einem wissenschaftlichen Papier an der Wirtschaftsuniversität Wien oder einer Big-Data-Prognose den Status des Wissens mis-sek@wu.ac.at absprechen. Zu Wissen werden die für wahr gehaltenen Meinungen oder Vermutungen erst dann, wenn Men- schen von diesen überzeugt sind. Zwischen einem Für- wahr-Halten und einem Wissen ist also ein qualitativer Sprung, der der Überzeugung bedarf. Dieser Sprung zwischen Führ-wahr-Halten und Wissen ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen. Denn 10 -Impulse 2|20 | Grundsatzartikel
GRUNDSATZARTIKEL Erhabenheit, Besinnlichkeit und Lebendigkeit entfalten. Menschenwissen versus Maschinenwissen Und dass wir uns zu diesen Werten hingezogen fühlen, ist ein ganz maßgeblicher Grund dafür, warum in Kirchen Der größte Teil unseres Wissens ist nicht theoretischer Kerzen aufgestellt werden. Was wir über die Welt wis- Natur, sondern umfasst das, was wir im Laufe unse- sen, das erschließt sich uns also auch auf einer sinn-vol- res Lebens internalisieren, beispielsweise wie man ei- len sinnlichen Wertebene, auf die Maschinen uns nicht nen Garten pflegt. Oder das Wissen, dass jemand ein folgen können. Wenn man diese vier logischen Stufen Kind ist oder ein Greis. Mit der Zeit lernen wir Menschen der Wissenshierarchie nun akzeptiert, dann unterliegt durch Wiederholung und in der Gemeinschaft mit ande- der Begriff des Wissens einem hohen Anspruch. Man ren (etwa unseren Eltern) die Ideen in der Welt kennen nimmt eine demütige Haltung gegenüber dem Wissens- – zum Beispiel die Idee vom Alter oder von bewährten begriff ein. Wie die Stoiker sagten, bedarf es eigentlich Handlungen (beispielsweise dass man für einen Garten weiser Menschen, die das zu Wissen erheben, was unter immer den richtigen Boden, das richtige Licht und die dem Für-wahr-Gehaltenen würdig genug ist. Für wahren richtige Wassermenge braucht). Zu diesem Wissens- Fortschritt ist erforderlich, dass nur das zu Wissen erho- schatz gehören auch die Werte. Wir lernen, wie sich ben wird, was diese Bezeichnung verdient. Werte anfühlen: Ordnung, Liebe, Sympathie, Sicherheit. Für unser implizites Wissen in Form von Ideen bedarf es Die Reflexion zeigt, dass es unsere Big-Data-Systeme keiner Begründung oder eines mathematischen Bewei- und KIs schwer haben müssen, einem durchdachten An- ses. spruch auf Wissen gerecht zu werden. Meine beschei- dene und stoische Sicht der Dinge ist folglich: Je ak- Maschinen kennen diese Art von Wissen im menschli- kurater, konsistenter, vollständiger, aktueller, größer und chen Sinne nicht. Sie haben kein Bewusstsein für diese kontextsensitiver ein Datensatz ist, desto besser wird die Form von Wissen über das Sein. Sie können Werte nicht Fähigkeit einer Maschine sein, Muster zu erkennen, die wahrnehmen; sie können weder etwas glauben noch als interessante Maschinenmeinungen oder -vermutun- von etwas überzeugt sein. Insofern ist eins sicher: Wenn gen von uns Menschen herangezogen werden können. Maschinen intelligent sind, dann sind sie es ganz sicher Wenn Institutionen nicht weise sind und die Meinungen nicht im menschlichen Sinn. Noch mehr: Weil Computer und Vermutungen von Maschinen pauschal zu Wissen all die unsichtbaren Ideen und Werte nicht wahrnehmen erheben, dann werden selbst sensibelste Urteile in Zu- können, die jeder normal begabte und groß gewordene kunft auf Maschinen und ihre Datensätze ausgelagert, Mensch zu erkennen gelernt hat, werden uns Computer die in Wahrheit eine Menge Unsinn produzieren können in dieser Beziehung immer ein bisschen hinterherhinken. und ganz sicherlich fern jeder Weisheit sind. Aber genau All die emotional intelligenten Roboter, wie sie uns in den das passiert. Schon in den 1990er Jahren begann die Filmen Terminator, Ex Machina oder Westworld darge- IT-Marketingmaschinerie damit, über ihre Datenbanken boten wurden, werden also Science-Fiction bleiben. Es und Systeme von »Wissensmanagementsystemen« zu mag Wesen geben, die ähnlich aussehen, aber in ihrem sprechen, und große industriefreundliche Big-Data-Re- Inneren werden sie anders ticken. ports, wie der der OECD, erheben zu meinem Leidwe- sen schon allein die Analyse von großen Datenmengen Es besteht die technische Möglichkeit, dass wir Men- zu Wissen.1 Schlimmer kann es eigentlich nicht mehr schen Maschinen Musterbenennungen beibringen, kommen. Man vernebelt den Blick für die erforderlichen die typischen Ideenausprägungen nahekommen. Zum Maßnahmen, um sich Wissen anzueignen. Da aber of- Beispiel kann man einer Maschine beibringen, dass fensichtlich so viel Hoffnung und Herzblut in die Wis- wir Menschen von einem „Greis“ sprechen, wenn je- sensfähigkeit von IT-Systemen gelegt werden, möchte mand ein Mann ist, weißes Haar hat, viele Falten und ich der Frage nachgehen und überlegen, welche positive gebeugt geht. Oder wir können einer Maschine Ge- Rolle Maschinen bei unserer Wissensbildung tatsächlich sichtserkennung beibringen. Wir können ihr mitteilen, einnehmen könnten, wie sie kraft ihrer speziellen Fä- dass Gesichtsbilder mit hochgezogenen Mundwinkeln higkeiten zum Fortschritt in diesem Bereich beitragen und erweiterten Pupillen meistens für ein Lächeln ste- könnten und wie sie sich hier von uns Menschen unter- hen. Solche Vorgänge der Benennung nennt man in scheiden. den Computerwissenschaften »Tagging« oder auch »Labeling«. Und jeder, der schon mal auf Facebook gewesen ist, kennt diesen Vorgang aus eigener Erfah- rung, denn wir werden von Facebook immer wieder zur Angabe aufgefordert, wer auf einem bestimmten Foto zu sehen ist. Eine Künstliche Intelligenz wie die, die Facebook einsetzt, wird so von uns Nutzern in der richtigen Benennung der Dinge und Personen trainiert. Ebenso wie bei Tieren oder Pflanzen übernimmt der Mensch die biblische Aufgabe der Namensgebung. 1 Ich schreibe hier »zu meinem Leidwesen«, weil ich selbst Teil der Expertengruppe war, Und so werden Maschinen eine sehr große Menge die die Entstehung dieses Berichts extern begleitet hat, und wir konnten als Externe an »Wissen« aus zweiter Hand von uns über die Welt den jungen OECD-Mitarbeiter trotz gutem Zureden nicht davon überzeugen, nicht in die Tessa-Falle zu tappen. Er wollte unbedingt Datenanalyse bzw. Verarbeitung selbst schon aufbauen können. Die Ideen selbst aber werden sie zu Wissen erheben und hatte die Idee, dass es aus den Daten sozusagen dann auf nicht erkennen können, denn wenn man plötzlich auf magische (?) Art zu Wissen käme. die Idee kommt, eine uralte Katze als „Greis“ zu be- -Impulse 2|20 | Grundsatzartikel 11
GRUNDSATZARTIKEL zeichnen, versteht das zwar jeder Mensch, aber eine tär zu unseren bestehenden Theorien manchmal neue Maschine nicht. Muster erkennen, die relevant sein können, oder in gro- ßen Datenmengen Zusammenhänge ermitteln, die wir Maschinen übertreffen andererseits den Menschen beim nicht erwarten würden und daher kaum sehen können Erkennen von einmal erfassten und wiederkehrenden (manchmal auch nicht wahrhaben wollen). Wenn diese Mustern. So kann ein Facebook-Algorithmus beispiels- relevant sind, können sie zu neuem Wissen führen. Das weise Leute auf Fotos wiedererkennen, die wir mit dem ist das wahre Fortschrittspotenzial Künstlicher Intelligen- bloßen Auge nicht zuordnen können, beispielsweise weil zen. Und ich sehe sehr viel digitales Fortschrittspotenzial die Haare einer Person auf dem Foto vor dem Gesicht für unsere Wissenschaften, wenn die Kooperation von hängen. Künstliche Intelligenz hat ein so feines visuelles Menschen und Maschinen so geartet ist, dass wissende Detailerkennungsvermögen, dass sie eine Person sogar Menschen unerwartete Maschinenvorschläge und Mus- auf Basis ihrer einzigartigen Haarstruktur wiedererkennt. tererkennungen unter die Lupe nehmen. Dieser Vorteil kommt auch bei der medizinischen Diag- nose zum Tragen, wenn Ultraschallbilder von Krebspati- Was wir darüber aber nie vergessen sollten ist, dass Ma- enten analysiert werden oder wenn ein Patient mehrere schinen gleichzeitig keinen natürlichen Zugang haben Medikamente nimmt, deren Bestandteile eine gegensei- zum Reich der Werte und damit zum Reich der Bedeu- tige Unverträglichkeit bedingen. In solchen Fällen, wenn tung. Sie haben eben eine „künstliche“ Intelligenz, die hoch strukturierbare, wiederkehrende Muster in großen von der „natürlichen“ Intelligenz des Menschen sehr Datenmengen auftreten, sind Maschinen einfach groß- verschieden ist. Und wer das nicht beachtet und nicht artig. Sie erkennen etwas, was wir Menschen zwar theo- versteht, der wird Künstlichen Intelligenzen eine Weisheit retisch wissen, aber selbst nicht so leicht sehen können. zusprechen, die sie systemisch niemals besitzen kön- Sie erspähen Wissenswertes für uns. nen. Es wird ein Vertrauen geschenkt werden, was nur enttäuscht werden kann. Maschinen können auch Realitäten in einer Vollständig- keit sehen, die uns Menschen entgeht. In der Forschung spricht man vom Phänomen der Unaufmerksamkeits- blindheit beim Menschen, um zu beschreiben, dass wir oft nur das sehen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren oder was wir erwarten und sehen wollen. Was nicht unseren Denk- und Wissenschaftsmodellen oder unseren Erwartungen entspricht, wollen wir nicht wahrhaben. Hier sind (vor allem selbstlernende) Ma- schinen hilfreich. Weil eine Künstliche Intelligenz eine gegebene Realität wie ein zunächst gleichgewichtetes Pixelspace voller Datenpunkte begreift, kann sie Muster und Feinheiten erkennen, die uns Menschen entgehen. Wenn wir sie auf großen Datenmengen über Sozialsyste- me trainieren, dann kann es auch sein, dass sie Muster erkennt, auf die wir selbst noch nicht gekommen wären, die aber einen Wahrheitsgehalt haben. Sie stellt sozu- sagen Vermutungen an, die sich weiterverfolgen lassen, um vielleicht neues Wissen zu generieren. Ein Kollege, den ich in der Big-Data-Arbeitsgruppe der OECD getroffen hatte, der selbst ein Marketing-Intelli- gence-Unternehmen in Paris gegründet hat, erzählte mir, dass die Big-Data-Analysen in seiner Firma aufge- deckt hätten, dass der Vorname einer Person mit der wichtigste Vorhersagefaktor im Kaufverhalten sei. Zwar gibt es schon in der jüdischen Kabbala die Idee, dass unsere Namen sehr viel über uns aussagen, dass eine Sarah nun mal keine Susi ist, aber im Prinzip hat die Maschine hier einen Zusammenhang in den Daten ent- deckt, die viele moderne Denker als esoterisch abtun würden. Wenn Maschinen solche Schlussfolgerungen anstellen und diese auf Basis von qualitativ hochwer- tigen Daten mit geringer Fehlerwahrscheinlichkeit be- gründen können, dann erscheinen sie uns intelligent, weil sie unsere eigenen Hypothesen und unser Wissen über die Welt infrage stellen und bereichern. Sie machen auch mit dem klassischen aber problematischen Mo- dellproblem der Moderne Schluss, weil sie komplemen- 12 -Impulse 2|20 | Grundsatzartikel
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