Welt in Aufruhr - rundschreiben 04/19 medico international

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Welt in Aufruhr - rundschreiben 04/19 medico international
rundschreiben
04/19
                                         medico international

Welt in
Aufruhr
Etwas radikal Anderes: Proteste in Haiti, Libanon, Chile
Angriff auf demokratisches Projekt: Nordsyrien/Rojava
In der Sackgasse: Migrationsabwehr in Niger und Mexiko
Welt in Aufruhr - rundschreiben 04/19 medico international
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Titelbild: „Chile ist aufgewacht“ nennt die berühmte
chilenische Schauspielerin Susana Hidalgo das Foto, das
sie während der Demonstration von 1,2 Millionen Menschen
in Santiago de Chile mit dem Handy aufnahm. Mit der
Mapuche-Fahne über der Menschenmenge wurde es
schnell zum ikonographischen Ausdruck einer Bewegung,
die das koloniale wie neoliberale Chile überwinden will.
Foto: Susana Hidalgo
Nach dem Feuer: Ein Baum im Amazonas nach
der Brandstiftung durch Holzfäller und Farmer.
Fotos der Autor*innen: medico, Privat.

Impressum

Herausgeber:
medico international
Lindleystr. 15
D-60314 Frankfurt am Main
Tel. (069) 944 38-0, Fax (069) 436002
E-Mail: info@medico.de
Homepage: www.medico.de

Redaktion: Katja Maurer (verantwortl.),
Thomas Gebauer, Moritz Krawinkel, Ramona Lenz,
Christian Sälzer
Korrektorat: Marek Arlt
Gestaltung und Satz: Andrea Schuldt

Hinweis: Das medico-rundschreiben ist auf
100 % Recyclingpapier gedruckt.

ISSN 0949-0876
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     Auf einen Blick – medico-rundschreiben 04/19

 4   Editorial

 6   Etwas radikal Anderes
     Kommentar: Von Haiti bis Irak – der Souverän erhebt sich

     Revolten der Würde
12   Nach dem Müllaufstand
     Der libanesische Protest und seine Vorgeschichte
15   Im Dauerzustand
     In Haiti fordert der Protest das System heraus
18   Ende eines kurdischen Neuanfangs
     In Rojava ist die befürchtete Katastrophe Realität geworden
23   Chile ist erwacht
     Aufstand gegen den Neoliberalismus in der Demokratie
27   Jesus, ein Sklavenarbeiter
     Politische Kunst für ein „Neues Evangelium“

28   Projekte/Projektionen
     Indonesien, Sierra Leone, Südafrika

     Grenzregime global
32   Vom Drehkreuz zur Sackgasse
     Abschottung in der Wüste. Eine Reise ins Zentrum Nigers
37   Auf der Sklavenroute
     Für Migrierende aus Afrika wird Mexiko zur Falle

40   Eine solide Definition wäre wichtig
     Interview zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“

46   Vielsamkeit eines ausschweifenden Zusammenhangs
     Essay über Solidarität in Gesellschaft

50   medico aktiv
     Der utopische Raum, Tagung zu Rückkehr, Afrika neu denken

52   Bestellen & Verbreiten

54   Spenden & Stiften
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Dieses rundschreiben handelt von
kleinen und großen Revolten im
Verlangen nach Würde

Liebe Leserinnen
und Leser,
mag die Redaktion noch so säkular sein: Es gehört zu den unergründ-
lichen Traditionen des medico-rundschreibens, dass die stets Anfang
Dezember herauskommende vierte Ausgabe im Jahr intern als „Weih-
nachtsrundschreiben“ bezeichnet wird. Diesmal passt das insofern,
als von der Ankunft des leibhaftigen Jesus Christus zu berichten ist. Er
erschien vor wenigen Wochen in Matera im äußersten Süden Italiens, wo
einst Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson ihre Christusfilme gedreht haben
und wo heute auf pestizidgesättigten Plantagen papierlose Arbeiter aus
Afrika Tomaten und Oliven ernten. Er erschien als einer von ihnen, ein
moderner Sklavenarbeiter, dessen Martyrium unsere Tische deckt und
Bäuche füllt. Mit seiner Ankunft wurde ein Neues Evangelium verkündet,
das ein Ende der Ausbeutung und Unterdrückung von seinesgleichen
fordert. „Manifest der Revolte der Würde“ heißt die frohe Botschaft 2.0.
Mehr über dieses, von dem Dramaturgen Milo Rau angestoßene und von
medico unterstützte, politische Theater lesen Sie auf Seite 27. Mit ihm
sind Ton und Thema dieses rundschreibens gesetzt: Es handelt von den
kleinen und großen Aufständen im Verlangen nach Würde.

Da sind die vielen individuellen Revolten all derjenigen, die sich ange-
sichts elender Gegenwarten und verwehrter Zukünfte auf den Weg
machen, um anderswo eine Perspektive zu finden. Reportagen aus Niger
und Mexiko erzählen davon, wie sie auf der Suche nach einem besseren
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Leben im Diesseits in einem jede Zuversicht zermürbenden Jenseits
gehalten werden: auf der anderen Seite von militarisierten Grenzen, die
den Wohlstandszonen die Verdammten dieser Erde mit zunehmendem
Sicherheitsabstand vom Leib halten sollen.

Und da sind die kollektiven Revolten, die aktuell vielerorts gleichzeitig
auflodern, eine auf Straßen und Plätze getragene Wut, die selbst
                                                                            Christian Sälzer
massive Repression nicht zu zügeln vermag. Jeder Aufruhr hat eigene         ist seit vielen
Geschichten. Einigen davon gehen die Beiträge auf den folgenden Seiten      Jahren Redakteur
                                                                            des medico-rund-
nach. Wohin der entflammte Zorn führt, vermag heute niemand zu              schreibens.
sagen. Was helfen könnte, damit sich aus den Aufständen beständige
politische Bewegungen entwickeln, diskutieren der Leitartikel von Katja
Maurer sowie der Beitrag des chilenischen Intellektuellen Carlos Pérez
Soto. Indem er in seinem Appell für eine „zielgerichtete Allmählichkeit“
die Notwendigkeit auch transnationaler Veränderungen betont – Betreff:
Freihandelsverträge, Finanzspekulation usw. –, verlängert er die lokalen
Aufstände in eine globale Dimension und damit in die Verantwortung aller
für eine andere Form der Globalität.

Dass und wie das rundschreiben über die Auseinandersetzungen von
Libanon über Haiti bis Chile berichten kann, hat mit dem langjährigen
Engagement von medico eben dort zu tun. Über den politischen Aus-
tausch mit unseren Partner*innen stehen wir in Beziehung zu denen, die
inmitten von Unrecht an der Möglichkeit von Gerechtigkeit festhalten.
In besonderem Maß gilt das aktuell für die Region Nordsyrien. Dort hat
die türkische Invasion jene humanitäre und politische Katastrophe
wahr werden lassen, vor der auch wir gewarnt hatten. Über 300.000
Menschen sind auf der Flucht, der wegweisende Aufbau eines pluralen,
demokratisch organisierten Gemeinwesens ist erschüttert (siehe ab
Seite 18). Das löst Bitterkeit aus. Die Helfer*innen des Kurdischen Roten
Halbmonds, unsere Partnerorganisation vor Ort, aber machen trotz allem
weiter. Um Leben zu retten. Um die Hoffnung aufrechtzuhalten. Auch das
ist eine Revolte gegen die Umstände.

Der Beitrag, den medico hierzu leistet, basiert auf der Unterstützung
vieler, auch in Form von Spenden und Fördermitgliedschaften. Nicht
nur wegen der akuten Notsituation in Nordsyrien/Rojava sind wir auf Ihre
weitere Solidarität angewiesen – auch und gerade im Zeichen aktueller
und kommender Revolten.

Herzliche Grüße,
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Etwas
radikal
Anderes
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Chile, Haiti, Libanon, Irak … Überall
demonstrieren die Menschen und machen
sich selbst zum Souverän

Von Katja Maurer

Eine nie dagewesene Welle des Protestes             Das selbstgemalte Plakat einer chilenischen
geht durch die Welt. Nach dem weltweiten            Demonstrantin spricht heute für alle Auf-
millionenstarken Klimastreik begannen am            stände: mi mayor miedo es, que eso se para,
20. Oktober 2019 die Proteste in Haiti, die bis     y todo siga igual. – „Meine größte Angst ist,
heute das ganze Land überziehen. Auslöser           dass das hier aufhört und alles gleich bleibt.“
war eine Benzinknappheit. Seitdem brennen           Die sich über Wochen ziehenden Demonst-
die Barrikaden. Am 25. Oktober durchbrachen         rationen sprechen Bände darüber, dass allen
Schülerinnen und Schüler alle Absperrungen          bewusst ist, wie langwierig und persönlich ris-
und stürmten Metro-Stationen in Santiago de         kant diese Auseinandersetzungen sein werden.
Chile wegen einer Tariferhöhung. Sie lösten         Bei den monatelangen Demonstrationen der
eine andauernde landesweite Volksbewegung           Gelbwesten in Frankreich gab es mindestens
aus. Im Libanon brachte die Einführung einer        82 schwerverletzte Demonstrierende. In Chi-
WhatsApp-Steuer zur gleichen Zeit Menschen          le haben 180 Personen ihr Augenlicht durch
aller religiösen Zugehörigkeiten auf die Straße.    Gummigeschosse verloren. In Haiti starben 40
Ähnliches spielt sich derzeitig im Irak ab, nicht   Personen durch Polizei- oder Ganggewalt. Im
zu vergessen die indigenen Proteste in Ecua-        Libanon griffen Hizbollah-Milizen die Demons-
dor. Und nirgendwo ist ein Ende absehbar.           trierenden an, die vom libanesischen Militär
                                                    geschützt wurden. Von den Auseinanderset-
All diese Bewegungen haben eine eigene Ge-          zungen um den Hambacher Forst gibt es immer
schichte, die mit dem Aufstand in Ägypten be-       wieder Berichte über äußerst brutales Vorgehen
gann, sich seither über Sudan, Syrien, Algerien     der Polizei, etwa über einen Demonstranten,
und viele andere Orte fortsetzt. Eine Geschich-     der mit schweren, von der Polizei zugefügten
te, die Lehren für die Aktiven und Engagierten      Kopfverletzungen, mit den Worten „er lebt ja
bereithält. Zum Beispiel, dass es nicht mit dem     noch“, liegen gelassen wurde.
Sieg in einer Schlacht getan ist. Das ist die
ägyptische Erfahrung, eine schmerzhafte Wun-
de: Dem Sturz Mubaraks folgte die Sisi-Diktatur,    Krise der repräsentativen Demo-
die weitaus schlimmer ist als die Vorgänger-        kratie
herrschaft. Damals verließen sich die Demonst-
rierenden noch auf die Repräsentant*innen der       Gemeinsam ist den Protesten weltweit das
unterschiedlichen Parteien. Das tun sie heute       fundamentale Misstrauen gegenüber den vor-
nicht mehr.                                         liegenden Herrschaftsformen. In Chile handelt
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es sich um einen Aufstand gegen die gesamte        Nationalflagge zeigt sich immer häufiger eine
politische, demokratisch gewählte Klasse. In       schwarze Fahne, in der nur noch die Recht-
Haiti fordert ein Vertreter der mit der Diaspora   ecke der einstigen Flagge zu sehen sind. Auch
aufs Engste vernetzten Aktivist*innen in einer     der Patriotismus ist also neu zu schreiben.
Talk-Show auf Al Jazeera, dass nicht nur der       Und zu ihm gehören alle, die da sind. In Chile
Präsident, sondern das ganze Parlament abge-       die Haitianer*innen, Venezolaner*innen und
setzt und vor Gericht gestellt werden müsste. In   Peruaner*innen, im Libanon die Geflüchteten
Ecuador fanden die Verhandlungen von Präsi-        aus Palästina und Syrien. Das zumindest be-
dent Moreno mit der indigenen Bewegung Conai       ginnt sich zu formieren. Der beliebteste Rap in
vor laufender Kamera statt, bis ein Teilerfolg,    Chile, gehört und verstanden von Alt und Jung,
die Rücknahme der Benzinpreiserhöhungen,           hat folgenden Refrain: „Hier sind wir alle, jeder
durchgesetzt war. Geheime Aushandlungen,           auf seine Weise, auf den Blockaden, Schulter
von Wirtschaftsanwälten in einer unverständli-     an Schulter, Anwälte, Professoren, Studenten,
chen Sprache geschriebene Klauseln, ein un-        Vagabunden, Doktoren, Straßenverkäufer. Uno
durchschaubarer Zwang der Verhältnisse, die        a Uno se hacen todxs – einer nach der anderen
keine Alternative zulassen, die Unterordnung       werden wir zu allen.“
des Gemeinwohls unter Wirtschaftsinteres-
sen, die Privatisierung des Staates also, haben    Das ist alles sehr anregend. Selbst für Zu-
den Glauben an seine Institutionen und seine       schauende vermittelt sich die Erfahrung der
gewählten Repräsentantinnen und Repräsen-          Selbstbemächtigung, die in diesen Wider-
tanten an vielen Orten in der Welt zutiefst er-    standszeichen liegt. Und doch gilt der Satz: All-
schüttert. Deshalb der Wunsch nach voller          machtsphantasien sind die Kehrseite der Ohn-
Transparenz und die fundamentalen, wenn
auch vagen Forderungen nach einem System-
wechsel, den auch sich links nennende Prä-
sidenten wie der gerade zurückgetretene Evo           Es gibt noch keine große
Morales in Bolivien, nicht mehr repräsentieren.       Erzählung von dem antikapi-
                                                      talistischen Neuen außer dem
Der chilenische Historiker Gabriel Salazar, ein
angesehener Träger des Staatspreises für Ge-          Prinzip, dass die Würde des
schichte, erläuterte dieser Tage auf CNN-Chile,       Menschen überall unantastbar
was sich da aus seiner Sicht vollzieht: nichts        sein muss.
anderes als eine „mentale Revolution“ der
Bürger*innenschaft, die sich selbst verwalte
und zum Souverän erkläre. Früher, so Salazar,
hätten Massen Führer und Parteien gehabt.          macht. So deutlich die Bereitschaft überall ist,
Sie seien zum Teil quasi militärisch organi-       sich auf Veränderungen einzulassen, so unklar
siert gewesen. Heute hingegen gebe es eine         ist es, wie diese notwendigen Transformatio-
Menge aus Individuen, Singularitäten, die jede     nen des ganzen Systems vonstattengehen sol-
Partei und deren Führer*innen, jede Avant-         len. Eine demoralisierte globale Elite, die auf
garde und deren Fahnen explizit ablehnen.          ihren jährlichen Treffen in Davos ebenfalls von
Die Banner auf den Demonstrationen in Chile        der Notwendigkeit grundlegender Änderungen
sind Mapuche-Fahnen, also Symbole aus ei-          redet, und eine globalisierungskritische Be-
ner vorkolonialen Ära. Neben der traditionellen    wegung aus den 2000er Jahren, die Aufstän-
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de des arabischen Frühlings und die heutigen       Der Weg entsteht im Gehen.“ Dabei kann pas-
globalen Revolten kommen an diesem Punkt           sieren, dass man sich blaue Flecken und Bles-
zusammen: in ihrer Ratlosigkeit und in den         suren holt, wenn nicht Schlimmeres. Wie der
fehlenden Formen der Institutionalisierung         deutsche Schriftsteller Franz Jung, der sich
einer neuen Demokratie und Teilhabe. Das           in seinem autobiografischen Roman „Der Weg
aber hat bislang immer zu einem fatalen und        nach unten“ als einen Torpedokäfer beschrieb,
entmutigenden Sieg des Status quo geführt.         der immer aufs Neue kraftvoll Anlauf nahm,
Die arabischen Diktatoren Sisi und Assad sit-      die Wand zu durchbrechen, an der er doch wie-
zen auch deshalb (wieder) so sicher im Sattel,     der abprallte. Er wusste damals, warum er sich
weil viele Angst vor der Unberechenbarkeit des     riskierte. Die sozialistische Revolution war für
Neuen hatten. Der Status quo, das muss die         ihn eine ausgemachte Sache, obwohl er allen
Lehre aus den Sisis, Bolsonaros, Trumps und        Akteur*innen dieser großen Veränderung mit
Höckes sein, wird immer schlimmere Fratzen         Spott und kritischer Distanz begegnete. Wofür
gebären, um sich zu erhalten.                      man sich heute riskieren soll, ist nicht so klar.
                                                   Wie kann das Neue die Vernunft, die Lehren aus
Vielleicht ist die Zeit noch nicht reif, weil es   der Geschichte, auch die totalitären Seiten auf-
keine große Erzählung von dem antikapitalisti-     bewahren und doch ein Pathos der Hoffnung
schen Neuen gibt außer dem Prinzip, dass die       entwickeln, das nicht nur von der Apokalypse
Würde des Menschen überall unantastbar sein        gespeist ist? Es wird nicht mehr in zwei klare
muss. Es fehlt eine Idee von den Institutionen,    Worte zu fassen sein. Gewissheiten könnten die
in denen wagemutige Transformationsprozes-         Totengräber des Neuen werden. Der karibische
se hin zu einer ökologisch und menschenrecht-      Philosoph Èduard Glissant schlug hingegen ein
lich organisierten Welt in kleinen Schritten ge-   „Denken der Spur“ vor. Dies sei ein „nicht-syste-
dacht und umgesetzt werden. Vielleicht sollte      matisches, intuitives, brüchiges, ambivalentes
man gerade auf die suprastaatlichen Formen         Denken, das der außerordentlichen Komple-
schauen wie die Europäische Union und die          xität und der außerordentlichen Vielfältigkeit
UNO, die so wenig in die Idee von Transparenz      der Welt, in der wir leben, am besten gerecht
und einer neuen Demokratie zu passen schei-        wird.“ Eine Herausforderung an unsere Neugier
nen, bevor man sie glaubt verwerfen zu müs-        und unsere Lernbereitschaft. Es gibt wahrlich
sen. Da aber klar ist, dass heute tiefgreifende    schlimmere Herausforderungen.
Transformationen zu einer dem Menschen und
der Natur verpflichteten Wirtschaftsweise, ei-
                                                                      Katja Maurer ist Chefredakteurin des
ner auf Gemeinsinn gegründeten Gegengesell-                           rundschreibens und hat im Oktober
schaft nur global stattfinden kann, reicht es                         in Haiti den Beginn der bis heute an-
                                                                      dauernden Proteste selbst miter-
nicht auf die basisdemokratischen Cabildos
                                                                      lebt.
zu setzen, die gerade in Chile überall die Selb-
storganisation der Bürger*innenschaft institu-
tionalisieren sollen.

Das Denken der Spur

Der spanische Dichter Antonio Machado
schrieb einst „Wanderer, es gib keinen Weg.
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Revolten de
Foto: Ahmad Al-Rubaye / AFP

     Anlaufpunkt der Demonstrierenden im Irak: Der Baghdader Tahrir-Platz.
er Würde

  Seit dem arabischen Frühling haben
  alle Bewegungen und Aufstände trotz
  ihrer Unterschiedlichkeit gemein-
  same Forderungen. Zusammengefasst
  lauten sie: Brot, Würde und Frei-
  heit. Es sind keine Hungeraufstän-
  de, sondern Kämpfe um Perspektiven
  auf ein menschenwürdiges Leben.
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Nach dem Müllaufstand
Der libanesische Protest und seine Vorgeschichte

Von Lokman Slim und Monika Borgmann

Um die gegenwärtigen Auseinandersetzungen        bei dem sich führende Mitglieder verschiede-
im Libanon zu verstehen, lohnt es sich einen     ner politischer Parteien und Politikberater*in-
kurzen Blick auf die Entwicklungen zu werfen,    nen zusammenfanden. Das herrschende Esta-
die den seit dem 17. Oktober 2019 andauernden    blishment also. Trotz der großen Divergenzen
landesweiten Demonstrationen vorausgingen.       unter den Anwesenden gelang es diesem au-
Nur zur Erinnerung: Im Mai 2015, kurz nach       ßerinstitutionellen Dialog, sich der Solidarität
dem Ende der Amtszeit von Michel Suleiman        untereinander zu versichern und sich gegen-
und dem Scheitern des libanesischen Parla-       seitig zu bestätigen, wie eng die Interessen
ments einen neuen Präsidenten der Republik       miteinander verwoben sind.
zu küren, erlebten die Straßen und Plätze Bei-
ruts schon einmal einen Protest ähnlicher Grö-
ßenordnung, der als Müllaufstand in die Ge-      Wahlen als Scheinstabilität
schichte des Landes einging.
                                                 Unter nicht unerheblichem Druck der „interna-
Die Schließung einer Mülldeponie führte da-      tionalen Gemeinschaft“, die darauf drängte
mals zu einer landesweiten Müllabfuhrkrise,      um jeden Preis die Fassade eines stabilen Li-
die die Menschen auf die Straßen und Plätze      banons aufrechtzuerhalten, wurden trotz ei-
überall im Land brachten. Damals schon wa-       nes fehlenden Präsidenten Kommunalwahlen
ren die Demonstrationen eine große öffentli-     abgehalten. Und das unter Bedingungen, da
che Abrechnung mit dem herrschenden Miss-        weder Staat noch Regierung funktionstüchtig
management, der Korruption und der Inkom-        waren und zudem eine Million syrischer Flücht-
petenz. Schon damals wurde zudem deutlich,       linge und eine tief in den syrischen Konflikt
dass das libanesische System einer ausgeklü-     verwickelte, pro-iranische Hisbollah die Lage
gelten Machtteilung dringend verändert wer-      noch erschwerten.
den muss. Aber es gelang dem System seine
Krise zu überleben.                              Seitdem brodelte und kochte die Unzufrieden-
                                                 heit und äußerte sich immer wieder in kleine-
Um den Müllaufstand zu neutralisieren wurden     ren Protesten über schlechte Lebensbedin-
Dutzende Aktivistinnen und Aktivisten festge-    gungen, Frauenrechte, Umweltbelange, die
nommen und vor das Militärgericht gestellt.      mangelnde Integrität der Justiz, die Rechte
Parlamentssprecher Nabih Berri von der schii-    von Menschen mit Behinderung und andere
tischen Amal lud zu einem Nationalen Dialog,     Themen. Dieser facettenreiche gesellschaftli-
13

che Aktivismus erklärt, warum die Demonst-         spielt die Hisbollah eine entscheidende Rolle.
rant*innen von 2019 so entwickelte Forderun-       Sie ist Irans Aktivposten und dessen Stellver-
gen artikulieren können.                           treter im Libanon. Die militärische Stärke der
                                                   Hisbollah ist heute genauso stark wie 2015,
Weder die Kommunalwahlen von 2016 noch die         aber sie hat an ihrem politischen Profil aus in-
Parlamentswahlen von 2018 konnten als ei-          nerlibanesischen und regionalen Gründen
gentlich demokratische Mechanismen diesen          Schaden genommen. Danach sah es nach
Berg von Missständen angehen und die Sehn-         2015 zunächst nicht aus.
sucht nach Veränderung kanalisieren. Viel-
mehr zeigte sich die politische Klasse als ab-     Nach der Müllkrise gelang es der Hisbollah die
solut unfähig und inkompetent, die Grund-          Regierungskrise zu überwinden und den von
funktionen des Staates zu sichern und eine         ihr unterstützten Kandidaten General Michel
tragfähige Wirtschaftspolitik zu betreiben.        Aoun zum Präsidenten der Republik wählen zu
                                                   lassen. Im November 2017 wiederum verhielt
                                                   sich die Hisbollah sehr umsichtig bei dem
Ende der Nach-Bürgerkriegsordnung                  letztlich gescheiterten saudischen Versuch,
                                                   den damaligen Premierminister Saad Hariri
Als die libanesische Regierung am 17. Oktober      zum Rücktritt zu bewegen. Die Hisbollah er-
eine Steuer auf WhatsApp ankündigte, um die        langte so den Ruf einer rationalen Akteurin, die
Einnahmen für den Haushalt 2020 zu erhöhen,
löste sie einen massiven Volksaufstand aus.
Seitdem überfluten Zehntausende Menschen
aller sozialen Schichten, Bildungsniveaus und         Die politische Klasse zeigt
religiösen Hintergründe die Straßen und Plätze        sich als absolut unfähig
des Libanon, fordern einen Regierungswechsel
                                                      und inkompetent, die Grund-
und erklären den Status quo für nicht länger ak-
zeptabel. Demonstrant*innen von Tripolis über         funktionen des Staates zu
Baalbek bis Tyrus verlangen von der korrupten,        sichern und eine tragfähige
unfähigen und dysfunktionalen politischen Klas-       Wirtschaftspolitik zu be-
se den Rücktritt und ein Spezialist*innen-Kabi-       treiben.
nett, um die Nation vor einem finanziellen Ruin
zu bewahren, der das ganze Land in den Ab-
grund stürzen würde. Darüber hinaus gibt es
Forderungen nach der Rückgabe gestohlener          das Land davor bewahrt, in einen sunnitisch-
öffentlicher Gelder und nach einem Ende der        schiitischen Konflikt zu geraten. Im Mai 2018
religiös und ethnisch geprägten Regierungs-        ging die Hisbollah sogar als eine Hauptsiegerin
führung, die das Land nominell intakt gehalten     aus den Parlamentswahlen hervor.
hat, in Wirklichkeit aber nur die sozialen Spal-
tungen der Bürgerkriegszeit aufrecht erhält.       Aber als Hassan Nasrallah, der Hisbollah-Chef,
                                                   am 17. Oktober 2019 sich in aller Öffentlichkeit
Die Art, wie der Müllaufstand 2015 endete, er-     zum Machtgaranten des Establishments er-
klärt, warum die Revolution sich nicht einfach     klärte, der die Grenzen der Volksproteste defi-
abspeisen lässt und es schwer vorherzusehen        niert und dabei mehr mit der Peitsche als mit
ist, wie eine Lösung aussehen könnte. Dabei        dem Zuckerbrot wedelte, trug er zu Eskalation
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der Proteste bei. Damit ist die Rolle der Hisbol-   Korruptionsvorwürfe gegen die Amal von Nabih
lah als Bürge für Stabilität und Garant für das     Berri und auch gegen die Hisbollah lassen sich
Establishment schwer beschädigt worden.             auch nicht mit dem Verweis auf einen äußeren
                                                    Feind aus der Welt räumen.
Wie beschreibt man die Ereignisse seit dem 17.
Oktober? Die einen sagen, der Grund für den         Bis jetzt hat die Hisbollah alles unternommen,
Aufstand sei wesentlich ökonomischer Natur.         um die Volksaufstände im Irak (die offen “Iran
Der Weg aus der Krise läge in geeigneten Wirt-      raus” fordern) von dem, was im Libanon ge-
schaftsmaßnahmen. Das ist eine Erzählung des        schieht, zu unterscheiden. Auch ist die gele-
Establishments, die auch die Hisbollah teilt.       gentliche körperliche Gewalt im Libanon - sei
                                                    es durch die Hisbollah/Amal oder durch die Si-
Sie behauptet allerdings auch, hinter dem           cherheitskräfte – nicht mit der Gewalt zu ver-
Volksaufstand stünden Drahtzieher*innen, die        gleichen, die in den Straßen von Bagdad oder
den (legitimen) Volkszorn instrumentalisier-        Kerbala zu beobachten ist, wo es bereits Hun-
ten. Mit dieser Erzählung einher geht die Dro-      derte von Toten gab. Der Schachzug der His-
hung, dass die Krise nur mit Waffengewalt zu        bollah, dem Protest im Libanon eine antiirani-
lösen sei. Eine komplexere Erzählung sieht in       sche Note abzusprechen, hat nun der iranische
der Revolte eine Mischung aus wirtschaftli-         Religionsführer Khamenei selbst unterlaufen,
chen Gründen und einem Generationenwech-            indem er die Proteste im Libanon und im Irak
sel. Eine neue libanesische Generation „ent-        auf eine Stufe stellte und als „satanische Ver-
deckt“ die res publica, will darin einen Platz      schwörungen“ denunzierte. Wie sich die Situa-
einnehmen und beansprucht die Verwirkli-            tion im Libanon weiter entwickeln wird, hängt
chung ihrer Ideale und Sehnsüchte.                  also auch sehr stark von den regionalen Um-
                                                    ständen ab.
Für viele war die große schiitische Teilnahme
an den Protesten das Augenfälligste. Damit wi-
                                                                      Mit Monika Borgmann und Lokman
derlegt wurde auch das tief verwurzelte Vorur-                        Slim verbindet medico eine lange
teil, die Schiitengemeinschaft sei ein steinhar-                      Geschichte der Zusammenarbeit.
                                                                      Beide nutzen den Raum der Kunst
ter Block, folge religiös dem „Widerstands“-                          mit Ausstellungen und Filmen, um
Glauben der Hisbollah oder akzeptiere fraglos                         eine Erinnerungskultur mit zu entwi-
die Möglichkeit, Teil des klientelistischen Netz-                     ckeln, die sich am Beispiel des liba-
                                                                      nesischen Bürgerkrieges und des
werks der Amal-Bewegung zu sein. In Bezug                             syrischen Foltergefängnisses in Tad-
auf die „Revolution“ versuchen Nasrallah und                          mor kritisch mit der Geschichte der
andere Hisbollah-Sprachrohre immer wieder,                            Region auseinandersetzt.
zwischen einem guten und legitimen Aufstand
einerseits und feindlichen Kräften anderer-
seits zu unterscheiden. Die sogenannten
feindlichen Kräfte werden mit Israel und den
USA in Verbindung gebracht, die die „Wider-
standsfähigkeit“ des Libanons untergraben
wollten. Ob diese Argumentation verfängt, darf
bezweifelt werden. Die Hisbollah ist seit 2005
Teil der libanesischen Regierung und trägt Ver-
antwortung für das Versagen des Staates. Die
15
Foto: Chandan Khanna / AFP

                             Von ihren Dächern aus beobachten Anwohner*innen eine Demonstration für den Rücktritt des haititanischen Präsidenten
                             Jovenel Moïse.

                             Im Dauerzustand
                             Proteste und Barrikaden in Haiti legen seit zwei
                             Monaten das öffentliche Leben lahm

                             Vor einem Jahr traf ich den chilenischen Bot-              in Regierungsämtern das Gefühl haben, ir-
                             schafter in Haiti. Von der Mitte-Links-Regie-              gendwie für die Nichtanerkennung und Verfol-
                             rung Bachelet eingesetzt, verkörperte er die-              gung in der Vergangenheit entschädigt worden
                             sen sonnigen Optimismus ehemaliger von                     zu sein. Wahrscheinlich reicht schon die Tatsa-
                             Pinochet vertriebener Oppositioneller, die nun             che, dass wir von der medico-Partnerin Suzy
16

Castor, einer in ganz Lateinamerika bekannten      Dieses Grenzregime hat enorme Auswirkungen
Historikerin, geschickt wurden, um als Teil ei-    auf das Land selbst und auf die haitianischen
ner politischen Familie mit all ihren Zerwürf-     Communities außerhalb Haitis. Denn bedroht
nissen zu gelten. Jedenfalls glaubte er mich       ist das, was für die soziale Entwicklung Haitis
zu kennen, weil er schon ahnte, dass auch ich      bislang von großer Bedeutung war: die grenz-
eine politische Sozialisation habe, die von den    übergreifende Infrastruktur und die Herausbil-
chilenischen Ereignissen 1973 ff. geprägt ist.     dung eines grenzübergreifenden nationalen
Ich kannte ihn nicht, wollte aber wissen, was      Selbstverständnisses. Wer zu einem guten ha-
mit den Haitianerinnen und Haitianern, die zu      itianischen, kreolsprechenden Arzt will und es
diesem Zeitpunkt nach Chile ausgewandert           sich leisten kann, fliegt eben kurz nach Miami.
waren, passieren werde. 200.000 hatten bis         Zwei Flugstunden entfernt gibt es eine haitia-
2018 die Visumsfreiheit zwischen Haiti und Chi-    nisch geprägte Infrastruktur. Auch Treffen der
le zur Einwanderung in das südliche Anden-         über den Kontinent verstreuten Verwandt-
land genutzt.                                      schaft finden gern in der bunten Küstenstadt
                                                   Floridas statt. Das ist natürlich eine Mittel-
In der Botschaft war Überraschendes zu erfah-      schichtserzählung. Aber die Mittelschicht hat
ren. Vor einem Jahr noch Boomland, war Chile       Haiti sukzessive verlassen und der gescheiter-
sehr aufnahmebereit und unbürokratisch. Man        te Wiederaufbau nach dem Erdbeben von 2010
habe Interesse, so der Botschafter, die Haitia-    hat diesen Trend noch verstärkt. 70.000 flohen
ner*innen möglichst schnell mit einem siche-       nach dem Erdbeben in die USA.
ren Aufenthaltsstatus zu versehen. Nötig seien
dafür ein Pass und ein polizeiliches Führungs-     Der seit über einem Jahr andauernde Protest in
zeugnis. Da letzteres von den haitianischen Be-    Haiti, der sich seit Oktober 2019 in einen per-
hörden nicht schnell genug geliefert werden        manenten Aufstand verwandelt hat, hat einen
könne, habe man sich für die Zusammenarbeit        Ausgangspunkt genau in diesem transnatio-
mit Interpol entschieden. Auch Familiennach-       nalen Selbstverständnis. Begonnen haben die
zug hatte Chile recht einfach geregelt. Nach-      Demonstrationen und Proteste, nachdem die
weise über Spanischkenntnisse verlangten sie       Ergebnisse mehrerer Untersuchungskommis-
keine. Die Kinder der Einwander*innen würden       sionen des haitianischen Parlaments über den
dann schon Spanisch lernen, so der Botschafter.    Petrocaribe-Skandal zu keinerlei politischen
                                                   und juristischen Maßnahmen führten. Die offi-
Ein Jahr später sind die Grenzen zu Chile dicht.   ziellen Untersuchungen stellten fest, dass
Man braucht für ein Besuchsvisum, Kranken-         zwei Milliarden Dollar der venezolanischen
versicherung und Rücklagen, wie weltweit in        Hilfsgelder entwendet wurden. Beschuldigt
der Flüchtlingsabwehr üblich. Auch alle ande-      wird dabei auch der gegenwärtigen Präsident
ren Wege, der haitianischen Misere zu entkom-      Jovenel Moïse, dessen Absetzung seither von
men, verschließen sich. Die USA haben in Haiti     fast allen haitianischen Parteien und Organi-
ihre Konsularabteilung zur Erstellung von Visa     sationen gefordert wird.
geschlossen. Eine Katastrophe für Angehörige
der Hunderttausenden in den USA lebenden           Die Petrocaribe-Gelder waren ein Langzeitkre-
Haitianer*innen. Die Grenzkontrollen zur domi-     dit der venezolanischen Regierung unter ande-
nikanischen Republik sind immer engmaschi-         rem an Haiti. Öl wurde zu einem bewusst billi-
ger und gleichen sich europäischen und             gen Preis weitergegeben, mit der Erlaubnis, es
US-amerikanischen Normen der Biometrie an.         auf dem Weltmarkt zu weitaus höheren Prei-
17

sen zu verkaufen, um aus dem Gewinn drin-          einer klugen Moderatorin mit Kopftuch und
gend nötige Sozialprogramme zu finanzieren.        professioneller Maske, ergründet. Der Initiator
Die angekündigten Sozialprojekte wurden in         der Petrocaribe-Bewegung forderte dort nichts
Haiti nie verwirklicht. Eine Gruppe junger Leute   weniger als den Rücktritt aller Politikerinnen
aus der nordamerikanischen Diaspora richtete       und Politiker. Ein neues System müsse her, das
eine Webseite ein, auf der man den Ist-Zustand     die Würde der Haitianer*innen wieder herstel-
von angeblich mit dem Geld finanzierten Pro-       le. Eine Wortwahl, die man von anderen Auf-
jekten posten konnte. Diese Idee gründete          ständen derzeit kennt.
eine Jugendbewegung, die bis heute ein Pfei-
ler des Widerstands gegen die Regierung ist.       Der legitime Widerstand in Haiti trifft auf die
Bis ins Detail konnten die jungen Leute im gan-    sture Ignoranz der Herrschenden, die offenbar
zen Land nachweisen, dass statt Projekten al-      eine bürgerkriegsähnliche Entwicklung inkauf-
lenfalls Bauruinen entstanden sind. Bereichert     nehmen, anstatt den Weg zu einer politischen
                                                   Lösung zu öffnen. Sie können sich dabei von
                                                   der sogenannten internationalen Gemein-
  Der legitime Widerstand                          schaft in Form der Core-Group, der neben der
                                                   UNO, Kanada, den USA und Frankreich auch
  in Haiti trifft auf die
                                                   Deutschland angehört, unterstützt fühlen. Die
  sture Ignoranz der Herr-
                                                   Core-Group setzt auf ein Weiter-So mit Präsi-
  schenden, die offenbar                           dent Moïse. Es scheint, als habe das nationale
  eine bürgerkriegsähnliche                        und internationale Establishment für Haiti, das
  Entwicklung in Kauf nehmen.                      mit seinem Befreiungskampf das Symbol für
                                                   die Universalität der Menschenrechte ist, kei-
                                                   nen anderen Plan, als es dem Vergessen an-
                                                   heim zu geben. Kein anderes Schicksal also
hat sich eine haitianische Elite, die sich den     als das der Haiti-Geflüchteten, deren Perspek-
Staat angeeignet hat, während die haitiani-        tiven von Chile bis in die Dominikanische Repu-
sche Bevölkerung auf dem Kredit aus Vene-          blik trostlos sind. Das aber ist unhaltbar. Der
zuela sitzen bleibt. Das hat in der gesamten       Aufstand geht also weiter.
haitianischen Community weltweit für enorme
Empörung gesorgt.                                  Katja Maurer

Dieser transnationale Echoraum des Wider-          Siehe auch die Blogs von Katja Maurer zu Haiti
stands gegen eine korrupte Politik und gegen       unter www.medico.de/haiti. Im Frühjahr er-
die Straflosigkeit vollzieht sich vorwiegend in    scheint das von ihr mit verfasste Buch „Haitia-
den sozialen Netzwerken und den Medien des         nische Renaissance“ bei Brandes und Apsel.
Südens. Während über den Aufstand in Haiti,
seine Verzweiflung und seine Vielfalt – es de-
monstrieren junge Leute, aber auch Gesund-
heitsarbeiter*innen und die Kirchen mit ihren      Spenden für die Arbeit der medico-Partner, die
Gläubigen – fast niemand in den westlichen         sich u.a. für die Menschenrechte der Migrant*
Medien berichtet, hat Al Jazeera längst das        innen einsetzen.
Thema entdeckt und mehrfach in großen trans-
atlantischen Diskussionsrunden, geführt von        Spendenstichwort: Haiti
18

                                                                                                                        Foto: Fadel Senna / AFP
In Hasakeh, der nächsten Stadt außerhalb des Kampfgebiets, kommen die Vertriebenen des türkischen Angriffs notdürftig
in Schulen unter.

Ende eines kurdischen
Neuanfangs
Die Invasion der Türkei in Rojava hat die vor-
erst letzte Chance auf eine demokratische Ent-
wicklung in Teilen Syriens brutal zerschlagen

Von Anita Starosta

Eigentlich hätte hier ein anderer Text beginnen             Trotz im Laufe der letzten Jahre auf den Weg
sollen: ein Text über die Entwicklungen, die die            gebracht haben. So hätte der Text von den
medico-Partnerorganisationen und die Selbst-                Fortschritten beim Aufbau einer Basisgesund-
verwaltung in Nordsyrien allen Widrigkeiten zum             heitsversorgung für alle Menschen berichtet,
19

die in dieser multiethnischen Region ihr Zu-      en befürchtet haben und vor der auch medico
hause haben oder Zuflucht fanden. Womöglich       immer wieder gewarnt hat. Krieg statt Rojava.
hätte der Text dies am Beispiel des Kranken-
hauses in Ra‘s al-‘Ain (kurdisch: Serê Kaniyê)    Das Krankenhaus in Ra‘s al-‘Ain ist in die Hän-
verdeutlichet. Das in Gefechten mit der al Nus-   de von islamistischen Milizen gefallen, viele
ra Front ehedem schwer beschädigte Gebäude        andere mühsam geschaffene Gesundheitsein-
ist mit viel Mühe renoviert und ausgestattet      richtungen liegen in den Gebieten, die plötz-
worden. Noch vor Kurzem wurden Besucher*in-       lich von türkischen Söldnern besetzt sind, oder
nen stolz die neuen OP-Räume und Kranken-         in dem 30 Kilometer tiefen Streifen, in dem nun
zimmer gezeigt. In der Gesundheitsakademie        russisches, syrisches und türkisches Militär
eine Etage darüber lernten junge Studierende      patrouilliert. Die Ärzt*innen, Pfleger*innen und
das medizinische Handwerk. Man hätte in dem       Studierenden aus Ra‘s al-‘Ain und viele andere
Text auch auf die Waisenhäuser in Derik und       sind im Kriegsgebiet oder bei der Versorgung
Kobane eingehen können, wo Sozialarbei-           von Flüchtlingen im lebensgefährlichen Ein-
ter*innen mit Kindern arbeiteten, die im Krieg    satz. Manche sind unter Raketenbeschuss ge-
ihre Eltern verloren haben, und zugewandt         storben oder wurden entführt und ermordet.
versucht wurde, trotz allem erlebten Grauen       Das Waisenhaus in Kobane wurde evakuiert.
Zuversicht wachsen zu lassen. Sicher wäre der     Vorläufig beendet ist die erzieherische Arbeit
Text auch auf die Anstrengungen der kurdi-        mit gefangenen IS-Angehörigen. Aktuell geht
schen Selbstverwaltung und der lokalen Hilfs-     es nur darum, weitere Ausbrüche zu verhin-
organisationen eingegangen, einen Umgang          dern. Besonders in den Camps Ain Issa oder al
mit den (internationalen) IS-Anhänger* innen      Hol ist die Situation angespannt, aus dem La-
zu finden, für die sie in Flüchtlingslagern und   ger in Ain Issa konnten nach einem türkischen
Gefängnissen Verantwortung übernehmen             Angriff Hunderte ausländische IS-Anhängerin-
mussten, während sich der Rest der Welt eben      nen mit ihren Kindern fliehen.
dieser entzog.
                                                  In dem, was dieser Text jetzt zu erzählen hat,
Vieles wäre zu erzählen gewesen von dem Be-       geht es also nicht mehr um Perspektiven. Es
mühen, ein freiheitliches und demokratisches      geht ums Überleben. Dahin ist die relative
Gemeinwesen zu bilden, von dem letzten gülti-     Ruhe und Sicherheit in Nordsyrien. Bis heute
gen Versuch, den Status quo zu überwinden         gab und gibt es keine Waffenruhe, weder wäh-
und anstatt ein autoritäres und gewalttätiges     rend der Verhandlungen zwischen Russland,
Regime zu stützen eine demokratische Alter-       dem Assad-Regime und der Türkei, noch jetzt,
native aufzubauen, in der alle ethnischen und     nach der Einigung auf die türkisch-russischen
religiösen Minderheiten ihren Platz finden.       Patrouillen in der Pufferzone entlang der Gren-
                                                  ze. Auch heute noch muss zum Beispiel das
                                                  Krankenhaus in der Stadt Tel Tamer – der zen-
Komplett neue Vorzeichen                          trale Ort für die Erstversorgung der Verletzten
                                                  – immer wieder evakuiert werden, zu nah rü-
Doch die Realität hat diese Absicht überrollt     cken islamistische Milizen, die unter Führung
wie Panzer die Grenze. Mit Beginn der türki-      der Türkei operieren und das Gebiet zwischen
schen Militäroffensive am 9. Oktober 2019 ist     Tall Abyad (Girê Sipî) und Ra‘s al-‘Ain (Serê Ka-
die politische und humanitäre Katastrophe         niyê) besetzen. Auch das ist Teil des mit Russ-
wahr geworden, die die Menschen in Nordsyri-      land und Assad geschlossenen Abkommens.
20

Und inmitten dieser politischen Katastrophe       unter. Weil der Platz nicht reicht, werden jetzt
sind mindestens 300.000 Menschen auf der          Camps ausgebaut und neue errichtet. Aktuell
Flucht und müssen versorgt werden.                wird das Flüchtlingslager Newroz mit Unter-
                                                  stützung von medico erweitert und ein Camp
Von der Bergung von Kriegsverletzten über die     an der Straße von Tel Tamer nach Hasakeh er-
Evakuierung ganzer Landstriche bis zur Vertei-    richtet – allein dieses soll 30.000 Familien Zu-
lung lebenswichtiger Güter an Geflüchtete: Seit   flucht bieten. In einem öffentlichen Appell hat
dem 9. Oktober sind die Nothelfer*innen der       sich der Kurdische Rote Halbmond an interna-
medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter       tionale NGOs mit der Bitte um Unterstützung
Halbmond im Dauereinsatz. Sie kümmert sich        für dieses Camp gewandt. Bisher sind sie dort
um acht reguläre Flüchtlingscamps in der Re-      alleine.
gion und etliche informelle Ansiedlungen mit
über hunderttausend Binnenvertriebenen aus        Die Beispiele zeigen, wie wichtig die fortlau-
Syrien und über zehntausend internationalen       fende, solidarische Unterstützung der lokalen
IS-Anhänger*innen samt Kindern. Zwar ge-          Helfer*innen ist und wie groß auch der Hilfsbe-
währleisten das UN-Flüchtlingshilfswerk und       darf in den nächsten Wochen sein wird. Sie zei-
die Weltgesundheitsorganisation dort eine ru-     gen aber auch, dass eigentlich geplante Pro-
dimentäre Basisversorgung, viele internatio-      jekte wie der Aufbau eines Kinderkrankenhauses
nale Hilfsorganisationen aber haben sich aktu-    in Hasakeh vorläufig ausgesetzt sind. Akute
ell zurückgezogen – zu groß die Angst vor den     Nothilfe ist, was gerade zählt.
Folgen der Präsenz des syrischen Regimes,
dem Wiedererstarken des IS und der näher rü-      Ob die Geflüchteten jemals wieder in ihre Hei-
ckenden Front. Auch in dieser Hinsicht werden     matorte zurückkehren können, ist mehr als
die Helfer*innen vor Ort alleine gelassen. Die    ungewiss. Ein Leben unter türkischer Besat-
Versorgungslage ist schon jetzt mehr als pre-     zung, wie zwischen Russland, der syrischen
kär. Und nun bricht der Winter herein.            Regierung und der Türkei für einen Teil der um-
                                                  strittenen Region vereinbart wurde, ist vor al-
In einer ersten Hilfsmaßnahme hat medico mit      lem für einen Großteil der kurdischen Bevölke-
Spendengeldern den Kurdischen Roten Halb-         rung keine Option. Hinzu kommen die Ankündi-
mond beim Kauf von Medikamenten zur Be-           gungen Erdoğans, 1,2 Millionen in der Türkei ge-
handlung chronischer Krankheiten von Ge-          strandete syrische Flüchtlinge in Nordsyrien
flüchteten unterstützt. Zudem wird der Betrieb    ansiedeln zu wollen. Durch die Vertreibung und
der zwei zentralen Krankenhäuser in Tel Tamer     ethnische Säuberung der bis dato vorwiegend
und Hasakeh aufrechterhalten. Hierher sind        kurdischen Gegend schafft die Türkei Fakten.
die meisten Kriegsverletzten gebracht wor-        Ziel ist eine demographische Neuordnung der
den. Der Kurdische Rote Halbmond verfügt          Region. Flüchtlinge gegen ihren Willen in völ-
momentan über 54 Rettungswagen, für rund          kerrechtswidrig besetzten Gebieten anzusie-
die Hälfte hat medico die laufenden Kosten        deln, ist eine eklatante Verletzung der Genfer
übernommen, vom Treibstoff bis zur Repara-        Flüchtlingskonvention. Hinzu kommt: Mit einer
tur. Vorangetrieben wird auch der Ausbau sani-    Ansiedlung von Syrer*innen, die in die Türkei
tärer Anlagen und des Abwassersystems in 39       geflohen waren, drohen auch viele wieder un-
Notunterkünften in der Stadt Hasakeh. Zehn-       ter die Kontrolle des Regimes zu geraten, die
tausende Flüchtlinge kommen zurzeit in Schu-      sich diesem aus guten Gründen durch Flucht
len oder anderen öffentlichen Einrichtungen       entzogen haben.
21

All diese Entwicklungen klingen auf unheim-        Mit dem völkerrechtswidrigen Angriff und der
liche Weise vertraut. Aspekt für Aspekt wieder-    von außen bestimmten politischen Neuord-
holt sich, was schon Anfang 2018 in der weiter     nung stehen der Demokratisierungsprozess
westlich gelegenen Region Afrin geschah: eine      der letzten sechs Jahre und der Fortbestand
völkerrechtswidrige, gegen die kurdische           des einzigen multiethnischen und multireligiö-
Selbstverwaltung gerichtete Invasion der Türkei    sen Projekts in der Region auf dem Spiel. Was
auf syrisches Territorium; eine Flüchtlingswelle   auch immer dies für die Menschen vor Ort be-
mit desaströsen humanitären Folgen; systema-       deutet und welche Bitterkeit es erzeugt: Viele
tische Vertreibung und die Planung einer ethni-    machen einfach weiter, weil der Augenblick es
schen Umsiedlungspolitik. In der Region siegt      verlangt. In dem Sinne mag dieser Text ande-
die Macht der Stärkeren. Alle Mechanismen          res erzählen als geplant. Eines aber hat sich
einer internationalen Politik, die auf Völker-     nicht verändert: Inmitten großer Not halten die
recht beruht, versagen. Und ob Rüstungsver-        medico-Partner*innen und unzählige andere
bote oder die Kündigung von Hermesbürg-            Menschen in Nordsyrien an der Möglichkeit ei-
schaften – wirksame Maßnahmen gegen die            ner friedlichen und demokratischen Zukunft
türkische Aggression bleiben aus.                  fest. Rojava statt Krieg – die Solidarität lebt.

                                                                      Anita Starosta beschäftigt sich mit
Antikurdische Kontinuität                                             der Situation der Kurd*innen in der
                                                                      Türkei, dem Irak und Syrien, seit sie
                                                                      bei medico arbeitet. Rojava hat sie
Schon bei der Weigerung, die nordsyrische                             mehrfach bereist. Diesen Text hätte
Selbstverwaltung zumindest von den deut-                              sie lieber nie geschrieben.
schen IS-Kämpfern und -Angehörigen zu ent-
lasten, scheute die Bundesregierung eine of-
fizielle Kooperation mit den Kurd*innen.
Ähnlich ist es bei der humanitären Hilfe. Ob-
wohl der akute Bedarf vor Ort riesig ist und es
mit dem Kurdischen Roten Halbmond einen
ernstzunehmenden lokalen Akteur gibt, der in
allen Bereichen der Nothilfe aktiv ist, schließt
die Bundesregierung die direkte Zusammen-
arbeit ebenso aus wie eine über medico ver-
mittelte Unterstützung. Stattdessen werden
Hilfsgelder über große internationale NGOs
eingesetzt. Diese leisten zwar wichtige Basis-
arbeit, aber sind oft nicht dort, wo Hilfe am
dringendsten benötigt wird – etwa bei Notfall-     Was bleibt, ist die solidarische Hilfe. Spenden-
einsätzen in der Kriegsregion oder der Beglei-     gelder fließen derzeit vor allem in die akute
tung von Flüchtlingskonvois. Anstatt einen         Nothilfe, aber auch andere zum Teil längerfris-
Schritt auf die kurdische Selbstverwaltung         tige medico-Projekte in Rojava gehen unter
zuzugehen und zumindest ihren humanitären          den Bedingungen der Vertreibung weiter. Wei-
Einsatz anzuer-kennen, verfolgt die Bundes-        tere Unterstützung ist dringend erforderlich.
regierung die antikurdische Linie der Türkei
weiter.                                            Spendenstichwort: Rojava
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Chile
ist er-
wacht

                                                                                                             Foto: Claudio Reyes /AFP

Täglich demonstrierenden Zigtausende gegen Präsident Piñera und die Auswirkungen des neoliberalen Modells.
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Neoliberalismus und Demokratie – oder
warum die Protestierenden etwas ganz
anderes wollen

Von Carlos Pérez Soto

Die in der chilenischen Revolte am häufigsten      neoliberale Politik noch. Die Wut des erwachten
zu hörenden Parolen lauten: „Chile ist er-         Chile richtet sich also gegen ein neoliberales
wacht!“ Und: „Es geht nicht um 30 Peso, es         System, das unter Pinochet eingeführt und un-
geht um 30 Jahre“. Worauf beziehen sie sich?       ter demokratischen Verhältnissen vertieft wur-
1989 war ein Jahr überschwänglicher Hoffnun-       de. Sie richtet sich gegen eine neoliberale De-
gen. Der Diktator war „gestürzt“, die Demokra-     mokratie. Die chilenische Revolte kann anderen
tie zurück, Chile würde sich ändern! Das je-       Ländern und Gesellschaften als Lehre dienen,
denfalls wurde verkündet, mit großspuriger         die sich noch wundern, warum ihre Lebensqua-
Rhetorik. Die Versprechungen trafen auf eine       lität immer schlechter wird, obwohl sie, we-
harte Realität, der riesigen Begeisterung folgte   nigstens formell, demokratische Institutionen
eine tiefe Enttäuschung. Die wachsende „Dis-       und demokratisch gewählte Repräsentant*in-
krepanz zwischen politischer Klasse und Bür-       nen haben. Hierzu aber muss man die Rolle des
ger*innen“ mündete in Misstrauen und Kritik.       neoliberalen Staates verstehen.
In Umfragen lag das Ansehen öffentlicher Insti-
tutionen wie Parlament, Ministerien, Gerichts-     Es ist ein Mythos, dass dieser als „schlanker
organe, Streitkräfte oder das Verfassungsge-       Staat“ sein Gewicht an der Volkswirtschaft zu-
richt zeitweilig unter zwanzig Prozent. Schließ-   gunsten des freien Marktes verringert. In Chile
lich wurde aus dem Misstrauen schlichte Wut,       hat der Staat sich keineswegs zurückgezogen.
dann entfesselter Zorn: Chile war erwacht! An-     Tatsächlich hat er seine Beteiligung an der
ders als 1989 ist das große Problem diesmal        Volkswirtschaft erhöht: indem er Zinsen regu-
aber nicht eine Diktatur, sondern – auf drama-     liert, bei jeder Finanzkrise die Banken rettet
tische Weise – die Demokratie.                     und dem privaten Welthandel alle Art Garanti-
                                                   en und Begünstigungen zuschanzt. Auch ha-
Die Revolte richtet sich gegen die demokrati-      ben sich die Sozialausgaben für Bildung, Ge-
schen Regierungen, die in den vergangenen          sundheit, Verkehr oder Wohnungswesen kei-
dreißig Jahren am Ruder waren. Immer wieder        neswegs verringert, im Gegenteil, sie haben
war uns gesagt worden, dass die autoritären        sich erhöht. Indem aber gleichzeitig konse-
Teile der von Pinochet erlassenen Verfassung       quent neoliberale Verwaltungstechniken ein-
weitreichende Reformen verhindern würden.          geführt wurden, ist diese Steigerung nicht der
Als aber die erforderlichen parlamentarischen      Daseinsvorsorge und damit den Bürgerinnen
Mehrheiten unter den „Mitte-Links“-Regierun-       und Bürgern zugutegekommen. Stattdessen
gen Lagos und Bachelet vorhanden waren, ge-        sind die öffentlichen Gelder einigen wenigen
schah nichts. Stattdessen verschärfte sich die     zugeflossen. Wie das?
24

Unter der Doktrin der Selbstfinanzierung wur-       Es sind eben keine echten Rechte mehr, für
den Krankenhäuser, Kinderheime oder staatli-        deren Gewährleistung der Staat zu sorgen hat.
che Universitäten in öffentliche „Dienstleis-       Entsprechend verstehen sich die Leistungs-
tungsunternehmen“ verwandelt und dazu ge-           empfänger*innen nicht mehr als Bürgerinnen
bracht, ihre finanziellen und verwaltungstech-      und Bürger mit Rechten, sondern als private
nischen Belange autonom zu managen. Unter           Nutznießer – sofern sie nicht leer ausgehen.
dem Diktat eines eigenen Budgets, „verkau-
fen“ sie dem Staat Dienstleistungen und erhal-      Selbstverständlich stellen die „Mitte-Links“-
ten im Gegenzug „Zahlungen“. Obwohl sie öf-         Regierungen diese Politik, die sie erdacht und
fentliche Dienste erbringen, stehen sie unter       umgesetzt haben, als Verwirklichung des
dem Druck, wie Unternehmen haushalten zu            Rechts auf Gesundheit dar und brüsten sich
müssen. Wollen sie sich gegenüber dem Staat,        damit, die „Sozialausgaben“ erhöht zu haben.
dem sie gehören, nicht verschulden, sind ihre       Ihnen ist es stets gelungen, die von ihnen ver-
Verwaltungen gezwungen zu sparen, zu opti-          antwortete Verwandlung von staatlichen Leis-
mieren, zu rationalisieren. Wie groß der Druck      tungen in Waren mit progressiver sozialer Rhe-
ist, wird vom Staat reguliert. Der Clou dabei: In   torik zu verbrämen. Insofern verwundert es
Chile hat er die von seinen eigenen Institutio-     auch nicht, dass sich das sporadische Aufbe-
nen angebotenen Dienste gezielt zu Preisen          gehren in aller Welt weit häufiger gegen rechte
„eingekauft“, die weit unter denen des Marktes      als gegen Mitte-Links-Regierungen wendet.
liegen. So sind im Laufe der Jahre zum Beispiel     Der einfache Grund: Während die Rechte töl-
öffentliche Krankenhäuser in eine Schulden-         pelhaft vorgeht, vermochten sie es meist,
falle gerutscht. Indem sie nicht mehr investie-     noch jede in die Welt gesetzte Gemeinheit als
ren konnten, verringerten sich Leistungsfähig-      sozialen Fortschritt zu verkaufen. Genau das
keit und Angebot.                                   ist der Schlüssel zur gegenwärtigen Revolte in
                                                    Chile: Die gesamte unter den Präsidentschaf-
Gleichzeitig hat sich der Staat per Gesetz ver-     ten von Frei, Lagos und Bachelet angestaute
pflichtet, die Behandlung einer großen Zahl         Wut entfesselt sich erst jetzt gegen den Kon-
von Krankheiten für alle Chilenen zu garantie-      servativen Piñera und damit der Form halber
ren. Wird einem Patienten eine Leistung vom         gegen die Rechte.
öffentlichen Gesundheitswesen nicht erteilt,
hat er einen Anspruch darauf, dass der Staat        Wie ist die Revolte einzuschätzen? Es ist eine
sie für ihn bei einer privaten Einrichtung er-      Revolte ohne politische Führung, ohne klaren
steht. Hiermit nimmt ein System Gestalt an, in      Forderungskatalog, ohne einen anderen Hori-
dem der Staat sein (wachsendes) Gesund-             zont, als den allgemeinen Zorn. Dieser aber ist
heitsbudget und üppige Subventionen in die          weitreichend. Die Chilenen fordern heute nichts
Taschen privater Firmen umleitet. In Chile über-    Bestimmtes, denn sie erkennen, dass sie
trägt der Staat allein dem privaten Gesund-         schlicht und einfach alles einfordern müssen.
heitssektor jährlich über 1,5 Milliarden US-Dol-    „Es geht nicht um 30 Peso, es geht um 30 Jah-
lar. Die Profiteure bleiben unsichtbar. Wichtiger   re“ – zumindest auf der Ebene der Gefühle ist
noch: Aus einstmals sozialen Rechten sind in-       die Revolte radikal: das Gefühl, dass einige we-
dividuelle Ansprüche in Form von Zuschüssen         nige Reformen oder ein paar Almosen nicht
geworden. Während Rechte nicht verhandelbar         reichen werden; dass unsere Vertreter uns ver-
sind, können Zuschüsse gewährt, aber auch           raten und an private Profiteure verkauft haben;
verweigert, erhöht, aber auch gesenkt werden.       dass man uns nicht dieses oder jenes schul-
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det, sondern ein ganzes Leben. Schließlich das      dies heute durch die Vergabe von Konzessio-
dunkle Gefühl, dass nach all der Erleichterung      nen auf neunzig oder mehr Jahre. Werden Kon-
und Begeisterung wahrscheinlich wieder              zessionen außer Kraft gesetzt, besteht ein An-
nichts passiert.                                    recht auf Entschädigung des gesamten entgan-
                                                    genen Profits für den Zeitraum der Konzession.
Damit etwas wirklich anderes passiert, müssen       Diese schier unglaubliche Garantie, die zum
wir die Stützpfeiler der neoliberalen Politik an-   Beispiel in der in Chile gültigen Gesetzgebung
gehen. Da ist die breit angelegte Prekarisierung    zu Bergbaukonzessionen ausdrücklich enthal-
der Arbeitswelt, die nur die Konkurrenz um Ein-     ten ist, wird darüber hinaus von Freihandelsver-
kommen und Arbeitsplätze forciert; da ist die       trägen gestützt. In diesen Abkommen werden
„Lohnplünderung“, bei der ein immer größerer        die Staaten verpflichtet, die für private Investi-
                                                    tionen erlassenen „Spielregeln“ zu respektie-
                                                    ren. Sollte ein Land es wagen, Konzessionen
                                                    zurückzunehmen, würde es alle unterzeichne-
   Anders als 1989 ist das                          ten Freihandelsverträge verletzen und sich
   große Problem diesmal aber                       Sanktionen durch die Welthandelsorganisation
   nicht eine Diktatur, sondern                     aussetzen, bis hin zum Boykott seiner Importe
   – auf dramatische Weise –                        und Exporte.
   die Demokratie.
                                                    Dieses System missachtet nicht nur die Souve-
                                                    ränität der Länder und ihrer Bürgerinnen und
                                                    Bürger. Es hat das Eigentumsrecht zur Nut-
Anteil der Löhne durch die Privatisierung grund-    zung von Gemeingütern grundlegend verän-
legender Dienstleistungen wie Gesundheit, Bil-      dert und von der klassischen Rechtsfigur des
dung, Verkehr, Wohnung, Energie oder Trink-         Privateigentums gelöst. Transnationale Ver-
wasser faktisch entwendet wird, und immer           pflichtungen schützen nicht mehr das Eigen-
mehr Menschen in die Verschuldung treibt (in        tum, sondern das Zugriffsrecht auf Güter. Die-
Chile gibt es mehr Schuldner als Staatsbürger);     se für den neoliberalen Kapitalismus charak-
da ist die von nationalen und transnationalen       teristische Form der privaten Aneignung hat
Banken und Großunternehmen massiv betrie-           sich durchgesetzt: Als Chile 1989 Demokratie
bene Steuervermeidung; schließlich ist da die       wurde, befanden sich über 80 Prozent des
Steigerung des Raubbaus an Naturressourcen          Kupferbergbaus in der Hand des chilenischen
auf ein verheerendes Niveau. Diese in aller Welt    Staats. Heute werden 80 Prozent des Kupfer-
etablierte Form der Plünderung ist einer nähe-      bergbaus durch ausländischer Bergbauunter-
ren Betrachtung wert.                               nehmen betrieben.

Im Chile Salvador Allendes betraf es die Kup-       Möglich wurden diese Entwicklungen dadurch,
fervorkommen, in Venezuela das Erdöl: In den        dass die Demokratie selbst eine besondere
1970er Jahren machten diese Verstaatlichun-         Form annahm. Peu à peu wurde die Verantwor-
gen das transnationale Kapital in seinem Hun-       tung und Entscheidungsgewalt vom Parla-
ger nach Rohstoffen nervös. Daher suchte es         ment und der Legislative auf die Exekutive ver-
nach anderen Wegen, sich auf legale Weise die       lagert. Im Parlament werden nur noch vage
Naturressourcen nutzbar zu machen – und es          formulierte Gesetze verabschiedet, die dann in
wurde fündig. Überall in der Welt geschieht         den Ministerien von Beamten „technisch“ prä-
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