Welt in Aufruhr - rundschreiben 04/19 medico international
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rundschreiben 04/19 medico international Welt in Aufruhr Etwas radikal Anderes: Proteste in Haiti, Libanon, Chile Angriff auf demokratisches Projekt: Nordsyrien/Rojava In der Sackgasse: Migrationsabwehr in Niger und Mexiko
2 Titelbild: „Chile ist aufgewacht“ nennt die berühmte chilenische Schauspielerin Susana Hidalgo das Foto, das sie während der Demonstration von 1,2 Millionen Menschen in Santiago de Chile mit dem Handy aufnahm. Mit der Mapuche-Fahne über der Menschenmenge wurde es schnell zum ikonographischen Ausdruck einer Bewegung, die das koloniale wie neoliberale Chile überwinden will. Foto: Susana Hidalgo Nach dem Feuer: Ein Baum im Amazonas nach der Brandstiftung durch Holzfäller und Farmer. Fotos der Autor*innen: medico, Privat. Impressum Herausgeber: medico international Lindleystr. 15 D-60314 Frankfurt am Main Tel. (069) 944 38-0, Fax (069) 436002 E-Mail: info@medico.de Homepage: www.medico.de Redaktion: Katja Maurer (verantwortl.), Thomas Gebauer, Moritz Krawinkel, Ramona Lenz, Christian Sälzer Korrektorat: Marek Arlt Gestaltung und Satz: Andrea Schuldt Hinweis: Das medico-rundschreiben ist auf 100 % Recyclingpapier gedruckt. ISSN 0949-0876
3 Auf einen Blick – medico-rundschreiben 04/19 4 Editorial 6 Etwas radikal Anderes Kommentar: Von Haiti bis Irak – der Souverän erhebt sich Revolten der Würde 12 Nach dem Müllaufstand Der libanesische Protest und seine Vorgeschichte 15 Im Dauerzustand In Haiti fordert der Protest das System heraus 18 Ende eines kurdischen Neuanfangs In Rojava ist die befürchtete Katastrophe Realität geworden 23 Chile ist erwacht Aufstand gegen den Neoliberalismus in der Demokratie 27 Jesus, ein Sklavenarbeiter Politische Kunst für ein „Neues Evangelium“ 28 Projekte/Projektionen Indonesien, Sierra Leone, Südafrika Grenzregime global 32 Vom Drehkreuz zur Sackgasse Abschottung in der Wüste. Eine Reise ins Zentrum Nigers 37 Auf der Sklavenroute Für Migrierende aus Afrika wird Mexiko zur Falle 40 Eine solide Definition wäre wichtig Interview zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ 46 Vielsamkeit eines ausschweifenden Zusammenhangs Essay über Solidarität in Gesellschaft 50 medico aktiv Der utopische Raum, Tagung zu Rückkehr, Afrika neu denken 52 Bestellen & Verbreiten 54 Spenden & Stiften
4 Dieses rundschreiben handelt von kleinen und großen Revolten im Verlangen nach Würde Liebe Leserinnen und Leser, mag die Redaktion noch so säkular sein: Es gehört zu den unergründ- lichen Traditionen des medico-rundschreibens, dass die stets Anfang Dezember herauskommende vierte Ausgabe im Jahr intern als „Weih- nachtsrundschreiben“ bezeichnet wird. Diesmal passt das insofern, als von der Ankunft des leibhaftigen Jesus Christus zu berichten ist. Er erschien vor wenigen Wochen in Matera im äußersten Süden Italiens, wo einst Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson ihre Christusfilme gedreht haben und wo heute auf pestizidgesättigten Plantagen papierlose Arbeiter aus Afrika Tomaten und Oliven ernten. Er erschien als einer von ihnen, ein moderner Sklavenarbeiter, dessen Martyrium unsere Tische deckt und Bäuche füllt. Mit seiner Ankunft wurde ein Neues Evangelium verkündet, das ein Ende der Ausbeutung und Unterdrückung von seinesgleichen fordert. „Manifest der Revolte der Würde“ heißt die frohe Botschaft 2.0. Mehr über dieses, von dem Dramaturgen Milo Rau angestoßene und von medico unterstützte, politische Theater lesen Sie auf Seite 27. Mit ihm sind Ton und Thema dieses rundschreibens gesetzt: Es handelt von den kleinen und großen Aufständen im Verlangen nach Würde. Da sind die vielen individuellen Revolten all derjenigen, die sich ange- sichts elender Gegenwarten und verwehrter Zukünfte auf den Weg machen, um anderswo eine Perspektive zu finden. Reportagen aus Niger und Mexiko erzählen davon, wie sie auf der Suche nach einem besseren
5 Leben im Diesseits in einem jede Zuversicht zermürbenden Jenseits gehalten werden: auf der anderen Seite von militarisierten Grenzen, die den Wohlstandszonen die Verdammten dieser Erde mit zunehmendem Sicherheitsabstand vom Leib halten sollen. Und da sind die kollektiven Revolten, die aktuell vielerorts gleichzeitig auflodern, eine auf Straßen und Plätze getragene Wut, die selbst Christian Sälzer massive Repression nicht zu zügeln vermag. Jeder Aufruhr hat eigene ist seit vielen Geschichten. Einigen davon gehen die Beiträge auf den folgenden Seiten Jahren Redakteur des medico-rund- nach. Wohin der entflammte Zorn führt, vermag heute niemand zu schreibens. sagen. Was helfen könnte, damit sich aus den Aufständen beständige politische Bewegungen entwickeln, diskutieren der Leitartikel von Katja Maurer sowie der Beitrag des chilenischen Intellektuellen Carlos Pérez Soto. Indem er in seinem Appell für eine „zielgerichtete Allmählichkeit“ die Notwendigkeit auch transnationaler Veränderungen betont – Betreff: Freihandelsverträge, Finanzspekulation usw. –, verlängert er die lokalen Aufstände in eine globale Dimension und damit in die Verantwortung aller für eine andere Form der Globalität. Dass und wie das rundschreiben über die Auseinandersetzungen von Libanon über Haiti bis Chile berichten kann, hat mit dem langjährigen Engagement von medico eben dort zu tun. Über den politischen Aus- tausch mit unseren Partner*innen stehen wir in Beziehung zu denen, die inmitten von Unrecht an der Möglichkeit von Gerechtigkeit festhalten. In besonderem Maß gilt das aktuell für die Region Nordsyrien. Dort hat die türkische Invasion jene humanitäre und politische Katastrophe wahr werden lassen, vor der auch wir gewarnt hatten. Über 300.000 Menschen sind auf der Flucht, der wegweisende Aufbau eines pluralen, demokratisch organisierten Gemeinwesens ist erschüttert (siehe ab Seite 18). Das löst Bitterkeit aus. Die Helfer*innen des Kurdischen Roten Halbmonds, unsere Partnerorganisation vor Ort, aber machen trotz allem weiter. Um Leben zu retten. Um die Hoffnung aufrechtzuhalten. Auch das ist eine Revolte gegen die Umstände. Der Beitrag, den medico hierzu leistet, basiert auf der Unterstützung vieler, auch in Form von Spenden und Fördermitgliedschaften. Nicht nur wegen der akuten Notsituation in Nordsyrien/Rojava sind wir auf Ihre weitere Solidarität angewiesen – auch und gerade im Zeichen aktueller und kommender Revolten. Herzliche Grüße,
7 Chile, Haiti, Libanon, Irak … Überall demonstrieren die Menschen und machen sich selbst zum Souverän Von Katja Maurer Eine nie dagewesene Welle des Protestes Das selbstgemalte Plakat einer chilenischen geht durch die Welt. Nach dem weltweiten Demonstrantin spricht heute für alle Auf- millionenstarken Klimastreik begannen am stände: mi mayor miedo es, que eso se para, 20. Oktober 2019 die Proteste in Haiti, die bis y todo siga igual. – „Meine größte Angst ist, heute das ganze Land überziehen. Auslöser dass das hier aufhört und alles gleich bleibt.“ war eine Benzinknappheit. Seitdem brennen Die sich über Wochen ziehenden Demonst- die Barrikaden. Am 25. Oktober durchbrachen rationen sprechen Bände darüber, dass allen Schülerinnen und Schüler alle Absperrungen bewusst ist, wie langwierig und persönlich ris- und stürmten Metro-Stationen in Santiago de kant diese Auseinandersetzungen sein werden. Chile wegen einer Tariferhöhung. Sie lösten Bei den monatelangen Demonstrationen der eine andauernde landesweite Volksbewegung Gelbwesten in Frankreich gab es mindestens aus. Im Libanon brachte die Einführung einer 82 schwerverletzte Demonstrierende. In Chi- WhatsApp-Steuer zur gleichen Zeit Menschen le haben 180 Personen ihr Augenlicht durch aller religiösen Zugehörigkeiten auf die Straße. Gummigeschosse verloren. In Haiti starben 40 Ähnliches spielt sich derzeitig im Irak ab, nicht Personen durch Polizei- oder Ganggewalt. Im zu vergessen die indigenen Proteste in Ecua- Libanon griffen Hizbollah-Milizen die Demons- dor. Und nirgendwo ist ein Ende absehbar. trierenden an, die vom libanesischen Militär geschützt wurden. Von den Auseinanderset- All diese Bewegungen haben eine eigene Ge- zungen um den Hambacher Forst gibt es immer schichte, die mit dem Aufstand in Ägypten be- wieder Berichte über äußerst brutales Vorgehen gann, sich seither über Sudan, Syrien, Algerien der Polizei, etwa über einen Demonstranten, und viele andere Orte fortsetzt. Eine Geschich- der mit schweren, von der Polizei zugefügten te, die Lehren für die Aktiven und Engagierten Kopfverletzungen, mit den Worten „er lebt ja bereithält. Zum Beispiel, dass es nicht mit dem noch“, liegen gelassen wurde. Sieg in einer Schlacht getan ist. Das ist die ägyptische Erfahrung, eine schmerzhafte Wun- de: Dem Sturz Mubaraks folgte die Sisi-Diktatur, Krise der repräsentativen Demo- die weitaus schlimmer ist als die Vorgänger- kratie herrschaft. Damals verließen sich die Demonst- rierenden noch auf die Repräsentant*innen der Gemeinsam ist den Protesten weltweit das unterschiedlichen Parteien. Das tun sie heute fundamentale Misstrauen gegenüber den vor- nicht mehr. liegenden Herrschaftsformen. In Chile handelt
8 es sich um einen Aufstand gegen die gesamte Nationalflagge zeigt sich immer häufiger eine politische, demokratisch gewählte Klasse. In schwarze Fahne, in der nur noch die Recht- Haiti fordert ein Vertreter der mit der Diaspora ecke der einstigen Flagge zu sehen sind. Auch aufs Engste vernetzten Aktivist*innen in einer der Patriotismus ist also neu zu schreiben. Talk-Show auf Al Jazeera, dass nicht nur der Und zu ihm gehören alle, die da sind. In Chile Präsident, sondern das ganze Parlament abge- die Haitianer*innen, Venezolaner*innen und setzt und vor Gericht gestellt werden müsste. In Peruaner*innen, im Libanon die Geflüchteten Ecuador fanden die Verhandlungen von Präsi- aus Palästina und Syrien. Das zumindest be- dent Moreno mit der indigenen Bewegung Conai ginnt sich zu formieren. Der beliebteste Rap in vor laufender Kamera statt, bis ein Teilerfolg, Chile, gehört und verstanden von Alt und Jung, die Rücknahme der Benzinpreiserhöhungen, hat folgenden Refrain: „Hier sind wir alle, jeder durchgesetzt war. Geheime Aushandlungen, auf seine Weise, auf den Blockaden, Schulter von Wirtschaftsanwälten in einer unverständli- an Schulter, Anwälte, Professoren, Studenten, chen Sprache geschriebene Klauseln, ein un- Vagabunden, Doktoren, Straßenverkäufer. Uno durchschaubarer Zwang der Verhältnisse, die a Uno se hacen todxs – einer nach der anderen keine Alternative zulassen, die Unterordnung werden wir zu allen.“ des Gemeinwohls unter Wirtschaftsinteres- sen, die Privatisierung des Staates also, haben Das ist alles sehr anregend. Selbst für Zu- den Glauben an seine Institutionen und seine schauende vermittelt sich die Erfahrung der gewählten Repräsentantinnen und Repräsen- Selbstbemächtigung, die in diesen Wider- tanten an vielen Orten in der Welt zutiefst er- standszeichen liegt. Und doch gilt der Satz: All- schüttert. Deshalb der Wunsch nach voller machtsphantasien sind die Kehrseite der Ohn- Transparenz und die fundamentalen, wenn auch vagen Forderungen nach einem System- wechsel, den auch sich links nennende Prä- sidenten wie der gerade zurückgetretene Evo Es gibt noch keine große Morales in Bolivien, nicht mehr repräsentieren. Erzählung von dem antikapi- talistischen Neuen außer dem Der chilenische Historiker Gabriel Salazar, ein angesehener Träger des Staatspreises für Ge- Prinzip, dass die Würde des schichte, erläuterte dieser Tage auf CNN-Chile, Menschen überall unantastbar was sich da aus seiner Sicht vollzieht: nichts sein muss. anderes als eine „mentale Revolution“ der Bürger*innenschaft, die sich selbst verwalte und zum Souverän erkläre. Früher, so Salazar, hätten Massen Führer und Parteien gehabt. macht. So deutlich die Bereitschaft überall ist, Sie seien zum Teil quasi militärisch organi- sich auf Veränderungen einzulassen, so unklar siert gewesen. Heute hingegen gebe es eine ist es, wie diese notwendigen Transformatio- Menge aus Individuen, Singularitäten, die jede nen des ganzen Systems vonstattengehen sol- Partei und deren Führer*innen, jede Avant- len. Eine demoralisierte globale Elite, die auf garde und deren Fahnen explizit ablehnen. ihren jährlichen Treffen in Davos ebenfalls von Die Banner auf den Demonstrationen in Chile der Notwendigkeit grundlegender Änderungen sind Mapuche-Fahnen, also Symbole aus ei- redet, und eine globalisierungskritische Be- ner vorkolonialen Ära. Neben der traditionellen wegung aus den 2000er Jahren, die Aufstän-
9 de des arabischen Frühlings und die heutigen Der Weg entsteht im Gehen.“ Dabei kann pas- globalen Revolten kommen an diesem Punkt sieren, dass man sich blaue Flecken und Bles- zusammen: in ihrer Ratlosigkeit und in den suren holt, wenn nicht Schlimmeres. Wie der fehlenden Formen der Institutionalisierung deutsche Schriftsteller Franz Jung, der sich einer neuen Demokratie und Teilhabe. Das in seinem autobiografischen Roman „Der Weg aber hat bislang immer zu einem fatalen und nach unten“ als einen Torpedokäfer beschrieb, entmutigenden Sieg des Status quo geführt. der immer aufs Neue kraftvoll Anlauf nahm, Die arabischen Diktatoren Sisi und Assad sit- die Wand zu durchbrechen, an der er doch wie- zen auch deshalb (wieder) so sicher im Sattel, der abprallte. Er wusste damals, warum er sich weil viele Angst vor der Unberechenbarkeit des riskierte. Die sozialistische Revolution war für Neuen hatten. Der Status quo, das muss die ihn eine ausgemachte Sache, obwohl er allen Lehre aus den Sisis, Bolsonaros, Trumps und Akteur*innen dieser großen Veränderung mit Höckes sein, wird immer schlimmere Fratzen Spott und kritischer Distanz begegnete. Wofür gebären, um sich zu erhalten. man sich heute riskieren soll, ist nicht so klar. Wie kann das Neue die Vernunft, die Lehren aus Vielleicht ist die Zeit noch nicht reif, weil es der Geschichte, auch die totalitären Seiten auf- keine große Erzählung von dem antikapitalisti- bewahren und doch ein Pathos der Hoffnung schen Neuen gibt außer dem Prinzip, dass die entwickeln, das nicht nur von der Apokalypse Würde des Menschen überall unantastbar sein gespeist ist? Es wird nicht mehr in zwei klare muss. Es fehlt eine Idee von den Institutionen, Worte zu fassen sein. Gewissheiten könnten die in denen wagemutige Transformationsprozes- Totengräber des Neuen werden. Der karibische se hin zu einer ökologisch und menschenrecht- Philosoph Èduard Glissant schlug hingegen ein lich organisierten Welt in kleinen Schritten ge- „Denken der Spur“ vor. Dies sei ein „nicht-syste- dacht und umgesetzt werden. Vielleicht sollte matisches, intuitives, brüchiges, ambivalentes man gerade auf die suprastaatlichen Formen Denken, das der außerordentlichen Komple- schauen wie die Europäische Union und die xität und der außerordentlichen Vielfältigkeit UNO, die so wenig in die Idee von Transparenz der Welt, in der wir leben, am besten gerecht und einer neuen Demokratie zu passen schei- wird.“ Eine Herausforderung an unsere Neugier nen, bevor man sie glaubt verwerfen zu müs- und unsere Lernbereitschaft. Es gibt wahrlich sen. Da aber klar ist, dass heute tiefgreifende schlimmere Herausforderungen. Transformationen zu einer dem Menschen und der Natur verpflichteten Wirtschaftsweise, ei- Katja Maurer ist Chefredakteurin des ner auf Gemeinsinn gegründeten Gegengesell- rundschreibens und hat im Oktober schaft nur global stattfinden kann, reicht es in Haiti den Beginn der bis heute an- dauernden Proteste selbst miter- nicht auf die basisdemokratischen Cabildos lebt. zu setzen, die gerade in Chile überall die Selb- storganisation der Bürger*innenschaft institu- tionalisieren sollen. Das Denken der Spur Der spanische Dichter Antonio Machado schrieb einst „Wanderer, es gib keinen Weg.
Revolten de Foto: Ahmad Al-Rubaye / AFP Anlaufpunkt der Demonstrierenden im Irak: Der Baghdader Tahrir-Platz.
er Würde Seit dem arabischen Frühling haben alle Bewegungen und Aufstände trotz ihrer Unterschiedlichkeit gemein- same Forderungen. Zusammengefasst lauten sie: Brot, Würde und Frei- heit. Es sind keine Hungeraufstän- de, sondern Kämpfe um Perspektiven auf ein menschenwürdiges Leben.
12 Nach dem Müllaufstand Der libanesische Protest und seine Vorgeschichte Von Lokman Slim und Monika Borgmann Um die gegenwärtigen Auseinandersetzungen bei dem sich führende Mitglieder verschiede- im Libanon zu verstehen, lohnt es sich einen ner politischer Parteien und Politikberater*in- kurzen Blick auf die Entwicklungen zu werfen, nen zusammenfanden. Das herrschende Esta- die den seit dem 17. Oktober 2019 andauernden blishment also. Trotz der großen Divergenzen landesweiten Demonstrationen vorausgingen. unter den Anwesenden gelang es diesem au- Nur zur Erinnerung: Im Mai 2015, kurz nach ßerinstitutionellen Dialog, sich der Solidarität dem Ende der Amtszeit von Michel Suleiman untereinander zu versichern und sich gegen- und dem Scheitern des libanesischen Parla- seitig zu bestätigen, wie eng die Interessen ments einen neuen Präsidenten der Republik miteinander verwoben sind. zu küren, erlebten die Straßen und Plätze Bei- ruts schon einmal einen Protest ähnlicher Grö- ßenordnung, der als Müllaufstand in die Ge- Wahlen als Scheinstabilität schichte des Landes einging. Unter nicht unerheblichem Druck der „interna- Die Schließung einer Mülldeponie führte da- tionalen Gemeinschaft“, die darauf drängte mals zu einer landesweiten Müllabfuhrkrise, um jeden Preis die Fassade eines stabilen Li- die die Menschen auf die Straßen und Plätze banons aufrechtzuerhalten, wurden trotz ei- überall im Land brachten. Damals schon wa- nes fehlenden Präsidenten Kommunalwahlen ren die Demonstrationen eine große öffentli- abgehalten. Und das unter Bedingungen, da che Abrechnung mit dem herrschenden Miss- weder Staat noch Regierung funktionstüchtig management, der Korruption und der Inkom- waren und zudem eine Million syrischer Flücht- petenz. Schon damals wurde zudem deutlich, linge und eine tief in den syrischen Konflikt dass das libanesische System einer ausgeklü- verwickelte, pro-iranische Hisbollah die Lage gelten Machtteilung dringend verändert wer- noch erschwerten. den muss. Aber es gelang dem System seine Krise zu überleben. Seitdem brodelte und kochte die Unzufrieden- heit und äußerte sich immer wieder in kleine- Um den Müllaufstand zu neutralisieren wurden ren Protesten über schlechte Lebensbedin- Dutzende Aktivistinnen und Aktivisten festge- gungen, Frauenrechte, Umweltbelange, die nommen und vor das Militärgericht gestellt. mangelnde Integrität der Justiz, die Rechte Parlamentssprecher Nabih Berri von der schii- von Menschen mit Behinderung und andere tischen Amal lud zu einem Nationalen Dialog, Themen. Dieser facettenreiche gesellschaftli-
13 che Aktivismus erklärt, warum die Demonst- spielt die Hisbollah eine entscheidende Rolle. rant*innen von 2019 so entwickelte Forderun- Sie ist Irans Aktivposten und dessen Stellver- gen artikulieren können. treter im Libanon. Die militärische Stärke der Hisbollah ist heute genauso stark wie 2015, Weder die Kommunalwahlen von 2016 noch die aber sie hat an ihrem politischen Profil aus in- Parlamentswahlen von 2018 konnten als ei- nerlibanesischen und regionalen Gründen gentlich demokratische Mechanismen diesen Schaden genommen. Danach sah es nach Berg von Missständen angehen und die Sehn- 2015 zunächst nicht aus. sucht nach Veränderung kanalisieren. Viel- mehr zeigte sich die politische Klasse als ab- Nach der Müllkrise gelang es der Hisbollah die solut unfähig und inkompetent, die Grund- Regierungskrise zu überwinden und den von funktionen des Staates zu sichern und eine ihr unterstützten Kandidaten General Michel tragfähige Wirtschaftspolitik zu betreiben. Aoun zum Präsidenten der Republik wählen zu lassen. Im November 2017 wiederum verhielt sich die Hisbollah sehr umsichtig bei dem Ende der Nach-Bürgerkriegsordnung letztlich gescheiterten saudischen Versuch, den damaligen Premierminister Saad Hariri Als die libanesische Regierung am 17. Oktober zum Rücktritt zu bewegen. Die Hisbollah er- eine Steuer auf WhatsApp ankündigte, um die langte so den Ruf einer rationalen Akteurin, die Einnahmen für den Haushalt 2020 zu erhöhen, löste sie einen massiven Volksaufstand aus. Seitdem überfluten Zehntausende Menschen aller sozialen Schichten, Bildungsniveaus und Die politische Klasse zeigt religiösen Hintergründe die Straßen und Plätze sich als absolut unfähig des Libanon, fordern einen Regierungswechsel und inkompetent, die Grund- und erklären den Status quo für nicht länger ak- zeptabel. Demonstrant*innen von Tripolis über funktionen des Staates zu Baalbek bis Tyrus verlangen von der korrupten, sichern und eine tragfähige unfähigen und dysfunktionalen politischen Klas- Wirtschaftspolitik zu be- se den Rücktritt und ein Spezialist*innen-Kabi- treiben. nett, um die Nation vor einem finanziellen Ruin zu bewahren, der das ganze Land in den Ab- grund stürzen würde. Darüber hinaus gibt es Forderungen nach der Rückgabe gestohlener das Land davor bewahrt, in einen sunnitisch- öffentlicher Gelder und nach einem Ende der schiitischen Konflikt zu geraten. Im Mai 2018 religiös und ethnisch geprägten Regierungs- ging die Hisbollah sogar als eine Hauptsiegerin führung, die das Land nominell intakt gehalten aus den Parlamentswahlen hervor. hat, in Wirklichkeit aber nur die sozialen Spal- tungen der Bürgerkriegszeit aufrecht erhält. Aber als Hassan Nasrallah, der Hisbollah-Chef, am 17. Oktober 2019 sich in aller Öffentlichkeit Die Art, wie der Müllaufstand 2015 endete, er- zum Machtgaranten des Establishments er- klärt, warum die Revolution sich nicht einfach klärte, der die Grenzen der Volksproteste defi- abspeisen lässt und es schwer vorherzusehen niert und dabei mehr mit der Peitsche als mit ist, wie eine Lösung aussehen könnte. Dabei dem Zuckerbrot wedelte, trug er zu Eskalation
14 der Proteste bei. Damit ist die Rolle der Hisbol- Korruptionsvorwürfe gegen die Amal von Nabih lah als Bürge für Stabilität und Garant für das Berri und auch gegen die Hisbollah lassen sich Establishment schwer beschädigt worden. auch nicht mit dem Verweis auf einen äußeren Feind aus der Welt räumen. Wie beschreibt man die Ereignisse seit dem 17. Oktober? Die einen sagen, der Grund für den Bis jetzt hat die Hisbollah alles unternommen, Aufstand sei wesentlich ökonomischer Natur. um die Volksaufstände im Irak (die offen “Iran Der Weg aus der Krise läge in geeigneten Wirt- raus” fordern) von dem, was im Libanon ge- schaftsmaßnahmen. Das ist eine Erzählung des schieht, zu unterscheiden. Auch ist die gele- Establishments, die auch die Hisbollah teilt. gentliche körperliche Gewalt im Libanon - sei es durch die Hisbollah/Amal oder durch die Si- Sie behauptet allerdings auch, hinter dem cherheitskräfte – nicht mit der Gewalt zu ver- Volksaufstand stünden Drahtzieher*innen, die gleichen, die in den Straßen von Bagdad oder den (legitimen) Volkszorn instrumentalisier- Kerbala zu beobachten ist, wo es bereits Hun- ten. Mit dieser Erzählung einher geht die Dro- derte von Toten gab. Der Schachzug der His- hung, dass die Krise nur mit Waffengewalt zu bollah, dem Protest im Libanon eine antiirani- lösen sei. Eine komplexere Erzählung sieht in sche Note abzusprechen, hat nun der iranische der Revolte eine Mischung aus wirtschaftli- Religionsführer Khamenei selbst unterlaufen, chen Gründen und einem Generationenwech- indem er die Proteste im Libanon und im Irak sel. Eine neue libanesische Generation „ent- auf eine Stufe stellte und als „satanische Ver- deckt“ die res publica, will darin einen Platz schwörungen“ denunzierte. Wie sich die Situa- einnehmen und beansprucht die Verwirkli- tion im Libanon weiter entwickeln wird, hängt chung ihrer Ideale und Sehnsüchte. also auch sehr stark von den regionalen Um- ständen ab. Für viele war die große schiitische Teilnahme an den Protesten das Augenfälligste. Damit wi- Mit Monika Borgmann und Lokman derlegt wurde auch das tief verwurzelte Vorur- Slim verbindet medico eine lange teil, die Schiitengemeinschaft sei ein steinhar- Geschichte der Zusammenarbeit. Beide nutzen den Raum der Kunst ter Block, folge religiös dem „Widerstands“- mit Ausstellungen und Filmen, um Glauben der Hisbollah oder akzeptiere fraglos eine Erinnerungskultur mit zu entwi- die Möglichkeit, Teil des klientelistischen Netz- ckeln, die sich am Beispiel des liba- nesischen Bürgerkrieges und des werks der Amal-Bewegung zu sein. In Bezug syrischen Foltergefängnisses in Tad- auf die „Revolution“ versuchen Nasrallah und mor kritisch mit der Geschichte der andere Hisbollah-Sprachrohre immer wieder, Region auseinandersetzt. zwischen einem guten und legitimen Aufstand einerseits und feindlichen Kräften anderer- seits zu unterscheiden. Die sogenannten feindlichen Kräfte werden mit Israel und den USA in Verbindung gebracht, die die „Wider- standsfähigkeit“ des Libanons untergraben wollten. Ob diese Argumentation verfängt, darf bezweifelt werden. Die Hisbollah ist seit 2005 Teil der libanesischen Regierung und trägt Ver- antwortung für das Versagen des Staates. Die
15 Foto: Chandan Khanna / AFP Von ihren Dächern aus beobachten Anwohner*innen eine Demonstration für den Rücktritt des haititanischen Präsidenten Jovenel Moïse. Im Dauerzustand Proteste und Barrikaden in Haiti legen seit zwei Monaten das öffentliche Leben lahm Vor einem Jahr traf ich den chilenischen Bot- in Regierungsämtern das Gefühl haben, ir- schafter in Haiti. Von der Mitte-Links-Regie- gendwie für die Nichtanerkennung und Verfol- rung Bachelet eingesetzt, verkörperte er die- gung in der Vergangenheit entschädigt worden sen sonnigen Optimismus ehemaliger von zu sein. Wahrscheinlich reicht schon die Tatsa- Pinochet vertriebener Oppositioneller, die nun che, dass wir von der medico-Partnerin Suzy
16 Castor, einer in ganz Lateinamerika bekannten Dieses Grenzregime hat enorme Auswirkungen Historikerin, geschickt wurden, um als Teil ei- auf das Land selbst und auf die haitianischen ner politischen Familie mit all ihren Zerwürf- Communities außerhalb Haitis. Denn bedroht nissen zu gelten. Jedenfalls glaubte er mich ist das, was für die soziale Entwicklung Haitis zu kennen, weil er schon ahnte, dass auch ich bislang von großer Bedeutung war: die grenz- eine politische Sozialisation habe, die von den übergreifende Infrastruktur und die Herausbil- chilenischen Ereignissen 1973 ff. geprägt ist. dung eines grenzübergreifenden nationalen Ich kannte ihn nicht, wollte aber wissen, was Selbstverständnisses. Wer zu einem guten ha- mit den Haitianerinnen und Haitianern, die zu itianischen, kreolsprechenden Arzt will und es diesem Zeitpunkt nach Chile ausgewandert sich leisten kann, fliegt eben kurz nach Miami. waren, passieren werde. 200.000 hatten bis Zwei Flugstunden entfernt gibt es eine haitia- 2018 die Visumsfreiheit zwischen Haiti und Chi- nisch geprägte Infrastruktur. Auch Treffen der le zur Einwanderung in das südliche Anden- über den Kontinent verstreuten Verwandt- land genutzt. schaft finden gern in der bunten Küstenstadt Floridas statt. Das ist natürlich eine Mittel- In der Botschaft war Überraschendes zu erfah- schichtserzählung. Aber die Mittelschicht hat ren. Vor einem Jahr noch Boomland, war Chile Haiti sukzessive verlassen und der gescheiter- sehr aufnahmebereit und unbürokratisch. Man te Wiederaufbau nach dem Erdbeben von 2010 habe Interesse, so der Botschafter, die Haitia- hat diesen Trend noch verstärkt. 70.000 flohen ner*innen möglichst schnell mit einem siche- nach dem Erdbeben in die USA. ren Aufenthaltsstatus zu versehen. Nötig seien dafür ein Pass und ein polizeiliches Führungs- Der seit über einem Jahr andauernde Protest in zeugnis. Da letzteres von den haitianischen Be- Haiti, der sich seit Oktober 2019 in einen per- hörden nicht schnell genug geliefert werden manenten Aufstand verwandelt hat, hat einen könne, habe man sich für die Zusammenarbeit Ausgangspunkt genau in diesem transnatio- mit Interpol entschieden. Auch Familiennach- nalen Selbstverständnis. Begonnen haben die zug hatte Chile recht einfach geregelt. Nach- Demonstrationen und Proteste, nachdem die weise über Spanischkenntnisse verlangten sie Ergebnisse mehrerer Untersuchungskommis- keine. Die Kinder der Einwander*innen würden sionen des haitianischen Parlaments über den dann schon Spanisch lernen, so der Botschafter. Petrocaribe-Skandal zu keinerlei politischen und juristischen Maßnahmen führten. Die offi- Ein Jahr später sind die Grenzen zu Chile dicht. ziellen Untersuchungen stellten fest, dass Man braucht für ein Besuchsvisum, Kranken- zwei Milliarden Dollar der venezolanischen versicherung und Rücklagen, wie weltweit in Hilfsgelder entwendet wurden. Beschuldigt der Flüchtlingsabwehr üblich. Auch alle ande- wird dabei auch der gegenwärtigen Präsident ren Wege, der haitianischen Misere zu entkom- Jovenel Moïse, dessen Absetzung seither von men, verschließen sich. Die USA haben in Haiti fast allen haitianischen Parteien und Organi- ihre Konsularabteilung zur Erstellung von Visa sationen gefordert wird. geschlossen. Eine Katastrophe für Angehörige der Hunderttausenden in den USA lebenden Die Petrocaribe-Gelder waren ein Langzeitkre- Haitianer*innen. Die Grenzkontrollen zur domi- dit der venezolanischen Regierung unter ande- nikanischen Republik sind immer engmaschi- rem an Haiti. Öl wurde zu einem bewusst billi- ger und gleichen sich europäischen und gen Preis weitergegeben, mit der Erlaubnis, es US-amerikanischen Normen der Biometrie an. auf dem Weltmarkt zu weitaus höheren Prei-
17 sen zu verkaufen, um aus dem Gewinn drin- einer klugen Moderatorin mit Kopftuch und gend nötige Sozialprogramme zu finanzieren. professioneller Maske, ergründet. Der Initiator Die angekündigten Sozialprojekte wurden in der Petrocaribe-Bewegung forderte dort nichts Haiti nie verwirklicht. Eine Gruppe junger Leute weniger als den Rücktritt aller Politikerinnen aus der nordamerikanischen Diaspora richtete und Politiker. Ein neues System müsse her, das eine Webseite ein, auf der man den Ist-Zustand die Würde der Haitianer*innen wieder herstel- von angeblich mit dem Geld finanzierten Pro- le. Eine Wortwahl, die man von anderen Auf- jekten posten konnte. Diese Idee gründete ständen derzeit kennt. eine Jugendbewegung, die bis heute ein Pfei- ler des Widerstands gegen die Regierung ist. Der legitime Widerstand in Haiti trifft auf die Bis ins Detail konnten die jungen Leute im gan- sture Ignoranz der Herrschenden, die offenbar zen Land nachweisen, dass statt Projekten al- eine bürgerkriegsähnliche Entwicklung inkauf- lenfalls Bauruinen entstanden sind. Bereichert nehmen, anstatt den Weg zu einer politischen Lösung zu öffnen. Sie können sich dabei von der sogenannten internationalen Gemein- Der legitime Widerstand schaft in Form der Core-Group, der neben der UNO, Kanada, den USA und Frankreich auch in Haiti trifft auf die Deutschland angehört, unterstützt fühlen. Die sture Ignoranz der Herr- Core-Group setzt auf ein Weiter-So mit Präsi- schenden, die offenbar dent Moïse. Es scheint, als habe das nationale eine bürgerkriegsähnliche und internationale Establishment für Haiti, das Entwicklung in Kauf nehmen. mit seinem Befreiungskampf das Symbol für die Universalität der Menschenrechte ist, kei- nen anderen Plan, als es dem Vergessen an- heim zu geben. Kein anderes Schicksal also hat sich eine haitianische Elite, die sich den als das der Haiti-Geflüchteten, deren Perspek- Staat angeeignet hat, während die haitiani- tiven von Chile bis in die Dominikanische Repu- sche Bevölkerung auf dem Kredit aus Vene- blik trostlos sind. Das aber ist unhaltbar. Der zuela sitzen bleibt. Das hat in der gesamten Aufstand geht also weiter. haitianischen Community weltweit für enorme Empörung gesorgt. Katja Maurer Dieser transnationale Echoraum des Wider- Siehe auch die Blogs von Katja Maurer zu Haiti stands gegen eine korrupte Politik und gegen unter www.medico.de/haiti. Im Frühjahr er- die Straflosigkeit vollzieht sich vorwiegend in scheint das von ihr mit verfasste Buch „Haitia- den sozialen Netzwerken und den Medien des nische Renaissance“ bei Brandes und Apsel. Südens. Während über den Aufstand in Haiti, seine Verzweiflung und seine Vielfalt – es de- monstrieren junge Leute, aber auch Gesund- heitsarbeiter*innen und die Kirchen mit ihren Spenden für die Arbeit der medico-Partner, die Gläubigen – fast niemand in den westlichen sich u.a. für die Menschenrechte der Migrant* Medien berichtet, hat Al Jazeera längst das innen einsetzen. Thema entdeckt und mehrfach in großen trans- atlantischen Diskussionsrunden, geführt von Spendenstichwort: Haiti
18 Foto: Fadel Senna / AFP In Hasakeh, der nächsten Stadt außerhalb des Kampfgebiets, kommen die Vertriebenen des türkischen Angriffs notdürftig in Schulen unter. Ende eines kurdischen Neuanfangs Die Invasion der Türkei in Rojava hat die vor- erst letzte Chance auf eine demokratische Ent- wicklung in Teilen Syriens brutal zerschlagen Von Anita Starosta Eigentlich hätte hier ein anderer Text beginnen Trotz im Laufe der letzten Jahre auf den Weg sollen: ein Text über die Entwicklungen, die die gebracht haben. So hätte der Text von den medico-Partnerorganisationen und die Selbst- Fortschritten beim Aufbau einer Basisgesund- verwaltung in Nordsyrien allen Widrigkeiten zum heitsversorgung für alle Menschen berichtet,
19 die in dieser multiethnischen Region ihr Zu- en befürchtet haben und vor der auch medico hause haben oder Zuflucht fanden. Womöglich immer wieder gewarnt hat. Krieg statt Rojava. hätte der Text dies am Beispiel des Kranken- hauses in Ra‘s al-‘Ain (kurdisch: Serê Kaniyê) Das Krankenhaus in Ra‘s al-‘Ain ist in die Hän- verdeutlichet. Das in Gefechten mit der al Nus- de von islamistischen Milizen gefallen, viele ra Front ehedem schwer beschädigte Gebäude andere mühsam geschaffene Gesundheitsein- ist mit viel Mühe renoviert und ausgestattet richtungen liegen in den Gebieten, die plötz- worden. Noch vor Kurzem wurden Besucher*in- lich von türkischen Söldnern besetzt sind, oder nen stolz die neuen OP-Räume und Kranken- in dem 30 Kilometer tiefen Streifen, in dem nun zimmer gezeigt. In der Gesundheitsakademie russisches, syrisches und türkisches Militär eine Etage darüber lernten junge Studierende patrouilliert. Die Ärzt*innen, Pfleger*innen und das medizinische Handwerk. Man hätte in dem Studierenden aus Ra‘s al-‘Ain und viele andere Text auch auf die Waisenhäuser in Derik und sind im Kriegsgebiet oder bei der Versorgung Kobane eingehen können, wo Sozialarbei- von Flüchtlingen im lebensgefährlichen Ein- ter*innen mit Kindern arbeiteten, die im Krieg satz. Manche sind unter Raketenbeschuss ge- ihre Eltern verloren haben, und zugewandt storben oder wurden entführt und ermordet. versucht wurde, trotz allem erlebten Grauen Das Waisenhaus in Kobane wurde evakuiert. Zuversicht wachsen zu lassen. Sicher wäre der Vorläufig beendet ist die erzieherische Arbeit Text auch auf die Anstrengungen der kurdi- mit gefangenen IS-Angehörigen. Aktuell geht schen Selbstverwaltung und der lokalen Hilfs- es nur darum, weitere Ausbrüche zu verhin- organisationen eingegangen, einen Umgang dern. Besonders in den Camps Ain Issa oder al mit den (internationalen) IS-Anhänger* innen Hol ist die Situation angespannt, aus dem La- zu finden, für die sie in Flüchtlingslagern und ger in Ain Issa konnten nach einem türkischen Gefängnissen Verantwortung übernehmen Angriff Hunderte ausländische IS-Anhängerin- mussten, während sich der Rest der Welt eben nen mit ihren Kindern fliehen. dieser entzog. In dem, was dieser Text jetzt zu erzählen hat, Vieles wäre zu erzählen gewesen von dem Be- geht es also nicht mehr um Perspektiven. Es mühen, ein freiheitliches und demokratisches geht ums Überleben. Dahin ist die relative Gemeinwesen zu bilden, von dem letzten gülti- Ruhe und Sicherheit in Nordsyrien. Bis heute gen Versuch, den Status quo zu überwinden gab und gibt es keine Waffenruhe, weder wäh- und anstatt ein autoritäres und gewalttätiges rend der Verhandlungen zwischen Russland, Regime zu stützen eine demokratische Alter- dem Assad-Regime und der Türkei, noch jetzt, native aufzubauen, in der alle ethnischen und nach der Einigung auf die türkisch-russischen religiösen Minderheiten ihren Platz finden. Patrouillen in der Pufferzone entlang der Gren- ze. Auch heute noch muss zum Beispiel das Krankenhaus in der Stadt Tel Tamer – der zen- Komplett neue Vorzeichen trale Ort für die Erstversorgung der Verletzten – immer wieder evakuiert werden, zu nah rü- Doch die Realität hat diese Absicht überrollt cken islamistische Milizen, die unter Führung wie Panzer die Grenze. Mit Beginn der türki- der Türkei operieren und das Gebiet zwischen schen Militäroffensive am 9. Oktober 2019 ist Tall Abyad (Girê Sipî) und Ra‘s al-‘Ain (Serê Ka- die politische und humanitäre Katastrophe niyê) besetzen. Auch das ist Teil des mit Russ- wahr geworden, die die Menschen in Nordsyri- land und Assad geschlossenen Abkommens.
20 Und inmitten dieser politischen Katastrophe unter. Weil der Platz nicht reicht, werden jetzt sind mindestens 300.000 Menschen auf der Camps ausgebaut und neue errichtet. Aktuell Flucht und müssen versorgt werden. wird das Flüchtlingslager Newroz mit Unter- stützung von medico erweitert und ein Camp Von der Bergung von Kriegsverletzten über die an der Straße von Tel Tamer nach Hasakeh er- Evakuierung ganzer Landstriche bis zur Vertei- richtet – allein dieses soll 30.000 Familien Zu- lung lebenswichtiger Güter an Geflüchtete: Seit flucht bieten. In einem öffentlichen Appell hat dem 9. Oktober sind die Nothelfer*innen der sich der Kurdische Rote Halbmond an interna- medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter tionale NGOs mit der Bitte um Unterstützung Halbmond im Dauereinsatz. Sie kümmert sich für dieses Camp gewandt. Bisher sind sie dort um acht reguläre Flüchtlingscamps in der Re- alleine. gion und etliche informelle Ansiedlungen mit über hunderttausend Binnenvertriebenen aus Die Beispiele zeigen, wie wichtig die fortlau- Syrien und über zehntausend internationalen fende, solidarische Unterstützung der lokalen IS-Anhänger*innen samt Kindern. Zwar ge- Helfer*innen ist und wie groß auch der Hilfsbe- währleisten das UN-Flüchtlingshilfswerk und darf in den nächsten Wochen sein wird. Sie zei- die Weltgesundheitsorganisation dort eine ru- gen aber auch, dass eigentlich geplante Pro- dimentäre Basisversorgung, viele internatio- jekte wie der Aufbau eines Kinderkrankenhauses nale Hilfsorganisationen aber haben sich aktu- in Hasakeh vorläufig ausgesetzt sind. Akute ell zurückgezogen – zu groß die Angst vor den Nothilfe ist, was gerade zählt. Folgen der Präsenz des syrischen Regimes, dem Wiedererstarken des IS und der näher rü- Ob die Geflüchteten jemals wieder in ihre Hei- ckenden Front. Auch in dieser Hinsicht werden matorte zurückkehren können, ist mehr als die Helfer*innen vor Ort alleine gelassen. Die ungewiss. Ein Leben unter türkischer Besat- Versorgungslage ist schon jetzt mehr als pre- zung, wie zwischen Russland, der syrischen kär. Und nun bricht der Winter herein. Regierung und der Türkei für einen Teil der um- strittenen Region vereinbart wurde, ist vor al- In einer ersten Hilfsmaßnahme hat medico mit lem für einen Großteil der kurdischen Bevölke- Spendengeldern den Kurdischen Roten Halb- rung keine Option. Hinzu kommen die Ankündi- mond beim Kauf von Medikamenten zur Be- gungen Erdoğans, 1,2 Millionen in der Türkei ge- handlung chronischer Krankheiten von Ge- strandete syrische Flüchtlinge in Nordsyrien flüchteten unterstützt. Zudem wird der Betrieb ansiedeln zu wollen. Durch die Vertreibung und der zwei zentralen Krankenhäuser in Tel Tamer ethnische Säuberung der bis dato vorwiegend und Hasakeh aufrechterhalten. Hierher sind kurdischen Gegend schafft die Türkei Fakten. die meisten Kriegsverletzten gebracht wor- Ziel ist eine demographische Neuordnung der den. Der Kurdische Rote Halbmond verfügt Region. Flüchtlinge gegen ihren Willen in völ- momentan über 54 Rettungswagen, für rund kerrechtswidrig besetzten Gebieten anzusie- die Hälfte hat medico die laufenden Kosten deln, ist eine eklatante Verletzung der Genfer übernommen, vom Treibstoff bis zur Repara- Flüchtlingskonvention. Hinzu kommt: Mit einer tur. Vorangetrieben wird auch der Ausbau sani- Ansiedlung von Syrer*innen, die in die Türkei tärer Anlagen und des Abwassersystems in 39 geflohen waren, drohen auch viele wieder un- Notunterkünften in der Stadt Hasakeh. Zehn- ter die Kontrolle des Regimes zu geraten, die tausende Flüchtlinge kommen zurzeit in Schu- sich diesem aus guten Gründen durch Flucht len oder anderen öffentlichen Einrichtungen entzogen haben.
21 All diese Entwicklungen klingen auf unheim- Mit dem völkerrechtswidrigen Angriff und der liche Weise vertraut. Aspekt für Aspekt wieder- von außen bestimmten politischen Neuord- holt sich, was schon Anfang 2018 in der weiter nung stehen der Demokratisierungsprozess westlich gelegenen Region Afrin geschah: eine der letzten sechs Jahre und der Fortbestand völkerrechtswidrige, gegen die kurdische des einzigen multiethnischen und multireligiö- Selbstverwaltung gerichtete Invasion der Türkei sen Projekts in der Region auf dem Spiel. Was auf syrisches Territorium; eine Flüchtlingswelle auch immer dies für die Menschen vor Ort be- mit desaströsen humanitären Folgen; systema- deutet und welche Bitterkeit es erzeugt: Viele tische Vertreibung und die Planung einer ethni- machen einfach weiter, weil der Augenblick es schen Umsiedlungspolitik. In der Region siegt verlangt. In dem Sinne mag dieser Text ande- die Macht der Stärkeren. Alle Mechanismen res erzählen als geplant. Eines aber hat sich einer internationalen Politik, die auf Völker- nicht verändert: Inmitten großer Not halten die recht beruht, versagen. Und ob Rüstungsver- medico-Partner*innen und unzählige andere bote oder die Kündigung von Hermesbürg- Menschen in Nordsyrien an der Möglichkeit ei- schaften – wirksame Maßnahmen gegen die ner friedlichen und demokratischen Zukunft türkische Aggression bleiben aus. fest. Rojava statt Krieg – die Solidarität lebt. Anita Starosta beschäftigt sich mit Antikurdische Kontinuität der Situation der Kurd*innen in der Türkei, dem Irak und Syrien, seit sie bei medico arbeitet. Rojava hat sie Schon bei der Weigerung, die nordsyrische mehrfach bereist. Diesen Text hätte Selbstverwaltung zumindest von den deut- sie lieber nie geschrieben. schen IS-Kämpfern und -Angehörigen zu ent- lasten, scheute die Bundesregierung eine of- fizielle Kooperation mit den Kurd*innen. Ähnlich ist es bei der humanitären Hilfe. Ob- wohl der akute Bedarf vor Ort riesig ist und es mit dem Kurdischen Roten Halbmond einen ernstzunehmenden lokalen Akteur gibt, der in allen Bereichen der Nothilfe aktiv ist, schließt die Bundesregierung die direkte Zusammen- arbeit ebenso aus wie eine über medico ver- mittelte Unterstützung. Stattdessen werden Hilfsgelder über große internationale NGOs eingesetzt. Diese leisten zwar wichtige Basis- arbeit, aber sind oft nicht dort, wo Hilfe am dringendsten benötigt wird – etwa bei Notfall- Was bleibt, ist die solidarische Hilfe. Spenden- einsätzen in der Kriegsregion oder der Beglei- gelder fließen derzeit vor allem in die akute tung von Flüchtlingskonvois. Anstatt einen Nothilfe, aber auch andere zum Teil längerfris- Schritt auf die kurdische Selbstverwaltung tige medico-Projekte in Rojava gehen unter zuzugehen und zumindest ihren humanitären den Bedingungen der Vertreibung weiter. Wei- Einsatz anzuer-kennen, verfolgt die Bundes- tere Unterstützung ist dringend erforderlich. regierung die antikurdische Linie der Türkei weiter. Spendenstichwort: Rojava
22 Chile ist er- wacht Foto: Claudio Reyes /AFP Täglich demonstrierenden Zigtausende gegen Präsident Piñera und die Auswirkungen des neoliberalen Modells.
23 Neoliberalismus und Demokratie – oder warum die Protestierenden etwas ganz anderes wollen Von Carlos Pérez Soto Die in der chilenischen Revolte am häufigsten neoliberale Politik noch. Die Wut des erwachten zu hörenden Parolen lauten: „Chile ist er- Chile richtet sich also gegen ein neoliberales wacht!“ Und: „Es geht nicht um 30 Peso, es System, das unter Pinochet eingeführt und un- geht um 30 Jahre“. Worauf beziehen sie sich? ter demokratischen Verhältnissen vertieft wur- 1989 war ein Jahr überschwänglicher Hoffnun- de. Sie richtet sich gegen eine neoliberale De- gen. Der Diktator war „gestürzt“, die Demokra- mokratie. Die chilenische Revolte kann anderen tie zurück, Chile würde sich ändern! Das je- Ländern und Gesellschaften als Lehre dienen, denfalls wurde verkündet, mit großspuriger die sich noch wundern, warum ihre Lebensqua- Rhetorik. Die Versprechungen trafen auf eine lität immer schlechter wird, obwohl sie, we- harte Realität, der riesigen Begeisterung folgte nigstens formell, demokratische Institutionen eine tiefe Enttäuschung. Die wachsende „Dis- und demokratisch gewählte Repräsentant*in- krepanz zwischen politischer Klasse und Bür- nen haben. Hierzu aber muss man die Rolle des ger*innen“ mündete in Misstrauen und Kritik. neoliberalen Staates verstehen. In Umfragen lag das Ansehen öffentlicher Insti- tutionen wie Parlament, Ministerien, Gerichts- Es ist ein Mythos, dass dieser als „schlanker organe, Streitkräfte oder das Verfassungsge- Staat“ sein Gewicht an der Volkswirtschaft zu- richt zeitweilig unter zwanzig Prozent. Schließ- gunsten des freien Marktes verringert. In Chile lich wurde aus dem Misstrauen schlichte Wut, hat der Staat sich keineswegs zurückgezogen. dann entfesselter Zorn: Chile war erwacht! An- Tatsächlich hat er seine Beteiligung an der ders als 1989 ist das große Problem diesmal Volkswirtschaft erhöht: indem er Zinsen regu- aber nicht eine Diktatur, sondern – auf drama- liert, bei jeder Finanzkrise die Banken rettet tische Weise – die Demokratie. und dem privaten Welthandel alle Art Garanti- en und Begünstigungen zuschanzt. Auch ha- Die Revolte richtet sich gegen die demokrati- ben sich die Sozialausgaben für Bildung, Ge- schen Regierungen, die in den vergangenen sundheit, Verkehr oder Wohnungswesen kei- dreißig Jahren am Ruder waren. Immer wieder neswegs verringert, im Gegenteil, sie haben war uns gesagt worden, dass die autoritären sich erhöht. Indem aber gleichzeitig konse- Teile der von Pinochet erlassenen Verfassung quent neoliberale Verwaltungstechniken ein- weitreichende Reformen verhindern würden. geführt wurden, ist diese Steigerung nicht der Als aber die erforderlichen parlamentarischen Daseinsvorsorge und damit den Bürgerinnen Mehrheiten unter den „Mitte-Links“-Regierun- und Bürgern zugutegekommen. Stattdessen gen Lagos und Bachelet vorhanden waren, ge- sind die öffentlichen Gelder einigen wenigen schah nichts. Stattdessen verschärfte sich die zugeflossen. Wie das?
24 Unter der Doktrin der Selbstfinanzierung wur- Es sind eben keine echten Rechte mehr, für den Krankenhäuser, Kinderheime oder staatli- deren Gewährleistung der Staat zu sorgen hat. che Universitäten in öffentliche „Dienstleis- Entsprechend verstehen sich die Leistungs- tungsunternehmen“ verwandelt und dazu ge- empfänger*innen nicht mehr als Bürgerinnen bracht, ihre finanziellen und verwaltungstech- und Bürger mit Rechten, sondern als private nischen Belange autonom zu managen. Unter Nutznießer – sofern sie nicht leer ausgehen. dem Diktat eines eigenen Budgets, „verkau- fen“ sie dem Staat Dienstleistungen und erhal- Selbstverständlich stellen die „Mitte-Links“- ten im Gegenzug „Zahlungen“. Obwohl sie öf- Regierungen diese Politik, die sie erdacht und fentliche Dienste erbringen, stehen sie unter umgesetzt haben, als Verwirklichung des dem Druck, wie Unternehmen haushalten zu Rechts auf Gesundheit dar und brüsten sich müssen. Wollen sie sich gegenüber dem Staat, damit, die „Sozialausgaben“ erhöht zu haben. dem sie gehören, nicht verschulden, sind ihre Ihnen ist es stets gelungen, die von ihnen ver- Verwaltungen gezwungen zu sparen, zu opti- antwortete Verwandlung von staatlichen Leis- mieren, zu rationalisieren. Wie groß der Druck tungen in Waren mit progressiver sozialer Rhe- ist, wird vom Staat reguliert. Der Clou dabei: In torik zu verbrämen. Insofern verwundert es Chile hat er die von seinen eigenen Institutio- auch nicht, dass sich das sporadische Aufbe- nen angebotenen Dienste gezielt zu Preisen gehren in aller Welt weit häufiger gegen rechte „eingekauft“, die weit unter denen des Marktes als gegen Mitte-Links-Regierungen wendet. liegen. So sind im Laufe der Jahre zum Beispiel Der einfache Grund: Während die Rechte töl- öffentliche Krankenhäuser in eine Schulden- pelhaft vorgeht, vermochten sie es meist, falle gerutscht. Indem sie nicht mehr investie- noch jede in die Welt gesetzte Gemeinheit als ren konnten, verringerten sich Leistungsfähig- sozialen Fortschritt zu verkaufen. Genau das keit und Angebot. ist der Schlüssel zur gegenwärtigen Revolte in Chile: Die gesamte unter den Präsidentschaf- Gleichzeitig hat sich der Staat per Gesetz ver- ten von Frei, Lagos und Bachelet angestaute pflichtet, die Behandlung einer großen Zahl Wut entfesselt sich erst jetzt gegen den Kon- von Krankheiten für alle Chilenen zu garantie- servativen Piñera und damit der Form halber ren. Wird einem Patienten eine Leistung vom gegen die Rechte. öffentlichen Gesundheitswesen nicht erteilt, hat er einen Anspruch darauf, dass der Staat Wie ist die Revolte einzuschätzen? Es ist eine sie für ihn bei einer privaten Einrichtung er- Revolte ohne politische Führung, ohne klaren steht. Hiermit nimmt ein System Gestalt an, in Forderungskatalog, ohne einen anderen Hori- dem der Staat sein (wachsendes) Gesund- zont, als den allgemeinen Zorn. Dieser aber ist heitsbudget und üppige Subventionen in die weitreichend. Die Chilenen fordern heute nichts Taschen privater Firmen umleitet. In Chile über- Bestimmtes, denn sie erkennen, dass sie trägt der Staat allein dem privaten Gesund- schlicht und einfach alles einfordern müssen. heitssektor jährlich über 1,5 Milliarden US-Dol- „Es geht nicht um 30 Peso, es geht um 30 Jah- lar. Die Profiteure bleiben unsichtbar. Wichtiger re“ – zumindest auf der Ebene der Gefühle ist noch: Aus einstmals sozialen Rechten sind in- die Revolte radikal: das Gefühl, dass einige we- dividuelle Ansprüche in Form von Zuschüssen nige Reformen oder ein paar Almosen nicht geworden. Während Rechte nicht verhandelbar reichen werden; dass unsere Vertreter uns ver- sind, können Zuschüsse gewährt, aber auch raten und an private Profiteure verkauft haben; verweigert, erhöht, aber auch gesenkt werden. dass man uns nicht dieses oder jenes schul-
25 det, sondern ein ganzes Leben. Schließlich das dies heute durch die Vergabe von Konzessio- dunkle Gefühl, dass nach all der Erleichterung nen auf neunzig oder mehr Jahre. Werden Kon- und Begeisterung wahrscheinlich wieder zessionen außer Kraft gesetzt, besteht ein An- nichts passiert. recht auf Entschädigung des gesamten entgan- genen Profits für den Zeitraum der Konzession. Damit etwas wirklich anderes passiert, müssen Diese schier unglaubliche Garantie, die zum wir die Stützpfeiler der neoliberalen Politik an- Beispiel in der in Chile gültigen Gesetzgebung gehen. Da ist die breit angelegte Prekarisierung zu Bergbaukonzessionen ausdrücklich enthal- der Arbeitswelt, die nur die Konkurrenz um Ein- ten ist, wird darüber hinaus von Freihandelsver- kommen und Arbeitsplätze forciert; da ist die trägen gestützt. In diesen Abkommen werden „Lohnplünderung“, bei der ein immer größerer die Staaten verpflichtet, die für private Investi- tionen erlassenen „Spielregeln“ zu respektie- ren. Sollte ein Land es wagen, Konzessionen zurückzunehmen, würde es alle unterzeichne- Anders als 1989 ist das ten Freihandelsverträge verletzen und sich große Problem diesmal aber Sanktionen durch die Welthandelsorganisation nicht eine Diktatur, sondern aussetzen, bis hin zum Boykott seiner Importe – auf dramatische Weise – und Exporte. die Demokratie. Dieses System missachtet nicht nur die Souve- ränität der Länder und ihrer Bürgerinnen und Bürger. Es hat das Eigentumsrecht zur Nut- Anteil der Löhne durch die Privatisierung grund- zung von Gemeingütern grundlegend verän- legender Dienstleistungen wie Gesundheit, Bil- dert und von der klassischen Rechtsfigur des dung, Verkehr, Wohnung, Energie oder Trink- Privateigentums gelöst. Transnationale Ver- wasser faktisch entwendet wird, und immer pflichtungen schützen nicht mehr das Eigen- mehr Menschen in die Verschuldung treibt (in tum, sondern das Zugriffsrecht auf Güter. Die- Chile gibt es mehr Schuldner als Staatsbürger); se für den neoliberalen Kapitalismus charak- da ist die von nationalen und transnationalen teristische Form der privaten Aneignung hat Banken und Großunternehmen massiv betrie- sich durchgesetzt: Als Chile 1989 Demokratie bene Steuervermeidung; schließlich ist da die wurde, befanden sich über 80 Prozent des Steigerung des Raubbaus an Naturressourcen Kupferbergbaus in der Hand des chilenischen auf ein verheerendes Niveau. Diese in aller Welt Staats. Heute werden 80 Prozent des Kupfer- etablierte Form der Plünderung ist einer nähe- bergbaus durch ausländischer Bergbauunter- ren Betrachtung wert. nehmen betrieben. Im Chile Salvador Allendes betraf es die Kup- Möglich wurden diese Entwicklungen dadurch, fervorkommen, in Venezuela das Erdöl: In den dass die Demokratie selbst eine besondere 1970er Jahren machten diese Verstaatlichun- Form annahm. Peu à peu wurde die Verantwor- gen das transnationale Kapital in seinem Hun- tung und Entscheidungsgewalt vom Parla- ger nach Rohstoffen nervös. Daher suchte es ment und der Legislative auf die Exekutive ver- nach anderen Wegen, sich auf legale Weise die lagert. Im Parlament werden nur noch vage Naturressourcen nutzbar zu machen – und es formulierte Gesetze verabschiedet, die dann in wurde fündig. Überall in der Welt geschieht den Ministerien von Beamten „technisch“ prä-
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