IM SCHATTEN DER SPIELE // - FUSSBALL, VERTREIBUNG UND WIDERSTAND IN BRASILIEN
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LN-Dossier 9 // September/Oktober 2013 IM SCHATTEN DER SPIELE // FUSSBALL, VERTREIBUNG UND WIDERSTAND IN BRASILIEN
Impressum HERAUSGEBER: LATEINAMERIKA NACHRICHTEN e.V. Erscheint als Dossier Nr. 9 innerhalb der LN 471/472 (September/Oktober 2013) sowie als separate Themenbroschüre. Redaktion: Redaktionskollektiv der Lateinamerika Nachrichten V.i.S.d.P.: Christian Russau Gefördert von der Rosa Luxemburg Stiftung Die Rosa Luxemburg Stiftung führt nicht nur eigene Veranstaltungen in São Paulo und Deutschland durch, die die sportlichen Großereignisse der WM 2014 und Olympischen Sommerspiele 2016 in Brasilien kritisch begleiten. Sie unterstützt auch ganz konkret die Arbeit von zum Teil langjährigen ProjektpartnerInnen, die vor Ort Kampagnen im Rahmen der mega-eventos unterstützen, die von Vertreibung betroffene oder bedrohte Bevölkerung begleitet und auf die vielseitigen, leider überwiegend negativen Folgen für die Menschen vor Ort aufmerksam machen. Zu diesen PartnerInnen gehören CAMTRA (Casa da Mulher Trabalhadora) www. camtra.org.br, NPC (Núcleo Piratininga de Comunicação) www.piratininga.org.br, PACS (Políticas Alter- nativas para el Cono Sur) www.pacs.org.br und FASE (Federação dos Órgãos para Assistência Social e Educacional) www.fase.org.br. FASE ist sowohl in Recife als auch in Rio Mitglied der Comitês Populares de COPA; seit Jahren setzen sie sich für das Recht auf Stadt als verbrieftes Menschenrecht ein und fungieren dabei als wichtiger Vermittler zwischen Stadtregierung und Zivilgesellschaft. LATEINAMERIKA NACHRICHTEN Gneisenaustr. 2a, D – 10961 Berlin Tel: 030 / 694 61 00, Fax: 030 / 692 65 90 www.lateinamerika-nachrichten.de redaktion@LN-Berlin.de Titelfoto: Tânia Rêgo / Agência Brasil / CC BY 3.0 BR Arbeiter auf dem Dach des Maracanã-Stadions
IM SCHATTEN DER SPIELE FUSSBALL, VERTREIBUNG UND WIDERSTAND IN BRASILIEN Foto: Antonio Cruz / Agência Brasil / CC by 3.0 4 Im Schatten der Spiele // Fußball, Vertreibung 30 Die Stadt als Beute des Kapitals // Interview und Widerstand in Brasilien mit Professorin Ermínia Maricato über Stadtum- strukturierungen im Schatten der Mega-Events 8 Proteste auf Fifa-Niveau // Unbehagen und und die neue Generation der Protestierenden Empörung treiben in Brasilien die Menschen auf die Straße 32 „50 Jahre Wachstum in nur 4 Jahren“ // Eine Reportage aus Cuiabá – ein Jahr vor dem 11 „Das Recht funktioniert nur für die Reichen“ Anpfiff // Sieben Testimonios über Räumungen und Rechtsbrüche, Reiche und Revolte 35 „Wo sollen wir hin,wenn sie uns hier ver- treiben?“ // Sexarbeiter_innen sollen an den 18 „Welle an Zwangsräumungen“ // Interview WM-Austragungsorten aus dem öffentlichen mit Professor Carlos Vainer über die sportlichen Raum verschwinden Groß-Events und die Folgen in Rio de Janeiro 38 Blatter und die Strolche // Brasiliens Fuß- 22 Als der Papst schlief // Tränengas und Taser, ballfunktionäre sind tief in Korruptionsaffären Pfefferspray und Prügel auf den Demonstratio- verstrickt nen in Rio de Janeiro 41 Ein anderer Fußball ist möglich // Vor dreißig 27 Vier Wummen gegen Rio // Brasilien trainiert Jahren führte mitten in der brasilianischen Mi- für Olympia – mit Drohnen, Luftabwehrpanzern, litärdiktur der Fußballklub Corinthians Basisde- Kleinkalibern und Wasserwerfern, auch aus mokratie ein: die Democracia Corinthiana Deutschland und Österreich
IM SCHATTEN DER SPIELE FUSSBALL, VERTREIBUNG UND WIDERSTAND IN BRASILIEN Foto: CatComm / Rio on Watch / CC BY-NC-SA 2.0 4 LN-Dossier 9
Fußballweltmeiterschaft der Männer 2014 in Bra- Hinzu kommt, dass nicht wenige der Städte, in silien! Mehrere hundert Millionen Zuschauer_in- denen die WM im nächsten Jahr ausgerichtet nen weltweit werden das Spektakel verfolgen, werden wird, einen Immobilienboom sonders- wenn 32 Teams um den Titel spielen. Die Fans gleichen erleben. Die Grundstückspreise und werden sich die Spiele in den Stadien oder auf Mieten in den Ballungszentrem von São Paulo Fanmeilen, in Bars oder Biergärten, bei Freund_ und Rio de Janeiro explodieren, haben sich von innen oder daheim auf der Couch anschauen. In 2011 bis 2013 teilweise veranderthalbfacht. Und Brasilien aber werden nicht alle die Spiele von auch vor den Morros, den Favelas in der Südzo- zu Hause aus sehen können, selbst wenn sie ne von Rio de Janeiro, hat dieser Boom nicht halt das wollten. Denn im Land der Fußball-WM 2014 gemacht. Infolge der „Befriedung“ dieser Hügel droht Tausenden Menschen die Zwangsräumung: durch die Militär- und Polizeieinheiten in den ver- für die Bauvorhaben, die mit der Weltmeiterschaft gangenen Jahren sind diese Favelas nun nicht oder den Olympischen Sommerspielen, die 2016 nur bei wohlhabenden cariocas, sondern auch bei in Rio de Janeiro stattfinden werden, im Zusam- Tourist_innen äußerst beliebt. Sie befinden sich menhang stehen. in perfekter Lage mit Blick auf die Traumstrände Die lokalen Basiskomitees, die sich in Brasilien am Zuckerhut. Vor allem in Rio de Janeiro, aber zur WM gegründet haben und die die sozialen auch in anderen Städten, ist dieser Prozess der Folgen der Groß-Events kritisieren, haben er- Gentrifizierung massiv – und vertreibt viele der schreckende Zahlen ermittelt. Allein in den zwölf Anwohner_innen. Ausrichterstädten der WM (einschliesslich Rio als In Rio de Janeiro ziehen die Vertriebenen meist Austragungsort der Olympischen Spiele) wurden in die West-Zone der Stadt, wo Wohnraum noch demnach bereits über 250.000 Menschen aus erschwinglich ist, aber die Fahrtzeit zur Arbeits- ihren Häusern geräumt oder sind von Räumung stelle im Zentrum der Stadt auch weit über zwei bedroht. Stadion- und Straßenbauten, Schnell- Stunden dauern kann. Diese Prozesse der Ver- buslinien und Trams, Parkhäuser und Hotels, U- drängung und Inwertsetzung zeigen sich in allen Bahnen und Autobahnzubringer – die vorgebrach- WM-Städten in Brasiliens, wenn auch in einigen, ten Gründe für Räumung und Vertreibung sind wie beispielsweise in Cuiabá, deutlich geringer. vielfältig. Doch nirgends in Brasilien haben sich die Brasi- Dabei gehen die Behörden nicht zimperlich mit lianer_innen mit dem Gebaren der Fifa abgefun- den Bewohner_innen um. Mal werden Bulldozer den. Den von Funktionär_innen des Weltfußball- und Abrißbirne ohne Vorankündigung aufgefahren, verbands angesprochenen „Tritt in den Hintern“, mal wird den Bewohner_innen ein Räumungsbe- den Brasilien nach Fifa-Ansicht brauche, um den scheid mit einer Frist von „null Tagen“ zugestellt, Zeitplan für die WM-Vorbereitungen einzuhalten, mal will es kein Amtstäger gewesen sein, der die hat in Brasilien niemand vergessen. Dass Brasi- Anweisung zur Räumung gab, mal ist auf dem lien Milliarden ausgibt für WM-Bauten, die dem Amt keinerlei Auskunft zu erlangen. „Fifa-Standard“ entsprechen müssen, aber das Die Betroffenen beklagen, dass die Entschädigun- öffentliche Bildungs-, Gesundheit- und Transport- gen zu gering seien und dass sie nicht angemes- wesen im Lande gravierende Defizite aufweist, sen in Kenntnis gesetzt wurden. Auch die vom hat die Brasilianer_innen auf die Straßen getrie- Staat angebotenen Ersatzleistungen würden zu ben. Entsprechend laut waren im Juni die Pfiffe spät, gar nicht oder unzureichend angeboten. Er- beim Eröffnungsspiel des Confederations Cups satzwohnungen befinden sich oft in katastropha- gegen den im Stadion anwesenden Fifa-Boss lem Zustand bei inakzeptabler Lage. So sind sie Sepp Blatter und Präsidentin Dilma Rousseff. Die häufig in Neubaugebieten sozialen Wohnungs- Brasilianer_innen zeigten Blatter und den im Land baus, ohne Bus- oder Zuganbindung, Schule oder Regierenden, was ein richtiger Tritt in den Hintern medizinische Einrichtungen in erreichbarer Nähe. sein könnte: Sie gingen zu Hunderttausenden auf die Straßen, protestierten und trieben den WM-Verantwortlichen bei Fifa und Regierung die Heimspiel ohne Haus Schweißperlen auf die Stirn. Die Städte machen sich schick – aber die Einwoh- Zu viele der schön projizierten Projekte wie ner_innen müssen gehen „Wunderbarer Hafen“ in Rio, privat geführtes LN-Dossier 9 5
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Maracanã-Stadion, Seilbahnen oder Autobahnzu- bringer kontrastieren die Realität der abwesen- den Abwasserversorgung, der Wartezeiten bei medizinischer Behandlung oder der schulischen Bildungsmisere. Besonders wütend wurde die Bevölkerung, als es um den WM-konformen Umbau der Stadien ging. Denn die Fifa-Regeln untersagen Stehtribünen – Sitzplätze und VIP-Lounges lassen sich eben bes- ser vermarkten. Das Maracanã, neben Wembley und Camp Nou nach Ansicht vieler eine der drei Gralsstätten des Fußballs, sollte mit öffentlichen Mitteln modernisiert – und dann privat verhökert werden. Doch die Proteste des Juni haben Wirkung ge- zeigt. Nicht alles lassen sich die Brasilianer_innen von Fifa und Regierung gefallen: Die Privatisierung des Maracanã soll rückgängig gemacht werden, angrenzende Sportstätten und ein von Indigenen besetztes Gebäude, die Aldeia Maracanã, sollen nun ebenso bleiben wie die comunidade der Vila Autódromo, die seit Jahren für den zu errichten- den Olympia-Park hätte geräumt werden sollen. Selbst bei den Vermarktungs- und Sponsoren- schutzrechten haben die Brasilianer_innen der Fifa gezeigt, was ein Tritt in den Hintern wirklich sein kann: In Bahia ließen die Straßenverkäu- fer_innen der acarajé – kleine, scharf gewürzte, gefüllte und frittierte Bohnenbällchen – nicht lo- cker, als bekannt wurde, dass sie ihre traditionel- len Gerichte in Stadionnähe auf Fifa-Wunsch nicht verkaufen dürften. Die Fifa knickte ein. Und die Taxifahrer_innen Salvadors blockierten beim Con- federations Cup kurzerhand alle Straßen um das Stadion, weil ihnen das versprochene Extra-Ge- schäft komplett durch die Lappen ging, da private Fahrdienste eingesetzt wurden. Nach dem Spiel mussten dann die Nationalspieler_innen zu Fuß zum Hotel gehen. Widerstand lohnt sich also doch. Und nach den Erfahrungen der Massenproteste im Juni dieses Jahres dürfte allen Fifa-Funktionär_innen und Re- gierenden in Brasília klar geworden sein, dass die Brasilianer_innen spätestens mit Anpfiff der Fuß- Grafik: image-shift.net ballweltmeisterschaft am 12. Juni 2014 wieder in Massen auf den Straßen sein werden – und für ihre Rechte demonstrieren werden. Denn um Rechte geht es in erster Linie – nicht um Tore. Das wissen die Brasilianer_innen ganz genau. // LN und Rosa-Luxemburg-Stiftung LN-Dossier 9 7
PROTESTE AUF FIFA-NIVEAU UNBEHAGEN UND EMPÖRUNG TREIBEN IN BRASILIEN DIE MENSCHEN AUF DIE STRASSE Als Brasilien 2007 zum Austragungsland der len des Confederation Cup, dem WM-Probelauf Fußball-Weltmeisterschaft gewählt wurde, in sechs Städten, gab es in der Umgebung der war der Jubel in der Bevölkerung groß. Eben- Stadien große Demonstrationen. Fußballfunktio- so zwei Jahre später, als feststand, dass die när_innen dachten sogar laut darüber nach, die Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Veranstaltung abzublasen. Auf den Kundgebun- Janeiro stattfinden würden. Heute hat sich gen und in den Medien machten unzählige, spon- die Stimmung gedreht. Es dominiert ein tief- tan entstandene Parolen und Slogans die Runde: sitzendes Unbehagen, ja Empörung über das „Wenn mein Kind krank ist, bringe ich es in ein urbane System und die Polizeigewalt, die Stadion“, „Ich kann ohne WM auskommen: Ich Zwangsumsiedlungen, die Korruption und will Gesundheit, Arbeit und Bildung“, „Politiker, ihr die Ausbeutung des Landes durch die Fifa. habt jetzt nichts mehr zu lachen“, „Pelé und Ro- naldo: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Die Millionen Brasilianer_innen sind im Juni auf die Illusion, die Brasilianer_innen seien ausnahmslos Straße gegangen. Während der Fußball-WM stolz und zufrieden darüber, diese Sportspektakel 2014 und den Olympischen Sommerspielen 2016 in ihrem Land beherbergen zu dürfen, ist nicht ist mit weiteren Protesten zu rechnen. Seit Jah- mehr aufrechtzuerhalten. ren haben Akademiker_innen sowie Mitglieder Die Mobilisierungen im Juni stellen in vielerlei diverser sozialer Bewegungen, Nichtregierungs- Hinsicht einen Wendepunkt in der brasilianischen organisationen und Parteien auf die unvermeidli- Politik statt. Selbst wenn es nicht leicht fällt, die chen Auswirkungen dieser Mega-Events in einer Ablehnung der Institutionen und der politischen zutiefst ungleichen Gesellschaft wie der brasi- Parteien, die Vielzahl von Forderungen und Agen- lianischen hingewiesen, wo zudem immer bru- den, die vielfältigen Formen direkter Aktion oder taler gegen Dissident_innen vorgegangen wird. anderer Proteste, die in den unterschiedlichsten Von Anfang an ging es in dieser Debatte um die Teilen des Landes zum Ausdruck kamen, unter Zwangsumsiedlungen zehntausender, meist ar- einen Hut zu bringen: Heute gibt es eben keine mer Menschen, die der Immobilienspekulation einzige Organisationsform oder gar eine gemein- weichen müssen. Gestritten wurde um massive same Sache mehr. Investitionen in Bereiche, die – wie die WM – ei- Die Regierenden auf Bundes-, Landes- und kom- gentlich keine staatliche Priorität verdienen, wäh- munaler Ebene beeilten sich, alte Vorschläge aus rend die Lage in Sachen Gesundheit und Bildung den Schubladen zu holen, um „Antworten“ auf für das Gros der Brasilianer_innen dramatisch die Straße – und ihre rapide sinkenden Populari- bleibt. Debattiert wurde auch über die Privatisie- tätswerte – zu geben. In der Tat: Die Proteste sind rung öffentlicher Räume, über die Korruption, die abgeflaut, doch wenig spricht dafür, dass der An- Kriminalisierung sozialer Bewegungen oder über trieb für die Demonstrationen und die Auflehnung prekäre Arbeitsverhältnisse auf den WM-Baustel- völlig abgekühlt ist. Zahlreiche politische Gruppen len sowie über Ausnahmegesetze und Militari- sind während der Prozesse der letzten Monate in sierung. ihren Organisations- und Vernetzungsformen vor- Dennoch war im Juni die Überraschung bei den angekommen und haben eine neue Sichtbarkeit Regierenden, in den Medien und bei der Fifa erlangt. Bei der Interaktion dieser neuen, auto- groß: Die Kritik kam nun nicht mehr nur aus den nomen Kollektive haben die sozialen Netzwerke sozialen Bewegungen, sondern sie beherrschte eine zentrale Rolle gespielt – dies ist die wohl auf einmal die Straßen und den Alltag fast der größte Gemeinsamkeit des „brasilianischen Früh- gesamten Gesellschaft. Bei nahezu allen Spie- lings“ mit Massenbewegungen in anderen Teilen 8 LN-Dossier 9
Foto: CatComm / Rio on watch / CC by NC-SA 2.0 Im Namen des Fußballs Zerstörung der comunidades in Rio de Janeiro und andernorts der Welt. Jederzeit kann es zu neuen Explosionen Weise, die Mega-Events vorzubereiten, haben der Unzufriedenheit kommen, und einiges spricht sich in den zwölf Austragungsorten Aktivist_innen dafür, dass das große Stelldichein bei der WM aus verschiedensten Traditionen sozialer Kämpfe, 2014 stattfinden könnte. Und dass die meisten Gruppen und Zusammenhängen in den lokalen der traditionellen Bewegungen eher ratlos auf die Basiskomitees zur WM zusammengeschlossen. Proteste reagierten, ist auch durch ihre Nähe zu Diese Komitees spielen eine wichtige Rolle dabei, den linken Regierungsparteien PT (Arbeiterpartei) über diverse Aktivitäten die Debatte aufrecht zu und PCdoB (Kommunistische Partei Brasiliens, erhalten: Straßenkampagnen, Flugblätter, Bro- die das Sportministerium beherrscht) zu erklären schüren, Webseiten oder Debatten inner- und – sind es jedoch gerade diese staatstragenden außerhalb der Universitäten. Auf landesweiter Kräfte, die zusammen mit ihren konservativen Ebene sind sie durch ein Netzwerk miteinander Koalitionspartnern der Fifa in allen zentralen Punk- verbunden. ten nachgegeben haben. Durch das „Allgemeine Auch wenn auf einem Großteil der Demonstratio- WM-Gesetz“ hat der brasilianische Staat in meh- nen im Juni die sportlichen Großereignisse direkt reren Bereichen seine Souveränität zugunsten oder indirekt thematisiert wurden, gingen die der unheiligen Allianz von Fifa und transnationa- Proteste doch weit über das hinaus, was in den len Konzernen aufgegeben. Komitees diskutiert wird. Es zeigte sich, dass die Von ihrer früheren Aufmüpfigkeit sind diese Partei- Unzufriedenheit mit den diversen Aspekten die- en, ebenso wie die Gewerkschaften, weit entfernt. ser Mega-Events viel diffuser, aber auch weitrei- Der Versuch der klassischen Bewegungen, sich die chender ist als etwa von den Mainstream-Medien Proteste für ihre berechtigten Forderungen nach oder der institutionellen Politik angenommen. Verringerung der Arbeitszeit, gegen weitere Präka- Die WM wird doppelt so viele Austragungsorte risierung oder nach gesicherten Renten nutzbar zu haben wie der Confederations Cup. Ihre Auswir- machen, endete ziemlich pathetisch. Ihren Aufru- kungen auf die von Zwangsumsiedlung bedrohte fen zum „Generalstreik“ am 11. Juli und zu Mas- Bevölkerung oder auf die Straßen- und andere un- senprotesten am 30. August folgten nur wenige. abhängige Händler_innen, die aufgrund der Aus- Nach den ersten Protesten gegen die Art und nahmegesetze massiv eingeschränkt werden, LN-Dossier 9 9
nehmen zu. Deshalb dürfte der Begriff „Demons- das Recht auf Stadt und die Merkantilisierung trations Cup“ („Copa das Manifestações“), der des Alltags diskutiert wird – daher die ungeheure bereits in diesem Jahr verwendet wurde, auch Macht, die das Thema erlangt hat. auf 2014 zutreffen. Zudem wird die brutale, ent- Mit den Mega-Events passiert gerade etwas Ähn- fesselte brasilianische Polizei gerade dazu ausge- liches: Es wird nicht nur direkt gegen sie protes- rüstet und abgerichtet, mit Härte zu handeln. Es tiert, sondern sie werfen auch Schlaglichter auf ist also mit massiver Repression zu rechnen, was eine Gesellschaft, die immer weiter militarisiert wiederum zu größerer Empörung führen und die wird, in der weder die Menschenrechte noch die Proteste befeuern dürfte, ähnlich, wie bereits im Umwelt respektiert werden. In den Worten des Juni geschehen. „Das Volk ist aufgewacht“, war Philosophen Paulo Arantes: „Der Knalleffekt der ein vielgehörter Spruch auf den Demonstratio- Tarifdebatte weist über die wichtige Bewegung nen, und dass es gerade jetzt wieder einschläft, der von den Mega-Events Betroffenen hinaus ist kaum zu erwarten. und hat die kollektive Phantasie der unglücklichen Die Protestkundgebungen im Juni wurden aber Massen erreicht, die zum Drehkreuz (in den Bus- nicht nur durch den Unmut über die korrupte Fuß- sen) verurteilt ist.“ Die Menschen wollten einen ballmafia ausgelöst, sondern vor allem durch den „Nahverkehr auf Fifa-Niveau“, so Arantes. Ebenso Kampf gegen die Tariferhöhungen im öffentlichen auch Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten Nahverkehr, der in Brasilien von miserabler Qua- von hoher Qualität. lität ist und vorwiegend durch die Interessen der Doch damit nicht genug: Diese Welle wird auch großen Busunternehmen bestimmt wird. mit dem Ende der WM noch nicht vorbei sein, Seither ist in São Paulo eine große Bestechungs- denn dann stehen ja die Olympischen Spiele an, affäre bekannt geworden: Beim Verkauf von und São Paulo bewirbt sich auch noch um die Expo S- und U-Bahnzügen organisierten die Multis 2020, die drittgrößte Veranstaltung der Welt, die Siemens, Alstom, Mitsui und CAF jahrelang Preis- – sollte es dazu kommen – die öffentliche Hand absprachen. Mit Billigung hoher Politiker_innen weitere Milliarden kosten und die Gentrifizierung und Funktionär_innen der von der rechtsliberalen vorantreiben wird. Die Vertreibungen werden an- Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB) an- halten – und immer mehr Bürgerrechte geopfert geführten Landesregierung kassierten die Multis werden. Aber die sozialen Bewegungen arbeiten bis zu 30 Prozent mehr als nötig. Die Aktivist_in- bereits daran, dass die zukünftigen Proteste wie- nen der Bewegung für Freie Fahrt im öffentlichen der auf Fifa-Niveau stattfinden werden. Nahverkehr (MPL) durften sich bestätigt fühlen. Ihre Forderung nach dem Nulltarif funktionierte // Júlio Delmanto auch als Auslöser dafür, dass jetzt viel breiter über Übersetzung: Gerhard Dilger Die da drinnen, die da draußen „Weg mit Gouverneur Cabral! Untersuchungskommission zur WM!“ Foto: Fernando Frazão / Agência Brasil / CC by 3.0 10 LN-Dossier 9
„DAS RECHT FUNKTIONIERT NUR FÜR DIE REICHEN“ SIEBEN TESTIMONIOS ÜBER RÄUMUNGEN UND RECHTSBRÜCHE, REICHE UND REVOLTE Foto: Renato Cosentino / Justiça Global Nach der Räumung In Brasilien sind wegen der Mega-Events über 250.000 Menschen von Räumung bedroht Die Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasili- te Stadtumstrukturierungen in Gang zu setzen en und die Olympischen Spiele 2016 in Rio de – und so massive Gewinne für einige mit Immo- Janeiro werfen ihre Schatten voraus. bilienspekulation und Gentrifizierung zu ermög- lichen. In ganz Brasilien sind wegen der Baumaßnahmen So hatte der Bürgermeister von Rio de Janeiro, für die Mega-Events über 250.000 Menschen von Eduardo Paes, bereits Anfang 2012 im einem In- Räumungen aus ihren Häusern bedroht. Dies er- terview mit der BBC frank und frei erklärt, „die geben Berechnungen der lokalen Basiskomitees Olympischen Spiele sind ein phantastischer Vor- zu WM und Olympia, die sich in den zwölf WM- wand, um Rio zu ändern“. Städten gegründet haben, um die Auswirkungen Wir dokumentieren hier sieben Testimonios von der Spiele zu monitorieren. Betroffenen, die schildern, wie es ihnen erging. Und WM und Olympia dienen den Regierenden dabei nicht selten als Vorwand, um großangeleg- // LN und Rosa-Luxemburg-Stiftung LN-Dossier 9 11
„HÖFLICHST – DAS KOMMT GAR NICHT IN DIE TÜTE!“ OBERDAM, COQUE, RECIFE: ERHIELT IM AUGUST 2013 DIE RÄUMUNGSANKÜNDIGUNG 40.000 Menschen wohnen im Stadtteil Coque basierend auf den ermittelten Werten infolge Be- in Recife, nahe des Hafens. Die in den Medien gutachtung desselben. Das Grundstück befindet gerne als verrufen dargestellte Gegend ist sich auf zur Enteignung vorgesehenem Gelände.‘ wegen der Lage seit Jahren Ziel von Immo- Mit anderen Worten: nach ich weiß nicht wie vie- bilienspekulation. Nun sollen für „Mobilitäts- len Jahrzehnten fällt ihnen das auf einmal auf! projekte“ zur WM dort 58 Familien geräumt Die wollen uns für dumm und dämlich verkaufen! werden, damit der Metro-und Busbahnhof Mehrere Jahrzehnte. 50 Jahre – und jetzt fiel ih- Joana Bezerra erweiterte Zufahrten erhält. nen das auf? Das kauf‘ ich denen nicht ab! Ich Oberdam wohnt seit langem im Coque – und fühle mich direkt angegriffen. Dies umschreibt es nun soll er von dort verschwinden. am ehesten. Weil, was sie da vorschlagen, das ist nicht richtig. Diese WM da, die kommt nach Bra- „Ein Rundschreiben vom Amt: ‚Name der Person. silien – das ist wie verflucht. Das ist ein Fluch. Ich Werter Herr. Höflichst grüßend...‘ Höflichst! Das bin mehr als empört. Und gleichzeitig könnte ich Wort gibt es nicht... Höflichst! – das kommt gar weinen vor lauter Wut, jeden Tag diese Absurditä- nicht in die Tüte! ‚Ich lade Sie ein, auf dem Amt ten zu sehen.“ so und so zu erscheinen. Am 12. August 2013 // coque vive. um 9 Uhr, zwecks Durchführung der Verhandlung Gekürzte Übersetzung: Felipe Bley Folly über das Grundstück zum Terminal Joana Bezerra, und Christian Russau „BEI REGEN BLEIB‘ ICH DRAUSSEN“ JUSSARA BECKER, VILA CRUZEIRO, PORTO ALEGRE: STEHT DEM AUSBAU EINER ENTLASTUNGSSTRASSE IM WEG Die zweispurige Avenida Tronco in Porto auf‘s Amt gehst, redest du mit fünf Leuten, jeder Alegre soll zu einer vierspurigen Entlastungs- sagt dir was anderes. Das ist so eine Mißachtung straße ausgebaut werden. Die Maßnahme ist von uns, die wir da schon so lange leben! Und Teil der Baumaßnahmen für die WM. Wer in wer sagt mir, wann ich raus muss? Zuerst verlie- den Häusern dort wohnt, wird „umgesie- ren sie das Papier, und dann weiß keiner, in wel- delt“. Dies betrifft rund 1.520 Familien. Das cher Abteilung genau sie gerade sind. Seit vier Testimonio erfolgte im Juli 2013. Monaten arbeiten sie an einem Entwurf. Niemand respektiert uns Bewohner, das ist die „Mein Haus steht zwischen zweien, die schon Wahrheit. Da gibt es Ratten, Abwässer dringen weg sind. Und was passiert? Als sie die weg- in meine Zimmer ein. Ich habe kein Wohnzimmer machten, mit ihren Maschinen, da senkte sich mehr, keine Küche. Mein Haus ist ein Saustall!“ mein Dach. Heute, bei Regen, da bleib‘ ich lieber // coletivo catarse. draußen als da drinnen. Seit Monaten warte ich, Gekürzte Übersetzung: Felipe Bley Folly dass mir irgendwer was sagt. Jedesmal, wenn du und Christian Russau 12 LN-Dossier 9
EINFACH DAS HAUS ABGERISSEN FRANCISCA DE PINHO MELO, COMUNIDADE RESTINGA, IM STADTTEIL RECREIO DOS BANDEIRANTES, RIO DE JANEIRO: MUSSTE EINER BUSSPUR WEICHEN Francisca de Pinho Melo, 46 Jahre, lebte und tun? Meine Tochter hielt mich zurück. Ich wollte arbeitete in der comunidade Restinga. 2010 ins Haus, die Tür hinter mir abschließen und dort wurden dort 153 Familien geräumt. Ohne alleine bleiben. Als ich die Verzweiflung meiner vorherige Ankündigung kamen die Bulldozer, Tochter und meiner Schwester sah, gab ich auf. und Beamte der Stadtbehörde und rissen die Ich bin dann nur kurz rein, hab‘ ein paar Unter- Häuser und Geschäfte der Familien ein. Die lagen geholt und wir gingen zum Haus meines Behörde argumentierte, dass dort die Aveni- Bruders. Ich stand unter Schock. Warum nehmen da das Américas für die Schnellbuslinie BRT sie den Leuten ihr Haus weg, für das sie so lange Transoeste erweitert werden müsse. Das sich aufgeopfert hatten? Seit sechs, sieben Jahren Testimonio erfolgte am 17. Dezember 2010. hatten wir die Schreinerei. Ich, meine Schwester, meine Tochter und noch einige weitere Verwand- „Ich sah, wie die Maschine mein Tor zertrümmer- te arbeiteten dort. Unser Einkommen war gut, wir te. Ich wollte da reingehen, aber ein junger Mann kamen über die Runden. Aber nachdem das mit hielt mich zurück. Ich versuchte nochmal, aber er dem Abriss geschehen war, haben wir drei Mo- ließ mich nicht. Ich wollte da rein, um mich vor nate gar nichts mehr verdient. Wir wohnten dann die Tür zu stellen und zu sehen, ob ich sie nicht zur Miete. Das Schwierigste, das sind die Kinder. stoppen könnte. So naiv war ich... Es ist schwer, dein Kind zu sehen, wie es dich um Ganz spontan griff ich nach der Vorhängekette, um etwas bittet. Meine Freunde, Verwandten, Nach- abzuschließen, ich dachte, vielleicht hören sie auf barn spendeten uns eine Tür, eine Veranda – und und reden mit mir und den anderen Bewohnern. nun verkaufe ich da was zum Essen, Sandwiches, Vielleicht so den Abriss zu stoppen... von unseren Erfrischungsgetränke. Ich arbeite jetzt 18 Stunden Häusern, den Geschäften, von all dem. Aber mei- am Tag. Ich habe alles verloren, mein Haus, meine ne Schwester und meine Tochter schrien, ich solle Arbeit, die Einkommensquelle meiner Familie.“ da weggehen. Und dann kamen sie und fingen an, // A Pública. alles abzureissen. Da wußte ich nicht mehr, was Gekürzte Übersetzung: Christian Russau Nun verläuft hier eine Busspur Ohne Vorwarnung wurde Franciscas Haus zertrümmert Foto: A Pública LN-Dossier 9 13
„HIER VERTREIBT MICH NIEMAND!“ DONA ALZENIR, COMUNIDADE JOÃO XXIII, FORTALEZA: SOLL DER NEUEN TRAM WEICHEN Die alte Bahnlinie Parangaba – Mucuripe ohne zu wissen, worum es überhaupt geht. Sie verbindet den Stadtrand mit dem Hafen von kamen alle auf einmal, an einem Samstag. Da Fortaleza. Seit Jahren verkehrt einmal täg- brachten sie diese Maschine und fragten nach lich ein Güterzug auf der etwa 15 Kilometer meinen Papieren. Dann notierten sie alles und langen Strecke, die dabei 22 comunidades filmten hier rum. durchkreuzt. Eng an den Gleisen wohnen Ich will hier nicht weg. Mir gefällt es hier. Als ich seit Jahrzehnten mehrere tausend Men- hier ankam, und es hier nichts gab, schon da ge- schen. Nun soll für die WM dort eine neue fiel mir das. Und jetzt haben wir hier alles. Tramlinie gebaut werden (siehe LN 441). Wer hier zuerst war, das waren wir.“ Schätzungen zufolge sind bis zu 15.000 Men- schen von Räumung bedroht. Doch Wider- // comunidades do trilho. stand regt sich. Die Anwohner_innen haben Gekürzte Übersetzung: Felipe Bley Folly eine Kampagne unter dem Slogan „Von hier und Christian Russau gehe ich nicht weg! Hier vertreibt mich nie- mand!“ gestartet. Elf Monate vor Beginn der Spiele ist der Bau zu einem Drittel fertig. Ei- Leben an der Schiene Tram in Fortaleza bedroht die nige Räumungen fanden bereits statt, doch angestammten Bewohner_innen der Widerstand der Bevölkerung hat Landes- und Stadtregierung entzweit, wer für die Räumungen zuständig sein muss. Und die Bewohner_innen setzen sich noch immer zur Wehr. Anfang September hat die Staatsan- waltschaft vor Gericht Einspruch gegen die Räumungspläne der Regierung erhoben. „Ich lebe hier seit Februar 1975. Hier gab es nichts. Nur Gestrüpp, Mücken und der vorbeifah- rende Zug ab und an. Hier kam nicht mal ein Lei- terwagen vorbei, nur herumstreunende Tiere. Ich bin seit damals hier und hier gehe ich nicht weg. Ich habe das Land gekauft. Ich habe das Dokument, das zeigt, wie lang, wie breit das Grundstück ist, wer der Nachbar rechts, wer der von links ist, wer der da hinten ist. Alles auf Papier. Wir haben bezahlt und dafür das Dokument er- halten. Mit all unserer Schufterei haben wir das Foto: Marcão da Costa Haus hier gebaut. Da gab es kein Bad, kein gar nichts. Und jetzt kommen da diese Firmen her, wie so aus dem Nichts. Bringen die Apparate zum Filme und Messen mit. Sie sagen, das sei Anweisung der Regierung, das müssten wir befolgen. Das haben wir auch, 14 LN-Dossier 9
WEG WEGEN FLUGHAFENAUSBAU GUNTHER OSCAR BANACH UND ROSELI APARECIDA REINALDI, VILA NOVA COSTEIRA, SÃO JOSÉ DOS PINHAIS, CURITIBA: SIND DER DRITTEN LANDEPISTE DES FLUGHAFENS IM WEG Vor mehr als 20 Jahren erhielten Gunther Os- Roseli: „Ich halte hier in meinen Händen das Do- car Banach und Roseli Aparecida Reinaldi von kument vom damaligen Bürgermeister, das uns den örtlichen Behörden das Wohnrecht. Nun den Grundbesitz hier bestätigt. Er gab uns das, sollen die Anwohner_innen dem Bau der drit- unterzeichnet, 1992. Seither sind wir hier und nun ten Landebahn des Flughafens Afonso Pena mit all diesem Irrsinn der dritten Flugpiste, wis- des WM-Austragungsort Curitiba weichen. In sen wir nicht, wohin, was geschehen wird, ob sie dem Haus des Ehepaars wohnen zusammen uns in Geld auszahlen? Oder einen anderen Ort zehn Personen. Sie wissen nicht, wann sie geben? Woanders was bezahlen, nur damit wir geräumt werden und nicht wohin. Das Testi- dort ein Loch vorfinden, nein, das geht nicht!“ monio erfolgte im Mai 2013. Gunther: „All das hier haben wir gemacht. Sogar die Bürgersteigkante. Und den Asphalt selbst. Gunther: „Wir erfahren nichts Genaues. Wir wis- Die Leitungsrohre. Die Behörden haben hier gar sen nicht, ob wir umgesiedelt werden, und wenn nichts gemacht. Wenn sie uns vertreiben, dann ja, wohin? Wohin werden sie uns verfrachten? Die müssen sie uns entschädigen.“ Flugaufsicht Infraero sagte, da muss eine Straße // Comitê Popular da Copa Curitiba. weg. Aber schaut man sich das genauer an, dann Gekürzte Übersetzung: Felipe Bley Folly muss da ein ganzer Stadtteil weg.“ und Christian Russau „WIR WOLLEN UNSERE WÜRDE“ ANDRÉ, 31 JAHRE, FAVELA DA PAZ, IN DER NÄHE DES WM-STADIONS IM STADTTEIL ITAQUE- RA, OSTZONE VON SÃO PAULO: SOLL SEIN HAUS VERLASSEN André wohnt seit 1996 in der Favela da Paz Eigentümer, aber die Leute von der Stadt kamen im Stadtteil Itaquera. Seit er herzog, lebt er und sagten, die comunidade müsse sich keine mit der Angst, aus seinem Haus geräumt zu Sorgen machen und dass sie einen Wohnplan für werden. Denn für die Stadtverwaltung steht uns hätten. Das beruhigte die Leute, aber schlä- sein Haus in einer Risikozone und zudem auf ferte sie auch ein. Wir haben uns also erfassen öffentlichem Grund. Seit aber die Fußball- lassen – und hinterher haben wir nie mehr was weltmeisterschaft immer näher rückt, nimmt gehört. der Druck auf die Bewohner_innen zu – denn Aber als klar wurde, die WM kommt nach Bra- sie wohnen in direkter Nachbarschaft zum silien und hierher zu uns, da gerieten wir unter neuen WM-Stadion Itaquerão. Das Testimo- Druck. Dann erfuhren wir ganz zufällig, dass un- nio erfolgte im August 2013. sere Räumung für den 26. April 2013 angesetzt war. Wir haben sofort eine einstweilige Verfügung „Seit 1996 wohne ich in der Favela da Paz. Die eingereicht, und die Staatsanwaltschaft wies ersten Familien zogen 1993 dort hin. Gleich da- auch darauf hin, dass es so nicht ginge, weil es ei- nach begannen die ersten Prozesse um Räumung ne Vereinbarung mit der Wohnungsbehörde gab, und Rückgabe des Landes an den ursprünglichen dass es Räumungen nur geben dürfe, wenn auch LN-Dossier 9 15
Foto: Marcelo Camargo / Agência Brasil / CC by 3.0 Gouverneur vor neuem Stadtplan In São Paulo sollen Arme aus der nun schicken Stadiongegend weichen Alternativen da wären. Wir haben dann selbst den Wir haben eine Stadtteilvereinigung der Anwoh- Alternativplan für die Favela da Paz erarbeitet. ner. Die Familien stehen sich nahe, sie fragen ein- Das Gelände ist groß und daneben gibt es noch ander, sie kümmern sich umeinander. Die Infra- eins, das ist auch von der Stadt, und wir schlugen struktur hier ist prekär. Wasser kommt nur nach vor, dahin umzuziehen: so wäre das Problem der Mitternacht. Strom ist auch furchtbar, den gibt es Risikozone umgangen worden und das Gelände nur, weil die Bewohner das selbst installiert ha- könnte Anschluss an die Kanalisation, Strom und ben. Und die da oben? Die lassen sich dauernd Verkehrswege erhalten. Der Bürgermeister selbst neue Ausreden einfallen. Wir bezahlen unsere sagt, er wolle der Bevölkerung von Itaquera eine Rechnungen, das ist nicht das Problem. Aber wir nette Erbschaft hinterlassen, aber so geht das wollen unsere Würde. Wir sagen ganz klar: wir nicht, uns einfach von hier zu vertreiben. Für mich wollen nichts geschenkt, wir sind Arbeiter, wir und meine Kinder ist es wichtig, dass unser Haus wohnen da nicht, nur weil wir das so wollen. Un- dort in der Nähe steht, um in Würde zu leben, mit glücklicherweise bietet die Regierung der Bevöl- Lebensqualität, Anschluss an die Kanalisation, an kerung gar nichts. Infrastuktur... Und mit der WM, da wird es brenzliger. Die Stadt Bis heute haben noch immer keine Antwort er- sagte: im Dezember ist der äußerste Termin. Ter- halten. Der Presse sagen sie, sie hätten ein Pro- min für was? Dass sie die Kavallerie rufen? Pfef- jekt, aber niemand sagt, wie, was, wo es gerade ferspray einsetzen? Werden sie alle vertreiben? steht. Und dann fängt dieses üble Spiel an, immer Oder werden sie unser Problem mit einem Woh- hängt alles von der anderen Behördenstelle ab, nungsbauprogramm hier in der Nähe lösen? dann vom Bürgermeister, dann von irgendeinem Ich begreif‘ nicht, wie sie reinen Gewissens das Bauvorhaben, von Finanzmitteln... Was sie für uns mit 300 Familien machen können. Wir alle schla- tun, ist einzig, dass sie durch dieses Wirrwarr den fen nicht mehr richtig, wir können auch nichts Räumungsprozess etwas verzögern. mehr zur Verbesserung unserer Lebensumstände Der Stadteil Itaquera ist sehr beliebt bei Immo- hier vor Ort machen, weil wer setzt hier schon ir- bilienspekulanten, weil sich wegen des Stadions gendwas instand, wenn es am nächsten Tag hei- hier alles verteuert. Vorher lag hier eine Miete bei ßen kann: ‚Packt eure Sachen auf den Pritschen- unter 500 Reais, heute zahlst du im Durchschnitt wagen und fahrt weiß Gott wohin‘. Ich frage mich, 850 Reais, und da ist das Hausgeld, die anderen wird die Militärpolizei heute kommen, um uns zu Kosten noch nicht mal mit drin. Und die Stadt bie- enteignen? Das geht allen hier so.” tet Wohnungsgeldhilfe in Höhe von 300 Reais an, // Júlio Delmanto. das ist lächerlich. Gekürzte Übersetzung: Christian Russau 16 LN-Dossier 9
BEINAHE ZUM DRITTEN MAL IM LEBEN GERÄUMT DAS HAUS VON ALTAIR ANTUNES GUIMARÃES, COMUNIDADE VILA AUTÓDROMO, STADTTEIL JACAREPAGUÁ, RIO DE JANEIRO: SOLLTE DEM OLYMPIAPARK IM WEGE STEHEN Altair ist 60 Jahre alt und seit 2003 Sprecher Die Häuser, in denen wir untergebracht wurden, von 900 Familien der Vila Autódromo, Rio de waren so Maisonette-Häuschen. Die waren nicht Janeiro. Altair wurde bereits 1965 geräumt. nur klein, sondern die wollten uns nur das Ske- 1995 stand dann sein Haus in der Cidade de lett des Hauses geben. Nur den Boden und die Deus einer Schnellstraße im Weg. Und die Wände. Das Oben sollten wir Bewohner alles Vila Autódromo sollte wegen Baumaßnah- selber machen. Absurd. Damals fing mein Kampf men für die Olympischen Spiele 2016 in Rio an. Mein politisches Bewußtsein. Mit Widerstand de Janeiro zwangsumgesiedelt werden. Das und vielem Disput mit der Präfektur schafften wir Testimonio von Altair erfolgte im April 2011. es, dass die alle anfallenden Kosten übernahmen, Nach jahrelangem Kampf erhielt die Vila Au- so wie es sein sollte. tódromo im August 2013 vom Bürgermeister Dann zog ich weg aus der Cidade de Deus. Ich letztlich das Bleiberecht zugestanden. Wi- fing ein neues Leben an und entschied mich für derstand lohnt sich offenbar doch. die comunidade Vila Autódromo. Das war vor 16 Jahren. Ein ruhiger Ort, sehr grün, meine jetzige „Ich wuchs auf in der comunidade Ilha dos Caiça- Frau ist von dort. Der Gouverneur Brizola vergab ras, da an der Lagune Rodrigo de Freitas. 1965 1992 das Nutzungsrecht für 40 Jahre. Dann gab war die Regierung von Carlos Lacerda. Der Vor- uns der Gouverneur Marcelo Alencar weitere 99 wand war, dass wir die Lagune verschmutzten. Jahre. Aber der jetzige Bürgermeister Eduardo Alles Lüge! Heute ist das der schickste Ort von Paes will die Vila Autódromo räumen. Dauernd Rio. Es war Immobilienspekulation. Es war Dikta- läßt er sich was Neues einfallen. Mal sind wir Ver- tur. Eine etwas andere Zeit, wo niemand sich be- schmutzer, Zerstörer, Unruhestifter, Eindringlinge, schwerte, aber so wie ich das sehe, war das gar mal sollen hier die Unterkünfte der Athleten, mal nicht so anders. Weil heute, da hast du mehr Frei- ein Medienzentrum hinkommen, mal sind wir heiten, aber du darfst auch nicht schreien. Wenn ein Rechenfehler oder wir werden Sicherheits- du schreist, bekommst du sofort Pfefferspray ins zone der Olympischen Spiele – und jetzt gerade Gesicht oder Prügel in dem Stil ‚Halt‘s Maul, dass werden wir wieder zum Naturschutzgebiet, was du es kapierst‘. gleichbedeutend ist mit, wir seien Zerstörer. Wir Meine Familie wurde in einem Müllwagen ge- sind umzingelt von Luxus- und Mittelklassehäu- räumt. Als wir ausgeladen wurden, waren wir sern, aber Reiche verschmutzen ja nicht. in einem Stadtteil, den niemand kannte und von Mein Leben ist eine Geschichte von Kampf und dem wir noch nie gehört hatten. Ein Ort ohne Leid, von Streit mit den Regierungen, die dauernd Strom, Wasser, Schule, inmitten von Nichts. Da meinen, dass sie die Armen einfach so nehmen gab es nur Gestrüpp, lehmige Erde und Staub. und von einem Ort zum anderen schmeißen kön- Das war der Stadtteil Cidade de Deus. Ich fühlte nen. mich verloren, ohne Freunde, ohne Boden, allei- Ich glaube nicht an das Recht für die Armen, für ne. Ich war ohne Heimat. die Schwarzen und die Prostituierten. In diesem Was sie mit mir gemacht hatten, das verstand ich Land hier, da funktioniert das Recht nur für die erst 30 Jahre später, als mein Haus der Schnell- Reichen.“ straße Linha Amarela, die das Zentrum der Stadt // Tatiana Lima, desInformémomos.org. mit der Westzone Rios verbindet, im Wege stand. Gekürzte Übersetzung: Christian Russau LN-Dossier 9 17
„WELLE AN ZWANGSRÄUMUNGEN“ INTERVIEW MIT PROFESSOR CARLOS VAINER ÜBER DIE SPORTLICHEN GROSSEVENTS UND DIE FOLGEN IN RIO DE JANEIRO Carlos Vainer erläutert die Hintergründe und Folgen der Stadtumstrukturierung Rio de Ja- CARLOS VAINER neiros im Zuge der Vorbereitung auf die Fuß- ist Professor für Urbanistik des Instituts für Stadt- ballweltmeisterschaft und die Olympischen und Regionalplanung Ippur der Bundesuniversität Sommerspiele. von Rio de Janeiro und Mitglied des lokalen Ba- siskomitees Rio de Janeiro zur Fußballweltmeis- Professor Vainer, Sie haben den Begriff der terschaft und den Olympischen Spielen. „Stadt im Ausnahmezustand“. entwickelt. Was meinen Sie damit? Carlos Vainer: Die Stadt im Ausnahmezustand ist eine Tendenz der neoliberalen Stadt. Neoliberales WM wird dem Bürger ein mythisches Klima der Denken basiert auf der Annahme, dass der Markt erfolgreichen Weltstadt vermittelt. Man geht immer die beste Form ist, um gesellschaftliche davon aus, dass die Bürger so eher bereit sein Ressourcen einzusetzen. Dies jedoch ohne jedwe- werden, den Ausnahmezustand und all dessen de Beeinträchtigung durch nicht-marktkonformes Folgen unter dem Verweis auf die nahenden Spie- Handeln, da es sonst zu Marktverzerrungen, Inef- le zu akzeptieren. Hier findet eine Erpressung fizienzen und Ungleichgewichten käme. In diesem der Bürger statt: Sie nehmen Dinge hin, gegen Sinne soll der Staat nur den Rahmen schaffen, um die sie sich unter normalen Umständen zur Wehr das freie Agieren des Marktes nicht zu behindern. setzen würden. Eine davon untrennbare Kompo- Die Stadt wird demnach betrachtet, als sei sie eine nente ist der Autoritarismus. Dieses Aushandeln Firma, die mit anderen Städten in Konkurrenz steht. von Geschäften ist keine Demokratie. So werden Und was kauft man in einem Markt der Städte? Die die Entscheidungsstrukturen aus den demokrati- Lage. Als Stadt konkurriere ich mit anderen Städ- schen Strukturen – Parlament, politische Parteien ten, um meine Standorte an Kapitalisten, Touristen, – auf die Korridore der Paläste verlegt, wo die pu- an Mega-Events zu verkaufen. Um diesen Verkauf re Macht der Konzerne alles aushandelt. zu ermöglichen, muss die Stadt demnach flexibel sein – und in diesem Zusammenhang rede ich von Was hatte das für Auswirkungen im Fall von Ausnahmezustand. Anstelle einer Stadt mit Nor- Rio de Janeiro? men und universellen Regeln, die für alle gelten, Die Olympischen Spiele und die WM machen wird sie zu einer Stadt, in der jeder städtebauliche das unternehmerfreundliche Projekt der Stadt- Vorgang oder Eingriff, jedes Firmenprojekt von Fall umstrukturierung zu einem großen Geschäft und zu Fall entschieden wird. Die Ausnahme wird zur verstärken die diesem Modell innewohnenden Regel. Und dieses Regime der Stadt dient der, wie Gegensätze: Verschärfung der Ungleichheit in der ich es nenne, direkten Demokratie des Kapitals. Stadt, Verschiebung der öffentlichen Macht hin Denn wer verhandelt? Konzerne mit städtebauli- zu einer Vertretung von Unternehmerinteressen, chen Projekten verhandeln direkt mit dem Staat. Verteilung öffentlicher Mittel im Sinne von Unter- nehmenslogiken, Ausrichtung der Stadt auf den Wie sehen Sie die Rolle der Mega-Events? Markt, Übertragung der Filetstücke der Stadt an Die Großevents verschärfen, beschleunigen und Konzerne. In Rio wurde die Hafenzone, mit einer verstärken die Dimensionen der Stadt im Aus- Fläche größer als der Stadtteil Copacabana, an nahmezustand und die direkte Demokratie des Investoren abgegeben. Wir reden hier von der Kapitals. Durch die Olympischen Spiele und die absoluten Privatisierung, von der verschärften 18 LN-Dossier 9
Spaltung des öffentlichen Raumes. Das heißt des Bundes. Was dahintersteckt ist der Versuch, dann auch, dass überall dort, wo es für einen Zen- eine autoritäre Gesetzesgrundlage für vereinfach- timeter Stadt ein Konzerninteresse gibt, alle Nor- te Militärinterventionen im Inneren zu schaffen. men aufgehoben werden, nur damit sich dieses Auf dieser Grundlage bot der Justizminister den Interesse durchsetzt. Und all diejenigen, die das Gouverneuren und Bürgermeistern nach den ers- Pech haben, diesen Konzerninteressen im Wege ten Massendemos vom Juni dieses Jahres im zu stehen, müssen von dort vertrieben, ja, regel- Fernsehen die Unterstützung des Heeres an. recht verbannt werden. Und dies erklärt die Welle an Zwangsräumungen in der Stadt. Niemals in der Was wären denn weitere Konsequenzen der Geschichte von Rio de Janeiro seit der Militärdik- Mega-Events für Rio? tatur kam es zu so vielen Vertreibungen. Rio be- Zunächst eine enorme öffentliche Verschuldung findet sich in einem Prozess der sozio-ethnischen von Stadt und Land. Die Schulden der Olympi- Säuberung. Und die geht einher mit Formen der schen Spiele von 1976 hat Montreal erst 2011 sozialen, polizeilichen und militärischen Kontrolle. abzahlen können – und Rio ist ein Bundesland, in dem 40 Prozent der Munizipien keine Abwas- Sie sprechen auch von einer massiven Ver- serversorgung haben. Bereits jetzt rechnet Rio schärfung der Repression... für WM und Olympische Spiele mit Kosten von Es gibt derzeit ein Gesetzesvorhaben, mit dem umgerechnet zehn bis zwölf Milliarden Euro. Aber terroristische Verbrechen bekämpft werden sol- das wird steigen. Die Panamerikanischen Spie- len. Brasiliens Gesetzgebung kennt diese juris- le sollten 400 Millionen Reais kosten, am Ende tische Figur der Terrorbekämpfung nicht. Das ist zahlten wir viereinhalb Milliarden, das Zehnfache. insofern dramatisch, als es eines der Erbstücke Niemand hat derzeit den genauen Überblick dar- der WM für uns sein wird. Im Justizministerium über, was die Spiele kosten werden – und dabei wurde ein Sondersekretariat zur Sicherheit der reden wir noch nicht einmal von den gewährten Mega-Events eingerichtet – aber öffentliche Si- Steuervergünstigungen für die FIFA beispielswei- cherheit ist in Brasilien Ländersache, nicht Sache se, die ja auch Kosten darstellen. Grafiken: image-shift.net LN-Dossier 9 19
Und jenseits der öffentlichen Finanzen? setzt werden, da die arbeitende Bevölkerung ge- Die zweite Hinterlassenschaft wird eine gespal- fährlich und deshalb die soziale, polizeiliche und tenere, eine ungleichere Stadt sein. Es wird ein militärische Kontrolle nötig sei. Rio sein, in dem die Nachbarschaft einer Favela zu Und als drittes Erbstück, so sagen die Politiker, einer Mittelklassewohngegend seltener wird. Und wird es neue Mobilität geben. Aber wohin führen wir werden eine fortschreitende Privatisierung des denn die neuen öffentlichen Verkehrslinien? Hin öffentlichen Raumes sehen. Dies geschieht schon zu den Gebieten, die durch den Immobilienboom seit Jahren, beispielsweise wenn die Behörden erschlossen werden, in Barra da Tijuca oder Re- ihre Politik der Null-Toleranz durchsetzen. Diese creio im Westen der Stadt zum Beispiel. Da wird Intoleranz ist aber nicht allgemein, sie richtet sich das öffentliche Verkehrsnetz hin zu leeren Gebie- gegen die fliegenden Straßenhändler, gegen die ten ausgebaut, während 80 Prozent der Nachfra- Straßensambas, gegen diejenigen, die nach dem ge nach Transport in den Vororten der Baixada Flu- Wochenmarkt dort noch beim Biertrinken verwei- minense und im Großraum Niterói besteht. len. Es ist eine Art der Urbanität, die nur kompati- Die Stadt und die Regierenden brauchen einen bel ist mit der Lebensrealität der neureichen Bour- Vorwand, um all das zu rechtfertigen. Als Vor- geoisie. So wird die kulturelle, lebendige Vielheit, wand geben sie die vermeintlichen Hinterlas- das Lebenselixier der pulsierenden Stadt zerstört senschaften der Events an. Aber: ist Mobilität und die öffentlichen Räume werden für Privat- eine Folge von Groß-Events? Muss die Stadt die zwecke enteignet. So wird die Stadt ungleicher, är- Olympischen Spiele ausrichten, um den öffentli- mer, weniger öffentlich und mehr privatisiert. Und chen Transport zu verbessern? Wir brauchen nicht die Stadt wird umgeformt in eine Anhäufung von die Spiele, um den öffentlichen Transport und die Festungen: die Festungen der Reichen, die gated Abwasserentsorgung zu verbessern! communities, die Shopping-Center, die Business- Center. Und auf der anderen Seite die Festungen Und das „Erbe“ beim Fußball selbst? der Armen, die urbanen Ghettos, umzingelt von Schauen Sie sich das Maracanã an. Das wurde der Polizei. Das sind Ghettos, die militärisch be- privatisiert, das Volk von Rio wurde enteignet, um 20 LN-Dossier 9
dort VIP-Lounges zu installieren. Dort, wo zuvor gegen das, was da mit dem Fußball gemacht wird. 200.000 Zuschauer und davon 40.000 Stehplätze Also pfeifen sie die Regierenden aus. Und zeigen, waren, wo alle Leute zu günstigen Preisen rein- dass sie nicht gegen WM und die Olympischen konnten! Das Maracanã war der Ort der einfachen Spiele sind, sondern gegen die Art und Weise, wie Leute von Rio de Janeiro. Heute wurde es auf diese Events gegen sie benutzt werden. Und die- 80.000 Plätze reduziert, von denen sind 40.000 se Lehre ist außergewöhnlich! Diese aber ist für VIPs. Man darf keine Fahnen mehr mitnehmen, die Herrschenden schwer zu begreifen: Während Musik darf man auch nicht mehr spielen. Sie un- die Politiker den Sport nur als Machtinstrument, terdrücken die Vielfalt, die Spontaneität, die Le- als großes Geschäft sehen, ist er für die Leute bendigkeit und die Kultur. Das ist obendrein auch was ganz anderes. Eine Leidenschaft. noch entsetzlich dummes Marketing. Warum zieht Rio de Janeiro jemanden an, was hat es Besonde- Sehen Sie denn irgendetwas Positives, das die res? Wenn unsere Stadien alle so aussehen, wie Groß-Events bringen? die in Europa, wenn unsere Städte, unsere Plätze Die Demonstrationen der Bevölkerung. Denn so werden wie der Jardin du Luxembourg, warum die Spiele, die Groß-Events, zusammen mit dem sollte jemand nach Rio kommen? Der bleibt da! Stadtprojekt der Regierenden, laufen auf den Ver- such hinaus, den öffentlichen Raum und hierbei Welche Rolle spielen in diesem Zusammen- zuallererst den Raum der Stadt als polis, im grie- hang die jüngsten Proteste? chischen Wortsinne, zu zerstören. Aber anders Zum Confederations Cup wollte Brasilien der als von ihnen erwartet, erleben wir gegenwärtig Welt das Bild eines glücklichen und friedvollen genau das Gegenteil: die außergewöhnliche Po- Landes präsentieren. Deshalb wollten sie jegliche litisierung der Stadt. Die Stadt selbst ist nun Ge- Demonstration verhindern. Und wie macht man genstand des politischen Disputs. Politik und Wirt- das? Mittels brutaler Repression. Nur geschah schaft wollten das Politische aus dem öffentlichen genau das Gegenteil des Erwarteten: Die brutale Raum der Stadt verdrängen, und nun erhebt sich Repression traf auf die Vielfältigkeit dynamischer genau dieses Politische im öffentlichen Raum. Die Proteste, unterschiedlichster Ausdrucks- und Wi- Stadt erfindet sich neu als Ort der Politik, verstan- derstandsformen sozialer Kämpfe. Statt den Fun- den als öffentliche Sphäre, in der die Bürger in die ken zu löschen, heizten sie ihn an – und das ganze Öffentlichkeit treten, politische Projekte diskutie- Haus brannte lichterloh. Ich pflege zu scherzen, ren und sich fragen: „Was wollen wir mit unserer dass selbst der genialste Stratege, der die Re- Stadt?“ Das ist die Stadt als polis. Die Herrschen- gierungspläne hätte durchkreuzen wollen, nicht den aber wollen die Stadt als city. Und sie wollen auf einen solch schlauen Vorschlag hätte kom- die polis der city unterordnen. Aber die polis er- men können, die ersten Demonstrationen gleich hebt sich und sagt: Nein! Wer hier das Wort führt, derart brutal niederzuschlagen. Das alles traf auf das ist das Politische, hier spricht der öffentliche den Kontext der Mega-Events, begleitet durch Raum. Die Demonstrationen sind genau das: Die das gestiegene Gefühl der Bevölkerung, dass ei- Stadt geht auf die Straße. Während die Logik der ne Unmenge an öffentlichen Mitteln für unnütze Stadt im Ausnahmezustand die direkte Demo- Bauvorhaben ausgegeben wird. kratie des Kapitals, den Wettbewerb der Städte untereinander und die Privatisierung des urbanen Was bedeuten die Proteste für die Fußball- Raums meint, ist die Logik der Demonstrationen weltmeisterschaft nächstes Jahr? die Wiedergewinnung des öffentlichen Raums. Der Journalist Andrew Jennings fragte mich un- Während sie die bürgerliche Ordnung einer ihrer längst, ob die WM in Gefahr sei. Ich sage: Die WM Lebendigkeit beraubten Urbanität wollen, explo- wird stattfinden. Aber die brasilianische Bevölke- diert nun die Lebendigkeit und Vielseitigkeit der rung erteilt den Regierenden gerade eine ganz Stadt auf der Straße. Und das ist eine so außer- außergewöhnliche Lehre, wenn sie sagt: „Ich will gewöhnliche Erfahrung, dass ich sehr hoffe, dass die WM, aber ich will nicht, dass die WM gegen sie weitergehen wird. mich benutzt wird. Ich mag Fußball und ich will ins // Interview: Lucie Matting Stadion gehen“. Also gehen die Leute ins Stadion Übersetzung: Lucie Matting, – und pfeifen. Sie sind nicht gegen Fußball, sie sind Felipe Bley Folly und Christian Russau LN-Dossier 9 21
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