Innere Führung in Zeiten des Umbruchs: Zur Aktualität einer für obsolet erklärten Konzeption - Nomos eLibrary

Die Seite wird erstellt Nicklas Seiler
 
WEITER LESEN
THEMENSCHWERPUNKT                           |   Kutz, Innere Führung in Zeiten des Umbruchs

Innere Führung in Zeiten des Umbruchs:
Zur Aktualität einer für obsolet erklärten Konzeption
Martin Kutz*

Abstract: Innere Führung, that is leadership development and civic education, is considered to be a particularity of the German
Forces, the Bundeswehr. It manifests itself in various institutional forms. There are directives on Innere Führung, and in the legal
provisions governing the military we find many principles which refer to Innere Führung. The paper is structured as follows:
First: Do the new challenges require a reorientation? Secondly, the military patterns of reaction will be addressed. Third: Innere
Führung in the context of rearmament during the East-West conflict. Fourth: Concept of Innere Führung. Finally a possible
application of Baudissin’s patterns of logic as »invented« by Count Baudissin in our times will be discussed.

Keywords: Konzeption Innere Führung, Professionalisierung, Logikstrukturen, Transformation

1. Die neuen Herausforderungen – Zwang zur                                                grundsätzlich vertraut und einverstanden sein. Eine in Europa
   Umorientierung                                                                         noch weit verbreitete Auffassung, Soldaten hätten unpolitisch
                                                                                          zu sein und müssten in jedem Falle fraglos jeden militärischen

D
         1ie Streitkräfte der europäischen Staaten stehen seit ei-                        Auftrag ausführen, dürfte in Zukunft immer schwerer vermit-
         nigen Jahren vor z.T. völlig neuen Herausforderungen.                            telbar sein. Hier werden Armeen der zivilisierten Welt in Zu-
         Seit der große industrialisierte Krieg, der im Ost-West-                         kunft Probleme haben.
Konflikt noch drohte, den so genannten neuen Kriegen das
Feld räumen musste, spielt die Verteidigung der Nation keine                              Das führt zum vierten Punkt. In den demokratischen Gesell-
Rolle mehr. Soldaten werden weit außerhalb des nationalen                                 schaften Europas wird sich auf Grund der Gesellschaftsent-
Territoriums mit Aufgaben betraut, die sie noch vor zwanzig                               wicklung ein immer kleinerer Teil junger Menschen für die
Jahren weit von sich gewiesen hätten. Selbst dort, wo wie im                              militärische Laufbahn entscheiden, weil auch militärische Tra-
jüngsten Irak-Krieg Streitkräfte noch mit traditionellen mi-                              ditionen und Verhaltensmuster im Dienstalltag sich mit den
litärischen Kampfaufträgen eingesetzt werden, ist von einer                               Vorstellungen von einem interessanten und befriedigenden
Asymmetrie der Kontrahenten auszugehen und die Auswei-                                    Berufsalltag der heranwachsenden Generation nicht mehr ver-
tung der Kampfformen zu Partisanen- und Terror-Krieg mit ins                              einbaren lassen. Bleibt man beim traditionellen militärischen
Kalkül zu ziehen. Die neue Situation zwingt zum Nachdenken                                Stil, wird das gesellschaftliche Rekrutierungssegment immer
über vier Sachverhalte.                                                                   kleiner und politisch enger. Die Kompatibilität mit Gesell-
                                                                                          schaft und Gesellschaftsentwicklung wird so schleichend aber
Zunächst gilt es, sich ein rational analysiertes Bild vom Krieg                           langfristig zwingend zerstört.
der Zukunft zu machen. Die neuen Herausforderungen asym-
metrischer Kriegführung, von Bürgerkrieg, Bandenkrieg,                                    All diese Probleme haben europäische Streitkräfte schon heute
Warlordism und Kriegsökonomie müssen in einem bisher                                      oder müssen davon ausgehen, dass sie ihnen in Zukunft nicht
nicht bedachten Ausmaß zum Maßstab militärischer Organi-                                  ausweichen können.
sation, Ausbildungs- und operativer Konzepte gemacht wer-
den.
Darum gilt es, die Legitimationsbasis für den Einsatz der                                 2. Die militärischen Reaktionsmuster
Streitkräfte neu zu bedenken. Will man keine Söldnerarmeen
                                                                                          Erkennbar sind derzeit zwei Reaktionen auf diese Problem-
haben, sondern den Staatsbürger in Uniform behalten, ist es
                                                                                          lage (vgl. Schema »Denkwege des militärischen Professiona-
sehr viel schwerer geworden, ihm einen Einsatz in Afrika, im
                                                                                          lismus«).
Orient oder sonst wo in der Welt als notwendig einsichtig zu
machen, zumal die Zivilbevölkerung sich immer weniger für                                 Die erste und am meisten verbreitete ist, auf die technische
ihre nationalen Streitkräfte interessiert und engagiert.                                  Seite der Herausforderung mit technokratischen Mitteln zu re-
Damit ist das dritte Problemfeld angerissen. Sollen die Streit-                           agieren. Es werden neue Taktiken entwickelt, Ausbildung und
kräfte nicht politisch exterritorial werden, will man eine                                Ausrüstung angepasst. Die Ursachen und Weiterungen aber
Kompatibilität von Streitkräften und nationaler Gesellschaft                              werden weitgehend ausgeblendet. Hier dominiert ein kon-
erhalten, so müssen Soldaten mit der Politik ihrer Nation,                                servativer Traditionalismus, dessen Ausgangspunkt des Den-
mit den politischen Zielen militärischer Einsätze wenigstens                              kens traditionale Berufsbilder sind. Diese werden historisch
                                                                                          legitimiert und sind im Bewusstsein dieser Vertreter in den
*   Dr. phil. Martin Kutz ist Wissenschaftlicher Direktor a.D. in Hamburg. Vor-           Soldatentugenden manifestiert. Sie (allein) garantieren dann
    abdruck des Textes mit freundlicher Genehmigung des Wissenschaftlichen
    Forums für Internationale Sicherheit e.V. (WIFIS). Der Beitrag erscheint
                                                                                          die Kriegstüchtigkeit. Zu Disziplinfragen wird auf traditionelle
    in Kürze in der Schriftenreihe von WIFIS in der Edition Temmen, Bremen.               militärische Verhaltensmuster verstärkt zurückgegriffen. Da

                                                                 https://doi.org/10.5771/0175-274x-2005-4-180
                                                          Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.10.2021, 11:12:36.
180     |   S+F (2 3 . Jg.) 4/2005                 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kutz, Innere Führung in Zeiten des Umbruchs                                    |   THEMENSCHWERPUNKT

das aber im Einsatz selber nicht mehr ohne Weiteres funktio-                   deutschen Verhältnisse brauchbar. Diese Sicht verkennt, dass
niert, wird die Diskrepanz zwischen militärischer Norm und                     Grundlage für die konkrete historische Ausformulierung strin-
militärischer Praxis größer.                                                   gente logische Analyseschemata sind, die vom historischen
                                                                               Kontext unabhängig auch in der Gegenwart gelten.
Die zweite Reaktion ist bisher in einem kleinen Kreis militä-
rischer Planer und Analysten erkennbar. Sie diskutieren die                    Zweitens, dass auch in der Bundeswehr die Konzeption der
Probleme zur Zeit noch theoretisch – was dringend geboten                      Inneren Führung in ihrer vollen Tragweite nicht überall ver-
ist – und versuchen, in ihrem Umfeld die Sensibilität für ihre                 standen ist, dass sie sogar von Traditionalisten abgelehnt wird,
Gedanken und Vorstellungen zu wecken. Sie gehen von einem                      und dass sie über lange Zeit, besonders seit den 80er Jahren auf
modernen Bild des zukünftig zu erwartenden Krieges aus, lei-                   eine manipulative Motivationstechnologie reduziert wurde.
ten daraus konkrete Szenarien ab, berücksichtigen bei der po-
                                                                               Es ist demnach notwendig, die Konzeption Innere Führung
litischen Entscheidung Gesellschaftsentwicklung, Wirtschaft
                                                                               in ihrer logischen Stringenz zu verdeutlichen und die Verbie-
und kulturelle Faktoren und leiten daraus erst Strategie und
                                                                               gungen und Missverständnisse der militärischen Alltagspraxis
Taktik ab. In den deutschen Streitkräften hatten solche Ideen
                                                                               unberücksichtigt zu lassen.
in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts nur geringe
Resonanz. Probleme wurden so verschleppt und Verände-
rungen verhindert.
                                                                               3. Innere Führung im Kontext von Wiederbe-
In Deutschland hat letzteres jüngst eher aus politischer Tra-
dition als aus theoretischer Einsicht die Diskussion um die
                                                                                  waffnung und Ost-West-Konflikt
Innere Führung wieder belebt. Damit ist hier an Vorstellungen                  Der »Erfinder« der Inneren Führung ist Wolf Graf von Bau-
aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts angeknüpft, die alle                  dissin2, Generalstabsoffizier bei Rommel in Nordafrika bis zu
aufgeführten Probleme in einem anderen militärstrategischen,                   seiner Gefangennahme 1941 bei Tobruk. Erste Überlegungen
gesellschaftlichen und politischen Kontext schon einmal                        in der Gefangenschaft lassen Grundzüge der späteren Kon-
stringent durchexerziert haben. Zwar war die Wirkung dieser                    zeption erkennen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen da-
Konzeption Innere Führung begrenzt, weil der politische und                    mals ist seine moralisch-ethisch begründete Opposition zum
vor allem militärische Traditionalismus vehement dagegen op-                   Hitlerregime.
ponierte. Aber wesentliche Aspekte des Konzeptes haben sich
dann in den 70er Jahren doch in den deutschen Streitkräften                    In dieser Opposition sieht er sich nach dem Kriege voll ge-
durchgesetzt, sehr zum Nutzen von Armee und Gesellschaft.                      rechtfertigt, als er den vollen Umfang der politischen und
Diesen Prozess der langsamen und teilweisen Durchsetzung                       militärischen Verbrechen des Regimes erfährt. Für ihn ist der
der Grundzüge der Inneren Führung hier darzustellen, würde                     Weg in dieses Verbrechensregime die Konsequenz einer histo-
zu weit führen. Wichtig ist aber zweierlei.                                    rischen Fehlentwicklung des Militärs und des Verhältnisses

Erstens, dass das Konzept aus allgemeinen Prinzipien auf eine                  2   Von seinen zahlreichen Denkschriften, Reden, Aufsätzen und Stabsstudien
spezielle politische, gesellschaftliche und militärstrategische                    sind wesentliche Teile in folgenden Veröffentlichungen zu finden: Wolf Graf
                                                                                   von Baudissin, Soldat für den Frieden. Entwürfe für eine zeitgemäße Bun-
Situation zugeschnitten wurde. Die Folge davon ist, dass mit                       deswehr, München 1969, ders., Nie wieder Sieg! Programmatische Schriften
                                                                                   1951 – 1981, München 1982; ders. und Dagmar Gräfin zu Dohna, ...als
dem Konzept die Vorstellung verbunden wird, es sei historisch                      wären wir nie getrennt gewesen. Briefe 1941 – 1947, herausgegeben mit einer
möglicherweise überholt und zudem nur für die speziellen                           Einführung von Elfriede Knoke, Bonn 2001.

                                                      https://doi.org/10.5771/0175-274x-2005-4-180
                                               Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.10.2021, 11:12:36.
                                        Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
                                                                                                                   S+F (23. Jg.) 4/2005             |   181
THEMENSCHWERPUNKT                              |   Kutz, Innere Führung in Zeiten des Umbruchs

von Militär und Politik und Militär und Gesellschaft. Für ihn                                zept zur »kooperativen Rüstungssteuerung«. Aus der atomaren
gibt es deshalb in der deutschen Militärgeschichte nur zwei                                  Drohung leitet er ab, dass Soldaten extrem selbständig auf
legitime Anknüpfungspunkte für die neuen Streitkräfte. Der                                   dem Schlachtfeld agieren und deshalb intrinsisch motiviert
erste sind die preußischen Reformen von 1808/18, so wie sie                                  sein müssen. Auch die traditionellen Befehls- und Gehorsams-
Scharnhorst und Gneisenau damals konzipiert hatten, und                                      verhältnisse können so nicht mehr tragen. Sie müssen durch
nicht die verstümmelten Formen, wie sie dann tatsächlich                                     einen kooperativen Führungsstil abgelöst werden.
Platz griffen. Der zweite Anknüpfungspunkt ist für ihn der
                                                                                             Die ethische Fundierung des Soldatenberufes ist bei Baudissin
Widerstand gegen Hitler, der sich für ihn im Putsch vom 20.
                                                                                             christlich-protestantisch und zugleich philosophisch begrün-
Juli 1944 symbolisierte. Bei diesem Putsch waren viele Freunde
                                                                                             det. Hier ist seine Bindung an Menschenrechte und Bürger-
Baudissins aktiv und haben den Umsturzversuch mit dem
                                                                                             rechte letztlich verankert. Dies überträgt er auf die Verfassungs-
Leben bezahlt. Beide historische Bezugspunkte zeigen, dass
                                                                                             artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik und leitet daraus
Baudissin ein konservativer Mensch war, konnte er sich doch
                                                                                             wiederum ab, das die oberste Verpflichtung des Soldaten der
offensichtlich politische Legitimation für eigenes Handeln nur
                                                                                             Erhalt des Friedens ist, somit Kriegsverhinderung notwendig
als historisch legitimiertes Handeln vorstellen.
                                                                                             und zur Sicherung des Friedens die politische Kooperation un-
1951 tritt er in die deutsche Planungsbehörde für die Wieder-                                umgänglich. Das erzwingt aber auch für die militärische All-
bewaffnung ein. Als Bedingung für seinen Eintritt verlangt er,                               tagspraxis die Einhaltung demokratischer Verhaltensmuster,
die gescheiterten Teile der preußischen Reformen von 1808                                    kurz die Bindung an die Prinzipien der Inneren Führung.
bis 1818 zur Grundlage seiner Arbeit machen zu dürfen.3
                                                                                             Dritte Prämisse seines Denkens ist die demokratische Gesell-
Diese Teile, die ihn interessieren, betreffen den »Bürgersol-
                                                                                             schaft. Das heißt mehr, als der Bezug zum demokratischen
daten«. Die ethisch-moralischen und politischen Prinzipien
                                                                                             Staat (wenigstens in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in
von 1808 überträgt er auf die Situation von 1951/61 in allen
                                                                                             Deutschland). Es geht ihm um eine demokratische, im Alltag
seinen Arbeiten. Konkret heißt das, dass er ein ethisch fun-
                                                                                             praktizierte Lebensform, die er auch fürs Militär einfordert.
diertes Konzept einer demokratieverträglichen Armee für die
                                                                                             Das tut er in einer Zeit, als die deutsche Gesellschaft selber
strategische Situation des Ost-West-Konfliktes unter der Dro-
                                                                                             noch in großer Distanz zur Demokratie lebt. Politisch leitet er
hung des Atomkrieges entwirft. Dieses ist allerdings in seinen
                                                                                             davon die zivile Kontrolle des Militärs ab, die Sicherung der
Studien eher versteckt als offen erkennbar, denn Baudissin
                                                                                             Menschen- und Bürgerrechte im Militär selber und die Fest-
hat in einem vernetzten Mehrebenendenken nur praktische
                                                                                             stellung, dass der Soldatenberuf ein politischer Beruf ist, ein
Probleme bearbeitet. Es gibt bei ihm keinen Text, mit Ausnah-
                                                                                             Beruf, der ohne den Bezug zur Politik sinnlos wird und Gefahr
me eines Aufsatzes über die Konsequenzen des Atomkrieges,
                                                                                             läuft, zum Soldknecht zu werden. Die folgende Matrix soll
der seine theoretischen Grundlagen systematisch darstellen
                                                                                             diese Formalstruktur der logischen Bezüge verdeutlichen.
würde. Die Systematik muss aus Texten zu verschiedensten
Themen herausgefiltert werden, und sie zeigt sich dann als
logisches Denksystem, das an Carl von Clausewitz’ Buch vom
Kriege geschult ist.4                                                                        Matrix logischer Bezüge im Denken Baudissins
                                                                                             Diese Matrix lässt auch erkennen, dass es im Prinzip gleich-
                                                                                             gültig ist, auf welcher Ebene ein Problem lokalisiert ist. Es ist
4. Die Konzeption der Inneren Führung                                                        immer auch erkennbar, wie es in den Gesamtzusammenhang
                                                                                             aller Probleme militärischer Sicherheit eingebunden ist. In die-
Baudissin geht von drei Prämissen des Denkens aus. Die er-
                                                                                             sem Schema denken heißt dann auch, Probleme nicht isoliert
ste ist, dass Militär, Militärpolitik und Strategie von einem
                                                                                             wahrzunehmen, sondern zugleich auch alle Dependenzen,
modernen, zukunftsoffenen Bild vom zukünftigen Krieg aus
                                                                                             mit denen sie verknüpft sind. Konsequenz aller Ableitungen
gedacht werden müssen. Er ist schon in den fünfziger Jahren
                                                                                             in diesem Schema ist aber auch, dass im Militär selber Innere
einer der wenigen Militärs, der die Epochenbedeutung der
                                                                                             Führung immer gefordert ist.
Atomwaffen verstanden hat, sie zu politischen, strategischen
Waffen erklärt und daraus Kriegsverhinderung durch militä-                                   Der Begriff Innere Führung ist in gewisser Weise irreführend.
rische Abschreckung als zwingende Notwendigkeit ableitet.                                    Ursprünglich wurde vom Inneren Gefüge gesprochen. Die
Der Soldat ist also kein Soldat für das Kriegführen, sondern                                 Gegner Baudissins, seine Offizierskameraden aus der Wehr-
seine erste Aufgabe ist der Erhalt des Friedens (Soldat für den                              macht, die sich eine Demokratisierung der Armee nicht vor-
Frieden). Aus der strategischen Situation leitet er den Zwang                                stellen konnten und wollten, hatten das Wort in Inneres Ge-
zur Bündnisorientierung nach Westeuropa und zu den USA                                       würge umgetauft, um Baudissins Vorstellungen lächerlich zu
ab, dazu den Zwang zur politischen Kooperation auch mit                                      machen. Das Wort Innere Führung wurde deshalb als Ersatz-
dem militärischen Gegner und in späteren Jahren ein Kon-                                     begriff erfunden.5
                                                                                             Der ursprüngliche Begriff ist zutreffender, macht er doch deut-
3   Martin Kutz, Reform als Weg aus der Katastrophe. Über den Vorbildcha-
    rakter der Preußischen Reformen 1808 – 1818 und die Vergleichbarkeit der                 lich, dass es nicht nur um eine Führungsphilosophie ging und
    Situationen von 1806 und 1945 für Arbeit und Denken Baudissins, in: H.                   geht, sondern die militärische Struktur und die Verhaltens-
    Linnenkamp, D.S. Lutz (Hg.), Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf
    von Baudissin, Baden-Baden 1995.
4   Dazu Martin Kutz, Historische Wurzeln und historische Funktion des Kon-                  5   Eine detaillierte Schilderung der Auseinandersetzungen findet sich bei Diet-
    zeptes Innere Führung (1951 – 1961), in: K. Kister, P. Klein (Hg.), Staatsbürger             rich Genschel, Wehrreform und Reaktion. Die Vorbereitung der Inneren
    in Uniform – Wunschbild oder gelebte Realität?, Baden-Baden 1989.                            Führung 1951 – 1956, Hamburg 1972.

                                                                    https://doi.org/10.5771/0175-274x-2005-4-180
                                                             Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.10.2021, 11:12:36.
182     |   S+F (2 3 . Jg.) 4/2005                    Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kutz, Innere Führung in Zeiten des Umbruchs                                    |   THEMENSCHWERPUNKT

prinzipien mit umschließt. Da Baudissin seine individuelle                    Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft sind die indi-
ethische Orientierung in den Menschen- und Bürgerrechten                      viduellen Freiheitsrechte, also Menschenrechte und Men-
der deutschen Verfassung allgemein verbindlich formuliert                     schenwürde. Sie konkretisieren sich politisch und organisa-
sieht, kann er formal aus der Analyse eines zutreffenden                      torisch im Rechtsstaat. Auf die militärische Organisation und
Kriegsbildes und durch die Ableitungen aus den Prinzipien ei-                 den einzelnen Soldaten herunter gebrochen heißt das Innere
ner demokratischen Gesellschaft Innere Führung als logische                   Führung.
Konsequenz rationalen Denkens formulieren (vgl. Schema
»Zusammenhängende Schlüsselbegriffe Baudissins«). Die fol-                    Ihre Prinzipien sind die Vorstellung vom Soldaten als Staats-
gende Zusammenstellung der Schlüsselbegriffe zeigt ihre Bezü-                 bürger in Uniform, der seine Freiheitsrechte eben nicht am Ka-
ge und die Logikstruktur der Konstruktion Innere Führung.                     sernentor aufgeben muss und auch das Recht auf politische Be-
                                                                              tätigung als Soldat behält. Insbesondere für den militärischen
                                                                              Vorgesetzten, der vor 50 Jahren eher ein Mussdemokrat denn
Zusammenhängende Schlüsselbegriffe Baudissins                                 einer aus eigener Überzeugung war, war demokratische Ori-
Aus dem Kriegsbild seiner Zeit, einer umfassenden Analy-                      entierung nur in einem Bildungsprozess zu erwarten. Baudis-
se aller damaligen erkennbaren Kriegsformen, die aber alle                    sins Vorstellung von Bildung schloss traditionelle bürgerliche
von der Drohung des Atomkrieges überschattet sind, leitet                     Bildungsinhalte ebenso ein wie die vehement geforderte poli-
er unter Beachtung der neuesten technologischen Trends ab,                    tische Bildung. Sie sollte zu demokratieverträglichem Verhal-
dass moderne Streitkräfte technologieorientierte voll mecha-                  ten führen und so dem Rekruten wie jedem anderen Soldaten
nisierte Organisationen sind. Die Atomwaffen als politische                   die Erfahrung vermitteln, dass die Freiheit, die er gegen die
Waffen und die Situation des Ost-West-Konfliktes erzwingen                    totalitäre Bedrohung verteidigen sollte, im militärischen All-
die politische Zuverlässigkeit des Militärs als Voraussetzung                 tag genauso gelte wie im Zivilleben. Diese Erfahrung sollte
ihrer Funktionstüchtigkeit. Wegen der die Menschheit gefähr-                  auch Indifferente zu Demokraten »erziehen«. Erreichbar in
denden Vernichtungskraft der Atomwaffen ist Kriegsverhin-                     der Praxis aber ist dieses Ziel nur, wenn ein kooperativer Füh-
derung allererste Aufgabe von Militär, und diese unter den                    rungsstil die individuellen Fähigkeiten und Orientierungen
gegebenen Umständen nur durch militärische Abschreckung                       der Geführten berücksichtigt. Eine an den technischen Erfor-
möglich.                                                                      dernissen der Moderne orientierte Disziplin muss dann auch

                                                     https://doi.org/10.5771/0175-274x-2005-4-180
                                              Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.10.2021, 11:12:36.
                                       Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
                                                                                                                  S+F (23. Jg.) 4/2005   |   183
THEMENSCHWERPUNKT                   |   Kutz, Innere Führung in Zeiten des Umbruchs

die traditionale Kasernenhofdisziplin ablösen. Erst wenn alle                   damals modernen militärischen Strukturen sind hier abgebil-
diese Aspekte erfüllt sind, ist nach dieser Vorstellung die Effi-               det. Dabei wird eine zweite logische Bezugsebene deutlich, die
zienz der Streitkräfte gegeben.                                                 sich in der Vertikalen zeigt.
Notwendig ist also, dass sich moderne Streitkräfte am Zu-                       Das moderne Kriegsbild hatte zur Folge, dass die Streitkräfte
kunftskrieg und nicht an der Tradition orientieren, dass sie in                 technologieorientiert und voll mechanisiert waren. Ihre Auf-
die demokratische Landschaft eingebettet sind und der einzel-                   gabe der Kriegsverhinderung konnte aber nur tatsächlich er-
ne Soldat seine demokratischen Erfahrungen, Einstellungen                       füllt werden, wenn sie auch politisch zuverlässig waren. Die
und Rechte auch im militärischen Alltag berücksichtigt findet.                  Bürgerkriegssituation in Deutschland mit zwei Armeen in den
Der folgende Überblick über die Baudissinschen Logikstruk-                      unterschiedlichen Machtblöcken und die ideologische Ausei-
turen soll den Gesamtzusammenhang des Denksystems von                           nandersetzung mit dem Kommunismus, die in Deutschland
Baudissin verdeutlichen. Die aufgelisteten Begriffe betreffen                   auf Grund der Teilung des Landes besonders stark war, nötig-
die strategische Situation im Ost-West-Konflikt der 50er und                    te zu dieser Vorstellung. Daraus leitet sich bei Baudissin ein
60er Jahre des letzten Jahrhunderts.                                            neuer Effizienzbegriff ab. Effizient sind nur Streitkräfte, die in
                                                                                sich militärisch funktionale Aufgaben und politische Zuverläs-
                                                                                sigkeit vereinen. Der Soldatenberuf ist danach ein politischer
Logikstrukturen von Begriffsclustern bei Baudissin
                                                                                Beruf.
Man kann dieses Schema in zwei Richtungen lesen. Nimmt                          Aus der gleichen Technologieorientierung wird unter Hin-
man die Waagerechte, so wird die politisch-strategische Ebene                   zufügung des neuen Effizienzbegriffes und der Berücksichti-
sichtbar. Aus dem Kriegsbild wird, wie schon erläutert, das Frie-               gung von Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit auch eine
densgebot fürs Militär abgeleitet. Der zweite Ausgangspunkt,
                                                                                neue Disziplin abgeleitet. Sie wird funktional definiert, von
die Demokratie, führt in Verbindung mit dem Kriegsbild eben-
                                                                                den technischen und politischen Erfordernissen des Mili-
falls zum Friedensgebot und aus beiden, Kriegsbild und demo-
                                                                                tärs abgeleitet. Die traditionelle Kasernenhofdisziplin, die in
kratischer Ordnung wird das demokratieverträgliche Militär
                                                                                Deutschland im vordemokratischen Militär auch zur Erzwin-
abgeleitet. Dieses demokratieverträgliche Militär braucht, ja
                                                                                gung fraglosen Gehorsams durchexerziert wurde, wird strikt
erzwingt aus der Logik der Sache den Staatsbürger in Uniform,
                                                                                abgelehnt.
den Bürgersoldaten. Kriegsbild, Demokratie und demokratie-
verträgliches Militär bedingen sich also gegenseitig. Die zweite                Die dritte Ableitung aus der Technologieorientierung wird
Ebene des Schemas beschreibt die Konsequenzen für das Mili-                     durch die Hinzufügung der individuellen Freiheitsrechte des
tär, die Organisationsebene also. Die Konsequenzen aus den                      Soldaten vorgenommen. Daraus ergibt sich, dass der fraglose

                                                       https://doi.org/10.5771/0175-274x-2005-4-180
                                                Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.10.2021, 11:12:36.
184   |   S+F (2 3 . Jg.) 4/2005         Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kutz, Innere Führung in Zeiten des Umbruchs                                    |   THEMENSCHWERPUNKT

Gehorsam und damit der autoritäre Führungsstil vergangener                    Somit ergibt sich auf der Organisationsebene von Militär ein
Zeiten durch kooperative Verhaltensmuster abgelöst werden                     funktionaler und logischer Zusammenhang von einer neuen
muss. Zwei Gründe sind also maßgeblich. Erstens, dass die                     Effizienzvorstellung, einer neuen Auffassung von Disziplin
demokratische Ordnung das Alte verbietet, zweitens aber, dass                 und einem ebenso neuen militärischen Führungsstil.
die moderne Technik so komplex ist, dass ein autoritärer Füh-
rungsstil ihre optimale Nutzung verhindern würde. Haupt-
grund ist, dass der militärische Führer gar nicht mehr in der                 5. Die Anwendung der Logikmuster Baudissins
Lage ist, alle technischen Funktionen korrekt zu bedienen
                                                                                 auf die Gegenwart: Erste Überlegungen
und somit auch seine Untergebenen nicht mehr kontrollieren
kann. Er ist auf Kooperation und guten Willen seiner Soldaten                 Innere Führung ist mehr als eine Motivationstechnologie für
angewiesen.                                                                   Soldaten und die Denkmuster, die logische Struktur dieses

                                                     https://doi.org/10.5771/0175-274x-2005-4-180
                                              Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.10.2021, 11:12:36.
                                       Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
                                                                                                                  S+F (23. Jg.) 4/2005   |   185
THEMENSCHWERPUNKT                            |   Kutz, Innere Führung in Zeiten des Umbruchs

Denkens, sind geeignet, auch die Probleme der Gegenwart                                    Über eine Tatsache als Konsequenz dieser Entwicklung muss
adäquat zu beschreiben und logisch korrekte Schlüsse für die                               sich die politische Führung wie das Militär im Klaren sein:
militärische Praxis daraus zu ziehen.6 Dies soll nun mit Hilfe                             Man wird nicht mehr aus einer politischen Interessenabwä-
der folgenden Übersicht versucht werden.                                                   gung diese Soldaten beliebig in den Krieg schicken können, es
                                                                                           sei denn, man hat keine Hemmungen, sich auf professionelle
                                                                                           Söldnertruppen einzulassen.
Aktuelle Probleme in den Logikstrukturen Baudissins
Ausgangspunkte für die Analyse sind, wie bei Baudissin in
der Vergangenheit, Kriegsbild, demokratische Gesellschaft                                  5.1 Innere Führung und Transformation
und demokratischer Staat. Darunter sind stichwortartig die
                                                                                           Die Auslandseinsätze der Bundeswehr werfen lange Schatten.
neu zu bedenkenden Faktoren aufgeführt. Jeder dieser drei
                                                                                           Die tradierten Vorstellungen vom Soldatenberuf aber werfen
Ausgangspunkte hat für das Militär logisch notwendige Kon-
                                                                                           die tiefsten Schatten. In Krisenzeiten, also immer, wenn es un-
sequenzen. Sie betreffen die militärischen Strukturen, die Ver-                            ter veränderten Bedingungen schwierig wird, wird die Flucht
änderungen beim Personal, weil Soldaten von heute andere                                   in die Geschichte und die Tradition angetreten. Ein unreflek-
Sozialisationstypen darstellen als vor 50 oder 100 Jahren, und                             tierter Teil dieser Tradition ist die Vorstellung vom Soldaten
die Erfordernisse einer neuen Legitimation von Militär und                                 als einem unpolitischen Gewalttechnokraten, oder, wie es der
militärischen Einsätzen.                                                                   Inspekteur des Heeres formuliert hat, die vom »atavistischen
Wenn diese Überlegungen wirklich in die Praxis umgesetzt                                   High-Tech-Kämpfer«. Das Faszinierende an dieser Flucht ist,
werden, werden die Streitkräfte in Zukunft anders aussehen.                                dass sie umso lauter betrieben wird, je weniger sie in der Re-
Sie werden eine neue Struktur haben, ihr Führungspersonal                                  alität eine Entsprechung findet. Denn noch kein Soldat der
                                                                                           Bundeswehr ist im Kampf getötet worden, seit die neuerliche
aller Ebenen der Hierarchie wird ein neues kooperatives, de-
                                                                                           Rede vom Soldatischen und vom Kämpfer grassiert.
mokratisches Führungsverhalten lernen und man wird sich
der Mühe unterziehen, dem Soldaten den politischen Sinn                                    Dieser Rückzug aufs Historische, auf Tradition und Kämp-
und Zweck von Militär und von den jeweiligen Einsätzen zu                                  fertum wird verknüpft mit einem offenen oder versteckten
erklären.                                                                                  Angriff auf die Innere Führung. Sie ist entweder nicht mehr

6    Einen Versuch, Geschichte und Zukunft der Inneren Führung im Sinne Bau-
    dissins neu zu interpretieren findet man bei Martin Kutz (Hg.), Gesellschaft,
    Militär, Krieg und Frieden im Denken von Wolf Graf von Baudissin. Baden-
    Baden 2004. In diesem Band haben dreizehn Autoren unter Beteiligung des
    Generalinspekteurs der Bundeswehr sich dieser Interpretationsaufgabe ge-
    stellt.

                                                                  https://doi.org/10.5771/0175-274x-2005-4-180
                                                           Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.10.2021, 11:12:36.
186     |   S+F (2 3 . Jg.) 4/2005                  Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kutz, Innere Führung in Zeiten des Umbruchs                                    |   THEMENSCHWERPUNKT

»zeitgemäß« oder sie ist eine »Friedens- und Kasernenhof-                       ken ist tabuisiert. Das Beste, was bisher dazu in der Bundes-
theorie«, die für den Einsatz nicht taugt. Bestenfalls muss sie                 wehr produziert wurde, ist die Studie über die Streitkräftefä-
»auf den Prüfstand« oder »weiterentwickelt« werden. Innere                      higkeiten im einundzwanzigsten Jahrhundert vom Zentrum
Führung offen abzulehnen hat keiner den Mut, da dies als                        für Analysen und Studien der Bundeswehr7, auch wenn die
politisch nicht durchsetzbar bewertet wird. Manche wären sie                    Studie nicht in allen Aspekten den Erfordernissen gerecht
jedoch gerne auf stille Weise los. Gelänge dies, wäre man auch                  wird. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Armee, dass so
das »Politische« los. Den Primat der Politik garantierten dann                  etwas überhaupt geleistet wurde.
die Generale. Ihre Untergebenen müssten dann nur noch ge-
                                                                                2. Konsequenz eines solchen Defizits und der Tabuisierung
horchen. Dieser gehorsame Subalterne wäre dann auch die
                                                                                des Nachdenkens über zukünftige Kriege auf politischer und
politische Verantwortung für sein Tun los. Die Bundeswehr
                                                                                militärischer Ebene ist, dass als natürliche Folge auch keine
könnte dann in eine Spezialfirma für legitimes Gewaltma-
                                                                                schlüssige Strategie erkennbar ist. Damit wird das nächste De-
nagement umgeformt werden. Die Vorbilder dafür gibt es im
                                                                                fizit produziert.
Ausland. Nur fällt auf, dass diese meistens ihre Aufgabe nur
schlecht erfüllen. Dort, wo einigermaßen funktioniert, was                      3. Ohne konsistente Strategie, oder anders formuliert, ohne
Militär leisten soll, ist erstaunlicherweise viel Innere Führung                politisches Konzept dafür, was Streitkräfte wo und wie lei-
im Spiel.                                                                       sten sollen, ist auch der Umbau der Streitkräfte für die neuen
                                                                                Herausforderungen hoch problematisch. So werden kurzfristig
Im Augenblick gibt es zwei Hauptaufgaben für die Bundes-
                                                                                absehbare Entwicklungen überbetont und bei der Gesamtpro-
wehr, die eng miteinander verkoppelt sind. Die erste besteht
                                                                                blematik nur noch nach Glauben und Hoffen agiert.
darin, aus der Bundeswehr wieder ein zukunftstaugliches
Instrument zu formen und die zweite in ihren Auslandsein-                       Diese weitgehend unbeleuchteten Problemfelder sind leicht
sätzen, die den Zwang zur Umstrukturierung der Streitkräfte                     in zwei Komplexen zu systematisieren. Da gibt es die Heraus-
ausgelöst und aufrechterhalten haben. Auffällig ist, dass in                    forderungen in den neuen Einsatzgebieten, in letzter Zeit also
beiden Feldern Innere Führung praktiziert wird und nicht er-                    auf dem Balkan, in Asien und in Afrika. In allen Feldern ist die
sichtlich ist, dass es ohne sie überhaupt möglich wäre, die                     Bundeswehr eingesetzt worden, ohne dass strategische Ziele
gewünschten Leistungen zu erbringen.                                            definiert waren und ohne dass geklärt gewesen wäre, wann
Schon seit den 1970er Jahren kann man beobachten, dass der                      und wie und unter welchen Bedingungen sie wieder heraus-
hauptsächliche Impuls, Innere Führung zu praktizieren, aus                      gelöst werden würde. Außerdem sind die Kenntnisse über die
den gesellschaftlichen und individuellen Erfahrungen der                        Einsatzgebiete meist rudimentär, die gesellschaftlichen Ver-
Soldaten erwächst und nicht auf Wissen, Überlegung und                          hältnisse dort weitgehend unbekannt, die Fremdheit der kul-
militärischer Ausbildung beruht. Man verhält sich trotz aller                   turellen Standards im Einsatzgebiet ein Problem, das sich zu
militärisch-folkloristischer Tradition als Demokrat. Das erklärt                einer Zeitbombe entwickeln kann, wie sich im Extremfall Irak
auch, warum sich diejenigen, die sich zur Inneren Führung                       immer mehr erweist. Die Ausbildungsdefizite, insbesondere
distanziert äußern oder in Teilbereichen auch distanziert ver-                  für das Offizierkorps, in diesem Bereich sind enorm.
halten, Innere Führung in vielen Aspekten trotzdem prakti-                      Das zweite große Problemfeld ist die eigene deutsche Ge-
zieren.                                                                         sellschaft und deren direkte und indirekte Einflüsse auf die
Nun sind die Veränderungsprozesse in der Bundeswehr die                         Streitkräfte. Auch hier sind die Kenntnisse in der Armee unter-
gravierendsten seit Mitte der 70er Jahre des zwanzigsten                        belichtet. Der konservative Grundzug des militärischen Selbst-
Jahrhunderts. Was mit dem Stichwort »Transformation« an-                        verständnisses lässt gesellschaftliche Entwicklungen meist als
gestrebt und beschrieben wird, wird von vielen Soldaten als                     Störfaktoren erscheinen. So wird ein positiver, konstruktiver
ein nur technokratischer Prozess verstanden. Gegenstand der                     Umgang mit dem Neuen eher blockiert.
Überlegungen sind deshalb in erster Linie Organisationsfra-                     Dass sich derzeit die traditionellen Sinnstiftungsinstitutionen
gen, also wie viel von welcher Waffengattung in welcher orga-                   nicht mehr als hinreichende Orientierungsinstanzen zeigen,
nisatorischen Form gebraucht wird. Dazu kommen die Über-                        ist Konsequenz einer tief greifenden Veränderung des Wirt-
legungen zur Umrüstung und praktischen Ausbildung, die auf                      schaftsprozesses. Die deutsche Gesellschaft ist eine hoch dif-
die neuen Aufgaben zugeschnitten werden müssen. Und als                         ferenzierte Dienstleistungsgesellschaft geworden, in der die
wichtigste Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten wird                        neuen Tätigkeitsfelder auch neue kulturelle Standards und
die Haushaltslage bezeichnet.                                                   soziale Milieus erzeugt haben.
Wenn man aber die interne Diskussion genauer beobachtet,                        Problematisch für die Streitkräfte daran ist, dass wegen der
zeigen sich massive Defizite in der realitätsgerechten Wahr-                    traditionellen Fixierungen der Armee der Teil der Gesellschaft
nehmung der neuen Situation. Das hat ganz wesentlich mit                        immer kleiner wird, aus dem sie ihren Nachwuchs rekrutieren
der technokratischen Grundorientierung im Offizierkorps zu                      kann. Insbesondere für die technische Modernisierung im Be-
tun, was heißt, dass wesentliche Zusammenhänge wie sie das                      reich Kommunikation und die eher unmilitärischen Aufgaben
Konzept der Inneren Führung in seiner ursprünglichen Form                       in den Einsatzgebieten braucht sie Personal, das in den Teilen
korrekt analysieren half, heute nicht oder zumindest nicht                      der Gesellschaft verankert ist, deren Distanz zur Armee größer
hinreichend verarbeitet werden:
                                                                                7    Streitkräfte, Fähigkeiten und Technologie im 21. Jahrhundert (SFT21), Stabs-
1. Bis heute gibt es kein konsistentes und zugleich anerkanntes                     studie des Zentrums für Analysen und Studien der Bundeswehr im Auftrag
Bild vom zukünftigen Krieg. Darüber systematisch nachzuden-                         des Bundesministeriums der Verteidigung, Sept. 2002.

                                                       https://doi.org/10.5771/0175-274x-2005-4-180
                                                Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.10.2021, 11:12:36.
                                         Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
                                                                                                                    S+F (23. Jg.) 4/2005               |   187
THEMENSCHWERPUNKT                   |   Kutz, Innere Führung in Zeiten des Umbruchs

wird. Das geschieht nicht, weil man dort prinzipiell gegen die                  2. Was ist die entscheidende Differenz zwischen Militär der
Streitkräfte eingestellt ist, sondern weil das Bild, das Militär                entwickelten modernen Staaten und den Gewaltorganisati-
von sich selber produziert, dort auf Ablehnung stößt.                           onen in Bürgerkriegs- und Staatsverfallsgebieten mit teilweise
                                                                                erheblichem kriminellem Potential, und was kann und soll
Ein solches gesellschaftliches Umfeld ist nicht nur in Rekru-
                                                                                modernes Militär in diesen Gebieten leisten? Oder anders
tierungsfragen ein Problem, es ist es auch in Bezug auf die
                                                                                gefragt, was legitimiert militärische Interventionspolitik in
Binnenstrukturen und das Führungsverhalten in den Streit-
                                                                                solchen Gebieten?
kräften. Selbst unter Soldaten mit dem beschriebenen gesell-
schaftlichen Konservatismus sind die neuen Wertemuster weit                     Die Beantwortung der zweiten Frage wird auch helfen, die
verbreitet. Zudem gibt es eine große Differenz zwischen den                     erste zu beantworten. Was sind also die wichtigsten Merkmale
Führungseliten und den Truppenoffizieren allein schon aus                       und Funktionen modernen Staatenmilitärs?
Altersgründen. Denn bei den im Schnitt jüngeren Truppen-
                                                                                Europäisches Militär wurde im 17./18. Jahrhundert erfun-
offizieren hat der Wertewandel schon weiter gegriffen als in
                                                                                den, um der Brutalisierung privatisierter und entgrenzter
der älteren Gruppe der Kommandeure und höheren Stabsof-
                                                                                Gewalt des Dreißigjährigen Krieges ein Ende zu setzen. Sein
fiziere. So spiegelt sich die gesellschaftliche Wertedifferenzie-
                                                                                Zweck war Gewalteinhegung, Gewaltkontrolle und Frieden
rung auch im Militär. Dagegen stehen aber die traditionellen
                                                                                innerhalb der Staatsgrenzen und der beherrschbare Einsatz
Berufsnormen, deren intensivierte Propagierung immer mehr
                                                                                im Kriege. Dies durchzusetzen ist im Laufe der Jahrhunderte
zu Beschwörungsformeln degeneriert.
                                                                                weitgehend gelungen. Die Differenzierung in Militär für den
Die Unsicherheit und Unkenntnis in diesen Fragen verleitet,                     Einsatz nach außen und Polizei für den Erhalt des Friedens im
in zwei Richtungen ideologisch auszuweichen. Die erste und                      Inneren ist eine kulturelle Errungenschaft Europas von größ-
auch häufigste ist, sich zum unpolitischen Gewaltexperten zu                    ter Bedeutung.
stilisieren, dem ein juristisch korrekt zustande gekommener                     Dieses Militär wird gekennzeichnet durch
militärischer Auftrag zur Legitimation reicht. Die zweite Aus-
                                                                                • das legitimierte staatliche Gewaltmonopol,
weichbewegung geht in die Vergangenheit. Militär wird in Tra-
ditionszusammenhängen definiert und aus der historischen                        • die ethisch-moralische und die juristische Legitimierung,
»Leistung« deutschen Militärs die Selbstverortung abgeleitet.                   • die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes der Gewaltmittel,
                                                                                • den Schutz bestimmter Güter und Menschengruppen,
5.2 Transformation der Inneren Führung?                                         • völkerrechtskonformen Einsatz der Gewalt.

Diese Frage ist eindeutig zu bejahen, aber mit einer völlig an-                 Diese Merkmale machen theoretisch Gewalteinhegung und
deren Stoßrichtung, als sie derzeit in Teilen der Bundeswehr                    Gewaltkontrolle und den rationalen, kontrollierten Einsatz
diskutiert wird. Es geht vielmehr darum, das ursprüngliche                      wie auch die Beendigung des Gewaltgebrauchs möglich. Es
Konzept, wie es sich aus den Denkschriften und Reden Bau-                       sind genau diese Merkmale, die die Warlords, Bürgerkriegs-
dissins ableiten lässt, wieder zur Geltung zu bringen. Innere                   kämpfer, Terroristen und die kriminellen Gewalthaufen eben
Führung würde so zu einer Denkhilfe für alle militärischen                      nicht in Anspruch nehmen. Die Regelverletzung ist ihre ein-
Probleme, nicht nur für das Motivationsmanagement. Legt                         zige Stärke, weil sie modernen Armeen sonst hoffnungslos
man dieses Analyseschema einer Analyse der derzeitigen Pro-                     unterlegen sind.
bleme zugrunde, lassen sich auf rationale Weise Zusammen-                       Was haben diese Ausführungen mit Innerer Führung zu tun?
hänge, Abhängigkeiten und Erfordernisse ableiten. Man muss
                                                                                1. Militärische Gewalt ist nur legitim im rechtskonformen Ein-
nicht mehr glauben und hoffen, sondern kann analysieren
                                                                                satz. Das schützt Soldaten vor unzumutbaren Forderungen der
und wissen, ja man kann sogar ableiten, was zu tun ist. Dann
                                                                                Politik oder von Vorgesetzten.
wird aber auch deutlich, dass der Soldatenberuf
                                                                                2. Rechtskonformität garantiert – zumindest theoretisch –,
• ein politischer Beruf ist,
                                                                                moralische Belastungen des Soldaten in Grenzen zu halten.
• eines ethischen Fundamentes bedarf,
                                                                                3. Der instrumentelle Einsatz von Militär lässt – ebenfalls theo-
• in demokratische gesellschaftliche Verhältnisse integriert
                                                                                retisch – die Begrenzung von Gewalt zu, kann Eskalation be-
  sein muss und
                                                                                grenzen, Deeskalation ermöglichen.
• politischen Zwecken und Normen unterworfen ist.
                                                                                4. Der Zusammenhang mit der demokratischen Gesellschaft
Mit diesem von Baudissin genutzten Analyseschema lassen                         bleibt erhalten.
sich auch die derzeit vielleicht heikelsten Fragen der Sicher-
                                                                                5. Der Soldat kann sich zumindest theoretisch darauf verlas-
heitspolitik hinreichend analysieren.
                                                                                sen, nur in legitimen, militärisch verantwortbaren und poli-
1. Ist es richtig, sinnvoll und Erfolg versprechend, mit Mi-                    tisch sinnvollen Einsätzen verwandt zu werden.
litär den Kampf gegen den Terrorismus aufzunehmen? Die
                                                                                6. Der Soldat entgeht dadurch entgrenzter und brutalisie-
innenpolitische Diskussion dazu hat ja schon vor einiger Zeit
                                                                                render Gewalt, die ihn, die feindliche und die eigene Gesell-
auch in Deutschland begonnen, auch wenn sie wieder einge-
                                                                                schaft zerrütten und traumatisieren kann.
schlafen zu sein scheint. Wichtig aber bleibt die Frage schon
deshalb, weil der wichtigste Verbündete einen solchen Krieg                     7. Die Chance zu einer völkerrechtskonformen Auseinander-
gegen den Terrorismus führt.                                                    setzung wächst.

                                                       https://doi.org/10.5771/0175-274x-2005-4-180
                                                Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.10.2021, 11:12:36.
188   |   S+F (2 3 . Jg.) 4/2005         Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kutz, Innere Führung in Zeiten des Umbruchs                                    |   THEMENSCHWERPUNKT

8. Mit rechtlich eingehegter Gewalt besteht ein Instrument                      Verfassungsschutz und die Kriminalpolizei im Vorfeld, und
und die Chance, in den Bürgerkriegs- und Staatszerfallsgebie-                   bei akuter Gefahr die Polizei, insbesondere über ihre Spezial-
ten legale und begrenzte Gewalten zu etablieren und so Nati-                    formationen. Es geht also um Ausbau und Optimierung des
onenbildung, Staatsbildung und Frieden zu stiften.                              Vorhandenen, um die Entwicklung der systematischen Zu-
                                                                                sammenarbeit, um die Aufklärung weit im Vorfeld auch im
Mit dieser Aufzählung sind indirekt auch die Leistungsgrenzen
                                                                                Ausland, und um die Konstruktion von Netzen, in denen sich
modernen Militärs umschrieben. Will Militär Militär bleiben,
                                                                                Terroristen möglichst frühzeitig verfangen. Dazu ist sicherlich
muss es diese Grenzen aufrechterhalten und akzeptieren.
Sonst wird es zu einer genauso kriminellen Institution wie                      auch eine personelle und technische »Aufrüstung« dieser In-
die, die es bekämpfen soll. An den Kriegsverbrechen z. B. der                   stitutionen nötig.
Wehrmacht in der Sowjetunion oder auf dem Balkan kann                           Wer glaubt, einen Krieg gegen den Terror führen zu können,
man die Folgen des Tabubruchs ablesen. Die Konsequenz aus                       oder auf einer niedrigeren Stufe der Auseinandersetzung mit
dem Gesagten ist deshalb, sich ganz genau zu überlegen, ob                      militärischer Gewalt Erfolg zu haben, muss zweifach schei-
und wie selbst eine humanitäre Intervention ihren Zweck er-                     tern:
reichen kann. Sie wird es sicher nicht tun, wenn der Intervent
im Bürgerkriegsgebiet sich dem völkerrechtswidrigen Verhal-                     1. Weil Militär dazu untauglich ist, es sei denn, man verzich-
ten seiner Kontrahenten anpasst.                                                tet auf die rechtliche und moralisch-ethische Einbindung von
                                                                                Soldat und Organisation. Dann produziert man aber auch den
Moderne Gesellschaften brauchen den Frieden auch außer-                         Bruch mit den traditionellen Bindungen des Militärs. Histo-
halb ihres Territoriums. Er ist die Voraussetzung dafür, die                    rische Beispiele gibt es reichlich in der Militärgeschichte.
kulturellen Standards aufrechterhalten zu können. Dazu
wurde auch die Art von Militär geschaffen, die sich an Recht                    2. Weil er durch die unspezifische Art der dadurch erzwun-
und Gesetz, Disziplin und professionelle Regeln hält. Damit                     genen Gewalteskalation
sind aber auch Grenzen beschrieben, über die dieses Militär                     • die Wirkungen des Terrors multipliziert,
nicht hinausgehen darf, weil sonst der Absturz in die Barba-
                                                                                • eine Brutalisierung auch der eigenen Gesellschaft fördert,
rei droht, selbst dann, wenn es deshalb bestimmte Aufgaben
nicht erfüllen kann. Für das, was dieses Militär nicht leisten                  • die Traumatisierung von Soldaten und Teilen der Gesell-
kann, müssen andere Instrumente geschärft werden, vielleicht                      schaft mit unabsehbaren Folgen für die politische Psycho-
auch einiges neu erfunden werden. Aber Militär muss Militär                       logie riskiert,
bleiben, darf nicht zum Sold- und Gewalthaufen degenerie-                       • eine Gewöhnung an Gewalt als Mittel der Politik und zur
ren. Die sich abzeichnende Privatisierung der Gewalt durch                        Durchsetzung von Alltagsinteressen herbeiführt, die einen
amerikanische Sicherheitsfirmen im Irak ist aus der Sicht der                     Verlust derjenigen kulturellen Standards zur Folge hat, die
europäischen Tradition und Erfahrung eindeutig der falsche                        wiederum das Funktionieren komplexer Gesellschaften erst
Weg. Denn keiner kann die politische Loyalität solcher Privat-                    garantieren,
armeen garantieren, nicht einmal ihren Erfolg!                                  • die Legitimität des eigenen Handelns vor der Welt verliert
Was klärt dies aber in der Terrorismusfrage? Da Terroristen                       (USA).
systematisch den Tabubruch betreiben, ihr Erfolg von der                        Aus all diesen Gründen gilt es, eine umfassende rationale Ana-
Verletzung der Rechtsordnung abhängt. Da Militär das Glei-                      lyse im beschriebenen Sinne als Grundlage für eine tragfähige
che nicht tun darf, wenn es Militär bleiben soll, verbietet sich                Transformation der Bundeswehr ohne Verlust an demokra-
der Einsatz von Militär gegen Terroristen. Außerdem ist nicht                   tischer und legitimatorischer Substanz zu entwickeln. Dazu
ersichtlich, wie mit Truppenverbänden gegen Einzelkämpfer
                                                                                ist mit dem hier vorgestellten ursprünglichen Konzept der
oder Kleingruppen vorgegangen werden kann. Militär kann
                                                                                Inneren Führung eine Hilfe gegeben, zu der es bis heute keine
also seiner eigenen Logik nach und auch nach seinen konsti-
                                                                                bessere Alternative gibt. Rückbesinnung ist also notwendig,
tutiven Wertbindungen kein geeignetes Instrument sein.
                                                                                aber keine auf historisierende Traditionalismen, sondern auf
Was aber dann tun? Die theoretisch wirksamen Instrumente                        die Grundlagen und das ursprüngliche Konzept der Inneren
haben wir längst. Die Frage ist nur, ob sie auch schon faktisch                 Führung. Nicht sie muss transformiert werden, sondern die
hinreichend funktionieren. Es sind die Geheimdienste, der                       Armee mit ihrer Hilfe und nach ihren Prinzipien.

                                                       https://doi.org/10.5771/0175-274x-2005-4-180
                                                Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.10.2021, 11:12:36.
                                         Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
                                                                                                                    S+F (23. Jg.) 4/2005   |   189
Sie können auch lesen