INNOVATIVE WOHNFORMEN - Kontext, Typologien und Konsequenzen - Wohnbaugenossenschaften Zürich
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ÜBERBLICK INNOVATIVE WOHNFORMEN Kontext, Typologien und Konsequenzen Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP)
INHALT 3 1. EINLEITUNG 4 1.1. AUSGANGSLAGE 4 1.2. VORGEHEN 5 2. VERÄNDERTE WOHNBEDÜRFNISSE 7 2.1. TREIBER FÜR VERÄNDERTE WOHNBEDÜRFNISSE 7 2.2. AUSWIRKUNGEN AUF WOHNBEDÜRFNISSE 9 3. INNOVATIVE WOHNFORMEN: 13 MOTIVATIONEN UND CASE STUDIES 3.1. GEMEINSCHAFTLICH ALS GRUNDHALTUNG 15 3.2. SPEZIFISCHE LÖSUNGEN FÜR BESTIMMTE LEBENSPHASEN 33 3.3. DURCHMISCHT UND INTEGRIERT 51 September 2018 3.4. GEMEINSAM ALS MITTEL ZUM ZWECK 69 3.5. STATEMENT EINES BESONDEREN LEBENSSTILS 87 3.6. EXKURS: EXPERIMENTELLE ANSÄTZE 99 4. FAZIT 105 4.1. GRAFISCHE ANALYSEN 105 4.2. CHANCEN UND KONSEQUENZEN 114 4.3. THESEN/AUSBLICK 119 5. GLOSSAR 121
4 5 1. Einleitung 1.1. AUSGANGSLAGE 1.2. VORGEHEN Gesellschaftliche Veränderungen sind nicht neu. Sie sind dem Menschen- Anhand dreier Nutzergruppen mit spezifischen Bedürfnissen wird zunächst leben und der Gesellschaft immanent: Lebensmuster, Haushaltsformen, erklärt, woraus die neue Mieterschaft besteht, welche neuen Bedürfnisse Arbeitsstrukturen und Mobilitätsverhalten verändern sich. Nicht von heute sich entwickelt haben und welche Anforderungen diese an die Wohnung auf morgen und auch nicht spektakulär, aber Schritt für Schritt. Auch die und das Quartier stellen. Diese Nutzergruppen repräsentieren die aktuell plausiblen Prognosen für morgen und übermorgen sind allseits bekannt: grössten Veränderungen der Schweizer Gesellschaft. Ihre Bedürfnisse Wir leben länger, wir werden relativ gesund alt, wir haben weniger Kinder. prägen Arbeitswelt, Haushaltszusammensetzung und Erwartungen an die Dass es Wandel gibt, ist also kein neues Thema, die Frage, die wir uns aber gebaute Umwelt. Nachdem die veränderten Bedürfnisse an Wohnungen immer wieder von Neuem stellen müssen: Den Wandel gestalten oder dargelegt worden sind, zeigt eine Auswahl von Projekten Wohnkonzepte von ihm gestaltet werden? Denn all diese Änderungen der individuellen und Organisationsformen, die über konventionelles Wohnen hinausgehen. Lebensentwürfe und des gesellschaftlichen Lebens haben Konsequenzen: Für die Altersvorsorge, das Gesundheitswesen, die Kinderbetreuung und Es wurden Projekte ausgewählt, die eine Antwort auf ein bestimmtes die Schulen und für das Familienleben, für Migration und Integration und Wohnbedürfnis geben. Dabei spielt das Baujahr weniger eine Rolle, son- schliesslich für die Art und Weise, wie wir wohnen werden. Wohnen ist immer dern vielmehr, dass die Projekte konventionelle Wege verlassen haben. Zu- Abbildung der gesellschaftlichen Veränderung, sei es durch den Bau von dem wurde darauf geachtet, auch weniger bekannte und dokumentierte Ledigenheimen in Zeiten der Wohnungsnot Ende des 19. Jahrhunderts Projekte zu zeigen. oder die Entwicklung der Frankfurter Küche nach den neusten Erkenntnis- Ein bewusster Fokus liegt auf einfallsreichen Organisationsformen, die sen zur Arbeitseffizienz. Es stellt sich auch heute die Frage: Wie möchten durch Interviews mit Personen auf der Verwalterseite erschlossen wurden. wir wohnen? Die gewählten Projekte werden in fünf Typologien gegliedert. Es ist eine Typologie der Motivation; die Gruppen sind nach der Hauptabsicht der Zahlreiche Wohnprojekte aus dem In- und Ausland versuchen sich dieser Organisationsweise und Mieterauswahl benannt. Frage zu stellen: Sie testen neue Wohnformen aus, experimentieren mit Nut- zungsprogrammen und Gemeinschaftseinrichtungen, integrieren und durch- Tabellarisch werden die Projekte nach organisatorischen und architektoni- mischen, oder bieten spezifische Wohnlösungen für veränderte Lebens- schen Faktoren beurteilt, wodurch gezeigt werden kann, wie stark sie eine rhythmen oder bestimmte Lebensphasen an. Grund genug, nach möglichen oder mehrere der Motivationen aufweisen. Sie werden aber auch darauf Antworten zu suchen. Eine vollständige Abbildung aller Trends im Wohnungs- untersucht, wie gut sie sich für die drei Nutzergruppen eignen. Das Fazit bau ist in diesem Rahmen indessen weder angestrebt noch möglich. Ziel ist zeigt diesbezüglich auf, wie die anfangs formulierten Bedürfnisse mit den es, den interessierten Lesenden einen Überblick zu verschaffen. vorgestellten Projekten befriedigt werden können. Mit einem Glossar am Ende wird der Tatsache Rechnung getragen, dass der Haupttext zahlreiche Begriffe der Trendforschung und Wohnbautypo- logie streift, für die eine Definition notwendig ist.
7 2. Veränderte Wohnbedürfnisse 2.1. TREIBER FÜR VERÄNDERTE WOHNBEDÜRFNISSE Die immerzu wachsende Vielfalt von Lebensstilen lässt traditionell «vor- gegebene» Lebensläufe an Wichtigkeit verlieren. In der Folge weisen auch Wohnbiografien immer mehr Brüche, Umwege und Experimente auf. Fami- liäre Bindungen sind loser als in der Hochzeit der bürgerlichen Kleinfamilie und immer mehr Menschen entscheiden sich bewusst für «Wahlfamilien» auf Zeit. Globalisierung und Digitalisierung führten und führen hierzulande unter anderem zu Wohlstand, Mobilität und neuen Arbeitszeitmodellen, was neue Möglichkeiten für individuelle Lebensgestaltung geschaffen hat. Durch Automatisierung und Outsourcing (ebenfalls Folgen von Globalisie- rung und Digitalisierung) werden aber auch soziale Unterschiede verstärkt. Im Folgenden sollen wesentliche soziale Veränderungen und Tendenzen sowie ihre Auswirkungen auf Wohnbedürfnisse schlaglichtartig beschrieben werden. Sinkende Haushaltsgrössen Niedrige Geburtenzahl, zunehmende Scheidungen und steigende Lebenser- wartung führen zu einer Verkleinerung der durchschnittlichen Haushaltsgrö- sse, was sich in einer Explosion der Ein- bzw. Zweipersonenhaushalte zeigt. Durch die zunehmende Erwartung von Mobilität im und für den Beruf, steigt der Bedarf an Kurzzeit-Apartments («your home away from home») und «Wohnen auf Zeit». Individualisierung führt aber auch dazu, dass manche Paare trotz fester Beziehung bewusst räumlich getrennt leben («living apart together»). Die zunehmende Vereinzelung löst bei anderen Gegeneffekte aus, bei ihnen steigt das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Arbeitswelt im Wandel Die bereits angedeutete Veränderung der Arbeitswelt hat verschiedene Famile beim Fernsehen, 1958, NARA Ursachen und Auswirkungen. Hinter allgegenwärtigen Trendbegriffen wie Industrialisierung 4.0, Künstliche Intelligenz und Big Data stehen ganz konkrete Konsequenzen für Arbeitnehmer: Eine Zunahme von befristeten
8 9 Anstellungsverhältnissen und Arbeit auf Abruf, häufige Wechsel des Multiplikation der Lebensstile Arbeitsorts oder Home Office. Hinzu kommen häufigere Stellenwechsel oder Nicht nur im Beruf, auch im Familienleben gehen die Biographien ausein- eine Kette von Wechseln zwischen Erwerbslosigkeit, Selbständigkeit und ander. Die Formen des Zusammenlebens werden vielfältiger, nicht nur Fa- Anstellung. Neue Formen der Selbständigkeit entstehen oder Arbeitneh- milienbeziehungen, sondern auch bestehende Freundschaften, finanzielle mer wählen eine Mischung von mehreren Stellen und privaten Projekten. Gründe oder gemeinsame Interessen führen zu gemeinsamen Haushalten. Grundsätzlich wird von Mitarbeitern immer mehr Flexibilität und Mobilität Der bewusste Verzicht aus ökologischen Gründen wird häufiger, sei es beim erwartet und ihre Berufsbiographie ist weniger vorhersagbar (vgl. z. B. Scha- Konsum, dem Ressourcenverbrauch oder der privaten Wohnfläche. der Stiftung, 2013). Alle diese Veränderungen können durch den von ihnen ausgeübten Anpassungsdruck auch die soziale Ungleichheit verstärken. Im Fokus Durch die ständige Erreichbarkeit vermischen sich Arbeits- und Privatleben In den genannten Veränderungen lassen sich drei Nutzergruppen ausma- immer stärker. Gerade für junge Familien kann dies eine starke Mehrbelas- chen, auf deren Bedürfnissen in dieser Broschüre das Augemerk liegt. Die tung bedeuten (Bundesrat, 2017). neuen mobilen Arbeitnehmer stammen aus den Jahrgängen 1980 – 1995 Die Berufstätigkeit von Müttern und Vätern verändert ihrerseits die Ar- und werden unter dem Begriff «Millennials» zusammengefasst. Sie sind mit beitsverhältnisse. Bei Doppelverdienereltern wird Teilzeitarbeit zunehmend den technischen Veränderungen aufgewachsen, fühlen sich nicht an traditi- beliebt. Arbeitgeber stehen unter Zugzwang, wollen sie in Zeiten des Fach- onelle Lebensläufe gebunden und fügen sich dem schnelleren Lebensrhyth- kräftemangels auch gutausgebildete Mütter und Väter beschäftigen. Er- mus. Sie sind die Arbeitnehmer, die flexibel und erreichbar sind, dafür aber gänzende Angebote für die Kinderbetreuung fehlen aber häufig noch. sinnstiftende Arbeit einfordern. Wohnen spielt eine untergeordnete Rolle Darüber hinaus ist Arbeit wieder vermehrt nicht nur eine Notwendigkeit zur (Archdaily.com, 2018). Existenzsicherung, sondern auch Sinnstiftung. Beruf soll wieder Berufung Mit «Familie 4.0» werden jene Familienverbände bezeichnet, die in den letz- sein und Work-Life-Balance ist in aller Munde. Gleichzeitig soll also neben ten Jahrzehnten vermehrt und teils neu aufgekommen sind. Sie gehen über der Arbeit ein erfüllendes Sozialleben möglich sein. die klassische Kleinfamilie der 1950er hinaus, sind Patchwork-, Regenbogen-, Eineltern-, Mehrgenerationen- und Wahlfamilien mit geteilten Interessen. «Wie müssen und wollen wir wohnen, wenn das Zeitalter der Vollbeschäf- Die Generation der «Babyboomer» wurde von 1945 – 1964 geboren. Ihr tigung sich dem Ende zuneigt?» (Himmelreich, 2018a) Name geht auf den «Babyboom» nach der Zeit der Entbehrung und Un- sicherheit im zweiten Weltkrieg zurück. Er dauerte dank dem Wirtschafts- Demographischer Wandel aufschwung bis in die 1960er hinein. Durch ihre grosse Zahl können sie Mit dem Älterwerden der geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit stärker auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen und sind eine wachsende wächst der Anteil der pensionierten Bevölkerung überproportional. Ihre Nutzergruppe für Vermieter und Dienstleistungsanbieter. grosse Zahl macht aus der Bevölkerungspyramide einen Zwiebeldom. Die «neuen Alten» suchen Autonomie und Individualität: Sie sind meist noch bei guter Gesundheit und möchten so lange und so selbständig wie möglich 2.2. AUSWIRKUNGEN AUF WOHNBEDÜRFNISSE in der eigenen Wohnung und im gewohnten sozialen Umfeld leben. Die Wohnung als zentraler Vollzugsort im Leben gewinnt damit an Bedeutung. Die sinkende Haushaltsgrösse steigert den Bedarf an kleinen Wohneinhei- Dank ihrer Fitness unterstützen Seniorinnen und Senioren ihre Kinder bei der ten, gleichzeitig suchen Alleinstehende aber auch nach «Räumen, die neue Kinderbetreuung. Dies verstärkt den Trend weg von der Kern- und Kleinfami- Formen der Gemeinschaft stimulieren» (Himmelreich, 2018). Viele der Al- lie der 1950er Jahre und zurück zu stärkerer Integration aller Generationen. leinstehenden sind ältere Menschen, die ihren Altersphasen entsprechende Wohnungen mit bedarfsabhängigen Unterstützungs- und Vernetzungsan-
10 11 geboten benötigen. Auch sie haben ein Bedürfnis nach Gemeinschaft im Wohnumfeld. Nicht alle Pensionierten haben aber dieselben Möglichkeiten. Während die Einen durch ihre gute Gesundheit und teils sehr komfortable finanzielle Situation neue Bedürfnisse an ihre Umwelt anbringen können, sind andere auf bezahlbaren Wohnraum und starke Unterstützung im Alltag angewiesen. Die sozialen Formen des Zusammenlebens werden vielfältiger, die Indivi- dualisierung schreitet voran. Der Wunsch nach Angeboten, die «spezifisch, doch offen für Aneignung» sind (Himmelreich, 2018b), wächst. Gesucht werden Wohnungen, die spezifische Bedürfnisse abdecken, aber auch Möglichkeiten zur Beteiligung bieten. Eine Diversifikation und Spezialisie- rung der Angebote entsteht. Gleichzeitig nimmt der bewusste Verzicht auf Wohnfläche zu. Wohnqualität geht nicht mehr proportional mit Wohnfläche einher, sondern wird aus Aneignungsräumen und Angeboten im Quartier geschöpft (Juppien/Zemp, 2018). Mit der Zunahme von Doppelverdienerfamilien kommt ein Interesse an Nachbarschaften mit familienergänzenden Dienstleistungen auf. Famili- en suchen Wohnmodelle, die organisierte Nachbarschaftshilfe, aber auch Rückzug ermöglichen. Neue Familienformen profitieren von anpassbaren Angeboten. Literatur Archdaily.com (Equipo Editorial, übersetzt von Marina Gosselin) (2018): The 9 a Topics You Need To Know About in 2018. www.archdaily.com/889638/the- Teils werden bisher häusliche Funktionen ausgelagert, gleichzeitig wird 9-architecture-topics-you-need-to-know-about-in-2018 (17.07.2018). Heimarbeit wieder häufiger. Dies wirft auch Fragen zur Trennung von Arbeit Bundesrat (2017): Familienbericht 2017. Bern, 26. April 2017. und Freizeit auf. Himmelreich, Jorg (2018a): Editorial Wohnungsbau. Archithese, 48 (2), 3. Himmelreich, Jorg (2018b): Spezifisch, doch offen für Aneignung, Archithese, 48 (2), 20 – 30. Juppien, Angelika; Zemp, Richard (2018): Vokabular des Zwischenraums. Unveröffentlichter Schlussbericht Innosuisse-Projekt Interface Fassadenraum. Hochschule Luzern – Technik & Architektur. Schader-Stiftung (2013): Architektur für Wohnprojekte – Impulse für innovative Wohntypologien?: www.schader-stiftung.de/themen/stadtentwicklung- und-wohnen/fokus/gemeinschaftliches-wohnen/artikel/architektur-fuer- wohnprojekte-impulse-fuer-innovative-wohntypologien/ (16.07.2018).
12 13 3. Innovative Wohnformen: MOTIVATIONSCLUSTER Motivationen und Case Studies Aufgrund der identifizierten Wohnbedürfnisse und der gewählten Nutzergrup- pen wurden Motivationen gesucht, die innovative Wohnformen begründen. GEMEINSCHAFTLICH SPEZIFISCHE LÖSUNGEN FÜR ALS GRUNDHALTUNG BESTIMMTE LEBENSPHASEN Die Namen der jeweiligen Motivationscluster, in die die untersuchten Wohn- bauprojekte eingeteilt werden, beschreiben die gefundenen Motivationen, angelehnt an die Motivationscluster der Studie «Besondere Wohnformen» der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt Berlin (2012). Sie sollen hier kurz eingeführt und voneinander abgegrenzt werden. In drei der Motivationscluster liegt der Fokus auf einer Art von gemeinsam organisiertem Wohnen. Bei «Gemeinschaftlich als Grundhaltung» wird die Gemeinschaft aus Prinzip gesucht. Sie ist Hauptmotivation für das Leben in der Siedlung, die Bewohnenden haben eine Form von Selbstorganisa- tion. Projekte im Motivationscluster «Gemeinsam als Mittel zum Zweck» haben andere Voraussetzungen. Hier wohnen Menschen, die spezifische Bedürfnisse haben, die sie sich (aufgrund sehr besonderer Bedürfnisse oder DURCHMISCHT UND GEMEINSAM ALS beschränkter Ressourcen) deshalb leisten können, weil sie sie mit anderen INTEGRIERT MITTEL ZUM ZWECK teilen. Die klassische «Zweck-WG» ist ein Beispiel dafür. In diesen ersten beiden Motivationsclustern finden sich häufig homogene Gruppen zusam- men. Demgegenüber steuern Projekte der Kategorie «Durchmischung und Integration» über Angebot und Mieteranforderungen, wer in der Siedlung wohnt. Das Ziel ist hierbei die Integration bestimmter Gruppen, also eine gewisse Heterogenität in der Bewohnerschaft herzustellen. Projekte im Motivationscluster «Spezifische Lösungen für bestimmte Le- bensphasen» bieten Wohnraum für bestimmte Bedürfnisse, oft auf Zeit. Sie geben Antwort auf wachsende Zielgruppen mit gleichen Bedürfnissen aufgrund ihres Alters oder ihrer Arbeitsverhältnisse. Der Motivationscluster «Statement eines besonderen Lebensstils» bezeich- STATEMENT EINES EXPERIMENTELLE net schliesslich Projekte, die ihren Ursprung in den Anforderungen eines BESONDEREN LEBENSSTILS ANSÄTZE konkreten Lebensstils haben und diesen auch nach aussen verkörpern sollen. Zum Schluss des Kapitels werden kurz experimentelle Ansätze vorgestellt, die als Denkanstoss in der Suche nach weiteren innovativen Wohnformen dienen können. Literatur Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt Berlin (Hrsg.) (2012): Studie Besondere Wohnformen. IBA Berlin 2020 Kurzüberblick/Projekt recherche «Besondere Wohnformen». Aachen.
15 Gemeinschaftlich als Grundhaltung «Die Gemeinschaft mag zwar hin und wieder anstrengend und kräftezeh- rend sein. Doch stärker wirkt ein anderer Faktor: Die Gemeinschaft macht Spass. Die gestalteten Lebenswelten nicht allein zu geniessen und zu ver- antworten, sondern mit Gleichgesinnten zusammen, ist das stärkste Motiv der Menschen, die sich zum Wohnen zusammentun.» (Mensch, 2012) Vor dem Hintergrund zunehmender Singularisierung und Individualisierung gibt es Menschen, für die der Mehrwert gemeinschaftlichen Zusammenle- bens mit Gleichgesinnten an Bedeutung gewinnt. Zum Selbstverständnis solcher Modelle gehören neue Fomen der Mitwirkung. Diese kann schon im Planungsstadium beginnen, wenn künftige Bewohnende bereits miteinbe- zogen werden und ihre Wohnumwelt gemeinsam planen. Die Bewohnenden werden nach gemeinsamen Zielen und Werten gewählt, denn auch Organisation und Verwaltung basieren im späteren Alltag auf aktiver Beteiligung in der Siedlungsgemeinschaft. Sind die Voraussetzungen und Ziele vereinbart, geniessen Bewohnende der betreffenden Siedlungen einen hohen Grad an Selbstbestimmung, verwalten sich selbst in flachen Entscheidungsstrukturen und können häufig gemeinsam über ein gewisses Budget verfügen. Gibt es gemeinschaftliche Angebote im nahen Umfeld, wird auch häufig die Filmstandbild aus dem Film «Die Kommune», Prokino individuelle Wohnfläche zugunsten gemeinsamer Räume reduziert. Literatur Mensch, Kirsten (2012): Bericht zur Fachtagung «Gemeinschaften bauen. Veränderte Gesellschaft – neue Wohnformen» 9. Februar 2012, Darmstadt. Eine Zusammenfassung. Schader-Stiftung, S. 4.
17 Gemeinschaftlich als Grundhaltung: Fallbeispiel 1 Gross-WG Zwicky Süd, Dübendorf KENNDATEN Adresse Am Wasser 4 8600 Dübendorf Bauträgerschaft Kraftwerk1 Rechtsform gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft mit Sitz in Zürich Architektur Schneider, Studer, Primas Architekten Erstbezug Februar 2016 Raumprogramm Kraftwerk1 ist einer von drei Bauträgern im Projekt mit einem vielfältigen Wohnungsspie- gel in drei Gebäuden sowie Gästezimmern, Gewerberäumen im Rohbau, Gemeinschafts- räumen, Bibliothek und einer Werkhalle.
18 Gemeinschaftlich als Grundhaltung – Fallbeispiel 1: Gross-WG Zwicky Süd 19 WOHNFORM ARCHITEKTUR & NUTZUNG Wohnform-Variante Gross-WG, 13.5 Zimmer-Wohnung, 430 m 2 Charakteristika Die Gross-WG ist Teil des Konzepts, Wohnraum für Inhaltliche Im Grenzbereich zwischen Zürich, Wallisellen und unterschiedliche Haushaltsformen und Lebens- Schwerpunkte Dübendorf hat die Bau- und Wohngenossen- phasen anzubieten. Ziel ist, den Mitgliedern der schaft Kraftwerk1 zusammen mit zwei Immobili- Gross-WG die Möglichkeit zu bieten, sich selbst zu enfirmen ihr drittes Projekt realisiert. Ziel ist es konstituieren und sich mit dem gemeinschaftli- auch hier, bezahlbare Wohn- und Arbeitsflächen chen Leben auf beschränktem Raum auseinander- für vielseitige Lebens- und Wohnformen anzubie- setzen zu können. Dieser Anspruch findet in der ten und so eine soziale und altersmässige Durch- Grundrissstruktur seine Entsprechung: Der Grund- mischung herbeizuführen. Drei gegensätzliche riss der Gross-WG mit einer Tiefe von ca. 30 m ver- Bautypen (schlanke Scheiben, flache Hallen und ortet die kommunikativen Wohnfunktionen wie tiefe Blöcke) bieten Raum für experimentelle Küche und Essen im Zentrum der Wohnung. Gros- Wohnformen wie z. B. Grosswohngemeinschaften. se Fenster zum gemeinsamen Erschliessungsraum Hier konnte die Genossenschaft auf ihre Erfahrun- und Lichthof schaffen Sicht- und Interaktionsbe- gen aus den ersten beiden Kraftwerk1-Siedlungen ziehungen zur Nachbarschaft des Blocks. Die Indi- (Hardturm und Heizenholz) zurückgreifen. vidualräume und zwei Wohnräume orientieren sich jeweils an den beiden Fassadenflächen zu Zielgruppen/ Allgemein: Zielgruppe der Genossenschaft sind den Aussenräumen der Siedlung. Die Grosswoh- soziale Struktur Menschen, die gemeinsam leben und sich selbst nung verfügt über zwei Zugänge, mehrere Nass- organisieren wollen. Eine Charta, die einen hohen zellen und Teeküchen. So wurde einerseits dem Stellenwert auf Solidarität und Selbstorganisati- Wunsch nach einem ausgewogenen Verhältnis on setzt, bildet das Gerüst für die Eigeninitiative zwischen individuellem Rückzugsraum durch Aus- der Bewohnenden. Einen weiteren Schwerpunkt weichmöglichkeiten entsprochen. Andererseits wur- bilden betreute Wohnformen. Kraftwerk1 entwi- de auf diese Weise auch eine bauliche Halbierung ckelt hier mit verschiedenen Institutionen Wohn- der Wohnung ermöglicht und den Brandschutzan- angebote für betreuungsabhängige oder jugend- forderungen durch die Einführung eines zweiten liche Menschen, die auf Betreuung angewiesen Brandabschnitts entsprochen. Der tiefe Grundriss sind. Ein weiterer Schwerpunkt soll das Verknüp- der Wohnung, die damit verbundenen ungewohn- fen von Wohnen und Arbeiten sein. ten Licht- und Sichtverhältnisse sowie der verbin- WG-spezifisch: Zielgruppe sind Menschen, die dende Steg zu einer weiteren gegenüberliegen- eine familiäre Wohnform bei gleichzeitiger Be- den WG bieten unkonventionelle Räume, die die rücksichtigung ihrer Individualität realisieren WG zu verschiedenen Formen der Aneignung und möchten. zum experimentellen Umgang mit Raum inspirie- ren können.
hnbauten: Öffnung oder Abgrenzung TEC21 9–10/2016 en: Öffnung oder Abgrenzung TEC21 9–10/2016 20 0 s-WG mit ist über mit einer erbunden. 5 Vergleich ½-Zimmer- ine extrem 10 ½-Zimmer- omplett örper reicht. 15 .as Reihen- r schmale, zweistöckige die in der 20 Deckenlicht tlt. oss-WG mit eben Bädern, ,eichen, er grossen, en Terrasse. st. 1 : 500. tlang des Viadukts zu stehen. Es entstand artigen Struktur. Die eher kleineren (2 ½- und 3 ½-Zim- eiaduktsPläne: Schneider Abschottung zu stehen. Primas Architekten Studernach Es entstand aussen, wobeiartigen die ur-Struktur. Die eher kleineren mer-)Wohnungen, ½- und die über(2einen Laubengang 3 ½-Zim- effizient ung nach aussen, wobei die ur- mer-)Wohnungen, die über n räumlichen Bezüge zum Industrieareal erschlossen sind, bestehen aus unterschiedlich breiten einen Laubengang effizient en Bezüge erloren gingen zumoder Industrieareal mehrheitlich nur erschlossen sind, bestehen aus noch Raumschichten, die unterschiedlich sich jeweils von breiten Fassade zu Fassa- egen desoderErdgeschosses mehrheitlichstattfinden. nur noch Raumschichten, die sich jeweils de erstrecken, von Fassade zweiseitig belichtetzu Fassa- sind und in ihrer eschosses stattfinden. de erstrecken, Tiefezweiseitig belichtet sind ganz unterschiedlich bespielt und in werden ihrer können. Tiefe ganz unterschiedlich rundstrukturen – verschiedenste Gegen die Neugutstrasse und das Bahnviadukt befinden bespielt werden können. kturen öglichkeiten – verschiedenste Gegen die Neugutstrasse sich die eher und das Bahnviadukt grösseren (3 ½- und befinden 4 ½-Zimmer-)Woh- eiten sich die eher grösseren nungen, die direkt (3 ½-über 4 ½-Zimmer-)Woh- undinnenliegende Treppenhäuser Betriebskonzept uden wurde an den drei Grundtypen nungen, erschlossen fest- die innenliegende direkt überwerden. Treppenhäuser Bei diesen zweiseitig orientierten und Hausordnung de sich anin den ihrer dreiKombination Grundtypenideal erschlossen fest- ergänzen: Wohnungen werden. Beiliegen diesensämtliche orientierten zweiseitigIndividualzimmer zum er Kombination ideal ergänzen: Wohnungen liegen sämtliche n Scheiben mit langen Terrassen und Lau- hofartigen Aussenraum. Je nach Ausrichtung ist der Individualzimmer zum mit langen nd fein Terrassen und aufgereihten Studios,Lau-Kleinwoh- Aussenraum. hofartigenWohnraum ebenfalls Je nachzum Ausrichtung Hofraum oder ist der zur lauteren BETRIEB UND ORGANISATION ufgereihten Familienmaisonetten Studios, Kleinwoh- bilden einenWohnraum ebenfalls Kranz Ostseite hinzum Hofraum orientiert. Zusammen oder zurmitlauteren dem Essbereich Pläne: Schneider Studer Primas Architek ten aisonetten die Blocks vor bilden Lärm. einen Die Kranz massigenOstseite Blocks hin undorientiert. Zusammen der offenen Küchemit dem Essbereich entsteht ein durchgehender, sndvor Lärm. Die massigen Mittelbetrieben, Ateliers Blocks und der offenen und verschie- Küche entsteht abgewinkelter ein durchgehender, Wohn-Ess-Raum, der die beiden Seiten etrieben, Ateliers und verschie- abgewinkelter nungen stehen für Kompaktheit, Energie- jeweils miteinander verbindet. Wohn-Ess-Raum, der die beiden Seiten ehen soziale Kompaktheit, fürDichte. In den Hallen, Energie- jeweils die das Erd-miteinander Dieverbindet. rötlich eingefärbten Stahlstrukturen der anderen Bewohnenden. eben, In den chte. wird Hallen, die produziert, gelagert, rötlich eingefärbten das Erd-ausgestellt,DieLaubengang- Stahlstrukturen der und Balkonkonstruktionen verleihen der produziert, teilweise auch gelagert, ausgestellt, gewohnt. BereitsLaubengang- im Stu- Anlage und Balkonkonstruktionen einen industriellen Charakterverleihenundder werden in auch gewohnt. Bereits im Stu- Anlage einen wurde von den Architekten eine kluge Zukunft mit Pflanzen überwachsen sein. An industriellen Charakter und werden in zwei Stel- n den mit Architekten einfachen Strukturen eine kluge für dieZukunft jeweili- mitlenPflanzen werden überwachsen sein. An zwei sie zu Brückenterrassen, Stel- die zum benach- hen Strukturen für n vorgeschlagen und jeweili- len werden dienachgewiesen. Im barten Brückenterrassen, sie zuGe bäude hinüberspannen die zum und benach- neue Wohnformen hlagen und Planung konnte nachgewiesen. innerhalb dieser Im barten VielfaltGebäude hinüberspannen und und Nachbarschaften neue Wohnformen evozieren. Eine Idee, die bereits entwicklung sorgt. Ziel ist, Basis-Demokratie und durch die Siedlung selbst verwaltet. Es gibt eine Charta, die den hohen Stellenwert von Solidarität ben. So gibt es keine Hausordnung, sondern eine werden. Der Betrieb der Siedlung lässt sich als haben die gleichen Rechte und Pflichten, wie alle selbstverständlich in der Siedlung engagiert und Kraftwerk1 unter Einbezug der Mietenden ausge- einbezogen. Bauliche Veränderungen oder miet- Kraftwerk1 wird nach Bedarf bei Nutzungsfragen Gemeinschaftlich als Grundhaltung – Fallbeispiel 1: Gross-WG Zwicky Süd führt. Die Bewohnenden der Gross-WG sind rechtlich relevante Anpassungen werden von Soziokultur entsprechend der Charta zu leben. für die Pflege und die programmatische Weiter- zungen und Plenen abhalten. Eine Betriebsgruppe triebs- und Arbeitsgruppen, die regelmässig Sit- Siedlungskommission sowie verschiedene Be- die Nutzung der gemeinschaftlichen Räume und Selbstorganisation formuliert. Somit wird z. B. selbstorganisiert und teilselbstverwaltet beschrei- sierten sie Ideen zu Nutzungen, Wohnformen, zu gen. An Konferenzen erarbeiteten und konkreti- hat Kraftwerk1 künftige Mieter/innen miteinbezo- kümmert sich z. B. um den Aussenraum, indem sie auch Erfahrungen aus früheren Projekten genutzt Ökologie oder Ausbaustandards. Dabei konnten Bereits bei der Planung des Projekts Zwicky Süd chen innerhalb dieser nnteAnforderungen, Vielfalt und Nachbarschaften Nutzungswünschen evozieren. im Studienauftrag Eine Idee, die vorgeschlagen bereits wurde und letztlich derungen, Nutzungswünschen im Studienauftrag vorgeschlagen rgaben der unterschiedlichen Endnutzer dank der innovativen Weiterverwendung und durch wurde und letztlich 21 unterschiedlichen rrschaften nachgekommen Endnutzer werden, dank ohneder innovativen Recycling der Weiterverwendung beiden provisorischen und durch Fussgängerbrü- nachgekommen bei das Projekt komplett werden,veränderte.ohne Recycling cken der beiden provisorischen Fussgängerbrü- der Escher-Wyss-Platz-Baustelle im Rahmen der jekt komplett veränderte. cken der Escher-Wyss-Platz-Baustelle Kosten realisiert werden konnte. im Rahmen der
22 Gemeinschaftlich als Grundhaltung – Fallbeispiel 1: Gross-WG Zwicky Süd 23 BETRIEB UND ORGANISATION Vermietung Die Gross-WG bilden eine Sonderform der Vermie- Zusatznutzen/ Es werden keine Dienstleistungen wie Spitex oder und Verwaltung tungspraxis. Sie gründen einen Verein, der Miet- wohnungsbezogene Kantinenbetrieb angeboten. In der Siedlung gibt vertragspartner von Kraftwerk1 ist. Entsprechend Dienstleistungen es Gewerbe, Werkstätten, Gemeinschaftsräume, dem Selbstverständnis der Genossenschaft orga- Gästeräume usw. Es werden zudem allerlei wei- nisiert sich der Verein selbstständig, was auch tere Aktivitäten wie gemeinsames Kochen, Tanz- bedeutet, dass der Verein selbstständig die Mieten- gruppen, Kinder-Club und eine Bibliothek angebo- den aussucht und die Untermietverträge ausar- ten. All dies organisiert die Siedlung selbst. beitet, die dann der Verwaltung vorgelegt werden. Auch die finanziellen Aspekte wie etwa die Zahlung der Miete oder das Anteilkapital organisiert der Verein selbst. Zudem garantiert der Verein auch für die von der Genossenschaft definierte Mindest- belegung der Wohnung. BEZAHLBARKEIT Das Wohnprojekt bietet somit den Bewohnerin- 13.5-Zimmerwohnung nen und Bewohnern die Gelegenheit, sich mit ih- 430 m2 freitragend ren Neigungen und Fähigkeiten in eine aktive Nettomiete CHF 7’521 Nachbarschaft einzubringen, was nicht nur von Jüngeren, sondern auch von Menschen in der Le- bensphase um 50 angenommen wird. So bietet die Grosswohnung zehn Individualräume, die zur Zeit von elf Personen bewohnt werden. Neun Per- sonen sind im Alter zwischen 25 und 50 Jahren. Seit Frühling leben auch ein Baby und ein Kinder- gartenkind in der WG. Es gibt Paare, Alleinerzie- hende und Singles. INTERVIEWS Marianne Gadient, Kraftwerk 1, Immobilienbewirtschaftung, 14.08.2018. QUELLEN www.kraftwerk1.ch www.zwicky-sued.ch www.schneiderstuderprimas.ch
25 Gemeinschaftlich als Grundhaltung: Fallbeispiel 2 Spreefeld, Berlin KENNDATEN Adresse Wilhelmine-Gemberg-Weg 10/12/14, 10179 Berlin, Deutschland Bauträgerschaft Bau- und Wohngenossenschaft Spreefeld Berlin eG Rechtsform Genossenschaft Architektur 2007 – 2013 (Neubau) Erstbezug 2013 Raumprogramm 64 Wohnungen Bezahlbarkeit Genossenschaftseinlagen, KFW Zuschüsse ermöglichen bezahlbaren Wohnraum © Ute Zscharnt
26 Gemeinschaftlich als Grundhaltung – Fallbeispiel 2: Spreefeld 27 WOHNFORM Wohnform-Variante Co-Housing Inhaltliche Nach dem Scheitern eines Investorenprojektes, Schwerpunkte welches die Privatisierung von öffentlichem Bo‑ den weiter vorangetrieben hätte, stellte sich die Frage, was an seiner Stelle gebaut werden könne. Die Gewährleistung für die Bezahlbarkeit des Wohnraums und das Credo «Spreefeld für alle» sind die Schwerpunkte dieses Projektes. Zielgruppen/ Aus den Schwerpunkten definieren sich auch die soziale Struktur Zielgruppen mit Interesse am Projekt. Die Nut‑ zungsweise (Familien, Alleinlebende, Wohngemein‑ schaften) der Wohneinheiten ist aber keiner spe‑ zifischen Zielgruppe zugeordnet. Ziel ist bezahlba‑ rer Wohnraum durch eine hohe Flächeneffizienz und reduzierte individuelle Wohnfläche pro Per‑ son. Gemeinsam nutzbare Flächen bilden hierzu einen Ausgleich und dienen dem sozialen Aus‑ tausch ohne individuelle Wohnbedürfnisse einzu‑ schränken. Der öffentliche Zugang zur Spree, sowie öffentliche Nutzungen im Erdgeschoss reflektieren das Verantwortungsgefühl für die Nachbarschaft. Das Projekt will nicht eine spezifische Bewohner‑ schaft ansprechen. Die Bewohnerschaft ist seit Bezug sehr stabil, bisher hat in den 64 Wohnun‑ gen nur ein Mieterwechsel stattgefunden. Die Be‑ wohnerschaft ist bunt durchmischt (vom Neuge‑ borenen bis zum 70-Jährigen, unterschiedlichste Nationen, Arbeitssuchende und Vermögende). © Ute Zscharnt
28 Gemeinschaftlich als Grundhaltung – Fallbeispiel 2: Spreefeld 29 ARCHITEKTUR UND NUTZUNG Charakteristika Das Projekt Spreefeld bestehet aus drei Baukör‑ pern von drei Architekturbüros. In enger Zusam‑ menarbeit mit den Initiatoren und zukünftigen Bewohnern und Bewohnerinnen geplant, zeich‑ net es sich durch den Mix von Homogenität und Heterogenität aus. Durch gemeinsam festgelegte Standards erfahren die Baukörper einen äusserli‑ chen Zusammenhalt, der zu einer baulichen Iden‑ tität führt. Zusätzlich erhielten die Architekturbü‑ ros aber sogenannte «wildcards». Diese dienten der Gestaltungsfreiheit in jedem Baukörper. Der dauerhaft gewährleistete öffentliche Zugang zum Spreeufer, wie auch das öffentlich nutzbare Bootshaus oder ein Teil der nutzungsneutralen Erdgeschossflächen können individuell gemietet und gestaltet werden. Standardisierte Bauteile, neu definierte Ausbau‑ qualitäten, die übliche Standards hinterfragen und der von Architektinnen und Architekten und Genossenschaft erarbeitete Wohnungskatalog tragen zur Bezahlbarkeit des Wohnraums bei. Die Siedlung bietet unterschiedliche Wohnungs‑ typen und -grössen. Auch die Wohnform der Cluster‑ wohnung findet Beachtung. Über einen sich durch das Geschoss ziehenden Gemeinschaftsraum wer‑ den 1 – 2 Zimmerappartements erschlossen. So‑ Carpaneto Architekten + Fatkoehl Architekten + BARarchitekten mit sind individuelle Freiheiten in der Wohnraum‑ gestaltung mit Begegnungsflächen verbunden.
30 Gemeinschaftlich als Grundhaltung – Fallbeispiel 2: Spreefeld 31 BETRIEB UND ORGANISATION Betriebskonzept und Von Anfang an waren die Genossenschaftsmit- Hausordnung glieder mit Hilfe eines Kuratorenteams an der Pro- jektierung beteiligt. Ein Drittel der Nutzungen im Erdgeschoss wurden von den Architektenteams unausgebaut belassen, um dadurch den Bewoh- nenden die Möglichkeit zu geben, selbst zu ent- scheiden, welche Nutzungsart darin stattfinden sollte. Es gibt keine Hausordnung, die unterschiedlichen gemeinschaftlich genutzen Räume sind ehren- amtlich organisiert, dies funktioniert zur Zeit sehr gut, setzt aber grosses Engagment voraus. Vermietung Bei der Erstbesetzung wurde teilweise gelost, um und Verwaltung zu vermeiden, dass sich eine zu homogne Bewoh- nerschaft bildet, oder existierende Freundeskreise oder Freunde von Freunden bevorteilt werden. Die Räume im Erdgeschoss, sowie das Bootshaus können über die Webseite der Genossenschaft Spreefeld gemietet werden. Zudem befinden sich Gewerbeflächen im Erdgeschoss. Sie werden nur vermietet, solange der Zweck der Miete nicht vor- dergründig profitorientiert ist und er sich mit den Grundsätzen der Genossenschaft deckt. QUELLEN ARCH+, Ausgabe 232, Seite 62 – 69. Zusatznutzen/ Neben den Gemeinschaftsflächen in den Wohn- Dömer, K; Drexler, H.; Schultz-Granberg, J. (2016): Bezahlbar. Gut. Wohnen. wohnungsbezogene geschossen wurden im Erdgeschoss sogenannte Dienstleistungen Optionsräume geschaffen. Diese wurden indivi- «Coop Housing at River Spreefeld/Carpaneto Architekten + Fatkoehl Architekten + BARarchitekten» 17 Jan 2015. ArchDaily. www.archdaily.com/587590/coop- duell von der Bewohnerschaft für unterschiedli- housing-project-at-the-river-spreefeld-carpaneto-architekten-fatkoehl-architekten- che Nutzungen, wie eine professionelle Grosskü- bararchitekten/, ISSN 0719-8884, 08.08.2018. che oder einen Werkraum, ausgebaut. Dafür www.bauwelt.de/themen/bauten/Deutsche-Architekturzentrum-DAZ-Spreefeld- wurde das Budget für die Fassade des EG zur Ver- Berlin-2172539.html, 08.08.2018. fügung gestellt. Die Bewohnenden übernahmen dann den Fassaden- und Ausbau in Eigenregie. www.wohnprojekte-portal.de/projekte-suche/projektdetails.html?uid=20292, 08.08.2018. Korrespondenz Christian Schöningh, Carpaneto Schöningh Architekten, 01.10.2018. © Eric Tschernow
33 Spezifische Lösungen für bestimmte Lebensphasen Eine wachsende Zahl von Mietenden sucht neue Lösungen für spezifische Lebenssituationen. Für Arbeitnehmende beispielsweise stellen heutige Ar- beitsstrukturen, Mobilitätserwartungen und flexible Zeitmodelle eine Her- ausforderung dar, die ihre Arbeits- und Wohnumwelt prägen. Die Wohnung wird für manche zur blossen Zwischenstation. Wohnen auf Zeit mit woh- nungsbezogenen Dienstleistungen bietet hier eine sehr spezifische Lösung, die hilft, den Alltag zu organisieren. Seien dies Concierge-Angebote oder gemeinschaftliche Bereiche für Austausch mit anderen. Neue Ansprüche stellt auch die wachsende Gruppe der «neuen Alten» aus der Generation der Babyboomer. Bei immer längerer Lebenserwartung wird die Wohnung mit ihrer Umgebung zum Zentrum ihrer Welt; der Ort, an dem sich die meiste Zeit ihres Alltags abspielt. Dabei wehrt sich diese Generati- on, nach der Pensionierung auf das Abstellgleis geschoben zu werden und lebt häufig weiterhin aktiv. Aber auch sie profitieren mit zunehmendem Alter von Dienstleistungen, die zur Wohnung gebucht werden können. So können sie so lange wie möglich so selbstständig wie möglich bleiben, sei das in der eigenen Wohnung oder in Pflegewohngruppen, die verschiedene Abstufungen der Alltagshilfe ermöglichen. Für die Generation Babyboomer wird das Wohn- und Lebensumfeld ver- mehrt zum zentralen Vollzugsort. Die flexiblen Arbeitnehmenden der Gene- ration der «Millennials» sind hingegen «überall und nirgends» zu Hause. Für beide gibt es Angebote für ein Wohnen auf Zeit, solange die betreffende Lebensphase anhält. Vintage Fisher Price Toys ,Anonym, Ebay
35 Spezifische Lösungen für bestimmte Lebensphasen: Fallbeispiel 1 MinMax, Opfikon KENNDATEN Adresse Boulevard Lilienthal 5, 80152 Opfikon Schweiz Bauträgerschaft moyreal immobilien ag (ehemals Careal Im- mobilien AG) Rechtsform Privater Eigentümer (Immobilien AG) Architektur Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten Erstbezug 2016 Raumprogramm rund 100 Kleinwohnungen, 3 Clusterwohnungen © Roland Bernath
36 Spezifische Lösungen für bestimmte Lebensphasen – Fallbeispiel 1: MinMax 37 WOHNFORM Wohnform-Variante Wohnen auf Zeit, Wohngemeinschaften Inhaltliche Anonymität vs. Gemeinschaft. Das Angebot an Schwerpunkte kleinen Wohnungen und für temporäres Wohnen ergänzen. Zielgruppe und soziale Das Angebot an kompakten Wohnungen mit ca. Struktur 40 m2 und Clusterwohnungen richtet sich an Single- und Paarhaushalte. Moderate Mieten sprechen die Generation der Millennials an. Die Kleinwoh- nungen reagieren auf den wachsenden Bedarf von Wochenaufenthaltern, die relativ kostengüns- tigen und kompakten Wohnraum suchen. © Roland Bernath
38 Spezifische Lösungen für bestimmte Lebensphasen – Fallbeispiel 1: MinMax 39 ARCHITEKTUR UND NUTZUNG Charakteristika Der Fokus des Projektes liegt darauf, dem zuneh- menden Bedarf an Kleinstwohnungen zu entspre- chen und um eine öffentliche Infrastruktur zu er- gänzen. Der gemeinsame Innenhof hat keine festgeschriebene Nutzung und soll frei bespielt werden können. Ein eingestellter Körper mit Wasch- salon und Gemeinschaftsküche markiert die ge- meinschaftliche Nutzung. Der Typus der Kleinwohnung vereint auf kleinem Raum Schlafbereich, Küche und Bad. Oblichter in den Innenwänden erweitern die Wohnung optisch. Die Wohnungen sind entweder zweigeschossig oder weisen eine Raumhöhe von 3 m auf. Im Erd- geschoss werden durch eine Raumhöhe von 4.5 m unterschiedliche Gewerbenutzungen möglich. © Roland Bernath
40 Spezifische Lösungen für bestimmte Lebensphasen – Fallbeispiel 1: MinMax 41 BETRIEB UND ORGANISATION Betriebskonzept Im Gegensatz zu vollmöblierten Business Apart- und Hausordnung ments wird die individuelle Gestaltung der Woh- nung ermöglicht. Vermietung Über eine siedlungseigene Webseite werden freie und Verwaltung Wohnungen ausgeschrieben. Es wird hier ausser- dem eine Plattform angeboten, die es ermöglicht, Einrichtungsmodule individuell planen zu lassen und zu erwerben. Zusatznutzen/ Das Projekt legt den Fokus auf das Austarieren wohnungsbezogene von Anonymität und Gemeinschaft. Infolgedes- Dienstleistungen sen sind die gemeinschaftlichen Einrichtungen überwiegend im eingestellten Körper des Innen- hofes untergebracht. Kontakte sollen ohne Zwang erfolgen, so führen beispielsweise Laubengänge zu spontanen Treffen mit anderen Bewohnenden. Als Gemeinschaftsflächen sind ein Waschsalon, eine Dachterrasse mit Grill, Veloräume mit Werk- zeug und ein Partyraum mit Küche (nicht in der Miete inbegriffen) vorhanden. QUELLEN www.hochparterre.ch/nachrichten/wettbewerbe/blog/ post/detail/40-quadratmeter-pro-person/1368543595/, 09.08.2018. www.glattpark.ch/grundlagen/index.php?f=facts&p=history, Plan: Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten 09.08.2018. www.emi-architekten.ch/projekt/glattpark/, 09.08.2018. Korrespondenz mit Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architek- ten AG, 21.09.2018. Korrespondenz mit Niels Lehmann, Uto Rem, 12.10.2018.
43 Spezifische Lösungen für bestimmte Lebensphasen: Fallbeispiel 2 Winkelhalden, Oberrieden KENNDATEN Adresse Winkelhaldenstrasse, 8942 Oberrieden, Schweiz Bauträgerschaft Aktiengesellschaft als Träger Rechtsform Aktiengesellschaft als Gesellschaftsform Architektur Voraussichtliche Fertigstellung 2021 Erstbezug 2021 Raumprogramm Haus A – E, unterschiedliche Wohnungstypen Bezahlbarkeit Eigenkapital (Aktienkapital) www.winkelhalden.ch/projekt ca. CHF 180.000 – 300.000 je Wohnung
44 Spezifische Lösungen für bestimmte Lebensphasen – Fallbeispiel 2: Winkelhalden 45 WOHNFORM Wohnform-Variante Co-Housing Inhaltliche Der Fokus des Projektes liegt auf Partizipation und Schwerpunkte auf hochwertigen Gemeinschaftsflächen. Dies un- ter der Voraussetzung Boden ressourcenschonend zu nutzen und private Wohnfläche zugunsten von gemeinschaftlichen Bereichen zu reduzieren. Zielgruppe und soziale Die «Babyboomer-Generation». Das Modell spricht Struktur eine Bewohnerschaft an, welche ihre «3. Lebens- phase» aktiv gestalten will und Wert auf Gemein- schaftsflächen legt. Hierfür sollen sie Kapital bei- spielsweise aus dem Verkauf zu gross gewordener Eigentumswohnungen, Einfamilienhäuser, der 2. Säule etc. in dieses Wohnkonzept investieren. Das Angebot spricht damit vornehmlich finanziell gut situierte Menschen in der 2. Lebenshälfte an. www.winkelhalden.ch/projekt
46 Spezifische Lösungen für bestimmte Lebensphasen – Fallbeispiel 2: Winkelhalden 47 ARCHITEKTUR UND NUTZUNG Wohneinheiten Charakteristika Mit dem Projekt Winkelhalden sollen innovative Wohnformen für die «3. Lebensphase» entwickelt Jokerzimmer werden. Es entstand durch die Initiative eines Er- Kollektive Nutzung ben des Grundstücks. Das Projekt gliedert sich in einzelne Baukörper, die gemeinsam einen Aussenraum bilden, der als zentrales Element des Projektes verstanden wird. Die durchlässige Bebauungsstruktur soll den Bezug zum umliegenden Quartier und zum See ermöglichen. Unterschiedliche Privat- und Öffent- lichkeitsstufen im Aussenraum sollen Begegnungs- räume verschiedener Art schaffen. Zusammen mit den Gemeinschaftsräumen ist er als Gegen- pol zum Rückzug in der Wohnung gedacht und wird als ein Ort für gemeinschaftliche Aktivität und Treffpunkt verstanden. Das Projekt basiert auf Einheiten, die flexibel zu Wohneinheiten verbunden werden können. Die Wohneinheiten Typ A bis C sind zudem in sich flexi- bel. So sollen durch standardisierte Module ver- schiedene Ausstattungen und Raumaufteilungen realisiert werden können. www.winkelhalden.ch/projekt
48 Spezifische Lösungen für bestimmte Lebensphasen – Fallbeispiel 2: Winkelhalden 49 BETRIEB UND ORGANISATION Betriebskonzept Für die Realisierung und den Betrieb des Projektes Vermietung Für Mietanfragen bei Erstmietern wurden genaue und Hausordnung ist eine Aktiengesellschaft gegründet worden. Da- und Verwaltung Auswahlkriterien festgelegt. Darunter Finanzie- rin richtet sich das Stimmrecht nach der Anzahl rungsmöglichkeiten, Flexibilität beim Einzugster- Aktien. Der Verwaltungsrat delegiert über die Ge- min, Altersdurchmischung, ausgewogene Mischung schäftsleitung den Alltagsbetrieb an den Bewoh- von Ein- oder Mehrpersonenhaushalten, Suffizienz nerverein. An der Bewohnerversammlung zählt im Bezug auf die individuelle Wohnfläche, Mobili- die Kopfstimme. Dieser Rechtsform liegt ein ge- tätsverhalten etc. meinschaftlicher Gedanke zugrunde, der von An- Die Wohnungen werden von den Aktionärinnen fang an prägend war. Im Gegensatz zu Stockwerk- und Aktionären kostendeckend von der Winkel- eigentümern, sind die Bewohnenden Aktionäre halden AG gemietet. Eigentümer sind die Bewoh- und sollen dadurch weniger auf ihre privaten nenden über ihre Aktien. Sie sind also anteilsmässig Wohnungen fokussiert sein. Die Aktiengesell- beteiligt. Aktionär werden kann, wer mindestens schaft verfolgt einen (moderaten) Gewinn. Die 35% des Wertes der bewohnten Wohnung aus Aktie kann gehandelt werden, womit die Initian- Eigenmitteln investieren kann. Die Nachfolge bei ten auch bewusst eine andere Klientel ansprechen Tod und die Fluktuation der Bewohnenden und möchten, als beispielsweise Genossenschaften. Aktionäre werden im Aktionärsbindungsvertrag In den Wohnungen werden ausschliesslich die geregelt. Aktionäre der Siedlung wohnen. Sie verpflichten Zusatznutzen/ Gemeinschaftseinrichtungen nehmen eine zent- sich, nach Fertigstellung innerhalb von drei Mona- wohnungsbezogene rale Rolle in dem Projekt ein. Geplant sind eine ten einzuziehen, wodurch man sich eine rasche Diensleistungen Lounge, ein Bistro, eine Werkstatt/Atelier, ein Belebung der Siedlung erhofft. Wechseln die Ak- Mehrzweck-/Musikraum und Joker-Zimmer. Das tien den Besitz, können die Wohnungen für maxi- Bistro sieht beispielsweise einen Mittags- und mal zwei Jahre auch an temporär Mietende wie Abendtisch vor, für den man sich auch von extern Studierende oder Expats vermietet werden. online anmelden kann. Auch beim Joker-Zimmer Die Miete ist auf Basis der effektiven Kosten kal- soll eine Anmietung von extern möglich sein. Im kuliert und kann deshalb durch Mitwirkung im Be- Aussenraum sind gemeinschaftliche Flächen für wohnerverein beeinflusst werden. die partizipative Bewirtschaftung vorgesehen. Ein Aktionärsbindungsvertrag hält das koopera- tive Konzept fest und soll seine Umsetzung ge- währleisten. INTERVIEW Beat Stünzi, Initiator des Projektes, 21.08.2018. Korrespondenz Beat Stünzi, 02.10.2018. QUELLEN http://winkelhalden.ch/projekt/#section-vision, 23.08.2018.
51 Durchmischt und integriert «Ein aktives Zusammenleben der Generationen verbessert das gegensei- tige Verständnis, steigert die Wertschätzung, das Sicherheitsgefühl und die Lebensqualität. Wir versuchen eine lebendige Nachbarschaft auch mit dem umliegenden Quartier anzustreben und zu pflegen.» (Giesserei, o. J.) Verstärkte sozio-ökonomische Unterschiede führen zu Vereinzelung von Individuen und Segregation ganzer Gruppen. Im Umgang mit Benachteilig- ten findet aber ein Umdenken statt und Fragen sozialer Mischung, Beteili- gung und Integration sind Tagesthemen. Integrierende Projekte haben das Ziel, Menschen, die sonst in der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, mit einzubeziehen. Dazu gehört, sie in ihrer Selbstbestimmung zu fördern und im Alltag zu unterstützen. Damit sollen Offenheit und Toleranz gegen- über dem Fremden erreicht werden (vgl. z. B. Kompetenzzentrum 2008, 21). Dieses Ziel beschränkt sich nicht auf die Integration von Immigranten, von der heute viel gesprochen wird. Auch Altersgruppen und Einkommensstufen sind einander fremd, Menschen mit Behinderung sind unsichtbar. Letztere zum Beispiel können mit kompetenter Hausbetreuung in einem vielfältigen Umfeld, statt in einem Heim leben. «Durchmischt und integriert» sind Pro- jekte, die Brücken zu schlagen versuchen und mit einem bewussten Ange- bot und gezielter Auswahl die Mieterstruktur beeinflussen. gemischter Blumenstrauss, Kristina Paukshtite Literatur Giesserei (o. J.): Kredo der Giesserei: www.giesserei-gesewo.ch/siedlung/ siedlungskonzept (27.09.2018). Kompetenzzentrum «Kostengünstig qualitätsbewusst Bauen» (2008): Zukunftsweisende Wohnprojekte in der Stadt. Bonn.
53 Durchmischt und integriert: Fallbeispiel 1 Brahmshof, Zürich KENNDATEN Adresse Brahmsstrasse 22 – 44, 8003 Zürich Bauträgerschaft Evangelischer Frauenbund Zürich efz Rechtsform gemeinnütziger kantonaler Verein gemäss ZGB 60ff mit Sitz in Zürich Architektur Walter Fischer/Kuhn Fischer Partner Erstbezug 1991 Raumprogramm 65 Wohnungen, Gästezimmer, Kita, Gemein- schaftsraum, Geschäftsstelle efz, Restaurant und Catering, diverse Büroräume, Tagungs-, und Schulungsräume, Gemeinschaftsgärten, Hobbyräume
54 Durchmischt und Integriert – Fallbeispiel 1: Brahmshof 55 WOHNFORM ARCHITEKTUR & NUTZUNG Wohnform-Variante Gemeinschaftliches Wohnen Charakteristika Der Anspruch der Bauträgerschaft, Wohnraum für Inhaltliche Das Projekt legt besonderen Fokus auf die Durch- unterschiedliche Haushaltsformen und Lebens- Schwerpunkte mischung und Integration unterschiedlicher Nut- phasen anzubieten, findet nicht zuletzt in der fle- zerinnen und Nutzer. Früher bestand Anspruch, xiblen Grundrissstruktur ihre Entsprechung: Der dass sich die gesamte Mieterschaft an gemein- Grundriss basiert auf nutzungsneutralen Individu- schaftlichen Aktivitäten und Arbeiten beteiligt. alzimmern gleicher Grösse (14 m2) und mit quad- Heute geht es mehr um die individuellen Bedürf- ratischem Grundriss, sodass diese unterschiedli- nisse und eine freiwillige Beteiligung der Bewoh- che Nutzungen aufnehmen können. Wohnungen nenden. können zusammengelegt und einzelne Zimmer- einheiten dazugeschaltet oder abgetrennt wer- Zielgruppen/ Mit dem Mix aus freitragenden und subventionier- den. Die mögliche Schaltbarkeit von Räumen wur- soziale Struktur ten Wohnungen unterschiedlicher Grösse ist der de bisher fünfmal realisiert. Zwei benachbarte efz bestrebt, eine Durchmischung der Mieter- Wohnungen müssen dafür gleichzeitig ihren Be- schaft zu leisten und gleichzeitig für die Integra- darf ändern, was freilich eher selten der Fall ist. tion sozial Benachteiligter zu sorgen. Zur Ziel- Ein weiteres Hindernis stellen die Förderkriterien gruppe gehören Familien mit Kindern, Ein-Eltern- der Stadt Zürich mit ihren genau festgelegten Familien, Alleinstehende, Jugendliche, Menschen Haushalts- und Wohnungsgrössen dar. Deshalb mit körperlicher oder psychischer Beeinträchti- profitieren nur die freitragenden Wohnungen von gung und Seniorinnen und Senioren. Durch den viel- dieser Flexibilität. Im Brahmshof gibt es aber fältigen Mietermix soll eine integrierende Wirkung auch niederschwelligere Angebote der Nutzungs- erzeugt werden. Im Moment der Studie (Sommer flexibilität, welche auch nicht nur den Erstmieten- 2018) überwiegen noch die «neuen Alten» oder den vorbehalten sind: Der im Prinzip hierarchielo- «Babyboomer», werden aber je länger desto mehr se und zweiseitig orientierte Tagesbereich ist so von «Familien 4.0» abgelöst – «Millennials» sind ausgelegt, dass er immer wieder durch die Be- auch vertreten, aber klar in der Unterzahl. Mit ei- wohnenden unterteilt werden kann, was in den nem Neubauprojekt auf dem gleichen Areal möch- beobachteten Wohnungen durch raumhohe Mö- te der efz ein spezielles Wohnangebot für ihre bel, Vorhänge bis hin zu Trennwänden geschieht. «Babyboomer» schaffen, während ihre erwachse- Das Gleiche gilt für die Essküche, bei der lediglich nen Kinder mit ihrer Familie in die grössere Woh- die Nassinstallationen fest sind, während die rest- nung einziehen, u. a. mit dem Ziel, innerfamiliäre lichen Küchenkorpi und der Kühlschrank mobil Hilfestrukturen im Wohnquartier zu ermöglichen. sind, sodass die Bewohnenden selbst bestimmen können, wie gross sie ihren Koch- und Essbereich gestalten möchten.
56 Durchmischt und Integriert – Fallbeispiel 1: Brahmshof 57 BETRIEB UND ORGANISATION Betriebskonzept Die Siedlung wurde 1991 als ein auf das Zusam- und Hausordnung menleben unterschiedlicher Nutzerinnen und Nutzer ausgerichtetes Wohnmodell konzipiert. Während zur Anfangszeit der Anspruch bestand, dass sich die gesamte Mieterschaft an den Aktivi- täten und Arbeiten beteiligt, hat sich dieses Enga- gement geändert: Heute geht es mehr um die individuellen Bedürfnisse und eine freiwillige Be- teiligung an gemeinschaftlichen Fragen und Auf- gaben. Ein Hauswart sorgt im Interesse der Be- wohnerinnen und Bewohner für Ordnung. Es besteht eine Hausordnung, hinzu kommt eine Siedlungsverfassung als integraler Bestandteil des Mietvertrages. Darin sind die Ziele des Zusam- menlebens formuliert. Hervorzuheben ist hier be- sonders die erwünschte aktive Beteiligung aller Bewohner/innen am Siedlungsleben in einem der Mitwirkungsorgane. Alle Bewohner/innen können Mitglied im «BewohnerInnenverein Brahmshof» werden; dieser übernimmt u. a. die Organisation verschiedener Arbeitsgruppen. So war z. B. für die Aussenraumgestaltung die Arbeitsgruppe «Um- gebungsgestaltung/Kinderspielplatz» verantwort- lich, es gibt eine «Kompostgruppe» und eine für «Nachbarschaftshilfe». Daneben gibt es auch spon- tane ad hoc-Projektgruppen (Hausaufgabenhilfe, Schachgruppe, etc.). An regelmässigen Versamm- Pläne: Walter Fischer/Kuhn Fischer Partner Architekten lungen, der sogenannten «Hofgmeind», diskutiert ANPASSUNGSFÄHIGKEIT der BewohnerInnenverein mit der Mieterschaft Die Anpassungsfähigkeit des Innenraums ist auf drei Fragen des Zusammenlebens in der Siedlung. Der Ebenen möglich. Erstens durch die Schaltbarkeit von sogenannte Hofrat ist das Verbindungsglied zwi- Räumen. Zweitens durch Zimmer gleicher Grösse und Proportionen, welche die Anpassung an viele verschie- schen der Bewohnerschaft und der efz-Träger- dene Funktionen ermöglichen. Drittens durch die An- schaft. Er ist ein Forum zur Meinungsbildung und ordnung beweglicher Schrankelemente, mit denen das gegenseitigen Information und setzt sich zusam- Wohnzimmer und die Küche aufgeteilt oder kombiniert men aus je zwei leitenden Mitgliedern des Bewoh- werden können. nerInnenvereins, und der efz-Trägerschaft und einer Hauswart-Vertretung.
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