Insektenschwund - Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge* - Naturkundemuseum Karlsruhe
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Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge 229 Entomologie heute 31 (2019): 229-256 Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge* Insect Decline – Background, Observation, Correlations ROBERT TRUSCH Zusammenfassung: Das Phänomen des Insektensterbens war von der Faunistik mit der Doku- mentation des Verschwindens von Arten aus der Fläche bereits vor Jahrzehnten festgestellt worden. Seine Wahrnehmung in der Bevölkerung findet dagegen erst seit wenigen Jahren statt. Ursache für das neuartige Interesse am Insektensterben, auch der Medien, seit 2016 ist die so genannte „Krefeld- Studie“, die sogar ein Fachgespräch im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages auslöste. In den letzten Jahrzehnten ist der Rückgang von Insekten, wie Untersuchungen an Schmetterlingen zeigen, exponentiell angestiegen. Es besteht der Verdacht, dass dafür, neben industrieller Agrar- wirtschaft mit Überdüngung und Habitatverlust, hochtoxische Insektizide aus der Stoffgruppe der Neonikotinoide maßgeblich verantwortlich sind. Sie werden erst seit Beginn der 1990er Jahre eingesetzt. Neben ihrer letalen und subletalen Wirkung selbst in extremer Verdünnung (Nanogramm- Bereich) besitzen sie eine teilweise jahrzehntelange Verweildauer in der Umwelt, so dass sie sich in der Natur angereichert haben dürften. Außerdem unterdrücken Neonikotinoide die Immunantwort bei Insekten. Es wird von Seiten der industriellen Agrarlobby abgestritten, dass man in der Fläche zum Zustand der Insekten gültige Aussagen machen könne. Dies wird exemplarisch an Hand der Entwicklung der Schmetterlingsfaunistik in Baden-Württemberg widerlegt. Der Vergleich aktueller Erhebungen mit früheren, zum Teil Jahrhunderte alten Aufzeichnungen lässt erkennen, in welch kritischem Zustand sich heute die Schmetterlinge befinden. Somit ist ein Beurteilen des heutigen Zustands möglich. Wir wissen genug, um zu handeln! Um das Insektensterben zu beenden, reichen all die kleinen Maßnahmen, die im Moment angestoßen werden, leider nicht aus. Denn mit ihnen ist keine Flächenwirksamkeit gegeben. Gefordert wird eine Agrarwende, die den Insekten wieder ausreichend Raum in der Flur gibt. Schlüsselwörter: Insektensterben, Schmetterlinge, Insektizide, Neonikotinoide, Agarwende Summary: The phenomenon of declining insect populations has been known for decades; ento- mologists have since documented the local or regional disappearance of many species. The general public and the media, however, have only taken notice during the last few years. The reason for this new interest in insect decline since 2016 is the so-called “Krefeld study”, which even triggered an expert discussion in the environmental committee of the German Bundestag (Federal Parliament). In the past few decades the decline in insects has even increased exponentially as studies on butterflies show. It is suspected that, in addition to industrial agriculture with overfertilization and habitat loss, highly toxic insecticides from the neonicotinoid group are primarily responsible. These have only been in use since the beginning of the 1990s. In addition to their lethal and sublethal effects even in extreme dilution (nanogram range) they sometimes remain in the environment for decades, which means that they are likely to have accumulated in nature. Moreover, neonicotinoids suppress the immune response in insects. The industrial agricultural lobby denies that valid statements regarding the area-wide condition of insects can be made. This is refuted using the faunistic dataset on Lepi- doptera in the federal state of Baden-Württemberg. Some of these records go back for centuries, *Leicht veränderter Vortrag, gehalten am 31. Westdeutschen Entomologentag im Aquazoo Löbbecke Museum Düsseldorf am 24. November 2018. Entomologie heute 31 (2019)
230 ROBERT TRUSCH allowing a comparison with the current situation and the deduction that our butterfly and moth populations are in a critical state. Society has enough knowledge to act accordingly! Unfortunately, all the minor measures that are being initiated at the moment are not sufficient to end insect decline, because they have no large-scale effect. What is required is a major turn in agricultural policy which gives insects sufficient space in the agriculturally used open landscape again. Keywords: Insect decline, Lepidoptera, insecticides, neonicotinoids, turn in agricultural policy 1. Einleitung in Naturschutzgebieten; kaum auszudenken, wie es in der ungeschützten Feldflur aus- Früher gab es mehr Schmetterlinge. Diese Aussage sieht. Vor unseren Augen vollzieht sich eine haben wir alle schon gehört und so mancher ökologische Katastrophe! hat sie auch selbst schon gemacht. Dass es Was aber sind die Ursachen des Insektenster- früher einmal wesentlich mehr Insekten (und damit bens? Klimawandel, Einschleppung fremder Schmetterlinge, auf die ich hier in erster Linie Arten, Lebensraumverlust, Ausräumung eingehen werde) gab, wissen all diejenigen aus der Landschaft oder Insektizide? Die Liste eigener Anschauung, die noch aus ihrer möglicher Ursachen ließe sich weiter fort- Kindheit echte Heuwiesen und blütenrei- setzen. Ich möchte mit dieser Arbeit deutlich che Feldraine kennen. Quantitativ belegen machen, dass vor allem die Veränderungen können den Rückgang nur Experten, die in der Landnutzung, die Intensivierung der regelmäßig Artkartierungen durchführen Landwirtschaft und hier insbesondere die und diese Daten seit vielen Jahrzehnten Verwendung von Insektiziden hauptverant- sammeln. Jedoch auch jeder ältere Autofah- wortlich für das Verschwinden der früheren rer weiß: Früher war die Windschutzscheibe Insektenmassen und damit auch für das im Sommer bei Überlandfahrten schon Artensterben sind. Von Umweltverbänden nach kurzer Zeit voller toter Insekten und und Aktivisten wird zu Recht ein Verbot von musste unterwegs gereinigt werden. Heute Herbiziden wie Glyphosat und Insektiziden können wir hingegen selbst im Sommer wie Neonikotinoiden und ihren Nachfolgern viele hundert Kilometer fahren, ohne die gefordert. Im Folgenden stelle ich die meines Frontscheibe putzen zu müssen. Und dies Erachtens besonders relevanten Hintergrün- liegt nicht etwa an einem besseren cW-Wert de und Zusammenhänge dar und gehe dar- der Fahrzeuge, wie der Blick auf die nach wie auf ein, warum die Wirkung der modernen vor senkrecht stehenden Nummernschilder Insektizide so verheerend ist. zeigt, die ebenfalls schlagopferfrei sind. Das Thema Insektenschwund hat inzwi- 2. Das Insektensterben und wie es schen eine nie dagewesene Resonanz in bemerkt wurde der Öffentlichkeit erreicht. Das Sterben der Insekten schaffte es auf die ersten Seiten der Neben der Klimakrise, die wir zweifelsohne großen Zeitungen, als es im Oktober 2017 gerade durchleben, befinden wir uns aktuell gewissermaßen amtlich wurde. Die Wis- auch in einer Biodiversitätskrise. Dabei senschaft hatte bestätigt, dass aktuell 76 % leben wir absurderweise im „Jahrzehnt der weniger Biomasse flugfähiger Insekten als Biodiversität“. Die Vereinten Nationen (UN, 1989 an den Messorten einer hauptsächlich United Nations) hatten die Jahre 2011 bis im Nordwesten Deutschlands durchgeführ- 2020 zur „UN-Dekade Biologische Vielfalt“ ten „Insektenzählung“ durch HALLMANN et erklärt (vgl. die offizielle deutsche Webseite al. (2017) gefunden wurde. Und die Unter- zur UN-Dekade Biologische Vielfalt, s. suchungsgebiete dieser Studie befanden sich Verzeichnis der Internetquellen). Was aber
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge 231 umfasst die „biologische Vielfalt“ bzw. der überhaupt nicht neu. Als Beispiel sei unter Begriff „Biodiversität“ überhaupt? Es ist vielen anderen Beispielen der Zensus der die Vielfalt der Ökosysteme, z.B. Wälder, Tagfalter für das Gebiet der Landeshaupt- Trockenrasen, Moore, Seen usw., die Vielfalt stadt Düsseldorf herausgegriffen. LENZ & der Arten, z.B. Eichen, Eichhörnchen, Stein- SCHULTEN (2005) hatten gezeigt, wie viele pilze oder Insekten, aber auch die genetische Tagfalterarten es hier um das Jahr 1900 gab, Vielfalt innerhalb der Arten, die sogenannte nämlich mindestens 64, und wie viele noch infraspezifische Variabilität, welche es jeder im Jahr 2000 vorhanden waren: nur noch Spezies ermöglicht, sich beispielsweise an 27. Dies entspricht einem Artenverlust von verschiedene Klimasituationen anzupassen 58 %. Und das vollständige Verschwinden und damit, in bestimmten Grenzen, auch einer Art für ein Gebiet bedeutet ja, dass auf Veränderungen in ihrer Umwelt zu man dort kein einziges Individuum mehr reagieren. von ihr beobachten kann! Dieses Beispiel Die Wissenschaft, welche die Biodiversität für eine lokale, massive Artenverarmung im der Tierarten in Raum und Zeit beschreibt, 20. Jahrhundert hat, wie viele andere (z.B. ist die Faunistik (in der Botanik ist es die HEYDEMANN & MEYER 1983 für Laufkäfer Floristik). Seit langem wird dieses Sam- auf Äckern), allerdings nur wenig Aufmerk- meln von Informationen über die in ei- samkeit erregt. nem bestimmten Gebiet vorkommenden Nun ließe sich einwenden, dass mit dem Organismen so bezeichnet. Faunistik ist obigen Zensus ja nur ein verhältnismäßig Biodiversitätsforschung und gleichzeitig das kleines Gebiet betrachtet wird, nämlich einzige Teilgebiet der Zoologie, welches die das Stadtgebiet von Düsseldorf. Allerdings Artenvielfalt sowie die Häufigkeitsschwan- ist das Phänomen des Verschwindens von kungen der Arten, ihr Oszillieren, bis hin Arten auch großräumig zu beklagen. Als zu ihrem Verschwinden oder Neuauftreten prominentes Beispiel soll hier der Eschen- sowohl in der Fläche als auch im Laufe der Scheckenfalter oder Maivogel Euphydryas Zeit dokumentiert. Von der Faunistik wurde maturna (Linnaeus, 1758) (Lepidoptera, der Verlust von Arten in der Fläche längst Nymphalidae) herausgegriffen werden. Er festgestellt, und zwar seit Jahrzehnten! Man kam einstmals, außer im Saarland und den müsste sie deswegen als Zukunftswissen- Stadtstaaten, im Gebiet aller deutschen schaft bezeichnen (KLAUSNITZER 2006), hat Bundesländer vor. Aus den Mittelgebirgen sie doch als erste jene Probleme, um die es sind sogar recht viele ehemalige Fundorte hier geht, erkannt und beschrieben. Leider bekannt, so dass man teilweise sogar von ei- erfuhr und erfährt aber die Faunistik bis ner flächig, wenn auch ziemlich lokal auftre- heute so gut wie keine öffentliche Anerken- tenden Art sprechen konnte. In Deutschland nung oder gar materielle Förderung. Es wäre waren einmal weit über hundert Rasterfelder an der Zeit, dies in der Politik und an den der Topografischen Karte 1:25.000 (TK25, Hochschulen zu ändern, um in Zukunft für früher als „Messtischblatt“ bezeichnet) mit unsere Gesellschaft wieder mehr Menschen der Art besiedelt (REINHARDT et al. 2020). zu haben, welche die Arten wirklich kennen Heute ist ihre Anzahl auf vier bis fünf in und auch erkennen (determinieren) können. ganz Deutschland zusammengeschrumpft. So dringt das Wissen um das Insekten- Und auch von diesen letzten Vorkommen sterben erst seit wenigen Jahren in breitere befinden sich einzelne in bedrohlichem Schichten der Bevölkerung vor. Der Grund Zustand. Dies zeigt uns exemplarisch, dass ist das mediale Interesse, das es ab 2016 ge- das Verschwinden von Schmetterlingsarten funden hat. Dabei ist, wie gerade ausgeführt, aus der Fläche unseres Landes keineswegs die Erkenntnis, dass Arten verschwinden, ein lokales Phänomen ist. Entomologie heute 31 (2019)
232 ROBERT TRUSCH Der subjektive Eindruck, der die geflügelten genheit so nicht wirkte, insbesondere seit Worte „früher gab es mehr Schmetterlinge“ den 1990er Jahren. Wie sonst ist zu erklären, hervorgebracht hat, täuscht also nicht. Eine dass in dem untersuchten Naturschutzgebiet Langzeitstudie mit einer ca. 200-jährigen die Auslöschung der Arten in den letzten Beobachtungsreihe zeigt sogar, dass dieser Dezennien so stark angestiegen ist? Rückgang der Schmetterlinge in den letzten Aber auch diese Studie hatte die Öffentlich- Jahrzehnten exponentiell angestiegen ist (HA- keit nicht wachgerüttelt, obwohl die Autoren BEL et al. 2016a, b). Die Studie betrachtet die sogar eine leicht verständliche Zusammen- Tagfalter und Widderchen (n = 117 Arten) fassung in einem populärwissenschaftlichen von drei südexponierten Offenlandflächen Naturmagazin veröffentlichten (HABEL et al. an der Donau bei Regensburg (Am Keilstein, 2016b). Das Insektensterben hätte vermut- Schwabelweiser Hänge und Fellinger Berg), lich nie eine solche Aufmerksamkeit erlangt, die seit vielen Jahren unter Naturschutz hätte nicht der Entomologische Verein stehen. Von dort liegt durch Schmetterlings- Krefeld seine Befunde bekannt gemacht. sammler und Schmetterlingsforscher histo- Bereits seit den späten 1980er Jahren hatten rischer Zeiten wie den HERRICH-SCHÄFFERs, die Entomologen des Vereins die an sich durch Belege in Museen (wie z.B. in der sehr einfache Dokumentation der von ihnen Zoologischen Staatssammlung München, jeweils mit Malaise-Fallen eingesammelten ZSM) oder auch durch langjährige, bis in Insektenbiomassen vorgenommen – ein- die heutige Zeit reichende Untersuchungen, fach, indem sie die Abtropfmassen ihrer zuletzt durchgeführt und in einer Datenbank Proben wogen und festhielten. Schließlich zusammengefasst von A. SEGERER, einem publizierten sie ihre Ergebnisse, anfangs Mitautor der Studie von HABEL et al. (l.c.), sogar nur in ihrer eigenen Vereinszeitschrift eine beeindruckende Datenreihe vor. Dass (SORG et al. 2013). In dieser Arbeit sind die über einen so langen Zeitraum nahezu im Naturschutzgebiet Orbroicher Bruch an kontinuierliche Daten vorhanden sind, die jeweils zwei Standorten gefangenen Insekten darüber hinaus aufgrund ihrer Verfügbarkeit aus den Jahren 1989 und 2013 hinsichtlich in einer elektronischen Datenbank (in ZSM) ihrer Masse miteinander verglichen. Nach analysiert werden können, ist ein extrem dem Abtropfen der Fangflüssigkeit betrug seltener Glücksfall. die Masse der 1989 gefangenen Insekten Von den Ergebnissen dieser Studie (HABEL am ersten Standort 1.117 g und am zweiten et al. 2016a) ist insbesondere hervorzu- 1.426 g. Im Jahr 2013 waren es am ersten heben, dass sich das Verschwinden der Standort nur noch 257 g und am zweiten untersuchten Schmetterlingsarten stark 294 g. Dies entspricht einem Rückgang beschleunigt hat. Während des 19. Jahrhun- flugaktiver Insekten (nur diese können mit derts verschwand von ihnen lediglich eine der Methode erbeutet werden) auf 23 % einzige Art dauerhaft. Bis zum Ende der bzw. 20,7 % zwischen den Jahren 1989 und 1970er Jahre waren es bereits zwölf. Dann 2013 (SORG et al. 2013). Es war dies das machte der Artenrückgang einen Sprung: In erste Mal, dass für ein konkretes Gebiet im den sich anschließenden Dekaden erloschen Vergleich zu vergangenen Zeiten festgestellt jeweils weitere zehn bis elf Arten. Den trau- wurde, dass aktuell nur noch rund 20 % rigen Rekord stellt jedoch unser aktuelles der Biomasse der betrachteten Insekten Jahrzehnt mit erschreckenden 26 Arten auf, vorhanden sind. die nun nicht mehr gesichtet werden (HABEL Im Normalfall hätten auch hier nur Fachleu- et al. 2016a, b). Dies gibt uns einen ersten te registriert, was in dieser Veröffentlichung Hinweis darauf, dass sich etwas in unserer steht. Dabei bleib es diesmal aber nicht. Im Umwelt eingestellt hat, das in der Vergan- Nachhinein betrachtet war es eine geniale
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge 233 Idee der Krefelder Entomologen, die Ab- tenfressender Wirbeltiere zur Folge haben. tropfmassen ihrer mit den Malaise-Fallen Und dieser Zusammenhang ist beispiels- erbeuteten Insekten zu wiegen und zu weise für Vögel bereits gezeigt worden, so protokollieren, und dies über Jahrzehnte. So für den Neuntöter (SCHREURS 1964) sowie hatten die Krefelder als erste wirklich harte für Feldlerche, Rauchschwalbe, Schafstelze, Zahlen vorzuweisen, die nachprüfbar bele- Star, Dorngrasmücke und Misteldrossel gen, dass und wie dramatisch die Insekten- (HALLMANN et al. 2014). Biomasse abgenommen hat. Diese Fakten Natürlich wurde diese „erste Studie“ der sowie gute Kontakte zum Bundesumweltmi- Krefelder (SORG et al. 2013) angezweifelt. nisterium (BMU) führten schließlich zu ei- Denn sie war nicht hochrangig publiziert nem Fachgespräch im Umweltausschuss des worden und es wurden zudem nur zwei Deutschen Bundestages am 13. Januar 2016 Jahre (1989 und 2013) betrachtet. Es könnte (Link zum Nachhören und Nachsehen siehe mithin reiner Zufall sein, das sich gerade in Bundestag-Mediathek im Verzeichnis der diesen beiden Jahren möglicherweise natür- Internetquellen). In diesem Fachgespräch er- liche Schwankungen der Insekten-Biomasse klärten drei von der Regierung ausgewählte so extrem verhielten. Auch die so genannte Wissenschaftler und der mit den Krefeldern „Unstatistik des Monats“, eine vom RWI – assoziierte Naturschützer JOSEF TUMBRINCK Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (damals NABU Nordrhein-Westfalen, heute e.V. in Essen vom 31. August 2017 heraus- BMU) erstmals ausgewählten Abgeordneten gegebene Pressenmitteilung (vgl. Unstatistik und Vertretern der Bundesregierung, dass es 2017 im Verzeichnis der Internetquellen), in unserer Umwelt zu einem dramatischen kritisierte diese Arbeit. REINHARDT (2018) Rückgang der Insekten gekommen sei. So widerlegte diese unberechtigte Kritik und etwas hatte es zuvor im Deutschen Bundes- stellte klar, dass es aus momentaner wis- tag noch nie gegeben! senschaftlicher Kenntnis überhaupt keinen Damit war auch die Aufmerksamkeit der Grund gibt, an einer 76 %igen Abnahme „Großen Politik“ hergestellt. Als Ursachen der Biomasse fliegender Insekten in den für den dramatischen Rückgang der heimi- Naturschutzgebieten Nordwestdeutschlands schen Insekten wurden vor allem der Ver- zu zweifeln und dass die von der o.g. Statis- lust der Strukturvielfalt in der Landschaft, tikergruppe verbreiteten Darstellungen zum Stickstoffbelastung und der Einfluss von Insektensterben verzerrt und falsch sind, ja Pestiziden angegeben. Zudem wurde den dass deren Aussagen sogar Wissenschafts- Entscheidungsträgern vermittelt, dass der betrug entsprächen. Rückgang der Insekten nicht nur für die Die Krefelder hatten nicht nur in den beiden Insekten selbst von Bedeutung sei: Viele von SORG et al. (2013) publizierten Jahren Pflanzen (das gilt auch für einen Großteil Stichproben genommen, sondern 63 Na- der Kulturpflanzen) sind auf die Bestäu- turschutzgebiete (zum Teil kontinuierlich) bung durch Insekten angewiesen. Ohne seit 1989 beprobt und ihre Untersuchungen Insektenbestäubung können viele Pflanzen auch nach 2013 weiter fortgeführt, Letzteres keine Früchte hervorbringen, unsere Ernäh- auch als Reaktion auf die Kritik an ihrer rung ist also ebenfalls in Gefahr. Darüber Arbeit. Auf die Veröffentlichung dieser um- hinaus sind Insekten in den Ökosystemen fassenderen Daten musste die Öffentlichkeit eine wichtige Nahrungsgrundlage für allerdings drei Jahre warten. Schließlich viele weitere Tiere, da sie an der Basis der erschien die Studie am 18. Oktober 2017 Nahrungspyramide stehen. Ein massiver (HALLMANN et al. 2017), und diesmal in ei- Verlust der Insektenbiomasse muss daher nem international anerkannten Journal mit zwangsläufig auch einen Rückgang insek- „Impact-Faktor“. Entomologie heute 31 (2019)
234 ROBERT TRUSCH Abb. 1: Eine neue Qualität in der öffentlichen Wahrnehmung ist erreicht, wenn es eine Insekten- studie auf die Titelseiten der großen Zeitungen schafft: „Die Zeit“ Nr. 44 vom 26.10.2017, die in Anlehnung an den Oscar-prämierten Film von 1991 „Das Schweigen der Lämmer“ Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem Totenkopfschwärmer (Acherontia atropos) vor dem Mund zeigt. Fig. 1: A new quality in public perception is reached when an insect study makes it onto the covers of major newspapers: “Die Zeit” No. 44 of 26.10.2017, which, based on the Oscar award-winning 1991 film “The Silence of the Lambs” shows Chancellor Angela Merkel with a death’s-head hawk- moth (Acherontia atropos) in front of her mouth. Diese Veröffentlichung rief ein hinsichtlich sekten eingesetzt (HALLMANN et al. 2017). der Insekten nie zuvor dagewesenes Echo Ziel ihrer jahrelangen Arbeit war es, auf den in den Medien hervor. Exemplarisch steht Status und den Trend der jeweils lokalen hierfür das Titelbild der Wochenzeitung Fauna flugfähiger Insekten zu schließen. „Die Zeit“ (Abb. 1), die als deutsches „Leit- Diese umfassende Analyse ergab einen sai- medium“ gilt. In ihr war am 26.10.2017 auf sonalen Rückgang der Insekten-Biomasse Seite 3 zu lesen: „… seit einer Woche ist es von durchschnittlich 76 %, im Sommer gewissermaßen amtlich. Die Wissenschaft sogar um 82 % (Abb. 2). Damit war der bestätigt, was alle ahnten: 76 Prozent weni- Befund der ersten Studie (SORG et al. 2013) ger Insekten als 1989 leben an den Messor- bestätigt. Zwar vermied man, in der neuen ten der Insektenzählung – und die befinden Publikation eine Antwort auf die Frage nach sich in Naturschutzgebieten. Kaum auszu- den Ursachen zu geben; der Hinweis jedoch, denken, wie es in den geschundenen Teilen dass dieser massive Verlust an Insekten kas- Deutschlands aussieht. … Vor aller Augen kadierende Effekte auf die Nahrungsnetze vollzieht sich hierzulande eine ökologische haben wird und die Ökosystemdienstleis- Katastrophe.“ tungen insgesamt gefährdet seien, alarmierte 27 Jahre lang hatten die Krefelder von die Öffentlichkeit. Schließlich wurde damit 1989 bis 2016 in 63 Naturschutzgebieten die Abhängigkeit unserer Nahrungsmittel- Deutschlands standardisiert Malaise-Fallen produktion von den Insekten einmal mehr zur Messung der Biomasse fliegender In- angesprochen.
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge 235 Abb. 2: Umgezeichnete Kopie der Abbildung 2 aus HALLMANN et al. (2017) zur Veränderung der Insektenbiomasse in der Zeit und über den Jahresgang, Es handelt sich um eine logarithmische Skala auf der y-Achse (Ordinate)! HALLMANN et al. (2017: 11): „A Als Kastengrafik ist die Verteilung der Insektenbiomasse (Gramm pro Tag) dargestellt, die in jedem Jahr über alle Fallen und Fänge gesam- melt wurde (n = 1.503). Basierend auf dem endgültigen Modell der Studie zeigt die graue Linie den angepassten Mittelwert (+ 95 % nachträgliche Glaubwürdigkeitsintervalle) unter Berücksichtigung von Wetter-, Landschafts- und Lebensraumeffekten. Die schwarze Linie zeigt den geschätzten mitt- leren Trend, der mit dem Basismodell der Studie geschätzt wurde. B Die saisonale Verteilung der Insektenbiomasse zeigt, dass die höchsten Insektenbiomassenfänge im Hochsommer den stärksten Rückgang aufweisen. Der Farbverlauf in beiden Bereichen reicht von 1989 (blau) bis 2016 (orange).“ Fig. 2: Change in insect biomass in time and over the annual cycle (redrawn copy) of figure 2 from HALLMANN et al. (2017) showing the change in insect biomass in time and over the annual cycle. It is a logarithmic scale on the y-axis (ordinate)! HALLMANN et al. (2017: 11): “A Boxplots depict the distribution of insect biomass (gram per day) pooled over all traps and catches in each year (n = 1,503). Based on the final model, the grey line depicts the fitted mean (+95% posterior credible intervals) taking into account weather, landscape and habitat effects. The black line depicts the mean estimated trend as estimated with our basic model. B Seasonal distribution of insect biomass showing that highest insect biomass catches in mid summer show most severe declines. Color gradient in both panels range from 1989 (blue) to 2016 (orange).” Entomologie heute 31 (2019)
236 ROBERT TRUSCH 2. Ursachen und invasive Art, zu bekämpfen. Der Saat- guthersteller hatte in dem Unglücksjahr bei Seit den frühen 1990er Jahren sind systemi- einigen Chargen die gebeizten Maiskörner sche Insektizide im Einsatz. Sie galten als mit zu wenig Haftmittel versehen. Das Revolution im Pflanzenschutz und waren Saatgut wurde mit pneumatischen Ein- zunächst sogar von Naturschützern begrüßt zelkornsägeräten ausgebracht. Dabei war worden, weil man plötzlich mit sehr viel ge- das Gift verstärkt abgerieben worden und ringeren Dosen das auf der Fläche erreichte, der Abrieb von den Maiskörnern wurde wofür zuvor erheblich größere Substanz- durch die Technik der Aussaat mit der Luft mengen zum Einsatz kamen. Diese damals nach oben gerissen (und nicht wie sonst neuen Insektizide gehören zur Stoffgruppe in den Boden abgeführt). Somit waren die der Neonikotinoide. Es handelt sich bei toxischen Stäube sofort in die Atmosphä- ihnen um Nervengifte. Sie werden deswe- re gelangt. Der Wirkstoff legte sich über gen systemische Insektizide genannt, weil benachbarte Rapsfelder und drang auch in sie bei entsprechender Anwendung bereits die weitere angrenzende Landschaft vor. beim Keimen in die Pflanze eindringen und Insbesondere der Raps stand in diesem Jahr sich mit dem Saftstrom in allen Systemen aufgrund des Witterungsverlaufs gerade in der Pflanzen einer behandelten Fläche, also Blüte und wurde u.a. von Honigbienen be- auch in den Nicht-Zielpflanzen einschließ- flogen. – Und nur Honigbienen haben eine lich deren Pollen und Samen, verteilen und Lobby! Der Schaden wurde bei den Imkern somit allgegenwärtig sind. offiziell registriert und somit bekannt. Im Neonikotinoide wurden und werden (unter Gegensatz zu den Schäden in der Natur bei anderem) als Saatgutbeize ausgebracht. So den anderen Insekten, für die sich kaum werden beispielsweise als Saatgut dienende jemand interessierte. Ich persönlich erinne- Maiskörner mit dieser so genannten „Beize“ re mich noch sehr gut, dass ich in diesem umhüllt. Bei einer solchen Vorgehensweise Frühjahr 2008 kaum Schmetterlinge am vergiftet man folglich, obwohl auf den Westhang des Schwarzwaldes in der Ortenau Nutzpflanzen (noch) gar keine Schädlinge fand, die sich in direkter Nachbarschaft zur vorhanden sind, sozusagen vorauseilend, die Rheinebene befindet. Nahrungspflanzen vieler unschädlicher In- Neonikotinoide sind Nervengifte, die in sekten auf der Fläche gleich mit. Alle Pflan- den Synapsen der Nervenbahnen an den zen werden gewissermaßen zum Insektizid. Acetylcholin-Rezeptoren andocken, so Ein prominenter Unfall mit solchem Saatgut wie auch das Nikotin dort bindet. Raucher geschah im Frühjahr 2008. In der Ober- kennen das Phänomen der Abhängigkeit zu rheinebene waren rund 12.000 Bienenvölker dieser Stoffgruppe, und auch bei Insekten zugrunde gegangen, nachdem sie in Kon- wurde eine Bevorzugung von mit Neo- takt mit dem Neonikotinoid Clothianidin nikotinoiden vergifteten Blüten festgestellt gekommen waren. Das Jahr 2008 ging (KESSLER et al. 2015). Im Gegensatz zum dadurch als jenes mit dem großen (Honig-) Nikotin, welches nur vorübergehend bindet Bienensterben in der Oberrheinebene in die und dadurch stimulierend wirkt, besetzen Annalen ein (vgl. z.B. Spiegel vom 8.5. und die Neonikotinoide diese Rezeptoren dauer- 16.5.2008; Die Zeit vom 21.5.2008). Das haft, woraus eine fortlaufende Stimulierung Pestizid war, wie oben beschrieben, auf das resultiert. Sie führt zum Zusammenbruch Saatgut aufgebracht worden, um den Mais- der Nervenfunktion. Eine solche Dauer- wurzelbohrer Diabrotica virgifera (LeConte, stimulation ist z.B. erkennbar, wenn akut 1858) (Coleoptera, Chrysomelidae), eine vergiftete Bienen zitternd von den Blüten seit Beginn der 1990er Jahre eingeschleppte fallen (WENZEL 2015).
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge 237 Die Verwendung der Neonikotinoide als licher Nutzung die Insekten aussterben lässt. Insektizide begann in den frühen 1990er Jah- Bedauerlich ist nur, dass man eine solche ren mit ihrer Entwicklung und Etablierung Zeitreihenanalyse wie die von HABEL et al. als „Pflanzenschutzmittel“ am Markt. Das (2016a), in deren Ergebnis das Ansteigen Vereinigte Königreich ist einer der wenigen der Auslöschung von Arten nachgewiesen EU-Staaten, aus dem detaillierte Verbrauchs- wurde, erst nach Jahrzehnten und immer erst statistiken von Neonikotinoiden vorliegen, im Nachhinein machen kann – dann, wenn die von SIMON-DELSO et al. (2015) in einer es längst zu spät ist! Das Zusammenfallen instruktiven Grafik zusammengefasst wur- der beiden Phänomene „Einführung der den (Abb. 3). Neonikotinoide in die Landnutzung“ und Zu Beginn war mit der Studie von HABEL „exponentiell ansteigender Rückgang der et al. (2016a) anhand tagaktiver Schmetter- Tagfalterarten“ ist jedoch so auffällig, dass linge gezeigt worden, dass die Extinktion ein Zusammenhang naheliegend ist. dieser Arten in den letzten Jahrzehnten Die Substanz Imidacloprid wurde als ers- immer stärker angestiegen ist. Genau seit tes photochemisch stabiles Neonikotinoid jener Zeit, von der an die Neonikotinoide im Jahr 1991 von der Bayer AG gegen in die Landschaft gelangten, verschwanden „schluckende und saugende Insekten“ auf besonders viele Tagfalterarten. Offenbar hat den Markt gebracht. In der Folge wurden sich seit damals etwas in unserer Umwelt die Neonikotinoide am Markt zu der vom verändert, dass auch fernab landwirtschaft- Umsatz her am schnellsten wachsenden Abb. 3: Reproduktion der Abbildung 4 aus SIMON-DELSO et al. (2015: 12): „Entwicklung der landwirt- schaftlichen Verwendung von Neonikotinoid-Insektiziden als Saatgutbehandlung in Großbritannien ab 1990, gemessen in Tonnen Wirkstoff pro Jahr (Säulen). Der Gesamtverbrauch aller insektiziden Saatgutbehandlungen (durchgezogene Linie) ist ebenfalls gezeigt.“ Fig. 3: Copy of figure 4 from SIMON-DELSO et al. (2015: 12): “Trend in the agricultural use of ne- onicotinoid insecticides as seed treatments in Great Britain from 1990, measured in tonnes of active ingredient per year (bars). The total usage of all insecticidal seed treatments (solid line) is also shown.” Entomologie heute 31 (2019)
238 ROBERT TRUSCH Klasse von Insektiziden (Wikipedia-Eintrag lich gelöst, vgl. Amtsblatt der Europäischen zu Neonikotinoiden, siehe Verzeichnis der Union vom 25.5.2013: L139/12-14: „… die Internetquellen). Andere Insektizide wurden Beschränkung betrifft den Einsatz von … durch sie seitdem weitgehend substituiert Neonikotinoiden … zur Saatgutbehandlung, (Abb. 3). Seitdem steigt die Bienensterblich- Bodenanwendung und Blattbehandlung keit exponentiell an (WENZEL 2015) und mit bei Pflanzen und Getreide (ausgenommen ihr das Verschwinden vieler anderer Insekten. Wintergetreide), die Bienen anziehen. … 2012 wurden im Vereinigten Königreich Ausnahmen beschränken sich auf die Mög- (UK) 82 t Neonikotinoide auf 1,3 Mio. ha lichkeit, Pflanzen, die Bienen anziehen, in Fläche verbraucht, 71 % davon Clothianidin Gewächshäusern zu behandeln, und im und 16 % Thiamethoxam. Imidacloprid, das Freien nach der Blüte.“ Denn auch nach zuvor dominant war, verlor seit 2005 massiv dem Teilverbot ist die genutzte Menge nicht an Bedeutung, während Clothianidin und wesentlich unter 200 t/Jahr gefallen (Abb. 5). Thiamethoxam stark zulegten. 2012 entfielen Die Abbildung zeigt insbesondere, wie gering 85 % der mit Neonikotinoiden behandelten der Anteil nicht beruflich genutzter Neoniko- Fläche auf Getreide (vor allem Clothianidin) tinoide ist und entlarvt den Ruf nach einem und Ölsaaten (vor allem Thiamethoxam). Verbot zunächst der privaten Nutzung. Ein 19 % der Getreidefläche und 68 % der Öl- solches würde keinesfalls signifikant zu einer saatenfläche wurden mit Neonikotinoiden Verringerung dieser Stoffklasse in unserer behandelt (Wikipedia l.c.). Umwelt beitragen. Betrachtet man die Flächennutzung in 200 Tonnen Verbrauch von Neonikotinoi- Deutschland, so zeigt sich, dass 51 % der den pro Jahr gehen aus Abb. 5 hervor. Vor Gesamtfläche von der Landwirtschaft be- dem Hintergrund ihrer extrem starken Gif- ansprucht werden, 30 % sind Waldfläche tigkeit für Insekten erscheint diese Menge (Abb. 4; Quelle: Statistisches Bundesamt ziemlich groß. Ältere erinnern sich wohl 2018). Die anderen Flächennutzungen noch an DDT. Dichlordiphenyltrichlorethan können für die hier betrachtete Problematik (abgekürzt DDT) ist ein Insektizid, das seit vernachlässigt werden. Ein Teilverbot einiger Anfang der 1940er-Jahre als Kontakt- und Neonikotinoide hat das Problem nicht wirk- Fraßgift eingesetzt wurde. In Deutschland Abb. 4: Flächennutzung in Deutschland. Die Landwirtschaft macht über 50 % der Fläche aus. Nach STEIDLE (in litt.) auf der Basis von Daten des Statistischen Bundesamtes 2018. Fig. 4: Land use in Germany. Agriculture accounts for over 50% of the area. After STEIDLE (in litt.), data from the Federal Statistical Office 2018. (Landwirtschaft = agriculture; Wald = forest; Wasser = water; Siedlung = settelement; Verkehr = traffic [road network]; Rest = rest)
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge 239 Abb. 5: Verbrauch von Insektiziden und Neonikotionoiden in Deutschland. Auch nach dem Teil- verbot von 2013 ist die genutzte Menge nicht wesentlich unter 200t/Jahr gefallen. Nach STEIDLE (in litt.) auf Basis von Daten des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, Absatz an Pflanzenschutzmitteln in der Bundesrepublik Deutschland, Meldungen gemäß § 19 Pflanzenschutzgesetz für die Jahre 1995-2018. Fig. 5: Insecticide and neonicotionoid consumption in Germany. Even after the partial ban in 2013, the amount used did not drop significantly below 200t/year. After STEIDLE (in litt.), data from the Federal Office for Consumer Protection and Food Safety. Sales of plant protection products in the Federal Republic of Germany, notifications pursuant to article 19 of the Plant Protection Act for the years 1995-2018. (“Verbrauchte Menge” = amount used, “sonstige Insektizide” = other insecticides, “nicht beruflich” = non-professional) wurde es vor dem Hintergrund seiner toxi- re Zehnerpotenzen höhere Giftigkeit besit- schen Wirkungen in der Umwelt 1972 vom zen (Abb. 7). Somit werden, um ein einzelnes Markt genommen. Bekannt ist die Anrei- Individuum z.B. einer Honigbiene zu töten, cherung seiner Abbauprodukte in der Nah- nur noch extrem geringe Mengen benötigt rungskette oder die durch DDT-Metaboliten (wenige Nanogramm), die analytisch kaum verursachten dünnen Eischalen bei Greifvö- noch nachgewiesen werden können. geln wie Wanderfalke oder Fischadler, die Neonikotinoide sind für (Honig-)Bienen zu katastrophalen Bestandseinbrüchen bei und damit wohl für die meisten Insekten bis diesen Arten führten. Auch kam es zu Re- zu 10.000-fach toxischer als DDT (Abb. 6). sistenzen bei den Zielorganismen, was dem Wenn wir nun in der Vergangenheit diese massiven Einsatz in der Landwirtschaft zu- Substanzen in der Natur ausgebracht haben geschrieben wurde. Deswegen war es nicht und noch immer ausbringen, dann waren mehr sinnvoll, dieses Gift einzusetzen (vgl. sie ja nicht weg, nachdem das Ziel ihrer Wikipedia-Eintrag zu DDT im Verzeichnis Applikation erreicht wurde, sondern sie der Internetquellen). persistieren für eine bestimmte Zeit in der DDT wirkt hauptsächlich auf das zentrale Natur weiter. Imidacloprid (Markenname Nervensystem bei Insekten und führt zu „Gaucho“ von Bayer), ein häufig ange- einer Lähmung und schließlich zum Tod wendetes Neonikotinoid, kann mit einer des Insekts. Damit ist es ebenfalls ein Ner- Halbwertszeit von fast 1.000 Tagen rund vengift, so wie die Neonikotinoide. Setzt fünf Jahre im Boden vorhanden bleiben. man die Giftigkeit (letale Dosis im Sinne der Das angeblich für Bienen so ungefährliche LD50) von DDT mit „1“ an und vergleicht Thiamethoxam („Cruiser“, Syngenta) hat sie mit der Giftigkeit der Neonikotinoide, zwar nur eine Halbwertszeit von 25-100 dann sieht man, dass letztere eine um mehre- Tagen und damit eine Höchstverweildauer Entomologie heute 31 (2019)
240 ROBERT TRUSCH Abb. 6: Übersicht über einige häufig verwendete Pestizide und ein Vergleich ihrer Giftwirkung (LD50) mit DDT, das 1972 in Deutschland und den USA verboten wurde. Rot unterlegte Zeilen bezeichnen die Neonikotinoide. – Quelle: Umgezeichnet nach BONMATIN, J.-M., Neonicotinoid Pesticides and Honeybees, siehe Verzeichnis der Internetquellen. Fig. 6: Toxicity (LD50) of some commonly used pesticides compared with that of DDT which was banned in Germany and the USA in 1972. Neonicotinoids are highlighted in red. – Source: Redrawn after BONMATIN, J.-M., Neonicotinoid Pesticides and Honeybees, see list of internet sources. im Boden von ca. einem halben Jahr, sein nen wurde bei den hier angegebenen Ap- primäres Abbauprodukt ist jedoch Clothia- plikationsmengen festgestellt: Rüssel-Reflex nidin. Und Clothianidin, auch als Insektizid (Einrollen): 0,1-0,4 ng/Biene, Aufsuchen „Poncho“ direkt von Bayer vertrieben, be- von Futterquellen: 0,075-0,21 ng/Biene, sitzt eine Halbwertszeit von 148 bis 1.155 Erkennen verwandter Bienen: 0,25-0,7 Tagen; REXRODE et al. (2003) geben sogar bis ng/Biene, Scheintod (bis zu Stunden) und zu 6.900 Tage an. Das wären dann fast 19 Bewegungskoordination: 0,0022 ng/Biene, Jahre Halbwertszeit, was zu einer maximalen Präzision der Angabe des Winkels beim Verweildauer im Boden von über 30 Jahren Bienentanz: 0,5-1,4 ng/Biene, Präzision der und mutmaßlich ubiquitärer Verbreitung in Angabe der Entfernung beim Bienentanz: der Natur durch Verdriften führen kann. 2,5-7,0 ng/Biene (DOUCET-PERSONENI et al. Deswegen ist selbst nach einem Totalver- 2003, s. Verzeichnis der Internetquellen). bot der Neonikotinoide davon auszugehen, HENRY et al. (2012) wiesen mittels Radio- dass ein positiver Effekt für die Insekten frequenz-Identifikation nach, dass nach in der Feldflur lange Zeit auf sich warten Gabe von 1,34 ng Thiamethoxam in 20 μl lassen wird. Zuckerlösung (Saccharose) bis zu 43,2 % der Leider beeinträchtigen selbst kleinste, sub- Sammelbienen nicht mehr zu ihrem Stock letale Dosen von z.B. Imidacloprid wichtige zurückfanden. WENZEL (2015: 68) führt dazu lebensnotwendige Fähigkeiten bei Honigbie- aus: „Das Tückische an diesen Substanzen nen. Das Nutztier muss hier als „Modell- ist …, dass die Bienen in der Regel nicht Organismus“ für Insekten dienen, da die akut vergiftet … von den Blüten fallen, Wirkungen von Neonikotinoiden bisher sondern dass … eine verdeckte subletale hautsächlich an ihm (sowie an Hummeln) Vergiftung verursacht wird. Diese chroni- untersucht wurden. Eine Störung folgender, sche Vergiftung bewirkt dann allmähliche für die Organismen wichtiger Vitalfunktio- Schädigungen des gesamten Nervensystems
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge 241 einschließlich des Gehirns. Darauf beruht dosisabhängig zum Tod der Bienen führte. der gravierende Effekt der Desorientierung, DI PRISCO et al. (2013) weisen darauf hin, weshalb ein Großteil der Bienen nicht mehr dass dieser verheerende Mechanismus der zum Stock nach Hause findet (HENRY et al. Immununterdrückung durch Neonikotino- 2012; FISCHER et al. 2014). In diesem Zu- ide auch bei anderen Infektionen, insbeson- sammenhang ist das besonders in den USA dere bei Darm-Bakterien und Mykosen (z.B. gefürchtete CCD (Colony Collapse Disor- Nosema), zum Tragen kommt.“ (Ende Zitat der) zu sehen, wo bei vorhandener Königin, WENZEL l.c.) Es ist zu befürchten, dass diese vollen Waben und gesund erscheinenden krankmachende Wirkung der Neonikotino- Jungbienen plötzlich sämtliche Flugbienen ide nicht nur die Honigbienen trifft. fehlen, ohne dass im Stock oder außerhalb tote Bienen zu finden sind. An der Harvard- 3. Wo unser Wissen herkommt, warum Universität haben Semi-Feldversuche mit Insektensammlungen Primärdaten- subletalen Dosen von Imidacloprid … erge- banken der Biodiversität sind und ben, dass Bienenvölker nach zwölf Wochen warum es gilt, sie zu fördern noch lebten, dass aber nach 23 Wochen 96 % [der Völker] zugrunde gegangen waren (LU Zuweilen begegnet man der Schutzbehaup- et al. 2012).“ (Ende Zitat WENZEL l.c.) tung, insbesondere von Seiten der industri- Auch muss erwähnt werden, dass Neoniko- ellen Agrarlobby, man wisse zu wenig, um tinoide die Immunantwort bei Honigbienen in der Fläche zum Zustand der Insekten unterdrücken und bereits die geringe Menge gültige Aussagen treffen zu können. Dies von 21 ng/Biene ein Steuerungsprotein wird im Folgenden an Hand der Entwick- der Immunantwort beeinflusst, was zur lung der Schmetterlingsfaunistik in Baden- Immunsuppression führt (DI PRISCO et al. Württemberg widerlegt (vgl. auch TRUSCH 2013). WENZEL (2015: 68:) führt dazu aus: 2009). In diesem Flächenland sind Aussagen „Biologische Prozesse gelten als bewiesen, zur dieser Insektengruppe aufgrund von wenn sie auf molekular-biologischer (gene- Daten, die über 200 Jahre in die Vergan- tischer) Ebene verifiziert werden können. genheit reichen, sehr gut möglich (Daten Eben das wurde … durch Entomologen von zuletzt analysiert von HABEL et al. 2019). drei italienischen Universitäten erreicht. Sie Und dies dürfte auch für andere Bundes- fanden, dass ein sogenanntes LRR-Protein, länder zutreffen, wenn man die historischen welches negativ mit der Bildung des Tran- Datenquellen erschließt und auswertet. skriptionsfaktors für die Produktion von Auch wenn etliche sehr frühe Angaben im Immunproteinen gekoppelt ist, durch Neo- Grundlagenwerk (GLW) „Die Schmetter- nikotinoide direkt in der Expression erhöht linge Baden-Württembergs“ (EBERT 1991- wird, d.h., dass Neonikotinoide direkt ein 2005) und damit in der Landesdatenbank LRR-Protein vermehren, welches zur Un- „Schmetterlinge Baden-Württembergs“ terdrückung der Immunantwort führt. Die (LDS-BW) vorliegen, z.B. durch JOHANN biologische Bedeutung dieser unterdrückten BAUHIN (1541-1613), vgl. dazu STEINER & Immunantwort zeigten die Autoren auf, EBERT (2005), die früheste Übersicht über indem sie bei frisch geschlüpften Bienen einen größeren Teil Baden-Württembergs (aus Varroa-freien Stöcken der Universität erschien zu Beginn des 19. Jahrhunderts Neapel) nachgewiesen haben, dass die (ROTH VON SCHRECKENSTEIN 1800). Solche Replikation des Genoms des DWV-Virus Lokalfaunen, die in den folgenden zweihun- dosisabhängig bis zum mehreren 1.000-fa- dert Jahren immer größere Gebiete bis hin chen durch subletale, feld-realistische Dosen zu Landesfaunen für Württemberg (SEYFFER von Neonikotinoiden vermehrt wurde, und 1850; KELLER & HOFMANN 1861; SCHNEIDER Entomologie heute 31 (2019)
242 ROBERT TRUSCH 1937-1940; WÖRZ 1949-1956, 1958) und Allgemeinheit zugänglich gemacht wurde. Baden (REUTTI 1853; REUTTI et al. 1898) Die LDS-BW ist die Arbeitsdatenbank zur umfassten, wurden schließlich mit dem Schmetterlingsfauna des südwestdeutschen zehnbändigen GLW für den Artenschutz Bundeslandes und wird vom Staatlichen Mu- (EBERT 1991-2005) vorläufig gekrönt. seum für Naturkunde Karlsruhe (SMNK) Heute zeigt uns ein Blick in das GLW, ob betreut. Mit ihr stehen interaktive, aktua- und wo eine Schmetterlingsart in Baden- lisierte Beobachtungskarten aller ca. 1.170 Württemberg vorkam (Ausnahme: Neufun- in Baden-Württemberg heimischen Groß- de nach dem Erscheinen des letzten Bandes schmetterlingsarten zur Verfügung, darüber 2005), informiert über ihre Biologie und hinaus auch immer mehr Meldungen zu zeigt nötigenfalls Möglichkeiten für ihre den ca. 1.680 im Südwesten vorkommen- Erhaltung auf. Der aktuellste Zeithorizont den Kleinschmetterlingsarten (s. dazu auch der Verbreitungskarten der einzelnen Arten TRUSCH 2009). Die Nutzung des Internets liegt in den Büchern allerdings im Jahr 1970. für die Faunistik kann man durchaus als Aussagen zur gegenwärtigen Bestandssitua- „Faunistik 2.0“ bezeichnen, denn die Er- tion wurden damit zunehmend schwieriger, forschung des Bezugsraumes wurde in den denn das Werk verliert mit fortschreitender vergangenen zehn Jahren, seit denen das Zeit an Aktualität. Diesem langsamen Ver- Portal den Faunisten zur Verfügung steht, alten der Verbreitungskarten des GLW wird deutlich beschleunigt. So lagen im Jahr 2008 entgegengewirkt, indem die LDS-BW mit nur von 40 topografischen Kartenblättern der so genannten Webapplikation „InsectIS- (TK25, 1:25.000, ca. 12 x 12 km) Nachweise Online“ in Form von regelmäßig aktualisier- von mehr als 600 Schmetterlingsarten vor. ten Beobachtungskarten seit Juli 2008 der Die zugehörige Menge der Datensätze Abb. 7: Auch geschützte Insektenarten sind Bestandteile der natürlichen Nahrungspyramide. Ein Pirol verfüttert einen Kleinen Schillerfalter Apatura ilia an seine Jungen. Foto: KARL VERLOHNER. Fig. 7: Protected insect species are part of the natural food pyramid too. An oriole feeds a specimen of the lesser purple emperor Apatura ilia to its offspring. Photo: KARL VERLOHNER.
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge 243 betrug rund 600.000. Sie waren in fast vier die ganze Misere erst verursacht hat, wird Jahrzehnten seit den späten 1960er Jahren sogar explizit von diesen Gesetzen ausge- durch die Arbeitsgruppe um GÜNTER EBERT nommen! Um das schizophrene Handeln des am SMNK zusammengetragen worden. Staates in Bezug auf den Schutz von Insekten Bereits mit diesem Durchforschungsgrad auf den Punkt zu bringen, haben SEGERER & war es möglich, das GLW in vorbildlicher ROSENKRANZ (2018) das Instrument der ABC- Qualität zu erarbeiten. Mit dem Bearbei- Analyse bemüht, einer in der Wirtschaft übli- tungsstand von 2018 ist diese Artenzahl chen Methode zur Entscheidungshilfe mittels bereits auf 118 Kartenblättern überschritten Einteilung in die Klassen A (sehr wichtig), B worden und die Menge der Beobachtungen (wichtig) und C (am wenigsten wichtig). Sie ist (= Datensätze) hat sich innerhalb des letzten ein Instrument zum Erkennen von Schwer- Jahrzehnts auf 1,4 Mio. erhöht (TRUSCH et punkten; ein solches Verfahren ist ferner für al. 2020). außenstehende (politische) Entscheider über- Schmetterlinge haben viele Feinde. Entomo- sichtlich und klar nachvollziehbar. Stellen Sie logen und Schmetterlingssammler, also jene sich dazu einen Betrieb vor, der in die roten Menschen, die heutzutage als die fast letzten Zahlen rutscht. Konsequenterweise wird die Insektenkundigen zu bezeichnen sind, gehö- Unternehmensleitung Ursachenforschung ren freilich nicht dazu. Auch Vögel verfüt- betreiben und die erkannten Faktoren nach tern seltene und geschützte Arten wie z.B. Wichtigkeitsklassen einteilen und gewichten den Kleinen Schillerfalter Apatura ilia (Abb. (Tab. 1, linke Seite). Auf der Basis dieser 7), der nach der „Verordnung zum Schutz Erkenntnisse gibt es nur eine vernünftige wild lebender Tier- und Pflanzenarten (Bun- Lösung zur Rettung unseres hypothetischen desartenschutzverordnung, BArtSchV) als Betriebes: nämlich die wesentlichen Ursachen „besonders geschützte Art“ gilt. Und eine unter A und vielleicht noch B anzugehen. Der einzige Fledermaus frisst 1,8-3,6 kg Insekten Rest (C) ist weder notwendig noch würde er im Jahr (SCOBLE 1995), worin beispielsweise sich rechnen. mehr als 10.000 Schmetterlinge enthalten Der Staat macht beim Insektensterben sind (HAUSMANN 2001). genau das Gegenteil. Obwohl die Haupt- Obwohl also durch Fledermäuse oder Vögel ursachen (A; siehe Tabelle 1, rechte Seite) erheblich größere Insektenmassen der Natur längst so klar sind, dass er als Gesetzgeber entnommen werden, als dies naturwissen- entsprechend handeln könnte, tut er so schaftlich sammelnde Entomologen je tun gut wie nichts, um z.B. die Agrarindustrie könnten, benötigen letztere eine Ausnahme- in der Verwendung von Ackergiften ein- genehmigung von einer Naturschutzbehörde. zuschränken oder den Flächenfraß, der Die Tätigkeiten der Entomologen haben auch durch zukünftige Baugebiete weiter jedoch einen vernachlässigbaren Einfluss die Habitatverinselung verschärft, endlich auf die Insektenpopulationen, die als Teil zu stoppen. Noch immer haben wir keine der natürlichen Nahrungspyramide zum „Netto-Null“ beim Flächenverbrauch! Selbst überwiegenden Teil Beute von Prädatoren im aktuellen, gerade z.B. für Karlsruhe und Parasitoiden werden. Hier zeigt sich erarbeiteten Flächennutzungsplan (FNP), einmal mehr die Absurdität solcher Verord- der ja bis in die Mitte unseres Jahrhunderts nungen (BArtSchV) und Naturschutzgesetze (2050) reichen soll, ist das so. Vermutlich (BNatSchG und die entsprechenden Lan- sieht auch andernorts fast jeder gültige FNP desversionen), welche sich nicht gegen die so aus. Dagegen erschwert der Staat kraft wirklichen Verursacher des Insektensterbens Gesetz massiv das wissenschaftliche Insek- richten. Denn die sogenannte „gute fachliche tensammeln (Kategorie C in Tab. 2). Damit Praxis“ der Land- und Forstwirtschaft, welche tut er nicht nur nichts Effektives gegen das Entomologie heute 31 (2019)
244 ROBERT TRUSCH Insektensterben, er bewirkt gleichzeitig, dass dann gehen solche Begabungen Einzelner für es zukünftig immer weniger Menschen gibt, die Gesellschaft verloren. Dies ist fatal, wie die das Insektensterben wissenschaftlich uns der eklatante Mangel an Artenkennern dokumentieren können. zeigt. Schon heute können beispielsweise Bedingt dadurch, dass Kinder und Jugendli- Behörden kaum noch Spezialisten finden, die che sich heute nicht mehr unbeschwert mit in der Lage sind, artenreiche Tiergruppen z.B. freilebenden Tieren befassen und diese nach für ein Insekten-Monitoring zu bearbeiten, Hause mitnehmen dürfen, und auch, weil die sofern es sich nicht um „Modellgruppen“ wie früher hierzu motivierenden Biologielehrer Tagfalter oder Heuschrecken handelt. den dafür verantwortlichen Natur- und Dabei ist das Anlegen von Insektensamm- Artenschutzgesetzen unterliegen und oft lungen unbedingt erforderlich, um z.B. die Mühen von Ausnahmegenehmigungen die Determinationssicherheit und die und nachfolgender Berichtspflicht scheuen, spätere Überprüfbarkeit der Bestimmung haben wir seit Jahrzehnten kaum noch Nach- faunistischer Datensätze zu gewährleisten. wuchs an Artenkennern, insbesondere bei Die Anzahl der Falter, die z.B. in Europa Entomologen. Bei letzteren ist das Anlegen innerhalb einer Minute im Straßenverkehr einer Sammlung aber Grundvoraussetzung getötet werden, übersteigt die Zahl der für spätere Artenkenntnis und dient u.a. der von allen europäischen Sammlern in einem Nachprüfbarkeit der Determination, aber Jahrhundert gesammelten Exemplare um auch der wiederholten Anschauung von ein Vielfaches (HAUSMANN 2001). Auch immer wieder demselben Individuum, was lockt private und industrielle Beleuchtung für das Erlernen von Arten in der Jugend Nachtfalter und andere Insekten an, tötet eine große Rolle spielt. Die Veranlagung zum sie oder verhindert ihre Vermehrung. So Artenspezialisten ist, ähnlich wie eine musi- vernichtet z.B. die intensive Beleuchtung an sche Begabung, jedoch nur bei sehr wenigen monumentalen Denkmälern in Süditalien Kindern und Jugendlichen angelegt. Wird über fünf Millionen Großschmetterlinge im eine solche Begabung von der Gesellschaft Jahr (HAUSMANN 2001). Und bei Fahrzeug- nicht „abgeholt“ (d.h. durch sie unterstützt verkehr oder Beleuchtung handelt es sich und nicht von ihr verboten), ist ein „Begrei- noch nicht einmal um die Hauptursachen fen“ im doppelten Wortsinn nicht möglich, des Insektensterbens. Tab. 1: Aus der Betriebswirtschaft entlehnte „ABC-Analyse“ mit der Einteilung und Gewichtung der Ursachen nach Klassen: A (sehr wichtig), B (wichtig) und C (am wenigsten wichtig) zur Ermittlung der Hauptgründe für die finanzielle Schieflage eines Betriebes, der in die roten Zahlen geraten ist (linke Seite), und analoge Anwendung der ABC-Analyse zur Darstellung der Hauptursachen beim Insektensterben (rechte Seite) (nach SEGERER & ROSENKRANZ 2018: 125). Tab. 1: “ABC analysis” borrowed from business management with the classification and weighting of the causes according to classes: A (very important), B (important) and C (least important) to determine the main reasons for the financial imbalance of a company that got into the red (left), and analogous use of the “ABC analysis” to show the main causes in the decline in insect populations (right) (after SEGERER & ROSENKRANZ 2018: 125).
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge 245 Wissenschaftliches Sammeln dient dem „Primärdatenbanken“ der Biodiversität, die Naturschutz! Denn ohne die umfangreichen idealerweise zu gegebener Zeit in einem Sammlungen, die in der Vergangenheit Naturkundemuseum deponiert und dort angelegt wurden, wüssten wir heute nicht, dauerhaft erhalten werden (wozu wissen- wo bestimmte Arten einst vorkamen. In- schaftliches und technisches Personal nötig sek tensammlungen sind heute die mit ist, das sich die Gesellschaft ebenfalls leisten Abstand wichtigste Informationsquelle für muss). Ort und Datum sowie der Sammler den Artenschutz. Beim wissenschaftlichen sind unverrückbare Informationen. Aber Sammeln geht es nicht darum, von einer bereits die Determination ist eine erste Art möglichst viele makellose Exemplare wissenschaftliche Hypothese, die am Objekt zu besitzen, sondern die jeweilige Art in im Licht neuer Erkenntnisse gegebenenfalls der Fläche zu dokumentieren, d.h. von immer wieder erneut getestet werden muss. möglichst vielen Stellen und aus verschie- Ohne das Wissen der Sammler, die in der denen Zeiten Belegexemplare aufzube- Regel auch die faunistischen Experten für wahren und datentechnisch zu erschließen. die von ihnen gesammelten Gruppen sind, Eine Sammlung von Tieren kann nur sehr hätten wir im Übrigen auch keine Roten eingeschränkt durch die Fotografie ersetzt Listen, eines der Hauptinstrumente des werden, denn neue Erkenntnisse in der Naturschutzes. Denn nur diese Sammler Forschung erfordern immer wieder eine liefern (zumeist ehrenamtlich) die für die Überprüfung am Objekt, z.B. um eine Erstellung der Roten Listen notwendigen veraltete Bestimmung zu korrigieren oder Daten über das Auftreten der Arten in Zeit neue Untersuchungsmethoden (z.B. DNA- und Raum sowie auch zu ihrer Biologie, aus Sequenzierung, Analyse von Inhaltsstoffen, denen dann die darüber hinausgehenden morphologische Untersuchungen etc.) an Aussagen zu den lang- und kurzfristigen den genadelten und bezettelten Objekten Bestandstrends abgeleitet werden können. anzuwenden. Sammlungen sind damit die Die Rote Liste ist gleichzeitig Aussage zur Tab. 2: Gefährdungssituation der Schmetterlinge Deutschlands nach den aktuellen Roten Listen der Artengruppen Tagfalter (REINHARDT & BOLZ 2011), Spinnerartige (RENNWALD et al. 2011), Eulenfalter (WACHLIN & BOLZ 2011) und Spanner (TRUSCH et al. 2011). Tab. 2: Threat situation of Lepidoptera in Germany according to the current red lists of spe- cies groups of butterflies (“Tagfalter”, REINHARDT & BOLZ 2011), bombycoids (“Spinnerartige”, RENNWALD et al. 2011), noctuoids (“Eulenfalter”, WACHLIN & BOLZ 2011) and geometroid moths (“Spanner”, TRUSCH et al. 2011). 0: extinct or missing, 1: critically endangered, 2: endangered, 3: vulnerable, G: endangerment of unknown extent. Entomologie heute 31 (2019)
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