Insektenschwund - Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge* - Naturkundemuseum Karlsruhe

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Insektenschwund - Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge* - Naturkundemuseum Karlsruhe
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge                                          229

Entomologie heute 31 (2019): 229-256

                      Insektenschwund
     – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge*
               Insect Decline – Background, Observation, Correlations

                                          ROBERT TRUSCH

Zusammenfassung: Das Phänomen des Insektensterbens war von der Faunistik mit der Doku-
mentation des Verschwindens von Arten aus der Fläche bereits vor Jahrzehnten festgestellt worden.
Seine Wahrnehmung in der Bevölkerung findet dagegen erst seit wenigen Jahren statt. Ursache für
das neuartige Interesse am Insektensterben, auch der Medien, seit 2016 ist die so genannte „Krefeld-
Studie“, die sogar ein Fachgespräch im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages auslöste. In
den letzten Jahrzehnten ist der Rückgang von Insekten, wie Untersuchungen an Schmetterlingen
zeigen, exponentiell angestiegen. Es besteht der Verdacht, dass dafür, neben industrieller Agrar-
wirtschaft mit Überdüngung und Habitatverlust, hochtoxische Insektizide aus der Stoffgruppe
der Neonikotinoide maßgeblich verantwortlich sind. Sie werden erst seit Beginn der 1990er Jahre
eingesetzt. Neben ihrer letalen und subletalen Wirkung selbst in extremer Verdünnung (Nanogramm-
Bereich) besitzen sie eine teilweise jahrzehntelange Verweildauer in der Umwelt, so dass sie sich in
der Natur angereichert haben dürften. Außerdem unterdrücken Neonikotinoide die Immunantwort
bei Insekten. Es wird von Seiten der industriellen Agrarlobby abgestritten, dass man in der Fläche
zum Zustand der Insekten gültige Aussagen machen könne. Dies wird exemplarisch an Hand der
Entwicklung der Schmetterlingsfaunistik in Baden-Württemberg widerlegt. Der Vergleich aktueller
Erhebungen mit früheren, zum Teil Jahrhunderte alten Aufzeichnungen lässt erkennen, in welch
kritischem Zustand sich heute die Schmetterlinge befinden. Somit ist ein Beurteilen des heutigen
Zustands möglich. Wir wissen genug, um zu handeln! Um das Insektensterben zu beenden, reichen
all die kleinen Maßnahmen, die im Moment angestoßen werden, leider nicht aus. Denn mit ihnen
ist keine Flächenwirksamkeit gegeben. Gefordert wird eine Agrarwende, die den Insekten wieder
ausreichend Raum in der Flur gibt.

Schlüsselwörter: Insektensterben, Schmetterlinge, Insektizide, Neonikotinoide, Agarwende

Summary: The phenomenon of declining insect populations has been known for decades; ento-
mologists have since documented the local or regional disappearance of many species. The general
public and the media, however, have only taken notice during the last few years. The reason for this
new interest in insect decline since 2016 is the so-called “Krefeld study”, which even triggered an
expert discussion in the environmental committee of the German Bundestag (Federal Parliament). In
the past few decades the decline in insects has even increased exponentially as studies on butterflies
show. It is suspected that, in addition to industrial agriculture with overfertilization and habitat loss,
highly toxic insecticides from the neonicotinoid group are primarily responsible. These have only
been in use since the beginning of the 1990s. In addition to their lethal and sublethal effects even in
extreme dilution (nanogram range) they sometimes remain in the environment for decades, which
means that they are likely to have accumulated in nature. Moreover, neonicotinoids suppress the
immune response in insects. The industrial agricultural lobby denies that valid statements regarding
the area-wide condition of insects can be made. This is refuted using the faunistic dataset on Lepi-
doptera in the federal state of Baden-Württemberg. Some of these records go back for centuries,

*Leicht veränderter Vortrag, gehalten am 31. Westdeutschen Entomologentag im Aquazoo Löbbecke
Museum Düsseldorf am 24. November 2018.

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allowing a comparison with the current situation and the deduction that our butterfly and moth
populations are in a critical state. Society has enough knowledge to act accordingly! Unfortunately,
all the minor measures that are being initiated at the moment are not sufficient to end insect decline,
because they have no large-scale effect. What is required is a major turn in agricultural policy which
gives insects sufficient space in the agriculturally used open landscape again.

Keywords: Insect decline, Lepidoptera, insecticides, neonicotinoids, turn in agricultural policy

1. Einleitung                                       in Naturschutzgebieten; kaum auszudenken,
                                                    wie es in der ungeschützten Feldflur aus-
Früher gab es mehr Schmetterlinge. Diese Aussage    sieht. Vor unseren Augen vollzieht sich eine
haben wir alle schon gehört und so mancher          ökologische Katastrophe!
hat sie auch selbst schon gemacht. Dass es          Was aber sind die Ursachen des Insektenster-
früher einmal wesentlich mehr Insekten (und damit   bens? Klimawandel, Einschleppung fremder
Schmetterlinge, auf die ich hier in erster Linie    Arten, Lebensraumverlust, Ausräumung
eingehen werde) gab, wissen all diejenigen aus      der Landschaft oder Insektizide? Die Liste
eigener Anschauung, die noch aus ihrer              möglicher Ursachen ließe sich weiter fort-
Kindheit echte Heuwiesen und blütenrei-             setzen. Ich möchte mit dieser Arbeit deutlich
che Feldraine kennen. Quantitativ belegen           machen, dass vor allem die Veränderungen
können den Rückgang nur Experten, die               in der Landnutzung, die Intensivierung der
regelmäßig Artkartierungen durchführen              Landwirtschaft und hier insbesondere die
und diese Daten seit vielen Jahrzehnten             Verwendung von Insektiziden hauptverant-
sammeln. Jedoch auch jeder ältere Autofah-          wortlich für das Verschwinden der früheren
rer weiß: Früher war die Windschutzscheibe          Insektenmassen und damit auch für das
im Sommer bei Überlandfahrten schon                 Artensterben sind. Von Umweltverbänden
nach kurzer Zeit voller toter Insekten und          und Aktivisten wird zu Recht ein Verbot von
musste unterwegs gereinigt werden. Heute            Herbiziden wie Glyphosat und Insektiziden
können wir hingegen selbst im Sommer                wie Neonikotinoiden und ihren Nachfolgern
viele hundert Kilometer fahren, ohne die            gefordert. Im Folgenden stelle ich die meines
Frontscheibe putzen zu müssen. Und dies             Erachtens besonders relevanten Hintergrün-
liegt nicht etwa an einem besseren cW-Wert          de und Zusammenhänge dar und gehe dar-
der Fahrzeuge, wie der Blick auf die nach wie       auf ein, warum die Wirkung der modernen
vor senkrecht stehenden Nummernschilder             Insektizide so verheerend ist.
zeigt, die ebenfalls schlagopferfrei sind.
Das Thema Insektenschwund hat inzwi-                2. Das Insektensterben und wie es
schen eine nie dagewesene Resonanz in               bemerkt wurde
der Öffentlichkeit erreicht. Das Sterben der
Insekten schaffte es auf die ersten Seiten der      Neben der Klimakrise, die wir zweifelsohne
großen Zeitungen, als es im Oktober 2017            gerade durchleben, befinden wir uns aktuell
gewissermaßen amtlich wurde. Die Wis-               auch in einer Biodiversitätskrise. Dabei
senschaft hatte bestätigt, dass aktuell 76 %        leben wir absurderweise im „Jahrzehnt der
weniger Biomasse flugfähiger Insekten als           Biodiversität“. Die Vereinten Nationen (UN,
1989 an den Messorten einer hauptsächlich           United Nations) hatten die Jahre 2011 bis
im Nordwesten Deutschlands durchgeführ-             2020 zur „UN-Dekade Biologische Vielfalt“
ten „Insektenzählung“ durch HALLMANN et             erklärt (vgl. die offizielle deutsche Webseite
al. (2017) gefunden wurde. Und die Unter-           zur UN-Dekade Biologische Vielfalt, s.
suchungsgebiete dieser Studie befanden sich         Verzeichnis der Internetquellen). Was aber
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umfasst die „biologische Vielfalt“ bzw. der      überhaupt nicht neu. Als Beispiel sei unter
Begriff „Biodiversität“ überhaupt? Es ist        vielen anderen Beispielen der Zensus der
die Vielfalt der Ökosysteme, z.B. Wälder,        Tagfalter für das Gebiet der Landeshaupt-
Trockenrasen, Moore, Seen usw., die Vielfalt     stadt Düsseldorf herausgegriffen. LENZ &
der Arten, z.B. Eichen, Eichhörnchen, Stein-     SCHULTEN (2005) hatten gezeigt, wie viele
pilze oder Insekten, aber auch die genetische    Tagfalterarten es hier um das Jahr 1900 gab,
Vielfalt innerhalb der Arten, die sogenannte     nämlich mindestens 64, und wie viele noch
infraspezifische Variabilität, welche es jeder   im Jahr 2000 vorhanden waren: nur noch
Spezies ermöglicht, sich beispielsweise an       27. Dies entspricht einem Artenverlust von
verschiedene Klimasituationen anzupassen         58 %. Und das vollständige Verschwinden
und damit, in bestimmten Grenzen, auch           einer Art für ein Gebiet bedeutet ja, dass
auf Veränderungen in ihrer Umwelt zu             man dort kein einziges Individuum mehr
reagieren.                                       von ihr beobachten kann! Dieses Beispiel
Die Wissenschaft, welche die Biodiversität       für eine lokale, massive Artenverarmung im
der Tierarten in Raum und Zeit beschreibt,       20. Jahrhundert hat, wie viele andere (z.B.
ist die Faunistik (in der Botanik ist es die     HEYDEMANN & MEYER 1983 für Laufkäfer
Floristik). Seit langem wird dieses Sam-         auf Äckern), allerdings nur wenig Aufmerk-
meln von Informationen über die in ei-           samkeit erregt.
nem bestimmten Gebiet vorkommenden               Nun ließe sich einwenden, dass mit dem
Organismen so bezeichnet. Faunistik ist          obigen Zensus ja nur ein verhältnismäßig
Biodiversitätsforschung und gleichzeitig das     kleines Gebiet betrachtet wird, nämlich
einzige Teilgebiet der Zoologie, welches die     das Stadtgebiet von Düsseldorf. Allerdings
Artenvielfalt sowie die Häufigkeitsschwan-       ist das Phänomen des Verschwindens von
kungen der Arten, ihr Oszillieren, bis hin       Arten auch großräumig zu beklagen. Als
zu ihrem Verschwinden oder Neuauftreten          prominentes Beispiel soll hier der Eschen-
sowohl in der Fläche als auch im Laufe der       Scheckenfalter oder Maivogel Euphydryas
Zeit dokumentiert. Von der Faunistik wurde       maturna (Linnaeus, 1758) (Lepidoptera,
der Verlust von Arten in der Fläche längst       Nymphalidae) herausgegriffen werden. Er
festgestellt, und zwar seit Jahrzehnten! Man     kam einstmals, außer im Saarland und den
müsste sie deswegen als Zukunftswissen-          Stadtstaaten, im Gebiet aller deutschen
schaft bezeichnen (KLAUSNITZER 2006), hat        Bundesländer vor. Aus den Mittelgebirgen
sie doch als erste jene Probleme, um die es      sind sogar recht viele ehemalige Fundorte
hier geht, erkannt und beschrieben. Leider       bekannt, so dass man teilweise sogar von ei-
erfuhr und erfährt aber die Faunistik bis        ner flächig, wenn auch ziemlich lokal auftre-
heute so gut wie keine öffentliche Anerken-      tenden Art sprechen konnte. In Deutschland
nung oder gar materielle Förderung. Es wäre      waren einmal weit über hundert Rasterfelder
an der Zeit, dies in der Politik und an den      der Topografischen Karte 1:25.000 (TK25,
Hochschulen zu ändern, um in Zukunft für         früher als „Messtischblatt“ bezeichnet) mit
unsere Gesellschaft wieder mehr Menschen         der Art besiedelt (REINHARDT et al. 2020).
zu haben, welche die Arten wirklich kennen       Heute ist ihre Anzahl auf vier bis fünf in
und auch erkennen (determinieren) können.        ganz Deutschland zusammengeschrumpft.
So dringt das Wissen um das Insekten-            Und auch von diesen letzten Vorkommen
sterben erst seit wenigen Jahren in breitere     befinden sich einzelne in bedrohlichem
Schichten der Bevölkerung vor. Der Grund         Zustand. Dies zeigt uns exemplarisch, dass
ist das mediale Interesse, das es ab 2016 ge-    das Verschwinden von Schmetterlingsarten
funden hat. Dabei ist, wie gerade ausgeführt,    aus der Fläche unseres Landes keineswegs
die Erkenntnis, dass Arten verschwinden,         ein lokales Phänomen ist.

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Der subjektive Eindruck, der die geflügelten      genheit so nicht wirkte, insbesondere seit
Worte „früher gab es mehr Schmetterlinge“         den 1990er Jahren. Wie sonst ist zu erklären,
hervorgebracht hat, täuscht also nicht. Eine      dass in dem untersuchten Naturschutzgebiet
Langzeitstudie mit einer ca. 200-jährigen         die Auslöschung der Arten in den letzten
Beobachtungsreihe zeigt sogar, dass dieser        Dezennien so stark angestiegen ist?
Rückgang der Schmetterlinge in den letzten        Aber auch diese Studie hatte die Öffentlich-
Jahrzehnten exponentiell angestiegen ist (HA-     keit nicht wachgerüttelt, obwohl die Autoren
BEL et al. 2016a, b). Die Studie betrachtet die   sogar eine leicht verständliche Zusammen-
Tagfalter und Widderchen (n = 117 Arten)          fassung in einem populärwissenschaftlichen
von drei südexponierten Offenlandflächen          Naturmagazin veröffentlichten (HABEL et al.
an der Donau bei Regensburg (Am Keilstein,        2016b). Das Insektensterben hätte vermut-
Schwabelweiser Hänge und Fellinger Berg),         lich nie eine solche Aufmerksamkeit erlangt,
die seit vielen Jahren unter Naturschutz          hätte nicht der Entomologische Verein
stehen. Von dort liegt durch Schmetterlings-      Krefeld seine Befunde bekannt gemacht.
sammler und Schmetterlingsforscher histo-         Bereits seit den späten 1980er Jahren hatten
rischer Zeiten wie den HERRICH-SCHÄFFERs,         die Entomologen des Vereins die an sich
durch Belege in Museen (wie z.B. in der           sehr einfache Dokumentation der von ihnen
Zoologischen Staatssammlung München,              jeweils mit Malaise-Fallen eingesammelten
ZSM) oder auch durch langjährige, bis in          Insektenbiomassen vorgenommen – ein-
die heutige Zeit reichende Untersuchungen,        fach, indem sie die Abtropfmassen ihrer
zuletzt durchgeführt und in einer Datenbank       Proben wogen und festhielten. Schließlich
zusammengefasst von A. SEGERER, einem             publizierten sie ihre Ergebnisse, anfangs
Mitautor der Studie von HABEL et al. (l.c.),      sogar nur in ihrer eigenen Vereinszeitschrift
eine beeindruckende Datenreihe vor. Dass          (SORG et al. 2013). In dieser Arbeit sind die
über einen so langen Zeitraum nahezu              im Naturschutzgebiet Orbroicher Bruch an
kontinuierliche Daten vorhanden sind, die         jeweils zwei Standorten gefangenen Insekten
darüber hinaus aufgrund ihrer Verfügbarkeit       aus den Jahren 1989 und 2013 hinsichtlich
in einer elektronischen Datenbank (in ZSM)        ihrer Masse miteinander verglichen. Nach
analysiert werden können, ist ein extrem          dem Abtropfen der Fangflüssigkeit betrug
seltener Glücksfall.                              die Masse der 1989 gefangenen Insekten
Von den Ergebnissen dieser Studie (HABEL          am ersten Standort 1.117 g und am zweiten
et al. 2016a) ist insbesondere hervorzu-          1.426 g. Im Jahr 2013 waren es am ersten
heben, dass sich das Verschwinden der             Standort nur noch 257 g und am zweiten
untersuchten Schmetterlingsarten stark            294 g. Dies entspricht einem Rückgang
beschleunigt hat. Während des 19. Jahrhun-        flugaktiver Insekten (nur diese können mit
derts verschwand von ihnen lediglich eine         der Methode erbeutet werden) auf 23 %
einzige Art dauerhaft. Bis zum Ende der           bzw. 20,7 % zwischen den Jahren 1989 und
1970er Jahre waren es bereits zwölf. Dann         2013 (SORG et al. 2013). Es war dies das
machte der Artenrückgang einen Sprung: In         erste Mal, dass für ein konkretes Gebiet im
den sich anschließenden Dekaden erloschen         Vergleich zu vergangenen Zeiten festgestellt
jeweils weitere zehn bis elf Arten. Den trau-     wurde, dass aktuell nur noch rund 20 %
rigen Rekord stellt jedoch unser aktuelles        der Biomasse der betrachteten Insekten
Jahrzehnt mit erschreckenden 26 Arten auf,        vorhanden sind.
die nun nicht mehr gesichtet werden (HABEL        Im Normalfall hätten auch hier nur Fachleu-
et al. 2016a, b). Dies gibt uns einen ersten      te registriert, was in dieser Veröffentlichung
Hinweis darauf, dass sich etwas in unserer        steht. Dabei bleib es diesmal aber nicht. Im
Umwelt eingestellt hat, das in der Vergan-        Nachhinein betrachtet war es eine geniale
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Idee der Krefelder Entomologen, die Ab-         tenfressender Wirbeltiere zur Folge haben.
tropfmassen ihrer mit den Malaise-Fallen        Und dieser Zusammenhang ist beispiels-
erbeuteten Insekten zu wiegen und zu            weise für Vögel bereits gezeigt worden, so
protokollieren, und dies über Jahrzehnte. So    für den Neuntöter (SCHREURS 1964) sowie
hatten die Krefelder als erste wirklich harte   für Feldlerche, Rauchschwalbe, Schafstelze,
Zahlen vorzuweisen, die nachprüfbar bele-       Star, Dorngrasmücke und Misteldrossel
gen, dass und wie dramatisch die Insekten-      (HALLMANN et al. 2014).
Biomasse abgenommen hat. Diese Fakten           Natürlich wurde diese „erste Studie“ der
sowie gute Kontakte zum Bundesumweltmi-         Krefelder (SORG et al. 2013) angezweifelt.
nisterium (BMU) führten schließlich zu ei-      Denn sie war nicht hochrangig publiziert
nem Fachgespräch im Umweltausschuss des         worden und es wurden zudem nur zwei
Deutschen Bundestages am 13. Januar 2016        Jahre (1989 und 2013) betrachtet. Es könnte
(Link zum Nachhören und Nachsehen siehe         mithin reiner Zufall sein, das sich gerade in
Bundestag-Mediathek im Verzeichnis der          diesen beiden Jahren möglicherweise natür-
Internetquellen). In diesem Fachgespräch er-    liche Schwankungen der Insekten-Biomasse
klärten drei von der Regierung ausgewählte      so extrem verhielten. Auch die so genannte
Wissenschaftler und der mit den Krefeldern      „Unstatistik des Monats“, eine vom RWI –
assoziierte Naturschützer JOSEF TUMBRINCK       Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung
(damals NABU Nordrhein-Westfalen, heute         e.V. in Essen vom 31. August 2017 heraus-
BMU) erstmals ausgewählten Abgeordneten         gegebene Pressenmitteilung (vgl. Unstatistik
und Vertretern der Bundesregierung, dass es     2017 im Verzeichnis der Internetquellen),
in unserer Umwelt zu einem dramatischen         kritisierte diese Arbeit. REINHARDT (2018)
Rückgang der Insekten gekommen sei. So          widerlegte diese unberechtigte Kritik und
etwas hatte es zuvor im Deutschen Bundes-       stellte klar, dass es aus momentaner wis-
tag noch nie gegeben!                           senschaftlicher Kenntnis überhaupt keinen
Damit war auch die Aufmerksamkeit der           Grund gibt, an einer 76 %igen Abnahme
„Großen Politik“ hergestellt. Als Ursachen      der Biomasse fliegender Insekten in den
für den dramatischen Rückgang der heimi-        Naturschutzgebieten Nordwestdeutschlands
schen Insekten wurden vor allem der Ver-        zu zweifeln und dass die von der o.g. Statis-
lust der Strukturvielfalt in der Landschaft,    tikergruppe verbreiteten Darstellungen zum
Stickstoffbelastung und der Einfluss von        Insektensterben verzerrt und falsch sind, ja
Pestiziden angegeben. Zudem wurde den           dass deren Aussagen sogar Wissenschafts-
Entscheidungsträgern vermittelt, dass der       betrug entsprächen.
Rückgang der Insekten nicht nur für die         Die Krefelder hatten nicht nur in den beiden
Insekten selbst von Bedeutung sei: Viele        von SORG et al. (2013) publizierten Jahren
Pflanzen (das gilt auch für einen Großteil      Stichproben genommen, sondern 63 Na-
der Kulturpflanzen) sind auf die Bestäu-        turschutzgebiete (zum Teil kontinuierlich)
bung durch Insekten angewiesen. Ohne            seit 1989 beprobt und ihre Untersuchungen
Insektenbestäubung können viele Pflanzen        auch nach 2013 weiter fortgeführt, Letzteres
keine Früchte hervorbringen, unsere Ernäh-      auch als Reaktion auf die Kritik an ihrer
rung ist also ebenfalls in Gefahr. Darüber      Arbeit. Auf die Veröffentlichung dieser um-
hinaus sind Insekten in den Ökosystemen         fassenderen Daten musste die Öffentlichkeit
eine wichtige Nahrungsgrundlage für             allerdings drei Jahre warten. Schließlich
viele weitere Tiere, da sie an der Basis der    erschien die Studie am 18. Oktober 2017
Nahrungspyramide stehen. Ein massiver           (HALLMANN et al. 2017), und diesmal in ei-
Verlust der Insektenbiomasse muss daher         nem international anerkannten Journal mit
zwangsläufig auch einen Rückgang insek-         „Impact-Faktor“.

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Abb. 1: Eine neue Qualität in der öffentlichen Wahrnehmung ist erreicht, wenn es eine Insekten-
studie auf die Titelseiten der großen Zeitungen schafft: „Die Zeit“ Nr. 44 vom 26.10.2017, die in
Anlehnung an den Oscar-prämierten Film von 1991 „Das Schweigen der Lämmer“ Bundeskanzlerin
Angela Merkel mit dem Totenkopfschwärmer (Acherontia atropos) vor dem Mund zeigt.
Fig. 1: A new quality in public perception is reached when an insect study makes it onto the covers
of major newspapers: “Die Zeit” No. 44 of 26.10.2017, which, based on the Oscar award-winning
1991 film “The Silence of the Lambs” shows Chancellor Angela Merkel with a death’s-head hawk-
moth (Acherontia atropos) in front of her mouth.

Diese Veröffentlichung rief ein hinsichtlich      sekten eingesetzt (HALLMANN et al. 2017).
der Insekten nie zuvor dagewesenes Echo           Ziel ihrer jahrelangen Arbeit war es, auf den
in den Medien hervor. Exemplarisch steht          Status und den Trend der jeweils lokalen
hierfür das Titelbild der Wochenzeitung           Fauna flugfähiger Insekten zu schließen.
„Die Zeit“ (Abb. 1), die als deutsches „Leit-     Diese umfassende Analyse ergab einen sai-
medium“ gilt. In ihr war am 26.10.2017 auf        sonalen Rückgang der Insekten-Biomasse
Seite 3 zu lesen: „… seit einer Woche ist es      von durchschnittlich 76 %, im Sommer
gewissermaßen amtlich. Die Wissenschaft           sogar um 82 % (Abb. 2). Damit war der
bestätigt, was alle ahnten: 76 Prozent weni-      Befund der ersten Studie (SORG et al. 2013)
ger Insekten als 1989 leben an den Messor-        bestätigt. Zwar vermied man, in der neuen
ten der Insektenzählung – und die befinden        Publikation eine Antwort auf die Frage nach
sich in Naturschutzgebieten. Kaum auszu-          den Ursachen zu geben; der Hinweis jedoch,
denken, wie es in den geschundenen Teilen         dass dieser massive Verlust an Insekten kas-
Deutschlands aussieht. … Vor aller Augen          kadierende Effekte auf die Nahrungsnetze
vollzieht sich hierzulande eine ökologische       haben wird und die Ökosystemdienstleis-
Katastrophe.“                                     tungen insgesamt gefährdet seien, alarmierte
27 Jahre lang hatten die Krefelder von            die Öffentlichkeit. Schließlich wurde damit
1989 bis 2016 in 63 Naturschutzgebieten           die Abhängigkeit unserer Nahrungsmittel-
Deutschlands standardisiert Malaise-Fallen        produktion von den Insekten einmal mehr
zur Messung der Biomasse fliegender In-           angesprochen.
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Abb. 2: Umgezeichnete Kopie der Abbildung 2 aus HALLMANN et al. (2017) zur Veränderung der
Insektenbiomasse in der Zeit und über den Jahresgang, Es handelt sich um eine logarithmische Skala
auf der y-Achse (Ordinate)! HALLMANN et al. (2017: 11): „A Als Kastengrafik ist die Verteilung der
Insektenbiomasse (Gramm pro Tag) dargestellt, die in jedem Jahr über alle Fallen und Fänge gesam-
melt wurde (n = 1.503). Basierend auf dem endgültigen Modell der Studie zeigt die graue Linie den
angepassten Mittelwert (+ 95 % nachträgliche Glaubwürdigkeitsintervalle) unter Berücksichtigung
von Wetter-, Landschafts- und Lebensraumeffekten. Die schwarze Linie zeigt den geschätzten mitt-
leren Trend, der mit dem Basismodell der Studie geschätzt wurde. B Die saisonale Verteilung der
Insektenbiomasse zeigt, dass die höchsten Insektenbiomassenfänge im Hochsommer den stärksten
Rückgang aufweisen. Der Farbverlauf in beiden Bereichen reicht von 1989 (blau) bis 2016 (orange).“
Fig. 2: Change in insect biomass in time and over the annual cycle (redrawn copy) of figure 2 from
HALLMANN et al. (2017) showing the change in insect biomass in time and over the annual cycle. It
is a logarithmic scale on the y-axis (ordinate)! HALLMANN et al. (2017: 11): “A Boxplots depict the
distribution of insect biomass (gram per day) pooled over all traps and catches in each year (n =
1,503). Based on the final model, the grey line depicts the fitted mean (+95% posterior credible
intervals) taking into account weather, landscape and habitat effects. The black line depicts the mean
estimated trend as estimated with our basic model. B Seasonal distribution of insect biomass showing
that highest insect biomass catches in mid summer show most severe declines. Color gradient in
both panels range from 1989 (blue) to 2016 (orange).”

Entomologie heute 31 (2019)
Insektenschwund - Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge* - Naturkundemuseum Karlsruhe
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2. Ursachen                                     und invasive Art, zu bekämpfen. Der Saat-
                                                guthersteller hatte in dem Unglücksjahr bei
Seit den frühen 1990er Jahren sind systemi-     einigen Chargen die gebeizten Maiskörner
sche Insektizide im Einsatz. Sie galten als     mit zu wenig Haftmittel versehen. Das
Revolution im Pflanzenschutz und waren          Saatgut wurde mit pneumatischen Ein-
zunächst sogar von Naturschützern begrüßt       zelkornsägeräten ausgebracht. Dabei war
worden, weil man plötzlich mit sehr viel ge-    das Gift verstärkt abgerieben worden und
ringeren Dosen das auf der Fläche erreichte,    der Abrieb von den Maiskörnern wurde
wofür zuvor erheblich größere Substanz-         durch die Technik der Aussaat mit der Luft
mengen zum Einsatz kamen. Diese damals          nach oben gerissen (und nicht wie sonst
neuen Insektizide gehören zur Stoffgruppe       in den Boden abgeführt). Somit waren die
der Neonikotinoide. Es handelt sich bei         toxischen Stäube sofort in die Atmosphä-
ihnen um Nervengifte. Sie werden deswe-         re gelangt. Der Wirkstoff legte sich über
gen systemische Insektizide genannt, weil       benachbarte Rapsfelder und drang auch in
sie bei entsprechender Anwendung bereits        die weitere angrenzende Landschaft vor.
beim Keimen in die Pflanze eindringen und       Insbesondere der Raps stand in diesem Jahr
sich mit dem Saftstrom in allen Systemen        aufgrund des Witterungsverlaufs gerade in
der Pflanzen einer behandelten Fläche, also     Blüte und wurde u.a. von Honigbienen be-
auch in den Nicht-Zielpflanzen einschließ-      flogen. – Und nur Honigbienen haben eine
lich deren Pollen und Samen, verteilen und      Lobby! Der Schaden wurde bei den Imkern
somit allgegenwärtig sind.                      offiziell registriert und somit bekannt. Im
Neonikotinoide wurden und werden (unter         Gegensatz zu den Schäden in der Natur bei
anderem) als Saatgutbeize ausgebracht. So       den anderen Insekten, für die sich kaum
werden beispielsweise als Saatgut dienende      jemand interessierte. Ich persönlich erinne-
Maiskörner mit dieser so genannten „Beize“      re mich noch sehr gut, dass ich in diesem
umhüllt. Bei einer solchen Vorgehensweise       Frühjahr 2008 kaum Schmetterlinge am
vergiftet man folglich, obwohl auf den          Westhang des Schwarzwaldes in der Ortenau
Nutzpflanzen (noch) gar keine Schädlinge        fand, die sich in direkter Nachbarschaft zur
vorhanden sind, sozusagen vorauseilend, die     Rheinebene befindet.
Nahrungspflanzen vieler unschädlicher In-       Neonikotinoide sind Nervengifte, die in
sekten auf der Fläche gleich mit. Alle Pflan-   den Synapsen der Nervenbahnen an den
zen werden gewissermaßen zum Insektizid.        Acetylcholin-Rezeptoren andocken, so
Ein prominenter Unfall mit solchem Saatgut      wie auch das Nikotin dort bindet. Raucher
geschah im Frühjahr 2008. In der Ober-          kennen das Phänomen der Abhängigkeit zu
rheinebene waren rund 12.000 Bienenvölker       dieser Stoffgruppe, und auch bei Insekten
zugrunde gegangen, nachdem sie in Kon-          wurde eine Bevorzugung von mit Neo-
takt mit dem Neonikotinoid Clothianidin         nikotinoiden vergifteten Blüten festgestellt
gekommen waren. Das Jahr 2008 ging              (KESSLER et al. 2015). Im Gegensatz zum
dadurch als jenes mit dem großen (Honig-)       Nikotin, welches nur vorübergehend bindet
Bienensterben in der Oberrheinebene in die      und dadurch stimulierend wirkt, besetzen
Annalen ein (vgl. z.B. Spiegel vom 8.5. und     die Neonikotinoide diese Rezeptoren dauer-
16.5.2008; Die Zeit vom 21.5.2008). Das         haft, woraus eine fortlaufende Stimulierung
Pestizid war, wie oben beschrieben, auf das     resultiert. Sie führt zum Zusammenbruch
Saatgut aufgebracht worden, um den Mais-        der Nervenfunktion. Eine solche Dauer-
wurzelbohrer Diabrotica virgifera (LeConte,     stimulation ist z.B. erkennbar, wenn akut
1858) (Coleoptera, Chrysomelidae), eine         vergiftete Bienen zitternd von den Blüten
seit Beginn der 1990er Jahre eingeschleppte     fallen (WENZEL 2015).
Insektenschwund - Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge* - Naturkundemuseum Karlsruhe
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge                                           237

Die Verwendung der Neonikotinoide als                  licher Nutzung die Insekten aussterben lässt.
Insektizide begann in den frühen 1990er Jah-           Bedauerlich ist nur, dass man eine solche
ren mit ihrer Entwicklung und Etablierung              Zeitreihenanalyse wie die von HABEL et al.
als „Pflanzenschutzmittel“ am Markt. Das               (2016a), in deren Ergebnis das Ansteigen
Vereinigte Königreich ist einer der wenigen            der Auslöschung von Arten nachgewiesen
EU-Staaten, aus dem detaillierte Verbrauchs-           wurde, erst nach Jahrzehnten und immer erst
statistiken von Neonikotinoiden vorliegen,             im Nachhinein machen kann – dann, wenn
die von SIMON-DELSO et al. (2015) in einer             es längst zu spät ist! Das Zusammenfallen
instruktiven Grafik zusammengefasst wur-               der beiden Phänomene „Einführung der
den (Abb. 3).                                          Neonikotinoide in die Landnutzung“ und
Zu Beginn war mit der Studie von HABEL                 „exponentiell ansteigender Rückgang der
et al. (2016a) anhand tagaktiver Schmetter-            Tagfalterarten“ ist jedoch so auffällig, dass
linge gezeigt worden, dass die Extinktion              ein Zusammenhang naheliegend ist.
dieser Arten in den letzten Jahrzehnten                Die Substanz Imidacloprid wurde als ers-
immer stärker angestiegen ist. Genau seit              tes photochemisch stabiles Neonikotinoid
jener Zeit, von der an die Neonikotinoide              im Jahr 1991 von der Bayer AG gegen
in die Landschaft gelangten, verschwanden              „schluckende und saugende Insekten“ auf
besonders viele Tagfalterarten. Offenbar hat           den Markt gebracht. In der Folge wurden
sich seit damals etwas in unserer Umwelt               die Neonikotinoide am Markt zu der vom
verändert, dass auch fernab landwirtschaft-            Umsatz her am schnellsten wachsenden

Abb. 3: Reproduktion der Abbildung 4 aus SIMON-DELSO et al. (2015: 12): „Entwicklung der landwirt-
schaftlichen Verwendung von Neonikotinoid-Insektiziden als Saatgutbehandlung in Großbritannien
ab 1990, gemessen in Tonnen Wirkstoff pro Jahr (Säulen). Der Gesamtverbrauch aller insektiziden
Saatgutbehandlungen (durchgezogene Linie) ist ebenfalls gezeigt.“
Fig. 3: Copy of figure 4 from SIMON-DELSO et al. (2015: 12): “Trend in the agricultural use of ne-
onicotinoid insecticides as seed treatments in Great Britain from 1990, measured in tonnes of active
ingredient per year (bars). The total usage of all insecticidal seed treatments (solid line) is also shown.”

Entomologie heute 31 (2019)
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Klasse von Insektiziden (Wikipedia-Eintrag         lich gelöst, vgl. Amtsblatt der Europäischen
zu Neonikotinoiden, siehe Verzeichnis der          Union vom 25.5.2013: L139/12-14: „… die
Internetquellen). Andere Insektizide wurden        Beschränkung betrifft den Einsatz von …
durch sie seitdem weitgehend substituiert          Neonikotinoiden … zur Saatgutbehandlung,
(Abb. 3). Seitdem steigt die Bienensterblich-      Bodenanwendung und Blattbehandlung
keit exponentiell an (WENZEL 2015) und mit         bei Pflanzen und Getreide (ausgenommen
ihr das Verschwinden vieler anderer Insekten.      Wintergetreide), die Bienen anziehen. …
2012 wurden im Vereinigten Königreich              Ausnahmen beschränken sich auf die Mög-
(UK) 82 t Neonikotinoide auf 1,3 Mio. ha           lichkeit, Pflanzen, die Bienen anziehen, in
Fläche verbraucht, 71 % davon Clothianidin         Gewächshäusern zu behandeln, und im
und 16 % Thiamethoxam. Imidacloprid, das           Freien nach der Blüte.“ Denn auch nach
zuvor dominant war, verlor seit 2005 massiv        dem Teilverbot ist die genutzte Menge nicht
an Bedeutung, während Clothianidin und             wesentlich unter 200 t/Jahr gefallen (Abb. 5).
Thiamethoxam stark zulegten. 2012 entfielen        Die Abbildung zeigt insbesondere, wie gering
85 % der mit Neonikotinoiden behandelten           der Anteil nicht beruflich genutzter Neoniko-
Fläche auf Getreide (vor allem Clothianidin)       tinoide ist und entlarvt den Ruf nach einem
und Ölsaaten (vor allem Thiamethoxam).             Verbot zunächst der privaten Nutzung. Ein
19 % der Getreidefläche und 68 % der Öl-           solches würde keinesfalls signifikant zu einer
saatenfläche wurden mit Neonikotinoiden            Verringerung dieser Stoffklasse in unserer
behandelt (Wikipedia l.c.).                        Umwelt beitragen.
Betrachtet man die Flächennutzung in               200 Tonnen Verbrauch von Neonikotinoi-
Deutschland, so zeigt sich, dass 51 % der          den pro Jahr gehen aus Abb. 5 hervor. Vor
Gesamtfläche von der Landwirtschaft be-            dem Hintergrund ihrer extrem starken Gif-
ansprucht werden, 30 % sind Waldfläche             tigkeit für Insekten erscheint diese Menge
(Abb. 4; Quelle: Statistisches Bundesamt           ziemlich groß. Ältere erinnern sich wohl
2018). Die anderen Flächennutzungen                noch an DDT. Dichlordiphenyltrichlorethan
können für die hier betrachtete Problematik        (abgekürzt DDT) ist ein Insektizid, das seit
vernachlässigt werden. Ein Teilverbot einiger      Anfang der 1940er-Jahre als Kontakt- und
Neonikotinoide hat das Problem nicht wirk-         Fraßgift eingesetzt wurde. In Deutschland

Abb. 4: Flächennutzung in Deutschland. Die Landwirtschaft macht über 50 % der Fläche aus. Nach
STEIDLE (in litt.) auf der Basis von Daten des Statistischen Bundesamtes 2018.
Fig. 4: Land use in Germany. Agriculture accounts for over 50% of the area. After STEIDLE (in litt.),
data from the Federal Statistical Office 2018. (Landwirtschaft = agriculture; Wald = forest; Wasser
= water; Siedlung = settelement; Verkehr = traffic [road network]; Rest = rest)
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge                                   239

Abb. 5: Verbrauch von Insektiziden und Neonikotionoiden in Deutschland. Auch nach dem Teil-
verbot von 2013 ist die genutzte Menge nicht wesentlich unter 200t/Jahr gefallen. Nach STEIDLE
(in litt.) auf Basis von Daten des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit,
Absatz an Pflanzenschutzmitteln in der Bundesrepublik Deutschland, Meldungen gemäß § 19
Pflanzenschutzgesetz für die Jahre 1995-2018.
Fig. 5: Insecticide and neonicotionoid consumption in Germany. Even after the partial ban in 2013,
the amount used did not drop significantly below 200t/year. After STEIDLE (in litt.), data from the
Federal Office for Consumer Protection and Food Safety. Sales of plant protection products in
the Federal Republic of Germany, notifications pursuant to article 19 of the Plant Protection Act
for the years 1995-2018. (“Verbrauchte Menge” = amount used, “sonstige Insektizide” = other
insecticides, “nicht beruflich” = non-professional)

wurde es vor dem Hintergrund seiner toxi-         re Zehnerpotenzen höhere Giftigkeit besit-
schen Wirkungen in der Umwelt 1972 vom            zen (Abb. 7). Somit werden, um ein einzelnes
Markt genommen. Bekannt ist die Anrei-            Individuum z.B. einer Honigbiene zu töten,
cherung seiner Abbauprodukte in der Nah-          nur noch extrem geringe Mengen benötigt
rungskette oder die durch DDT-Metaboliten         (wenige Nanogramm), die analytisch kaum
verursachten dünnen Eischalen bei Greifvö-        noch nachgewiesen werden können.
geln wie Wanderfalke oder Fischadler, die         Neonikotinoide sind für (Honig-)Bienen
zu katastrophalen Bestandseinbrüchen bei          und damit wohl für die meisten Insekten bis
diesen Arten führten. Auch kam es zu Re-          zu 10.000-fach toxischer als DDT (Abb. 6).
sistenzen bei den Zielorganismen, was dem         Wenn wir nun in der Vergangenheit diese
massiven Einsatz in der Landwirtschaft zu-        Substanzen in der Natur ausgebracht haben
geschrieben wurde. Deswegen war es nicht          und noch immer ausbringen, dann waren
mehr sinnvoll, dieses Gift einzusetzen (vgl.      sie ja nicht weg, nachdem das Ziel ihrer
Wikipedia-Eintrag zu DDT im Verzeichnis           Applikation erreicht wurde, sondern sie
der Internetquellen).                             persistieren für eine bestimmte Zeit in der
DDT wirkt hauptsächlich auf das zentrale          Natur weiter. Imidacloprid (Markenname
Nervensystem bei Insekten und führt zu            „Gaucho“ von Bayer), ein häufig ange-
einer Lähmung und schließlich zum Tod             wendetes Neonikotinoid, kann mit einer
des Insekts. Damit ist es ebenfalls ein Ner-      Halbwertszeit von fast 1.000 Tagen rund
vengift, so wie die Neonikotinoide. Setzt         fünf Jahre im Boden vorhanden bleiben.
man die Giftigkeit (letale Dosis im Sinne der     Das angeblich für Bienen so ungefährliche
LD50) von DDT mit „1“ an und vergleicht           Thiamethoxam („Cruiser“, Syngenta) hat
sie mit der Giftigkeit der Neonikotinoide,        zwar nur eine Halbwertszeit von 25-100
dann sieht man, dass letztere eine um mehre-      Tagen und damit eine Höchstverweildauer

Entomologie heute 31 (2019)
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Abb. 6: Übersicht über einige häufig verwendete Pestizide und ein Vergleich ihrer Giftwirkung (LD50)
mit DDT, das 1972 in Deutschland und den USA verboten wurde. Rot unterlegte Zeilen bezeichnen
die Neonikotinoide. – Quelle: Umgezeichnet nach BONMATIN, J.-M., Neonicotinoid Pesticides and
Honeybees, siehe Verzeichnis der Internetquellen.
Fig. 6: Toxicity (LD50) of some commonly used pesticides compared with that of DDT which was
banned in Germany and the USA in 1972. Neonicotinoids are highlighted in red. – Source: Redrawn
after BONMATIN, J.-M., Neonicotinoid Pesticides and Honeybees, see list of internet sources.

im Boden von ca. einem halben Jahr, sein           nen wurde bei den hier angegebenen Ap-
primäres Abbauprodukt ist jedoch Clothia-          plikationsmengen festgestellt: Rüssel-Reflex
nidin. Und Clothianidin, auch als Insektizid       (Einrollen): 0,1-0,4 ng/Biene, Aufsuchen
„Poncho“ direkt von Bayer vertrieben, be-          von Futterquellen: 0,075-0,21 ng/Biene,
sitzt eine Halbwertszeit von 148 bis 1.155         Erkennen verwandter Bienen: 0,25-0,7
Tagen; REXRODE et al. (2003) geben sogar bis       ng/Biene, Scheintod (bis zu Stunden) und
zu 6.900 Tage an. Das wären dann fast 19           Bewegungskoordination: 0,0022 ng/Biene,
Jahre Halbwertszeit, was zu einer maximalen        Präzision der Angabe des Winkels beim
Verweildauer im Boden von über 30 Jahren           Bienentanz: 0,5-1,4 ng/Biene, Präzision der
und mutmaßlich ubiquitärer Verbreitung in          Angabe der Entfernung beim Bienentanz:
der Natur durch Verdriften führen kann.            2,5-7,0 ng/Biene (DOUCET-PERSONENI et al.
Deswegen ist selbst nach einem Totalver-           2003, s. Verzeichnis der Internetquellen).
bot der Neonikotinoide davon auszugehen,           HENRY et al. (2012) wiesen mittels Radio-
dass ein positiver Effekt für die Insekten         frequenz-Identifikation nach, dass nach
in der Feldflur lange Zeit auf sich warten         Gabe von 1,34 ng Thiamethoxam in 20 μl
lassen wird.                                       Zuckerlösung (Saccharose) bis zu 43,2 % der
Leider beeinträchtigen selbst kleinste, sub-       Sammelbienen nicht mehr zu ihrem Stock
letale Dosen von z.B. Imidacloprid wichtige        zurückfanden. WENZEL (2015: 68) führt dazu
lebensnotwendige Fähigkeiten bei Honigbie-         aus: „Das Tückische an diesen Substanzen
nen. Das Nutztier muss hier als „Modell-           ist …, dass die Bienen in der Regel nicht
Organismus“ für Insekten dienen, da die            akut vergiftet … von den Blüten fallen,
Wirkungen von Neonikotinoiden bisher               sondern dass … eine verdeckte subletale
hautsächlich an ihm (sowie an Hummeln)             Vergiftung verursacht wird. Diese chroni-
untersucht wurden. Eine Störung folgender,         sche Vergiftung bewirkt dann allmähliche
für die Organismen wichtiger Vitalfunktio-         Schädigungen des gesamten Nervensystems
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge                              241

einschließlich des Gehirns. Darauf beruht        dosisabhängig zum Tod der Bienen führte.
der gravierende Effekt der Desorientierung,      DI PRISCO et al. (2013) weisen darauf hin,
weshalb ein Großteil der Bienen nicht mehr       dass dieser verheerende Mechanismus der
zum Stock nach Hause findet (HENRY et al.        Immununterdrückung durch Neonikotino-
2012; FISCHER et al. 2014). In diesem Zu-        ide auch bei anderen Infektionen, insbeson-
sammenhang ist das besonders in den USA          dere bei Darm-Bakterien und Mykosen (z.B.
gefürchtete CCD (Colony Collapse Disor-          Nosema), zum Tragen kommt.“ (Ende Zitat
der) zu sehen, wo bei vorhandener Königin,       WENZEL l.c.) Es ist zu befürchten, dass diese
vollen Waben und gesund erscheinenden            krankmachende Wirkung der Neonikotino-
Jungbienen plötzlich sämtliche Flugbienen        ide nicht nur die Honigbienen trifft.
fehlen, ohne dass im Stock oder außerhalb
tote Bienen zu finden sind. An der Harvard-      3. Wo unser Wissen herkommt, warum
Universität haben Semi-Feldversuche mit          Insektensammlungen Primärdaten-
subletalen Dosen von Imidacloprid … erge-        banken der Biodiversität sind und
ben, dass Bienenvölker nach zwölf Wochen         warum es gilt, sie zu fördern
noch lebten, dass aber nach 23 Wochen 96 %
[der Völker] zugrunde gegangen waren (LU         Zuweilen begegnet man der Schutzbehaup-
et al. 2012).“ (Ende Zitat WENZEL l.c.)          tung, insbesondere von Seiten der industri-
Auch muss erwähnt werden, dass Neoniko-          ellen Agrarlobby, man wisse zu wenig, um
tinoide die Immunantwort bei Honigbienen         in der Fläche zum Zustand der Insekten
unterdrücken und bereits die geringe Menge       gültige Aussagen treffen zu können. Dies
von 21 ng/Biene ein Steuerungsprotein            wird im Folgenden an Hand der Entwick-
der Immunantwort beeinflusst, was zur            lung der Schmetterlingsfaunistik in Baden-
Immunsuppression führt (DI PRISCO et al.         Württemberg widerlegt (vgl. auch TRUSCH
2013). WENZEL (2015: 68:) führt dazu aus:        2009). In diesem Flächenland sind Aussagen
„Biologische Prozesse gelten als bewiesen,       zur dieser Insektengruppe aufgrund von
wenn sie auf molekular-biologischer (gene-       Daten, die über 200 Jahre in die Vergan-
tischer) Ebene verifiziert werden können.        genheit reichen, sehr gut möglich (Daten
Eben das wurde … durch Entomologen von           zuletzt analysiert von HABEL et al. 2019).
drei italienischen Universitäten erreicht. Sie   Und dies dürfte auch für andere Bundes-
fanden, dass ein sogenanntes LRR-Protein,        länder zutreffen, wenn man die historischen
welches negativ mit der Bildung des Tran-        Datenquellen erschließt und auswertet.
skriptionsfaktors für die Produktion von         Auch wenn etliche sehr frühe Angaben im
Immunproteinen gekoppelt ist, durch Neo-         Grundlagenwerk (GLW) „Die Schmetter-
nikotinoide direkt in der Expression erhöht      linge Baden-Württembergs“ (EBERT 1991-
wird, d.h., dass Neonikotinoide direkt ein       2005) und damit in der Landesdatenbank
LRR-Protein vermehren, welches zur Un-           „Schmetterlinge Baden-Württembergs“
terdrückung der Immunantwort führt. Die          (LDS-BW) vorliegen, z.B. durch JOHANN
biologische Bedeutung dieser unterdrückten       BAUHIN (1541-1613), vgl. dazu STEINER &
Immunantwort zeigten die Autoren auf,            EBERT (2005), die früheste Übersicht über
indem sie bei frisch geschlüpften Bienen         einen größeren Teil Baden-Württembergs
(aus Varroa-freien Stöcken der Universität       erschien zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Neapel) nachgewiesen haben, dass die             (ROTH VON SCHRECKENSTEIN 1800). Solche
Replikation des Genoms des DWV-Virus             Lokalfaunen, die in den folgenden zweihun-
dosisabhängig bis zum mehreren 1.000-fa-         dert Jahren immer größere Gebiete bis hin
chen durch subletale, feld-realistische Dosen    zu Landesfaunen für Württemberg (SEYFFER
von Neonikotinoiden vermehrt wurde, und          1850; KELLER & HOFMANN 1861; SCHNEIDER

Entomologie heute 31 (2019)
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1937-1940; WÖRZ 1949-1956, 1958) und               Allgemeinheit zugänglich gemacht wurde.
Baden (REUTTI 1853; REUTTI et al. 1898)            Die LDS-BW ist die Arbeitsdatenbank zur
umfassten, wurden schließlich mit dem              Schmetterlingsfauna des südwestdeutschen
zehnbändigen GLW für den Artenschutz               Bundeslandes und wird vom Staatlichen Mu-
(EBERT 1991-2005) vorläufig gekrönt.               seum für Naturkunde Karlsruhe (SMNK)
Heute zeigt uns ein Blick in das GLW, ob           betreut. Mit ihr stehen interaktive, aktua-
und wo eine Schmetterlingsart in Baden-            lisierte Beobachtungskarten aller ca. 1.170
Württemberg vorkam (Ausnahme: Neufun-              in Baden-Württemberg heimischen Groß-
de nach dem Erscheinen des letzten Bandes          schmetterlingsarten zur Verfügung, darüber
2005), informiert über ihre Biologie und           hinaus auch immer mehr Meldungen zu
zeigt nötigenfalls Möglichkeiten für ihre          den ca. 1.680 im Südwesten vorkommen-
Erhaltung auf. Der aktuellste Zeithorizont         den Kleinschmetterlingsarten (s. dazu auch
der Verbreitungskarten der einzelnen Arten         TRUSCH 2009). Die Nutzung des Internets
liegt in den Büchern allerdings im Jahr 1970.      für die Faunistik kann man durchaus als
Aussagen zur gegenwärtigen Bestandssitua-          „Faunistik 2.0“ bezeichnen, denn die Er-
tion wurden damit zunehmend schwieriger,           forschung des Bezugsraumes wurde in den
denn das Werk verliert mit fortschreitender        vergangenen zehn Jahren, seit denen das
Zeit an Aktualität. Diesem langsamen Ver-          Portal den Faunisten zur Verfügung steht,
alten der Verbreitungskarten des GLW wird          deutlich beschleunigt. So lagen im Jahr 2008
entgegengewirkt, indem die LDS-BW mit              nur von 40 topografischen Kartenblättern
der so genannten Webapplikation „InsectIS-         (TK25, 1:25.000, ca. 12 x 12 km) Nachweise
Online“ in Form von regelmäßig aktualisier-        von mehr als 600 Schmetterlingsarten vor.
ten Beobachtungskarten seit Juli 2008 der          Die zugehörige Menge der Datensätze

Abb. 7: Auch geschützte Insektenarten sind Bestandteile der natürlichen Nahrungspyramide. Ein
Pirol verfüttert einen Kleinen Schillerfalter Apatura ilia an seine Jungen. Foto: KARL VERLOHNER.
Fig. 7: Protected insect species are part of the natural food pyramid too. An oriole feeds a specimen
of the lesser purple emperor Apatura ilia to its offspring. Photo: KARL VERLOHNER.
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge                               243

betrug rund 600.000. Sie waren in fast vier     die ganze Misere erst verursacht hat, wird
Jahrzehnten seit den späten 1960er Jahren       sogar explizit von diesen Gesetzen ausge-
durch die Arbeitsgruppe um GÜNTER EBERT         nommen! Um das schizophrene Handeln des
am SMNK zusammengetragen worden.                Staates in Bezug auf den Schutz von Insekten
Bereits mit diesem Durchforschungsgrad          auf den Punkt zu bringen, haben SEGERER &
war es möglich, das GLW in vorbildlicher        ROSENKRANZ (2018) das Instrument der ABC-
Qualität zu erarbeiten. Mit dem Bearbei-        Analyse bemüht, einer in der Wirtschaft übli-
tungsstand von 2018 ist diese Artenzahl         chen Methode zur Entscheidungshilfe mittels
bereits auf 118 Kartenblättern überschritten    Einteilung in die Klassen A (sehr wichtig), B
worden und die Menge der Beobachtungen          (wichtig) und C (am wenigsten wichtig). Sie ist
(= Datensätze) hat sich innerhalb des letzten   ein Instrument zum Erkennen von Schwer-
Jahrzehnts auf 1,4 Mio. erhöht (TRUSCH et       punkten; ein solches Verfahren ist ferner für
al. 2020).                                      außenstehende (politische) Entscheider über-
Schmetterlinge haben viele Feinde. Entomo-      sichtlich und klar nachvollziehbar. Stellen Sie
logen und Schmetterlingssammler, also jene      sich dazu einen Betrieb vor, der in die roten
Menschen, die heutzutage als die fast letzten   Zahlen rutscht. Konsequenterweise wird die
Insektenkundigen zu bezeichnen sind, gehö-      Unternehmensleitung Ursachenforschung
ren freilich nicht dazu. Auch Vögel verfüt-     betreiben und die erkannten Faktoren nach
tern seltene und geschützte Arten wie z.B.      Wichtigkeitsklassen einteilen und gewichten
den Kleinen Schillerfalter Apatura ilia (Abb.   (Tab. 1, linke Seite). Auf der Basis dieser
7), der nach der „Verordnung zum Schutz         Erkenntnisse gibt es nur eine vernünftige
wild lebender Tier- und Pflanzenarten (Bun-     Lösung zur Rettung unseres hypothetischen
desartenschutzverordnung, BArtSchV) als         Betriebes: nämlich die wesentlichen Ursachen
„besonders geschützte Art“ gilt. Und eine       unter A und vielleicht noch B anzugehen. Der
einzige Fledermaus frisst 1,8-3,6 kg Insekten   Rest (C) ist weder notwendig noch würde er
im Jahr (SCOBLE 1995), worin beispielsweise     sich rechnen.
mehr als 10.000 Schmetterlinge enthalten        Der Staat macht beim Insektensterben
sind (HAUSMANN 2001).                           genau das Gegenteil. Obwohl die Haupt-
Obwohl also durch Fledermäuse oder Vögel        ursachen (A; siehe Tabelle 1, rechte Seite)
erheblich größere Insektenmassen der Natur      längst so klar sind, dass er als Gesetzgeber
entnommen werden, als dies naturwissen-         entsprechend handeln könnte, tut er so
schaftlich sammelnde Entomologen je tun         gut wie nichts, um z.B. die Agrarindustrie
könnten, benötigen letztere eine Ausnahme-      in der Verwendung von Ackergiften ein-
genehmigung von einer Naturschutzbehörde.       zuschränken oder den Flächenfraß, der
Die Tätigkeiten der Entomologen haben           auch durch zukünftige Baugebiete weiter
jedoch einen vernachlässigbaren Einfluss        die Habitatverinselung verschärft, endlich
auf die Insektenpopulationen, die als Teil      zu stoppen. Noch immer haben wir keine
der natürlichen Nahrungspyramide zum            „Netto-Null“ beim Flächenverbrauch! Selbst
überwiegenden Teil Beute von Prädatoren         im aktuellen, gerade z.B. für Karlsruhe
und Parasitoiden werden. Hier zeigt sich        erarbeiteten Flächennutzungsplan (FNP),
einmal mehr die Absurdität solcher Verord-      der ja bis in die Mitte unseres Jahrhunderts
nungen (BArtSchV) und Naturschutzgesetze        (2050) reichen soll, ist das so. Vermutlich
(BNatSchG und die entsprechenden Lan-           sieht auch andernorts fast jeder gültige FNP
desversionen), welche sich nicht gegen die      so aus. Dagegen erschwert der Staat kraft
wirklichen Verursacher des Insektensterbens     Gesetz massiv das wissenschaftliche Insek-
richten. Denn die sogenannte „gute fachliche    tensammeln (Kategorie C in Tab. 2). Damit
Praxis“ der Land- und Forstwirtschaft, welche   tut er nicht nur nichts Effektives gegen das

Entomologie heute 31 (2019)
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Insektensterben, er bewirkt gleichzeitig, dass     dann gehen solche Begabungen Einzelner für
es zukünftig immer weniger Menschen gibt,          die Gesellschaft verloren. Dies ist fatal, wie
die das Insektensterben wissenschaftlich           uns der eklatante Mangel an Artenkennern
dokumentieren können.                              zeigt. Schon heute können beispielsweise
Bedingt dadurch, dass Kinder und Jugendli-         Behörden kaum noch Spezialisten finden, die
che sich heute nicht mehr unbeschwert mit          in der Lage sind, artenreiche Tiergruppen z.B.
freilebenden Tieren befassen und diese nach        für ein Insekten-Monitoring zu bearbeiten,
Hause mitnehmen dürfen, und auch, weil die         sofern es sich nicht um „Modellgruppen“ wie
früher hierzu motivierenden Biologielehrer         Tagfalter oder Heuschrecken handelt.
den dafür verantwortlichen Natur- und              Dabei ist das Anlegen von Insektensamm-
Artenschutzgesetzen unterliegen und oft            lungen unbedingt erforderlich, um z.B.
die Mühen von Ausnahmegenehmigungen                die Determinationssicherheit und die
und nachfolgender Berichtspflicht scheuen,         spätere Überprüfbarkeit der Bestimmung
haben wir seit Jahrzehnten kaum noch Nach-         faunistischer Datensätze zu gewährleisten.
wuchs an Artenkennern, insbesondere bei            Die Anzahl der Falter, die z.B. in Europa
Entomologen. Bei letzteren ist das Anlegen         innerhalb einer Minute im Straßenverkehr
einer Sammlung aber Grundvoraussetzung             getötet werden, übersteigt die Zahl der
für spätere Artenkenntnis und dient u.a. der       von allen europäischen Sammlern in einem
Nachprüfbarkeit der Determination, aber            Jahrhundert gesammelten Exemplare um
auch der wiederholten Anschauung von               ein Vielfaches (HAUSMANN 2001). Auch
immer wieder demselben Individuum, was             lockt private und industrielle Beleuchtung
für das Erlernen von Arten in der Jugend           Nachtfalter und andere Insekten an, tötet
eine große Rolle spielt. Die Veranlagung zum       sie oder verhindert ihre Vermehrung. So
Artenspezialisten ist, ähnlich wie eine musi-      vernichtet z.B. die intensive Beleuchtung an
sche Begabung, jedoch nur bei sehr wenigen         monumentalen Denkmälern in Süditalien
Kindern und Jugendlichen angelegt. Wird            über fünf Millionen Großschmetterlinge im
eine solche Begabung von der Gesellschaft          Jahr (HAUSMANN 2001). Und bei Fahrzeug-
nicht „abgeholt“ (d.h. durch sie unterstützt       verkehr oder Beleuchtung handelt es sich
und nicht von ihr verboten), ist ein „Begrei-      noch nicht einmal um die Hauptursachen
fen“ im doppelten Wortsinn nicht möglich,          des Insektensterbens.

Tab. 1: Aus der Betriebswirtschaft entlehnte „ABC-Analyse“ mit der Einteilung und Gewichtung der
Ursachen nach Klassen: A (sehr wichtig), B (wichtig) und C (am wenigsten wichtig) zur Ermittlung
der Hauptgründe für die finanzielle Schieflage eines Betriebes, der in die roten Zahlen geraten ist
(linke Seite), und analoge Anwendung der ABC-Analyse zur Darstellung der Hauptursachen beim
Insektensterben (rechte Seite) (nach SEGERER & ROSENKRANZ 2018: 125).
Tab. 1: “ABC analysis” borrowed from business management with the classification and weighting
of the causes according to classes: A (very important), B (important) and C (least important) to
determine the main reasons for the financial imbalance of a company that got into the red (left), and
analogous use of the “ABC analysis” to show the main causes in the decline in insect populations
(right) (after SEGERER & ROSENKRANZ 2018: 125).
Insektenschwund – Hintergründe, Beobachtungen, Zusammenhänge                                 245

Wissenschaftliches Sammeln dient dem             „Primärdatenbanken“ der Biodiversität, die
Naturschutz! Denn ohne die umfangreichen         idealerweise zu gegebener Zeit in einem
Sammlungen, die in der Vergangenheit             Naturkundemuseum deponiert und dort
angelegt wurden, wüssten wir heute nicht,        dauerhaft erhalten werden (wozu wissen-
wo bestimmte Arten einst vorkamen. In-           schaftliches und technisches Personal nötig
sek tensammlungen sind heute die mit             ist, das sich die Gesellschaft ebenfalls leisten
Abstand wichtigste Informationsquelle für        muss). Ort und Datum sowie der Sammler
den Artenschutz. Beim wissenschaftlichen         sind unverrückbare Informationen. Aber
Sammeln geht es nicht darum, von einer           bereits die Determination ist eine erste
Art möglichst viele makellose Exemplare          wissenschaftliche Hypothese, die am Objekt
zu besitzen, sondern die jeweilige Art in        im Licht neuer Erkenntnisse gegebenenfalls
der Fläche zu dokumentieren, d.h. von            immer wieder erneut getestet werden muss.
möglichst vielen Stellen und aus verschie-       Ohne das Wissen der Sammler, die in der
denen Zeiten Belegexemplare aufzube-             Regel auch die faunistischen Experten für
wahren und datentechnisch zu erschließen.        die von ihnen gesammelten Gruppen sind,
Eine Sammlung von Tieren kann nur sehr           hätten wir im Übrigen auch keine Roten
eingeschränkt durch die Fotografie ersetzt       Listen, eines der Hauptinstrumente des
werden, denn neue Erkenntnisse in der            Naturschutzes. Denn nur diese Sammler
Forschung erfordern immer wieder eine            liefern (zumeist ehrenamtlich) die für die
Überprüfung am Objekt, z.B. um eine              Erstellung der Roten Listen notwendigen
veraltete Bestimmung zu korrigieren oder         Daten über das Auftreten der Arten in Zeit
neue Untersuchungsmethoden (z.B. DNA-            und Raum sowie auch zu ihrer Biologie, aus
Sequenzierung, Analyse von Inhaltsstoffen,       denen dann die darüber hinausgehenden
morphologische Untersuchungen etc.) an           Aussagen zu den lang- und kurzfristigen
den genadelten und bezettelten Objekten          Bestandstrends abgeleitet werden können.
anzuwenden. Sammlungen sind damit die            Die Rote Liste ist gleichzeitig Aussage zur

Tab. 2: Gefährdungssituation der Schmetterlinge Deutschlands nach den aktuellen Roten Listen der
Artengruppen Tagfalter (REINHARDT & BOLZ 2011), Spinnerartige (RENNWALD et al. 2011), Eulenfalter
(WACHLIN & BOLZ 2011) und Spanner (TRUSCH et al. 2011).
Tab. 2: Threat situation of Lepidoptera in Germany according to the current red lists of spe-
cies groups of butterflies (“Tagfalter”, REINHARDT & BOLZ 2011), bombycoids (“Spinnerartige”,
RENNWALD et al. 2011), noctuoids (“Eulenfalter”, WACHLIN & BOLZ 2011) and geometroid moths
(“Spanner”, TRUSCH et al. 2011). 0: extinct or missing, 1: critically endangered, 2: endangered,
3: vulnerable, G: endangerment of unknown extent.

Entomologie heute 31 (2019)
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