ALT WERDEN IN DER FREMDE - Landesseniorenrat

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ALT WERDEN IN DER FREMDE - Landesseniorenrat
LSR

                                                                                                                                              4. Quartal 2019
                                                                                                                              Informationen vom Landesseniorenrat Baden-Württemberg

                                                                                                                                                                                ALT WERDEN
                                                                                                                                                                                IN DER FREMDE
                                                                                                © Monica Silvestre / pexels
                        Für alle, die persönlichen
                           Service schätzen.

                                                                                                                              | Gesundheit: AOK-Facharztvertrag Kardiologie
                                                     ZGH 0065/30 · 09/19 · Foto: peterheck.de

                                                                                                                              | KVJS: Moderne Wohnkonzepte im Alter
                                                                                                ISSN 02364-3528

                                                                                                                              | Pflege: Kurzzeitpflege in Baden-Württemberg
                                                                                                                              | Musik: Mit Musizieren mehr Lebensfreude – auch im Alter
                                                                                                                              | Wir berichten: Seniorenräte tagen in den vier Regierungsbezirken
AOK Baden-Württemberg
ALT WERDEN IN DER FREMDE - Landesseniorenrat
Vorwort              1

                                                     land umgezogen sind, viele davon sind berufs-
Einen AugenBLICK, bitte!                             tätig. Aber die Zahl der Rentner, die auf Dauer
                                                     Deutschland den Rücken kehren, wächst jedes
                                                     Jahr kontinuierlich. Viele machen dies, weil die
                                                     Kaufkraft in vielen Ländern geringer ist als in
                                                     Deutschland: Man bekommt mehr für sein Geld.
                                                     Viele der Rentner und Rentnerinnen brauchen
                                                     sich über ihren Ruhestand wenig finanzielle Sor-
                                                     gen machen. Aber es gibt eben auch die, die mit
                                                     900 Euro (allein) oder 1.300 Euro (zu zweit) hier
                                                     jeden Monat schauen müssen, wie sie einiger-
                                                     maßen satt werden und ein Dach über dem Kopf
                                                     haben. Der Anteil der Menschen mit geringer
                                                     Rente steigt und eine Reihe dieser Menschen
                                                     macht sich auf in die Fremde. Ziele dieser Aus-
                                                     wanderung waren früher Spanien, dann eine Zeit
Liebe Leserinnen, liebe Leser,                       lang Ungarn, aber da diese Länder mittlerweile
dieses Heft beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit    ein ähnliches Preisgefüge haben wie Deutschland,
dem Thema „Alt werden in der Fremde“. Zuerst         sind diese Ziele nicht mehr gefragt. Heute sind es
fiel mir ein biblisches Wort an Abraham ein: „Geh    Länder wie Thailand, Rumänien und die Türkei.
aus Deinem Vaterland in ein Land, das ich Dir zei-   Ich selbst durfte ein Jahr als Seelsorger in einer
gen werde.“ Nun ist „im blick“ keine Kirchenzei-     „deutschsprachigen“ Auslandsgemeinde in Ala-
tung und auch kein Gemeindeblatt und deshalb         nya/Türkei unter ihnen leben.
werde ich hier also kein „frommes“ Vorwort schrei-      Von den 3.200 in der Türkei lebenden Rent-
ben, Sie dürfen also getrost weiterlesen.            nern wohnt über die Hälfte in Alanya und An-
   Mein Großvater ist in seinem Leben nur ein-       talya. Viele dieser Menschen fühlen sich wohl
mal umgezogen, meine Mutter schon zweimal            – zumindest so lange keine gesundheitlichen Pro-
und ich habe bereits mehr als ein Dutzend Um-        bleme auftauchen. Denn im nichteuropäischen
züge hinter mir. Das Thema „Aufbruch und An-         Ausland gibt es keine Pflegeversicherung, keine
kommen“ spielt in unserem Leben und im Leben         ambulanten Pflegedienste… Und da man erst im
unserer Kinder eine ganz andere Rolle als früher.    Alter ausgewandert ist, spricht man die fremde
Aber wie ist das, wenn man im Alter noch einmal      Sprache nicht und kann sich auch in einem ein-
aufbricht oder Umstände bewegen einen dazu, in       heimischen Pflegeheim nicht wohlfühlen. Und die
hohem Alter noch einmal umziehen zu müssen.          Kinder und Enkelkinder sind so weit weg. Also
   Mehrere der Artikel in diesem Heft beschäftigen   wieder ein Umzug – oft in hohem Alter und ho-
sich mit Migration und Integration. Themen, die      her Gebrechlichkeit – in ein deutsches Pflege-
besonders in den letzten Jahren zu bestimmenden      heim. Und hier ist man ja auch wieder fremd.
Themen politischer und gesellschaftlicher Debat-        Das Thema hat noch viele Dimensionen: Wie
ten geworden sind. Bei all den Diskussionen ver-     viele Eltern ziehen in hohem Alter in die Nähe
gessen wir oft, dass auch von Deutschland aus eine   ihrer Kinder und müssen wieder bei Null anfan-
große Gruppe aufbrach, die in den Jahren 1870        gen. Das Thema lohnt sich für ein gemeinsames
bis 1879 die ungewisse Reise nach Amerika an-        Gespräch in Familien, Vereinen und Verbänden.
trat. In dieser Zeit wurden ca. 500.000 Menschen     In diesem Sinne wünsche ich Ihnen bei einem
in den drei Häfen Hamburg, Bremen und Antwer-        Neuanfang – aus welchen Gründen auch immer
pen erfasst. Wer mal in Bremerhaven ist, der kann    – ein gutes Ankommen und irgendwann auch ein
sich im Auswanderermuseum diese leidvolle und        gutes Wohlfühlen.
entbehrungsreiche Reise anschauen. Neben den         Ihr
persönlichen und politischen Motiven der Aus-
wanderer gab es auch viele, die aus ökonomischen
Gründen ihr Heimatland verließen.
                                                                                 Karl-Heinz Pastoors
   „Alt werden in der Fremde“: Mir fällt dazu ein,
                                                       Stellv. Vorsitzender des Landesseniorenrates BW
dass im letzten Jahr 202.000 Deutsche ins Aus-

                                                                                    4 / 2019
ALT WERDEN IN DER FREMDE - Landesseniorenrat
2          Impressum

Impressum                                      LSR

„im blick“ ist eine Publikation des                  Anzeigen/Media-Service:
Landesseniorenrates Baden-Württemberg (LSR).         Stefan Steinacker (Anzeigenleitung),
Der LSR ist die Interessenvertretung der älteren     Dennis Woehlk (Anzeigenverkaufsberatung)
Generation. Er versteht sich als Forum für Erfah-    Tel. 0711 7863-7223
rungsaustausch und Meinungsbildung auf sozia-        dennis.woehlk@kohlhammer.de
lem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet. In     Mediadaten 2019 gültig ab Februar 2019
ihm wirken die in der Altenarbeit tätigen Verbände
und die Seniorenräte zusammen. Der LSR ist par-      Bildrechte:
teipolitisch unabhängig.                             Titel: © Monica Silvestre / pexels
                                                     Inhalt: © Pixabay, © Unsplash
Vorsitzender: Prof. Uwe Bähr
Geschäftsführerin: Birgit Faigle                     Sie möchten einen Beitrag veröffentlichen?
Erscheinungsweise: vierteljährlich                   E-Mail: landesseniorenrat@lsr-bw.de

Herausgeber:                                         Sie möchten mehr Informationen?
Landesseniorenrat Baden-Württemberg e.V.             https://lsr-bw.de
Kriegerstraße 3, 70191 Stuttgart
Tel. 0711 613824, Fax 0711 617965                    Gefördert durch den Kommunalverband für Jugend und
E-Mail: landesseniorenrat@lsr-bw.de                  Soziales Baden-Württemberg – Dezernat Soziales so-
https://lsr-bw.de                                    wie durch das Land Baden-Württemberg

Gesamtherstellung:                                   © Copyright 2019 by W. Kohlhammer Verlag
W. Kohlhammer GmbH, 70565 Stuttgart,                 Artikel, die namentlich gekennzeichnet sind, stel-
Tel. 0711 7863-0                                     len nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion
                                                     dar. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und
Redaktion:                                           Fotos übernimmt der Verlag keine Haftung. Leser-
Birgit Faigle, Landesseniorenrat (V.i.S.d.P)         zuschriften sind willkommen.

                                                                                          4. Quartal 2019

Veranstaltungen
Mitgliederversammlung des Landesseniorenrates        35. Landersseniorentag
Mittwoch, 20. November 2019                          Mittwoch, 7. Oktober 2020
Stuttgart – Bad Cannstatt, Kleiner Kursaal           Göppingen, Stadthalle

Fachtagung für Seniorenräte und Interessierte
Mai 2020

                                                     Die nächste Ausgabe des „im blick“ erscheint am
                                                     13.02.2020 zum Schwerpunktthema
                                                     „Ernährung im Alter“.
                                                     Redaktionsschluss: 16.01.2020

           4 / 2019
ALT WERDEN IN DER FREMDE - Landesseniorenrat
Impressum   3

Inhaltsverzeichnis

Einen AugenBLICK, bitte!                                   1
Impressum                                                  2
Veranstaltungen                                            2
Alt werden in der Fremde                                   4
Alter und Migration                                        6
Der Verein Emin Eller und
die Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz               8
Wenn die Fremde keine Fremde mehr ist                     10
Immer mehr deutsche Rentner zieht es ins Ausland          12
Fremd bin ich nur dort, wo meine Familie nicht ist        13
Interkulturelle Beratung in der Apotheke                  14
Gesundheit
AOK-Facharztvertrag Kardiologie:
Deutlich weniger Todesfälle für Herzpatienten             15
KVJS
Moderne Wohnkonzepte im Alter                             16
Aktiv, vernetzt, zukunftsfähig                            17
Verbraucher
Matratzenkauf im Internet                                 18
Mitgliedsverbände stellen sich vor
Berufsschullehrerverband Baden-Württemberg                19
Blick ins Land                                            20
Abschlussveranstaltung Modellprojekt
Demenz und Kommune (DeKo)                                 23
Pflege
Kurzzeitpflege in Baden-Württemberg                       24
Bezahlbare Pflege                                         25
Musik
Mit Musizieren mehr Lebensfreude - auch im Alter          26
Wir berichten
Seniorenräte tagen in den vier Regierungsbezirken         27

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ALT WERDEN IN DER FREMDE - Landesseniorenrat
4           Alt werden in der Fremde

Alt werden in der Fremde
Der diesjährige Landesseniorentag stand unter dem Motto „Alter hat Zukunft – Es liegt an
uns!“. Angesichts der vielen Seniorinnen und Senioren, die aktiv sind, sich auf unterschiedli-
che Weise engagieren und Baden-Württemberg mitgestalten, ist das ein mehr als passendes
Motto. Ich möchte noch anfügen: Das Alter hat Zukunft, und es wird immer bunter. Das be-
zieht sich nicht nur auf die vielfältigen Lebensstile, sondern auch auf die Vielfalt der Men-
schen, die in unserem Land älter werden.

Heute blicken über 30 Prozent der Menschen in Ba-         sowie Informationsdefizite und Unkenntnis über das
den-Württemberg auf eine Migrationsgeschichte             deutsche Sozialsystem. Häufig wird auch die fehlende
zurück. Die Zahl der über 65-Jährigen wächst auch         kultursensible Ausrichtung der bestehenden Angebo-
in dieser Gruppe immer weiter. Zahlreiche ältere          te als eine Hürde für Migrantinnen und Migranten
Migrantinnen und Migranten kamen in den 1950er            beschrieben. Zudem kämpfen Menschen mit Migra-
und 1960er Jahren als sogenannte Gastarbeiter nach        tionshintergrund im Vergleich zur Mehrheitsbevöl-
Baden-Württemberg, aus Italien, Griechenland, der         kerung oftmals mit erhöhten Gesundheitsrisiken und
Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien. Die meis-         weisen einen schlechteren Gesundheitszustand auf.
ten kamen mit der Absicht zu uns, spätestens im Al-       Hierfür können die Umstände ihrer Migration so-
ter wieder in ihre Herkunftsländer zurückzukehren.        wie die Lebens- bzw. Arbeitsbedingungen eine Rolle
60 Jahre danach ist die Realität eine andere, denn vie-   spielen. Auch erforderliche Anpassungsleistungen an
le haben hier ihren Lebensmittelpunkt gefunden. Es        eine fremde Kultur oder Stigmatisierungserfahrun-
ist längst klar, dass sie auch ihren Lebensabend in Ba-   gen aufgrund der ethnischen Herkunft können zu
den-Württemberg verbringen werden. In den späten          erhöhten gesundheitlichen Belastungen führen. Da-
1980er und frühen 1990er Jahren waren es dann ins-        rüber hinaus war insbesondere die erste Generation
besondere (Spät-)Aussiedler aus der ehemaligen Sow-       der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter
jetunion, die auf der Suche nach einer neuen Heimat       häufig gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen
nach Baden-Württemberg kamen. Sie alle haben ihre         ausgesetzt. Darüber hinaus bringen Demenzerkran-
eigene Geschichte und Erfahrungen mitgebracht. Sie        kungen für Betroffene mit Migrationsgeschichte be-
kamen aus unterschiedlichen Gründen und zu unter-         sondere Herausforderungen mit sich. Denn das An-
schiedlichen Zeiten nach Deutschland. Gemeinsam           kommen in einem für sie fremden Land war oft mit
ist ihnen jedoch, dass sie in der Fremde älter werden,    Unsicherheit und Fremdheitsgefühlen verbunden.
dort ins Renten- und auch ins Pflegealter kommen.         Durch eine Demenz können sich diese Gefühle ver-
   Das Thema Altwerden und Pflege in der Einwan-          stärken und zudem mit einem schleichenden Verlust
derungsgesellschaft ist deshalb ein Zukunftsthema         der Zweitsprache Deutsch einhergehen.
und ein wichtiger Bereich der Integrationspolitik. Es        Aufgrund dessen ist in den nächsten Jahren ver-
ist uns wichtig, gleichberechtigte Teilhabechancen        stärkt mit rat- und hilfesuchenden, zunehmend auch
für alle Menschen in Baden-Württemberg unabhän-           pflegebedürftigen Migrantinnen und Migranten
gig von ihrer Herkunft zu schaffen. Das gilt für den      zu rechnen. Und im Gegensatz zu früher wird die-
Zugang zu Versorgungsleistungen ebenso wie für            ser Personenkreis in Zukunft häufiger die Hilfe am-
die Bereitstellung von geeigneten und passgenauen         bulanter Pflegedienste in Anspruch nehmen oder in
Angeboten für Migrantinnen und Migranten. Diese           Pflegeeinrichtungen leben, da sich auch hier die fa-
Gruppe und ihre spezifischen Bedürfnisse verstärkt        miliäre Versorgungssituation wandelt. Dies stellt ei-
in den Blick zu nehmen, ist daher von großer Bedeu-       nerseits die Einrichtungen und Dienste vor die große
tung.                                                     Herausforderung, ihre bestehenden medizinischen
   Denn ältere Migrantinnen und Migranten haben           und pflegerischen Angebote auf den spezifischen
oftmals mit besonderen Herausforderungen zu kämp-         Bedarf älterer und pflegebedürftiger Migrantinnen
fen. So besteht in der Regel – auch Jahre nach ihrer      und Migranten auszurichten. Andererseits erleben
Einwanderung – ein erhöhtes Armutsrisiko. Hierfür         Migrantinnen und Migranten die Schwierigkeit, sich
sind mehrere Faktoren ausschlaggebend wie etwa die        in einem häufig noch unbekannten Gesundheits- und
Arbeitsmarktbeteiligung, fehlende Rentenansprüche         Pflegesystem orientieren zu müssen.

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                                                        Einrichtungen verpflichtet, die kulturelle Herkunft
                                                        sowie religiöse, weltanschauliche und sexuelle Ori-
                                                        entierung zu achten und geschlechtsspezifische
                                                        Belange angemessen zu berücksichtigen. Die Aus-
                                                        richtung der Pflegepraxis an den individuellen und
                                                        kulturell geprägten Bedürfnissen des Menschen
                                                        ist Voraussetzung für kultursensible Pflege. Um
                                                        auch die Heimaufsichtsbehörden für die Bedeutung
                                                        und Ziele kultursensibler Pflege zu sensibilisieren,
                                                        wurde in der Orientierungshilfe für die Heimauf-
                                                        sichtsbehörden in Baden-Württemberg hierzu ein
                                                        eigenes Kapitel aufgenommen.
                                                           Viele Einrichtungen engagieren sich bereits
                                                        heute für eine kultursensible Ausrichtung ihrer
                                                        Angebote. Auch Migrantenorganisationen spielen
                                                        hier eine wichtige Rolle. Sie können Informationen
                                                        weitergeben und Menschen mit Einwanderungs-
                                                        geschichte dazu anregen, sich an der Selbsthilfe
                                                        im Gesundheitssystem zu beteiligen. Sie sind auch
                                                        wichtige Ansprechpartner, was die interkulturelle
                                                        Öffnung von Pflegeeinrichtungen oder die Sensibi-
                                                        lisierung von Behörden im Quartier anbetrifft.
                                                           Wenn es um das Älterwerden in der Fremde
                                                        geht, dürfen wir auch jene Baden-Württemberge-
                                                        rinnen und Baden-Württemberger nicht verges-
                                                        sen, die ihren Lebensabend im Ausland verbringen
                                                        - sei es aufgrund der niedrigeren Lebenshaltungs-
                                                        kosten oder weil das entsprechende Land aus vor-
                                                        angegangenen Urlauben bereits bekannt und dort
Minister Manfred Lucha MdL. Foto: Ministerium für       über die Jahre vielleicht schon eine Art deutsche
Soziales und Integration Baden-Württemberg              Gemeinschaft entstanden ist. Ein solcher Schritt
                                                        erfordert neben einer gehörigen Portion Mut eine
Das Ministerium für Soziales und Integration Ba-        gründliche Vorbereitung. Wie verhält es sich bei-
den-Württemberg unterstützt und stärkt daher            spielsweise mit der Rente, und was gibt es zu be-
über das landeseigene Innovationsprogramm Pfle-         achten, wenn man im Ausland pflegebedürftig
ge insbesondere familiäre Pflegearrangements,           wird? Ich kann allen Bürgerinnen und Bürgern
um älteren Menschen mit und ohne Migrations-            nur raten, sich vor einem solchen einschneidenden
hintergrund und auch demenzkranken Menschen             Entschluss wirklich umfassend zu informieren.
möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben in ih-          Klar ist: Als Ministerium für den gesellschaft-
rer gewohnten Umgebung zu ermöglichen. Damit            lichen Zusammenhalt haben wir die Belange älte-
beugen wir auch einer zunehmenden Verarmung             rer Menschen „im Blick“. Wir haben uns auf den
und Vereinsamung vor, mit all ihren Nebenwirkun-        Weg gemacht, und vieles ist bereits passiert, aber
gen, die von gesundheitlichen Beeinträchtigungen        es ist auch noch einiges zu tun. Schließlich geht
bis hin zu fehlender gesellschaftlicher Teilhabe rei-   es uns darum, nicht nur über das Älterwerden in
chen können.                                            der Fremde zu sprechen, sondern das Älterwerden
   Kultursensible Angebote können mögliche              in der neuen oder zweiten Heimat gemeinsam be-
Teilhabebarrieren abbauen. Zum Beispiel, wenn           herzt zu gestalten.
Hemmungen bestehen, Angebote in Anspruch zu
nehmen oder fehlende Deutschkenntnisse schon
die Information hierüber erschweren. Auf der
                                                                                   Manfred Lucha MdL
Grundlage des Wohn-, Teilhabe- und Pflegege-
                                                                    Minister für Soziales und Integration
setzes (WTPG) sind die Träger von stationären

                                                                                        4 / 2019
ALT WERDEN IN DER FREMDE - Landesseniorenrat
6         Alt werden in der Fremde

Alter und Migration
Zuwanderung nach Deutschland
Heute leben 19,3 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, was einem
Bevölkerungsanteil von etwa 23 Prozent entspricht (2017). Es ist das Ergebnis einer relativ
kurzen Geschichte, die im Folgenden beschrieben wird.

Die europäische Bevölkerung kam bereits wäh-        Älter werden in der Fremde
rend des Zweiten Weltkrieges in Bewegung. Es
handelte sich u. a. auch um die deutschsprachige              Unterschiede im Altersaufbau (in 1.000) nach
                                                               Migrationshintergrund in Deutschland, 2016
Bevölkerung, deren erzwungene Auswanderung                                               Alter in Jahren

die Folge der nationalsozialistischen Gewaltherr-                       Männer                    95              Frauen

schaft gewesen war. Aber die eigentliche Zuwan-                                                   90

derungsgeschichte begann im Westen Deutsch-                                                       85

lands mit dem wirtschaftlichen Aufschwung. 1955                                                   80

unterschrieb die Bundesrepublik das Anwerbe-                                                      75

abkommen mit Italien. Dann folgten Anwerbeab-                                                     70

kommen mit den anderen südeuropäischen Län-                                                       65

dern sowie mit der Türkei. Die Anwerbung der                                                      60

Arbeitskräfte dauerte bis zum „Ölpreisschock“ von                                                 55

1973. Im Zeitraum zwischen 1955 bis 1973 kamen                                                    50

rund 14 Mio. Einwanderer ins Land des ‚Wirt-                                                      45

schaftswunders‘. Etwa 11 Mio. der Eingewander-                                                    40

                                                                                                  35
ten kehrten zurück. Der Rest blieb. Heute bildet
                                                                                                  30
die in Deutschland verbliebene „Gastarbeiter“-Ge-
                                                                                                  25
neration die älteste aller Bevölkerungsgruppen
                                                                                                  20
mit eigener Migrationserfahrung.
                                                                                                  15
   Seit Ende der 1980er und bis Mitte der 1990er
                                                                                                  10
Jahre erreichte der Zuzug von Aussiedlern und
                                                                                                  5
Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetuni-
                                                                                                  0
on den Höhepunkt: So kamen zwischen 1988 und        800       600       400       200        0         0    200       400       600       800

1998 ca. 2,5 Mio. Aussiedler*innen und Spätaus-     Anzahl in 1.000                                                            Anzahl in 1.000

siedler*innen nach Deutschland. Heute stellen die           Personen ohne Migrationshintergrund            Personen mit Migrationshintergrund

Spätaussiedler*innen mit rund 4,5 Mio. Personen     Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus                              © BiB 2018

die größte Migrantengruppe dar.
   Neben den bereits erwähnten großen Zu-           Aktuell ist die Bevölkerung mit Migrationshinter-
wanderungsbewegungen gab es noch eine drit-         grund in Deutschland noch deutlich jünger als die
te Einwanderungswelle: die Asylsuchenden. Im        Bevölkerung ohne Migrationshintergrund: der An-
Zeitraum von 1990 bis 1994 haben ca. 1,5 Mio.       teil der über 65-Jährigen liegt in der Gruppe der
Menschen in Deutschland Asyl beantragt. Wei-        Zuwanderer unter 10 Prozent. Aufgrund des de-
tere 2,1 Millionen kamen durch Familiennachzü-      mografischen Wandels wird aber der Anteil der äl-
ge oder im Rahmen ihrer Rechte als EG-Bürger        teren Migrant*innen stetig zunehmen. Die älteren
nach Deutschland.                                   Migrant*innen, wie es das Bundesamt für Migration
   Im Zuge von mehreren Einwanderungswellen         und Flüchtlinge in seinem Bericht feststellt, bilden
kamen in den Nachkriegsjahrzehnten Menschen         die Schnittmenge der beiden zentralen gesellschaft-
aus den unterschiedlichsten Zuwanderergruppen       lichen Prozesse „internationale Migration“ und „de-
nach Deutschland: „Gastarbeiter“, Aussiedler*in-    mografische Alterung“. Welche spezifischen Proble-
nen und Spätaussiedler*innen, Asylsuchende und      me haben ältere Migrant*innen? Wie unterscheiden
jüdische Menschen, die ihren Lebensabend hier er-   sich die Probleme der älteren Migrant*innen von
lebt haben oder noch erleben werden.                den Problemen der einheimischen Senior*innen?

          4 / 2019
ALT WERDEN IN DER FREMDE - Landesseniorenrat
Alt werden in der Fremde                                                 7

Die meisten Migrant*innen der ersten Generation          eigneten Maßnahmen und Angeboten unterstützt
verfügten über eine geringe Schulbildung und ein         werden, damit sie möglichst lange gesund bleiben
niedriges Qualifikationsniveau. Die Möglichkeiten        und am gesellschaftlichen Leben, soweit es für sie
zur Weiterbildung oder beruflichen Qualifizierung        möglich ist, teilhaben.
fehlten für sie in Deutschland. Zur Zeit der Anwer-                 Bevölkerung mit Migrationshintergrund* nach Altersgruppen in
bephase war eine berufliche Qualifikation auch nicht                      Deutschland, 2005 und 2016 (Anteile in Prozent)

so erforderlich wie heute, da die zugewanderten Ar-                           2005                                                       2016

beitskräfte schwere körperliche Arbeit – oft am Fließ-                     7,9                                         3,0
                                                                                                                                6,9
                                                                                                                                  10,0

band oder im Akkord – verrichteten. Sie hatten auch                 9,0                    22,4                     3,8
                                                                                                                         9,9
                                                                                                                                                  21,5

mit psychosozialen Problemen zu kämpfen, weil das
Leben in der Fremde an Zukunftsängste, Ausgren-              12,3           15,1 Mio.
                                                                            Personen                               13,1
                                                                                                                                      17,1 Mio.
                                                                                                                                      Personen

zung und Diskriminierung sowie fehlende Perspekti-                                                15,6
                                                                                                                                                          13,4

ven gekoppelt war. Diese Versäumnisse der Vergan-                 15,9                                                                          86,3

genheit wirken bis heute nach. Heute ist gerade bei                               16,9
                                                                                                                               16,0
                                                                                                                                                16,1

den Zuwanderern der ersten Generation das Risiko,
alterstypische Erkrankungen zu bekommen und un-                                                      Altersgruppe

                                                                           unter 15 Jahre                35 – 44 Jahre                65 Jahre und mehr
ter Pflegebedürftigkeit zu leiden, besonders hoch.                         15 – 24 Jahre                 45 – 54 Jahre

Hinzu kommt, dass die meisten Rentner*innen mit                            25 – 34 Jahre                 55 – 64 Jahre

Migrationshintergrund in schlecht bezahlten Beru-        *
                                                             Migrationshintergrund im engeren Sinn
                                                                                                                                                       © BiB 2018
fen tätig waren, was negative Auswirkungen auf ihre      Datenquelle: Statistisches Bundesamt Mikrozensus, Berechnungen: BiB

Rente hat. Aus diesem Grund sind ältere Zuwanderer
                                                         Junge und gesunde Rentner*innen mit Migrations-
in besonderem Maße von Altersarmut betroffen.
                                                         hintergrund (ab 60 Jahre) sollten günstige Bedin-
Vielfältiges Altern                                      gungen für das Engagement in den eigenen Milieus
                                                         vorfinden, weil sie sich vor allem in ihrem kulturellen
Das Leben der älteren Migrant*innen ist stark fa-
                                                         Umfeld engagieren wollen. Viele von ihnen sind ger-
milienorientiert. Meist leben sie mit ihren Kindern
                                                         ne bereit, sich einzubringen und ihre transkulturellen
und Enkelkindern in Mehrgenerationenhaushalten
                                                         Erfahrungen weiterzugeben.
zusammen. Dies hat eine positive Auswirkung auf
                                                            Man sollte selbstverständlich auch die zukünftigen
ihr Selbstwertgefühl. Die älteren Migrant*innen
                                                         Rentner*innen nicht aus dem Auge verlieren. Für die
agieren aktiv im familiären Umfeld: sie unterstüt-
                                                         arbeitende Bevölkerung mit Migrationserfahrung
zen die Familienangehörigen bei der Hausarbeit
                                                         gilt, dass man die Potenziale jeder einzelnen Person
und betreuen die Enkelkinder. Bei Krankheiten oder
                                                         berücksichtigt und die individuellen Fähigkeiten ma-
Pflegebedürftigkeit werden sie von ihrer Familie
                                                         ximal fördert. Die oben beschriebenen Handlungen
versorgt und unterstützt. Aber längst nicht alle Zu-
                                                         sind aber keine migrantenspezifischen Maßnahmen,
wanderer leben in großen Familien. 19 Prozent der
                                                         sondern Bedürfnisse und Ansprüche, die für jeden
früheren Arbeitsmigrant*innen sowie 22 Prozent
                                                         Menschen unabhängig von seiner Herkunft ihre Gel-
der (Spät-)Aussiedler*innen über 50 Jahre leben
                                                         tung haben (sollen). Im Hinblick auf diese grundle-
allein in einem Haushalt. Bei den Menschen ohne
                                                         genden menschlichen Bedürfnisse unterscheidet sich
Migrationshintergrund sind es 27 Prozent. Die
                                                         die Migrationsbevölkerung kaum von der einheimi-
Lebensformen sind auch im Migrantenmilieu sehr
                                                         schen Bevölkerung. Wir alle sind in erster Linie vor
vielfältig. Deshalb unterscheiden sich die Migran-
                                                         allem Menschen und in zweiter Linie dann Europäer,
tenbiografien stark voneinander. Es gibt in Wirk-
                                                         Afrikaner, Amerikaner oder Asiaten. Die Menschen
lichkeit keinen ‚Migranten‘ als solchen, sondern es
                                                         waren schon immer - und sind auch heute - mobil.
gibt Millionen unterschiedlicher Schicksale.
                                                         Ohne diese Mobilität hätten wir heute keine Euro-
   Auch in der Gruppe der älteren Zuwanderer
                                                         päer, Asiaten und Amerikaner gehabt. Was wir heute
gibt es Vielfalt und wesentliche Unterschiede. Auf-
                                                         ‚Zuwanderung‘ nennen, ist nichts anderes als die mo-
grund dieser Vielfalt empfehlen die Spezialisten -
                                                         derne Form dieser Mobilität.
auch im Hinblick auf die ältere Migrationsbevöl-
kerung - gruppenspezifisch vorzugehen und die
                                                                                        Dr. Andreas Buller
Menschen zu fördern:
                                                             Geschäftsstelle des Demografiebeauftragten des
   Die ältesten Zuwanderer, die sich im vierten
                                                                                Landes Baden-Württemberg
Lebensalter (ab 80 Jahre) befinden, sollten mit ge-

                                                                                                                         4 / 2019
ALT WERDEN IN DER FREMDE - Landesseniorenrat
8          Alt werden in der Fremde

Der Verein Emin Eller und
die Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz
Emin Eller (türkisch für „In sicheren Händen“) wurde 2015 gegründet und ist der Name des
Fördervereins, der die Senioren-Wohngemeinschaft in Stuttgart-Rot unterstützt. Der Verein hat
den Zweck, Entwicklungen neuer Wohn- und Betreuungsformen für versorgungs-, betreuungs- und
pflegebedürftige ältere Menschen mit Migrationshintergrund zu fördern. Ziel ist auch die Förde-
rung der Altenhilfe und des Stuttgarter Gesundheitswesens, die Unterstützung hilfsbedürftiger
Personen und Lobbyarbeit für Menschen mit Demenz. Die Senioren-WG wird unterstützt vom
benachbarten Alten- und Pflegeheim der Caritas Stuttgart Adam-Müller-Guttenbrunn. Emin Eller
führt Veranstaltungen zum Thema Gesundheit und Pflege im Stadtteil durch, dazu werden Interes-
sierte, ältere Deutsche und Migranten eingeladen.

Auf der großen Terrasse können die Bewohner*innen die frische Luft genießen. Foto: Verein Emin Eller,
Fotograf: Murat Ertem.
Die selbstverwaltete Wohngemeinschaft (WG) ist          und den bürgerschaftlich Engagierten besteht. So
für Menschen mit Migrationshintergrund gegrün-          wurde eine neue lokale Pflegeform entwickelt.
det worden, die demenziell erkrankt sind. Für ältere    Die deutschsprachige Nachbarwohngemeinschaft des
Menschen, die nicht mehr alleine zu Hause leben kön-    Vereins hat ebenfalls acht Bewohner*innen mit De-
nen und für Angehörige, die Entlastung suchen und       menz. Beide Seniorengruppen und deren Angehörige
dabei weiterhin Verantwortung übernehmen wollen.        tauschen sich regelmäßig aus und es finden gemeinsa-
Sie wurde als eine WG aus acht älteren Personen mit     me (christliche und muslimische) Feste statt.
türkischen Wurzeln konzipiert. Hier werden sie mut-        Der Vermieter dieser Wohngemeinschaft in Stutt-
tersprachlich und kultursensibel durch eine türkisch-   gart-Rot ist die SWSG Stuttgarter Wohnungsbau
sprachige ambulante Pflege betreut. Bei der Auswahl     Gesellschaft. Für die Bewohner*innen fallen gerin-
der ambulanten Pflege ist wichtig, dass eine enge Zu-   gere Kosten an als in Pflegeheimen. Die Unterstüt-
sammenarbeit zwischen der Pflege, den Angehörigen       zungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten der Angehöri-

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ALT WERDEN IN DER FREMDE - Landesseniorenrat
Alt werden in der Fremde              9

Das große Esszimmer lädt die Bewohner*innen zum gemeinsamen Essen ein. Foto: Verein Emin Eller,
Fotograf: Murat Ertem.
gen und Ehrenamtlichen des Stadtteils sind hier eine          Sinne der Betroffenen nachhaltig verbessert werden.
wichtige Säule in der gemeinsamen Alltagsgestaltung,             Seit 2018 sind die beiden WGs im Förderverein
somit auch eine Kostenersparnis.                              Emin Eller zusammengeschlossen.
   Der Verein Emin Eller bestärkt die Wohngemein-
schaften mit Kontakten zu den Diensten, zu Bildungs-
                                                                                                      Kontakt:
angeboten und zur Bürgerschaft im Stadtteil. So soll
                                                                                  Förderverein Emin Eller e.V.,
die Selbsthilfe in der Pflege und Betreuung der Bewoh-
                                                                         Ergun Can, Mail: Ergun.Can@t-online.de
ner*innen der WGs ermöglicht, ausgeweitet und im
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10         Alt werden in der Fremde

Wenn die Fremde keine Fremde mehr ist
Wenn einer den Spagat zwischen alter Heimat und neuem Zuhause geschafft hat, dann Halil
Ibrahim Kaplan. Der gebürtige Türke kam Ende der 60er Jahre als Gastarbeiter nach Lauin-
gen in Schwaben und wohnt schon lange in Ulm im eigenen Doppelhaus, Wand an Wand mit
seinem Sohn. Halil Ibrahim Kaplan, inzwischen 73, ist vielfältig ehrenamtlich aktiv, so auch im
Ulmer Seniorenrat als Vorstandsmitglied.

im blick: Gibt es etwas in Deutschland, das Ihnen
fremd geblieben ist, mit dem Sie sich nicht an-
freunden können?
Halil Ibrahim Kaplan: Nein, eigentlich nicht, weil
wir uns integriert haben und Teil dieser Gesellschaft
geworden sind.

Wie nimmt Ihre türkische Verwandtschaft Ihr
Leben und Ihre „Assimilation“ mit der deutschen
Kultur auf ? Gibt es Konflikte?
Meine Familie habe ich nicht verloren, aber mei-
ne Freunde. Wenn ich in meinem (türkischen,
Anm.d.Red.) Dorf bin, grüßen die nur noch. Aber wir
essen und trinken nicht mehr zusammen.

Neidet man Ihnen Ihren hier erarbeiteten
Wohlstand?
Neid ist etwas Menschliches, das spürt man schon.
Nicht nur in der Gesellschaft, im Dorf, sondern auch
bei den Verwandten. Obwohl meine Geschwister alle
gute Berufe ausgeübt haben, neiden Sie mir ein we-
nig, dass ich in Deutschland lebe, dem dort beliebtes-
ten Land. Auch hier in der Nachbarschaft. Ich bin ein
Migrant und habe ein Haus.

Sind Sie damals mit Ihrer Frau nach Deutsch-             Halil Ibrahim Kaplan beim Interview. Foto: Reinhard Kopp
land gekommen?
Nein. Weil ich in Deutschland keine Wohnung fand,        Warum bleiben Sie im Rentenalter hier in
musste meine Frau noch sechs Monate in der Türkei        Deutschland?
bleiben. Schließlich fand ich ein Gartenhaus, schick-    Weil ich hier meine Existenz habe. In der Türkei habe
te meiner Frau ein Flugticket und sie kam direkt aus     ich zwar in meinem Dorf auch ein Haus gebaut, aber
dem Dorf hierher. Sie kannte überhaupt keine Stadt       ich bin ein vorausdenkender Mensch, der sich nicht
und war hier also ganz fremd. Jeden Abend habe ich       unbedingt an seinen Mitmenschen orientiert. Nach-
ihr das, was ich an deutschen Sprachkenntnissen hat-     dem meine Kinder erfolgreich das Gymnasium ab-
te, weitergegeben. Sie erwies sich als sprachbegab-      solviert hatten, habe ich entschieden, hier zu bleiben.
ter als ich, besuchte einen Sprachkurs und lernte die    In der Türkei hätte ich meine Kinder nicht studieren
Grammatik besser als ich. Sogar Englisch hat sie noch    lassen können. Also beschlossen meine Frau und ich,
gelernt. Schließlich begann sie sich, mit meinem Ein-    ein Haus zu kaufen. Das ist türkische Mentalität, ent-
verständnis, sozial zu engagieren. (Anm.d.Red.: Frau     weder ein Haus oder eine Wohnung zu erwerben. Als
Rukiye Kaplan engagiert sich bis heute vielfältig eh-    wir das taten, waren die türkischen Kollegen entsetzt
renamtlich. Sie erhielt dafür 2008 die Verdienstme-      und warfen mir vor, „deutsch“ zu sein. Doch die fol-
daille des Landes Baden-Württemberg.)                    genden Jahre gaben mir recht.

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Alt werden in der Fremde             11

Haben Sie Heimweh?
Heimweh habe ich fast gar nicht. Denn jeden Sommer                                              Seniorenresidenz
fahren wir mit dem Auto in unser Dorf. Das ist eine                                             „Aquarius Beach“
Lebensart geworden. Wir bewegen uns dort genau-
so wie Touristen von einer Sehenswürdigkeit zur an-                                               Sri Lanka, Marawila,
dern. Dadurch habe auch ich die Türkei richtig ken-                                                    Westküste
nengelernt, in jede Himmelsrichtung. Wäre ich dort
geblieben, wir hätten solche Möglichkeit nicht gehabt.                                          – Deutsches Management –
Das bedeutet nicht, dass wir nicht auch Urlaub in an-                                            365 Tage im Jahr Sommer
deren europäischen Ländern gemacht hätten. Gerade                                             Durchschnittstemperatur 29 ℃
waren wir mit Hilfe unserer Kinder sogar in Japan.
Dass die Kinder uns helfen, entspricht unserer türki-                                        • Sie sind Rentner oder Pensionär
schen Mentalität.
                                                                                               und lieben die tropische Wärme
                                                                                             • Sie mögen die südasiatische
                                                                                               Mentalität
                                                                                             • Sie sind aufgeschlossen gegen-
                                                                                               über fremden Kulturen
                                                                                             • Sie möchten umgeben sein von
                                                                                               freundlichen Menschen
                                                                                             • Sie lieben asiatische Kost
                                                                                             • Sie möchten die Sicherheit, dass
                                                                                               Sie im Pflegefall freundlich und
                                                                                               liebevoll behandelt werden, von
                                                                                               Pflegern/innen, die sich viel Zeit
                                                                                               nehmen können

                                                                                             Dann sind Sie richtig bei uns. Wir
                                                                                             sind schon eine kleine deutsche
                                                                                             Enklave von Duisburgern, Bad
                                                                                             Kissingern und Stendalern, die Sri
                                                                                             Lanka zu ihrer zweiten Heimat ge-
                                                                                             macht haben - Und es nie bereut
                                                                                             haben.

Foto: Reinhard Kopp

 „Das Dorf in der Fremde“                                            Sprechen Sie mit mir oder emailen Sie:
 Halil Ibrahim Kaplan hat 2011 ein sehr empfehlenswer-
 tes Buch über sein Leben geschrieben. Fesselnd und                              Dietmar Doering, 65 Jahre
 detailreich schildert er seine Entwicklung vom türki-                 – Geschäftsführer Aquarius Beach Residenzen –
 schen Dorfjungen zum angesehenen Arbeitnehmer in
 Schwaben. Auch das ehrenamtliche Engagement seiner                  Seit 35 Jahren vor Ort in Sri Lanka, ehemals Natio-
 Frau Rukiye, die 2008 die Verdienstmedaille des Lan-                naltrainer der Tischtennis Mannschaften Sri Lankas.
 des Baden-Württemberg erhielt, kommt hier ausführlich               Diplom Sozialpädagoge
 zur Sprache.                                                        Studienrat Sekundarstufe 2
 Das Dorf in der Ferne, 14,80 EUR, zu beziehen über                  Mobil: +94 777 870 694 gerne auch über Whatsapp
                                                           Anzeige

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12          Alt werden in der Fremde

Immer mehr deutsche Rentner zieht es ins Ausland
Regelmäßig melden verschiedene Medien, dass die Zahl der auswanderungswilligen Ruhe-
ständler steigt. In den vergangenen zehn Jahren sei sie um ein Drittel gewachsen. Überwin-
tern unter südlicher Sonne ist ebenso ein häufig genannter Grund, wie auch eine bessere
Lebensqualität für das, was an monatlicher Rente zur Verfügung steht. Drohende Altersar-
mut zieht immer mehr Rentner in Richtung Osteuropa, nach Bulgarien und Rumänien. Hier
sind die Lebenshaltungskosten deutlich geringer und der Lebensstandard entsprechend
höher. Essen gehen, shoppen und günstiges Wohnen sind gewichtige Gründe.

Andere Länder, andere Sitten
EU-Länder wie Bulgarien oder Rumänien machen es                                             Foto:
deutschen Seniorenauswanderern leicht, sich in ihrem                                        © alexander-
Land niederzulassen. Doch dauerhaftes Wohnen ist                                            baumann
etwas anderes, als ein mehrmonatiger Langzeiturlaub.                                        – stock.adobe.com
Es beginnt schon mit der Sprachbarriere. Senioren,
                                                          den Kranken pflegt. Wer auswandern will, muss auch
die auswandern wollen, sind gut beraten, sich mit der
                                                          diese Seite im Blick haben. Denn schnell kann sich im
Sprache des Ziellandes vertraut zu machen. Bulgarien
                                                          Alter das gesundheitliche Blatt wenden.
hat die kyrillische Schriftsprache. Verträge und Doku-
mente zu verstehen, ist hier also besonders schwierig
für Deutsche. Wer sich solchem Lernprozess verwei-
                                                          Damit der Ruhestand im Ausland gelingt
gert, wird leicht zum Opfer und kommt in eine Ab-         • Klären Sie ab, ob Sie Ihre Rente und Sozialleistun-
hängigkeit, die fatal werden könnte, angenehmes Kli-        gen auch im Ausland beziehen können und ob Ihre
ma, freundliche Menschen und stets frisches Obst und        Krankenversicherung weiter bestehen bleibt.
Gemüse hin oder her.                                      • Neben den Lebenshaltungskosten schlagen an-
                                                            fangs hohe Gesamtausgaben zu Buche: der Umzug
Wenn die Familie zurückbleibt                               an sich und der Erwerb einer neuen Bleibe, sei es
                                                            eine Wohnung oder ein Haus.
Kinder, Enkel, Geschwister, Freunde, Nachbarn –
                                                          • Machen Sie sich mit Sprache und Kultur Ihres
Menschen, die unser soziales Umfeld bisher ausmach-
                                                            Wunschlandes vertraut. Wenn es auch auf dem
ten, müssen Auswanderer meistens zurücklassen. Für
                                                            Markt oder im Geschäft reicht, sich mit Händen
kinderlose Ehepaare weniger problematisch, wie für
                                                            und Füßen und ein paar Brocken der Landesspra-
Rentner, die dann getrennt von Kindern und Enkeln
                                                            che verständlich zu machen, bei Behörden oder
im Ausland leben. Sie sehen ihre Enkel nicht aufwach-
                                                            im Krankheitsfall sind fehlende Sprachkenntnisse
sen, können nicht einspringen, wenn Hilfe gebraucht
                                                            ernst zu nehmende Hürden.
wird und umgekehrt keine schnelle Hilfe von der Fa-
                                                          • Williges Einleben. Was wir in Deutschland für
milie erwarten. Auswanderungswillige Senioren soll-
                                                            die Migranten als recht erachten, Respekt ge-
ten also genau abwägen, ob die Vorteile ihres Sehn-
                                                            genüber unserer Kultur und den Traditionen,
suchtsortes den Verlust der verwandtschaftlichen und
                                                            sollte deutschen Rentnern im Ausland ebenso
familiären Verbindungen aufwiegen.
                                                            wichtig sein: Nicht wir und unsere Gewohnhei-
                                                            ten sind hier der Maßstab.
Die Schattenseite vom
sonnigen Ruhestand                                        Hilfreich ist es deshalb, sein Sehnsuchtsland erst ein-
                                                          mal zu „testen“. Vielleicht in einem längeren „Probe-
Keine Frage, ob in Italien, Polen, Österreich oder Spa-
                                                          wohnen“. Wer klug zu Werke geht, dem könnten an
nien – wer krank wird, hat Anspruch auf Behand-
                                                          seinem Sehnsuchtsort ein paar wunderbare Jahre in
lung. Wer die Sprache nicht beherrscht, könnte unter
                                                          Freiheit winken.
Umständen eine böse Überraschung erleben. In Bul-
garien ist es für einen Krankenhausaufenthalt üblich,
                                                                                              Marianne Kopp
seine Bettwäsche mitzubringen und eine Person, die

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Alt werden in der Fremde                 13

Fremd bin ich nur dort, wo meine Familie nicht ist
Als Katja Geier 1992 mit Mann und drei Kindern, das jüngste war gerade zehn Monate alt, aus
Kasachstan nach Deutschland kam, wussten sie nicht, was sie in der fremden Heimat erwartete.
Sich nicht länger demütigen zu lassen und für sich und die Kinder eine Perspektive zu haben, war
für viele Russlanddeutsche der Grund, weshalb sie Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahr-
hunderts in die Bundesrepublik ausreisten. Doch bekam ihre Euphorie, endlich wieder im Land
ihrer Vorfahren zu sein, einen ziemlichen Dämpfer. Weil viele von ihnen kaum deutsch sprachen
oder einen Akzent hatten, wurden sie alsbald als „Russen“ wahrgenommen.

                                                       Sie haben sich nach den Kindern erkundigt. Zum
                                                       Abschluss dieses Willkommensfestes bekamen wir
                                                       eine Mappe, die ich heute noch habe, wo alles Wis-
                                                       senswerte über den Kreis Holzminden drin war und
                                                       über das Weserbergland.“
                                                          Ihre Ehe ist zwar inzwischen zerbrochen, den-
                                                       noch, bereut hat sie den Wechsel nach Deutschland
                                                       nie: „Ich bin sehr dankbar, dass wir diesen Schritt
                                                       gewagt haben um der Kinder willen. Ihre Ausbil-
                                                       dung, das Leben, kurz: was das für Menschen ge-
                                                       worden sind. Wenn ich die Gleichaltrigen in Ka-
                                                       sachstan betrachte, kann ich nur froh sein. Drogen,
                                                       Gefängnis – all das hätte zwar auch hier passieren
                                                       können, aber ist es nicht.“
                                                          Heimat, so hat ihre Mutter immer gesagt, sei
                                                       dort, wo die Familie miteinander lebt.
                                                                                           Marianne Kopp

                                                       Anzeige

Katja Geier ist ganz in Deutschland angekommen.
In der Sowjetunion war sie als Lehrerin tätig.
Fotos: Reinhard Kopp
Doch Katja Geier ließ sich in ihrem Entschluss, we-
nigstens den Kindern eine Zukunft zu bieten, nicht
beirren. Inzwischen waren auch ihre Eltern und Ge-
schwister gefolgt. Die ganze Familie landete in Ar-
holzen, einem kleinen Dorf im Landkreis Holzmin-
den. Frau Geier erinnert sich immer noch gern an
ihre Ankunft: „Im Juni oder Juli haben die uns doch
tatsächlich gefragt, ob wir einverstanden wären, sie
würden uns ins Gemeindehaus einladen und will-
kommen heißen. Da waren der Bürgermeister und
                                                         Pflege macht arm!
                                                         Wir müssen etwas dagegen tun.
die Landfrauen. Da gab es ein Buffet, Kaffee und Ku-     Ihre Stimme zählt!
chen. Sie haben Fragen gestellt und sind mit uns ins      Sozialverband VdK Baden-Württemberg e.V.
Gespräch gekommen und waren sehr interessiert.            Johannesstraße 22 | 70176 Stuttgart
Sie haben uns in die verschiedenen Vereine eingela-
den, in den Chor zum Beispiel, sie haben die Vereine                        Mehr Infos auf www.vdk.de/bawue
vorgestellt und gesagt, sie hätten uns gerne dabei.

                                                                                          4 / 2019
14         Alt werden in der Fremde

Interkulturelle Beratung in der Apotheke
Alt werden wollen wir alle – und wenn die Gesundheit uns keinen Strich durch die Rechnung
macht, steigen die Chancen auf das Erleben eines betagten Alters an. Doch die Vorstellung über
das Altwerden und die Bedürfnisse der Älteren variieren in den unterschiedlichen Kulturen durch-
aus. In unserer globalisierten Welt leben viele Kulturen Tür an Tür – auch wichtig für die Beratung
in der Apotheke.

Oft schon umgesetzt – Apothekenmitar-                 Wenn die Sprache versagt
beiter aus vielen Nationen und Kulturen               – nonverbale Kommunikation
Schon heute gibt es oftmals bunte „Multi-Kul-         Aber auch in einem „bunten“ Apotheken-Team
ti-Teams“ in der Apotheke, zusammengesetzt            kann es sein, dass Sprachbarrieren die Beratung
aus Mitarbeitern unterschiedlichster Nationen:        von Menschen mit Migrationshintergrund deut-
Entsprechende Sprachkenntnisse, aber auch das         lich erschweren. Auch die Gefahr von Missver-
Verständnis über kulturelle und religiöse Hinter-     ständnissen durch mangelnde Sprachkenntnisse
gründe unterschiedlicher Länder und Kulturkreise      oder fehlerhafte Übersetzungen gerade in sensib-
erleichtern die sensible Beratung rund um die Ge-     len Beratungsbereichen rund um die Gesundheit
sundheit und der Medikation.                          kann bei den Betroffenen Konflikte und Ängste
                                                      schüren. Die Apothekerschaft hat darauf reagiert.
Kulturelle Unterschiede im Alter                      Es wurden zahlreiche Übersetzungshilfen in un-
                                                      terschiedlichen Sprachen und Piktogramme zu
– ein besonders sensibles Thema                       Darreichungsformen, Einnahmezeiten und mögli-
Zuwanderung in Deutschland kann nicht als vor-        chen Nebenwirkungen von Arzneimitteln erstellt
übergehendes Phänomen gesehen werden. Viele           und stehen allen Apotheken zur Verfügung. So
Integrationsprogramme beziehen sich allerdings        können Apotheken auf gute Arbeitshilfen für die
insbesondere auf jüngere Zuwanderer, von denen        Beratung von Menschen aus anderen Kulturkrei-
auch der Arbeitsmarkt profitieren könnte. Zwi-        sen zurückgreifen, wie das Beispiel unten zeigt.
schenzeitlich zeichnet sich immer mehr ab, dass          Das Medikament sollte wie folgt dosiert           Рекомендации по дозировке и приему
Konflikte in den Herkunftsländern der Betroffenen        und eingenommen werden:                           лекарственного средства:

nicht von kurzer Dauer sein werden. Menschen             The drug should be dosed and taken as follows:   Ilaçi duhet të merret i dozuar dhe si vijon:

                                                         İlacın dozajı aşağıdaki gibi ayarlanmalı ve         : ‫دلا بئةعت بجيواناتو ءوتاىليلا نحولا ه عىل ل‬
verbleiben damit länger in Deutschland, schlagen         kullanılmalıdır:

hier Wurzeln und werden natürlich auch älter. Äl-
tere Menschen brauchen mehr Beratung und Un-
terstützung, deshalb potenzieren sich die oben-
genannten Probleme und Anforderungen an die
Beratung und Betreuung in den Apotheken.                                         ___ capsule/s every
                                                                                       2 hours
                                                                                                          ___ tablet/s every
                                                                                                               4 hours
                                                                                                                                   ___ capsule/s every
                                                                                                                                         6 hours
   Apotheken sind durch ihre oftmals multikultu-
rellen Teams und durch gut gemachte Arbeitshil-
fen recht gut gerüstet für diese Situation. Dennoch
erfordert die Beratung und Betreuung von Men-
schen mit Migrationshintergrund auf der einen                  Morning                  Noon                  Evening                      Night

Seite die Bereitschaft, fremde Kulturen zu respek-
                                                      Quelle: ABDA
tieren, daraus resultierende Verhaltens- und Le-
bensweisen zu akzeptieren und in der Beratung zu
                                                       Der Landesapothekerverband Baden-Württemberg
berücksichtigen und schließlich hierfür einen ge-
                                                       setzt sich für die unabhängige Beratung von Patienten,
wissen Mehraufwand an Zeit einzuplanen.
                                                       Gesundheitsprävention und die sichere Abgabe von
                                                       Arzneimitteln ein. In Baden-Württemberg gibt es rund
                                                       2.500 öffentliche Apotheken.

          4 / 2019
Gesundheit          15

AOK-Facharztvertrag Kardiologie:
Deutlich weniger Todesfälle für Herzpatienten
Herzkranke Patienten haben eine signifikant höhere         Steuerung von Arztkontakten und der Vermeidung
Überlebensrate, wenn ihre Versorgung besser gesteu-        unnötiger Krankenhauseinweisungen sowie höherer
ert wird. Dies ergibt eine vom Innovationsfond des         Qualitätsanforderungen an die beteiligten Haus- und
Gemeinsamen Bundesausschusses geförderte wissen-           Fachärzte. „Herzpatienten mit einem höheren Sterbe-
schaftliche Evaluation, die Zahlen zu Versicherten im      risiko profitieren von den Überlebensvorteilen erwar-
Facharztvertrag Kardiologie der AOK Baden-Würt-            tungsgemäß deutlich stärker und bereits nach wesent-
temberg über einen Zeitraum von zwei Jahren ausge-         lich kürzerer Zeit“, so Gerlach.
wertet hat. In der Hochrechnung wurden 267 vermie-            Die AOK Baden-Württemberg und ihre Ver-
dene Todesfälle bei selektivvertraglich Versicherten       tragspartner MEDI und der Hausärzteverband Ba-
mit chronischer Herzinsuffizienz (HI) und 343 bei          den-Württemberg sehen sich auf ihrem vor über 10
Versicherten mit koronarer Herzkrankheit (KHK)             Jahren begonnenen Weg einer qualitätsorientierten
ausgewiesen. Zudem wurden den Patienten potenziell         ambulanten Vollversorgung mit maßgeschneider-
vermeidbare und belastende Krankenhausaufnahmen            ten regionalen Strukturen erneut bestätigt. Doch
erspart. Laut Evaluation wurden schon innerhalb            die Fortsetzung des Erfolgsmodells im Südwesten
von nur zwei Jahren bei HI-Patienten 1068 und bei          sehen die Partner durch das in Berlin geplante Fai-
KHK-Patienten 1128 Klinikeinweisungen vermieden.           re-Kassenwettbewerb-Gesetz (FKG) gefährdet. Der
„Der Überlebensvorteil zugunsten der Patienten im          Entwurf des Gesetzes sieht unter anderem ein Ver-
Haus- und Facharztprogramm kommt nicht unerwar-            bot vor, vertragliche Leistungen und deren Vergü-
tet, beeindruckend ist die Effektstärke im Vergleich       tung an bestimmte Diagnosen zu binden – was aber
zur Regelversorgung“, so Prof. Dr. Ferdinand Ger-          die wesentliche Voraussetzung ist, um auf konkrete
lach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der      Patientenbeschwerden zugeschnittene Versorgungs-
Goethe-Universität Frankfurt/Main. „In den bisheri-        konzepte erfolgreich anzubieten. „Damit stehen die
gen Evaluationen zum AOK-Hausarztvertrag konn-             Alternative Regelversorgung und andere Selektivver-
ten wir schon feststellen, dass sich die Qualitätsschere   träge am Abgrund“, sagt Dr. Christopher Hermann,
von Jahr zu Jahr zugunsten der Hausarztzentrierten         Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württem-
Versorgung öffnet und nach fünf Jahren sahen wir           berg. Das nun Erreichte sei aber durch das sogenann-
einen Trend zu einer Verringerung der Sterblichkeit        te FKG massiv bedroht. „Die aktuelle Evaluation
für alle Teilnehmer.“ Die Vorteile ergäben sich wahr-      zeigt eindrucksvoll, dass eine bessere ambulante Ver-
scheinlich aus dem Zusammenspiel vertraglicher             sorgungssteuerung, basierend auf passgenauen regi-
Steuerungsinstrumente – unter anderem zur Opti-            onalen Strukturen, nachhaltig zu eindeutigen Quali-
mierung der Arzneimitteltherapie, in Bezug auf die         tätsvorteilen bei geringeren Kosten führt. Geradezu
                                                           grotesk mutet daher an, dass stationäre Leistungen
                                                           seit vielen Jahren zur Optimierung der Versorgungs-
                                                           steuerung nahezu ausschließlich nach Behandlungsdi-
                                                           agnosen vergütet werden, während in der ambulanten
                                                           Versorgung dieser Zusammenhang zukünftig verbo-
                                                           ten werden soll“, so Hermann.
                                                              Würde die Regelung so Gesetz, wird der mit viel
                                                           Mühen zum Laufen gebrachte sinnvolle Wettbewerb
                                                           um eine bessere ambulante Versorgung der Menschen
                                                           abgewürgt. Derzeit nehmen mehr als 5.000 Haus-
                                                           und Kinderärzte und 2.500 Fachärzte (davon 219 Kar-
                                                           diologen) sowie Psychotherapeuten an den Verträgen
                                                           der AOK Baden-Württemberg teil. Sie verantworten
                                                           gemeinsam die Versorgung von mehr als 1,65 Milli-
                                                           onen HZV-Versicherten und mehr als 700.000 Ver-
                                                           sicherten im gemeinsamen Facharztprogramm von
                                                           AOK Baden-Württemberg und Bosch BKK.

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Moderne Wohnkonzepte im Alter
Immer mehr Senioren legen Wert darauf, auch im Alter und unabhängig von Pflegebedürf-
tigkeit oder körperlichen Einschränkungen im gewohnten sozialen Umfeld leben zu können.
Für eine altersgerechte Gestaltung von Quartieren sind Wohnangebote wichtig, die auf die
verschiedenen Lebenslagen von Senioren abgestimmt sind. Ein Überblick.

Wohnen im eigenen Zuhause                                   wurden, liegen meist in Zentrumsnähe und beinhalten
Eine besondere Rolle für die Lebensqualität – auch          einen Hausmeisterservice. Darüber hinaus können oft-
im Alter und bei Pflegebedürftigkeit – spielt die eige-     mals zusätzliche Dienstleistungsangebote gewählt wer-
ne Wohnung. Ältere Menschen möchten so lange wie            den, zum Beispiel ein Mahlzeitendienst oder ein Ein-
möglich in ihrer eigenen Wohnung leben. Wenn selb-          kaufs-, Reinigungs- und Wäscheservice.
ständiges Wohnen im Alter schwieriger wird, finden
Senioren und Angehörige Hilfe bei Wohnberatungsstel-        Betreutes Wohnen
len, die über Möglichkeiten informieren, wie der Alltag
                                                            Auch Wohnanlagen des Betreuten Wohnens bieten in
zuhause erleichtert werden kann. In der barrierefreien
                                                            der Regel abgeschlossene barrierefreie Wohnungen.
Musterwohnung „Werkstatt Wohnen“ des KVJS sind
                                                            Grundlage dieses Wohnkonzepts sind Serviceangebo-
zahlreiche solcher Lösungen ausgestellt (www.barriere-
                                                            te in Form von Grund- und Wahlleistungen. Das Ziel
frei-wohnen.kvjs.de).
                                                            des Betreuten Wohnens ist die möglichst selbstständi-
   Jedoch ist der Wunsch nach dem Verbleib in der ver-
                                                            ge Haushalts- und Lebensführung bei gleichzeitiger
trauten Wohnung nicht immer umsetzbar. Manchmal
                                                            Betreuung. Betreute Wohnanlagen unterscheiden sich
sind Anpassungen für mehr Barrierefreiheit nur in ge-
                                                            in Größe, Qualität und Konzeption voneinander. Die
ringem Umfang oder mit sehr hohem Aufwand mög-
                                                            KVJS-Orientierungshilfe „Planen, Bauen und Betrieb
lich. Wenn dies dazu führt, dass ältere Menschen nur
                                                            Betreuter Wohnanlagen für Senioren in Baden-Würt-
noch selten ihre Wohnung verlassen können oder das
                                                            temberg“ bietet eine Übersicht über Qualitätskriterien
eigene Haus zu einer Belastung wird, drohen Verein-
                                                            und -standards. Die Onlinebroschüre kann auf www.
samung und Überforderung. Falls der Verbleib in der
                                                            kvjs.de abgerufen werden. Der Begriff des Betreuten
eigenen Wohnung trotz Unterstützung nicht möglich
                                                            Wohnens ist nicht geschützt und kann daher von An-
sein sollte, ist es wichtig, für ältere Menschen bedarfs-
                                                            bietern auch für Wohnungen für Senioren mit Haus-
gerechte Wohnangebote in dem vertrauten Quartier
                                                            meisterservice verwendet werden.
anzubieten, die verschiedene Lebensphasen und indivi-
duelle Wünsche berücksichtigen können.
                                                            Mehrgenerationenwohnen
Barrierefreie Wohnungen für Senioren                        Im Rahmen des Mehrgenerationenwohnens verfügen
                                                            die Bewohner jeweils über eine eigene Wohnung. Sie
                                                            verstehen sich als Hausgemeinschaft, die sich gegen-
                                                            seitig unterstützt und bei Bedarf gemeinsam Hilfe in
                                                            Anspruch nimmt. Meistens stehen zusätzlich zur eige-
                                                            nen Wohnung Flächen oder Räume zur Verfügung, die
                                                            gemeinschaftlich genutzt werden können. Hausgemein-
                                                            schaften können selbst oder durch einen Träger oder
                                                            Bauträger initiiert werden. Die Wohnungen können so-
                                                            wohl gemietet als auch gekauft sein.
Verschiedene Wohnkonzepte sind wichtig, um individuel-
le Lebensphasen und Wünsche berücksichtigen zu
                                                            Pflege-WG
können. Foto: © Thomas Brenner                              In Wohngemeinschaften für Menschen mit Unter-
                                                            stützungs- und Versorgungsbedarf leben bis zu
Barrierefreie Wohnungen, die speziell für ältere Men-       zwölf Menschen in einem gemeinsamen Haushalt
schen oder Menschen mit Behinderung konzipiert              zusammen und werden dort begleitet. Bei Bedarf

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KVJS          17

wird die Pflege durch Ambulante Dienste geleistet,       hes Maß an Selbstbestimmung und ermöglichen sehr
die frei gewählt werden kann. Primäres Ziel der          flexible Unterstützungsangebote. Die Erfahrungen be-
ambulant betreuten Wohngemeinschaften ist es,            stehender Projekte zeigen, dass es hilfreich ist, bereits
auch bei sehr umfassendem Pflegebedarf ein hohes         frühzeitig externe Beratungsangebote – zum Beispiel
Maß an individueller Selbstbestimmung und eine           der Fachstelle ambulant unterstützte Wohnformen
Wohn- und Pflegesituation zu gewährleisten, die          (FaWo) beim KVJS – zu nutzen, um eine Wohngemein-
sich an der eigenen Häuslichkeit orientiert.             schaft ins Leben zu rufen. Außerdem ist es ratsam, be-
   Ambulant betreute Wohngemeinschaften für Men-         reits in einem frühen Planungsstadium Kontakt zur
schen mit Unterstützungs- und Versorgungsbedarf          Heimaufsicht und zum Sozialamt aufzunehmen. Auch
orientieren sich am Alltag eines Privathaushalts. Sie    der Austausch mit bereits realisierten Wohngemein-
bieten aufgrund der kleinen Zahl an Bewohnern ein ho-    schaftsprojekten kann Anregungen bieten.

Aktiv, vernetzt, zukunftsfähig
Fachtag zur Quartiersentwicklung als kommunale Gestaltungsaufgabe
Mehr als 300 Akteure widmeten sich am 24. Juli 2019 im Hospitalhof Stuttgart der Gestaltung
zukunftsfähiger Quartiere. Auch die Fachstelle ambulant unterstützte Wohnformen (FaWo), die
beim KVJS angesiedelt ist, war vor Ort und brachte Impulse ein.

Der Fachtag ist bereits der zweite im Rahmen der         FaWo informiert über
Landesstrategie „Quartier 2020 - Gemeinsam.
                                                         alternative Wohnformen
Gestalten“ und hatte zum Ziel, den Akteuren wie
Kommunen, Verbänden und Kirchen, Anregungen              Auch die FaWo war auf der Veranstaltung mit einem
für die Quartiersarbeit und -entwicklung vor Ort         Stand vertreten. Sie informierte über ihre Leistungen
mitzugeben.                                              und alternative Wohnformen, die die Selbstbestim-
   Manne Lucha, Minister für Soziales und Integra-       mung fördern und der eigenen Häuslichkeit nahe
tion, stellte dar, wie die Bürger die Landesstrategie    kommen. Die FaWo ist Teil des Informations- und
Quartier 2020 mit Leben füllen und betonte die Be-       Beratungsnetzwerkes der Landesstrategie.
deutung dieses Engagements. Es habe sich daraus
eine Bürgerbewegung entwickelt, aus der sich zusam-      Austausch im Praxisforum
men mit den Kommunen das Zusammenleben der
                                                         Darüber hinaus wurden im Rahmen eines Praxisfo-
Generationen von Morgen und das Leben im Alter
                                                         rums ambulant betreute Wohngemeinschaften und
neu gestalten lassen. Professor Frank Weidner vom
                                                         selbstbestimmtes Wohnen in den Mittelpunkt ge-
Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung
                                                         stellt. Christiane Biber von der FaWo lud zum Aus-
erläuterte in seinem Fachvortrag, wie sich bedarfsge-
                                                         tausch mit kommunalen Gesprächspartnern ein, die
rechte Angebote und Netzwerke in den Kommunen
                                                         unter anderem inklusive Wohn- und Betreuungspro-
entwickeln lassen. Er hob hervor, dass sich die aktive
                                                         jekte sowie die Förderung von Pflege-WGs aufgriffen.
Teilhabe an der Gestaltung des Quartiers positiv auf
                                                         In insgesamt sieben Praxisforen mit unterschiedli-
die Gesundheit älterer Menschen auswirke und sich
                                                         chen Schwerpunkten haben die Besucher des Fach-
daraus Möglichkeiten zur Stärkung des bürgerschaft-
                                                         tags Aspekte der Quartiersarbeit kennengelernt und
lichen Engagements bieten.
                                                         an konkreten Projekten diskutiert.

Aktiv-Markt voller Ideen                                  Mehr Informationen zur FaWo finden Sie unter
                                                          www.kvjs.de
Ein breites Spektrum an Ideen für die Quartiersent-
                                                          Mehr Informationen zur Landesstrategie
wicklung wurde den Teilnehmern durch einen Ak-
                                                          „Quartier 2020 – Gemeinsam. Gestalten“
tiv-Markt geboten. Auf interaktive Weise konnten sie
                                                          finden Sie unter
sich über Ansätze und Beispiele der Quartiersarbeit in
                                                          www.quartier2020-bw.de
Baden-Württemberg informieren und austauschen.

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