INSTITUT FÜR POSTEVOLUTIONÄRE LEBENSFORMEN - 21.08.- 24.10.21 Reiner Maria Matysik

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INSTITUT FÜR POSTEVOLUTIONÄRE LEBENSFORMEN - 21.08.- 24.10.21 Reiner Maria Matysik
INSTITUT FÜR
POSTEVOLUTIONÄRE
LEBENSFORMEN
     Reiner Maria Matysik

21.08.––
24.10.21
INSTITUT FÜR POSTEVOLUTIONÄRE LEBENSFORMEN - 21.08.- 24.10.21 Reiner Maria Matysik
LEBEN AUS DEM 3D-DRUCKER             aber auch die seiner Umgebung
Das neugegründete Institut für       zukünftig wohl kaum mehr rein
postevolutionäre Lebensformen        natürlich ablaufen wird. Dass
im Kunstmuseum Heidenheim            irgendwann Lebewesen im 3D-
gewährt Besucherinnen und Be-        Drucker entstehen, ist nicht ab-
suchern spannende Einblicke in       wegig. Die ethischen Diskussio-
die Zukunft der Welt und gleich-     nen auf dem Weg dorthin werden
zeitig in die atemberaubende         aber noch andauern.
Vielfalt kleinster Organismen.
Einen Vorgeschmack auf die Aus-      RADIOLARIEN
stellung im Hugo-Rupf-Saal gibt      Über dem Schwimmbecken des
ein hochmoderner 3D-Drucker          ehemaligen Volksbads Heiden-
im Museumsfoyer, welchen die         heims haben sich aktuell wie-
Firma Voith dem Kunstmuseum          der Wasserwesen eingefunden.
dankenswerterweise zur Ver-          Konkret handelt es sich um so-
fügung stellt. Im sogenannten        genannte Radiolarien. Diese
FDM-Verfahren (kurz für: Fused       mikroskopischen Wesen wurden
Deposition Modeling) wird            erstmals 1834 durch Franz Julius
schmelzfähiger Kunststoff ge-        Ferdinand Meyen beschrieben.
schichtet, um die Entwürfe Reiner    Von Bakterien unterscheiden sie
Maria Matysiks in dreidimensio-      sich durch ihren Zellkern und
nale Kunstwerke zu übersetzen.       ihre spezielle Form, die aus einer
So werden die gesamte Aus-           zentralen, perforierten Kapsel
stellungsdauer hindurch neu-         und nach außen gestülpten, so-
artige Lebewesen im 3D-Drucker       genannten Axopodien (Schein-
produziert. Diese Tatsache weist     füßchen) besteht. Ihre meist fili-
bereits auf eine der zentralen       granen Skelettnadeln führten zu
Thesen im Schaffen Matysiks hin.     Bezeichnungen wie Strahlentiere
Dem Künstler zufolge wird der        oder Strahlinge. Betrachtet man
Mensch zukünftig aktiv in die Evo-   diese Kleinstlebewesen, die als
lution eingreifen. Schon immer       Plankton im Meer vorkommen,
gestaltete unsere Spezies ihr Um-    unter dem Mikroskop, zeigt sich
feld nach den eigenen Bedürfnis-     eine schier unendliche Vielfalt von
sen. Die technischen Fortschritte    Formen. Ebenso beeindruckt ist
in den Biowissenschaften, etwa       die Dauer ihres Vorkommens.
das Genetic Engineering, lässt       600 Millionen Jahre lang existie-
bereits jetzt erahnen, dass die      ren diese Lebensformen bereits.
Fortentwicklung des Menschen,        Das bedeutet, dass sie einige ent-
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Ausstellungsansicht Reiner Maria Matysik: Komm, nimm mich., in der Kunsthalle Wilhelmshaven,
Foto: Ricardo Nunes © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

scheidende evolutionäre Vorteile                       oftmals Öltröpfchen eingelagert.
zu besitzen scheinen. Dass sich                        Die Axopodien übernehmen eine
Reiner Maria Matysik in seinem                         Doppelfunktion: Sie ermöglichen
Institut für postevolutionäre Le-                      ein Schweben im Wasser, dienen
bensformen für Radiolarien inte-                       aber auch der Nahrungsaufnah-
ressiert, verwundert nicht. Denn                       me. Ob die spitzen Strahlen auch
wer darüber nachdenkt, welche                          vor Fressfeinden schützen, ist
Formen kommende Wesen an-                              umstritten, aber denkbar.
nehmen könnten, sollte erfor-                          Die hier ausgestellten, auf mo-
schen, welche bereits bestehende                       lekularmikroskopischen Auf-
Attribute vorteilhaft fürs Über-                       nahmen basierenden Nachbil-
leben sind. Bei Radiolarien fällt                      dungen von Radiolarien wurden
zum einen die geringe Größe von                        von Studierenden am Institut für
50 bis 500 μm auf. Trotz der ge-                       postevolutionäre Lebensformen
ringen Größe sind sie durch ihre                       aus Styrodur geschaffen. Das
Form besonders stabil. Gleichzei-                      bildnerische Nachformen dieser
tig sind sie leicht, da sie ja knapp                   Einzeller ermöglicht ein tieferes
unterhalb der Wasseroberfläche                         Verständnis für deren Wuchs-
schwimmen müssen. Hierzu wer-                          formen und soll dazu dienen, von
den zur Erhöhung des Auftriebs                         der Natur zu lernen.
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WESEN
                                                     Die auf den Tischen ausgestell-
                                                     ten Modelle sind das Herzstück
                                                     des Instituts für postevolutionäre
                                                     Lebensformen. Es handelt sich
                                                     um prototypische Darstellungen
                                                     zukünftiger Wesen. Sie basie-
                                                     ren auf der Annahme, dass der
                                                     Mensch fähig sein wird, aktiv in
                                                     die Evolution einzugreifen, um
Ins Auge Gefallenes, aus der Serie: unwillkürlich,   eigenständige und neuartige Le-
Bleistift auf Papier, 2020
© VG Bild-Kunst, Bonn 2021                           bensformen herzustellen. Diese
                                                     sind jedoch keine technisierten
                                                     cyborghaften Schreckensgespins-
ZEICHNUNGEN                                          te. Vielmehr geht Matysik davon
Reiner Maria Matysik arbeitet in                     aus, dass wir das Potenzial der
unterschiedlichen Medien und                         Natur stärker nutzen könnten.
Formaten. Die Zeichnung gehört                       Damit zusammen hängt auch,
zu den unmittelbarsten Aus-                          dass der bisherige ethische Dis-
drucksformen. Für den Künstler                       kurs neu definiert werden müss-
sind sie ein einfaches Mittel, um                    te. Die ausgestellten Prototypen
Ideen zu entwickeln oder spiele-                     sollen daher jetzt schon unseren
risch neue Formate zu erfinden.                      Denk- und Vorstellungshorizont
Oft beinhalten seine Zeichnungen                     erweitern. Das ist nötig, da ab-
ein Wort oder einen markanten                        sehbar ist, dass die technische
Satz. Manchmal sind sie jedoch                       Entwicklung der modernen Bio-
auch sehr konkrete Entwürfe für                      wissenschaften in den nächsten
andere Arbeiten.                                     Dekaden unglaubliche Sprünge
                                                     machen wird. Und je mehr der
Den Besucherinnen und Besu-                          Mensch Lebendiges produzieren
chern ermöglichen die Zeichnun-                      kann, je mehr ihm biologische
gen einen guten Einblick in die                      Prozesse als Gestaltungsmasse
Begriffs- und Motivwelt des ge-                      zur Verfügung stehen, desto
bürtigen Duisburgers. Vor allem                      dringender wird auch die Frage,
organische Linien und Gebilde                        welche Möglichkeiten diese Be-
bestimmen die Darstellungen,                         fähigung ermöglicht. Welche
häufig gepaart mit biologischen                      Mischformen aus Mensch, Tier
Begriffen.                                           und Pflanze könnten entstehen
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00045 udicola turgida (geschwollene nassbewohnende), verschiedene Materialien, 2006
© VG Bild-Kunst, Bonn 2021

und wie werden diese das Selbst-                      logische Plastik“ verstanden wer-
verständnis des Menschen än-                          den, die über unseren Umgang
dern? Denn wenn die Grenzen                           mit der Welt, unser zukünftiges
zwischen den Arten aufweichen,                        Eingreifen in diese und unsere
dann wird auch die bisherige Hie-                     eigene Position als biologisches
rarchie in Frage gestellt. Können                     Wesen nachdenken lassen. Durch
wir vielleicht Lebewesen entwi-                       die Kunst soll dies fernab von
ckeln, die evolutionär so starke                      gängigen ethischen Denkmustern
Überlebensqualitäten haben, dass                      erfolgen.
sie als postevolutionär gelten?
Die fähig sind, die noch kommen-                      Im Folgenden möchten wir einige
den Folgen des Klimawandels zu                        der Lebensformen vorstellen.
überleben und damit dem Men-
schen sogar überlegen sind?

Die Ergebnisse des Instituts für
postevolutionäre Lebensformen
können in diesem Kontext als
„lebendige Skulptur“ oder „bio-
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00076 caverna inflata (aufgepumpte höhle)

Der Körpermantel von caverna                verschieben und sind um das
inflata besteht aus einer tieri-            Siebenfache dehnbar. Sensoren
schen Zellulosestruktur. Die Haut           messen die beim Aufblasen ent-
des Mantels ist in der Jugend               stehende Spannung, und ein
transparent, gallertartig-weich             Regelmechanismus schützt die
und dünn. Im Alter wird sie ledrig          Haut vor dem reißen oder platzen.
und verdickt sich. Die Stützblase
dient dem gesamten Organismus
als Halteapparat. Er bildet keine
innere Wirbelsäule aus. Bei Ge-
fahr bläht sich caverna inflata in
kurzer Zeit zu einer prallen Kugel
auf. Ein kräftiger oraler Ring-
muskel verhindert den Rückfluss
der eingesaugten Luft. Die Haut
ist aus übereinanderliegenden
faltigen Schichten aufgebaut.
Sie können sich gegeneinander
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00043 cauda spiralis (gewundener schwanz)

cauda spiralis kann als Doppel-             Scheinblatt durchgeführt. Zur
atmerin sowohl im Wasser als                Fortpflanzung entwickelt die
auch an der Luft atmen, be-                 Lebensform einen knorpeligen
wegt sich aber auf der Erde nur             Auswuchs. Nachdem die be-
humpelnd fort. Dabei stützt sie             fruchteten Eier in den Auswuchs
sich mit Hilfe von Turgorextre-             geleitet wurden, wird dieser vom
mitäten. cauda spiralis ist ein             Restorganismus abgeschnürt und
Tierstock, der aus einer Gruppe             entwickelt sich zu einem eigenen
von tierischen Lebewesen her-               Wesen.
vorgegangen ist. Die Individuen
ergänzen sich durch aufeinander
abgestimmte Spezialisierung
gegenseitig. Die Form zeichnet
sich durch hohe Regenerations-
fähigkeit aus. Beispielsweise kann
sie ganze Körperteile wiederher-
stellen. Fotosynthese wird über
ein chlorophyllhaltiges dorsales
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00008 pseudoandronyma phimosus (scheinmännliche verengte)

pseudoandronyma phimosus                           zur Seite. Um sich zu vereinigen,
kann sich geschlechtlich ver-                      muss eines der beiden anderen
mehren. Die geschlechtliche                        unter das schwenkende Organ
Fortpflanzung erfolgt über drei                    kriechen und es so über sich
Keimzellen (Geschlechtszellen),                    heben, dass der Auswuchs über
die miteinander zu einer Zygote                    ihm pendelt. Der dritte Organis-
verschmelzen. Daran sind drei                      mus klettert nun auf den zweiten,
verschiedene Keimzelltypen (ter-                   sodass er den Auswuchs erreicht,
tiäre, weibliche und männliche)                    nimmt ihn auf und führt ihn durch
beteiligt. Die Aktivität der Ober-                 sich in den unten liegenden Orga-
fläche ist stark ausgeprägt, da die                nismus.
Epidermis mit primären Sinnes-
sowie Resorptionszellen durch-
setzt ist (parenterale Resorption).
Wenn die Kopulationspartner
zusammenkommen, neigt eines
zur Balz den schlanken Auswuchs
in rascher Folge immer wieder
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00005 caecus occultus (verborgener blinder)

Die Kombination von eu- und                   Basis dauerhaft miteinander ver-
prokaryotischen Zellverbänden                 wachsen und eine physiologische
ermöglicht caecus occultus eine               Verbindung herstellen. Auf diese
eigenartige Beweglichkeit. Die                Weise können sie einen komple-
Verbindung von pflanzlichen und               xen chemischen Informationsaus-
tierischen Zellstrukturen führt zu            tausch (chemotaxis) vornehmen.
einer divers ausgebildeten Lei-
besmasse. Im Magen faulende
Substanz wird stets mit Sauer-
stoff versorgt und bildet einen
Intrakosmos, indem beständig
aus den Abbauprozessen freiwer-
dende Energie in den umgeben-
den Körper abgegeben wird.
caecus occultus ist ein miteinan-
der komplex agierendes zivilisier-
tes Organismencluster. Einzelne
Organismen können an ihrer
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00048 fossor perlatus (mit perlen besetzter gräber)

fossor perlatus ist ein stark                         reren Formen ist bekannt, dass
fluchtorientiertes, kognitives                        sie Schwermetalle aufnehmen
Lebewesen. Mit bis zu 25 cm lan-                      und dauerhaft chemisch binden
gen, zu Scheiben auslaufenden                         und somit neutralisieren können.
Hörnerfüßchen, die geringelt und                      Nicht nur diese Fähigkeit macht
rückwärts gebogen sind, bewegt                        es zu einem wichtigen Erstbe-
es sich schnell vorwärts. Seine                       siedler kontaminierter Gegenden.
Cuticula ist wasserabweisend.                         Die Enden der Beine sind zur
Es kann Überflutungen mit Hilfe                       Paarungszeit zu Begattungsfüßen
einer Luftblase überstehen.                           umgestaltet. Über sie findet die
Diese wird in der Rot gefärbten,                      Kopulation statt.
schuppenbesetzten Bogenstruk-
tur gebildet. Dadurch kann fossor
perlatus auch größere Strecken
im Wasser treibend zurücklegen
und bei der Besiedelung neuer,
steriler Landstriche als Pionier
Bedeutung erlangen. Von meh-
00016 amoenus vagans (formwechselnder reizvoller)

Die Fortbewegung dieser Orga-                       Ihr Rücken ist von einem fei-
nismen findet in wellenartigen                      nen, dichten und weichen Pelz
Kontraktionen statt. Die Individu-                  überzogen. Das Körperinnere
en bewegen sich bei warmem,                         ist schwammartig und kann in
feuchtem Wetter auf erhabene,                       kurzer Zeit viel Feuchtigkeit auf-
sonnige Stellen und verkriechen                     nehmen.
sich bei schlechter Witterung in
Erdspalten. Häufig versammeln
sich die Organismen zu unge-
heuer großen, teppichbildenden
Gruppen. Zur Kommunikation
können sie elektrische Reize über
eine Vielzahl einzelner Organis-
men hinweg senden. So ist ein
blitzartiger, effektiver Informa-
tionsaustausch innerhalb sehr
großer Gruppen möglich. Diese
Lebewesen sind Ditritusfänger.
SEXUELLES VEGETIEREN
Reiner Maria Matysik geht in sei-
ner Arbeit davon aus, dass nicht
nur neue Wesen entstehen, die
weder Tier noch Pflanze sind,
sondern dass auch die Spezies
Mensch in ihrer jetzigen, größten-
teils durch natürliche Evolution
entstandenen Form auf dem
Prüfstand steht.

Der Werkkomplex Sexuelles Ve-
getieren konfrontiert die Betrach-
terinnen und Betrachter mit neu-
artigen, parasitären Arten. Anders
als es bei den bisherigen Wesen
der Fall war, dürfen die Besuche-
rinnen und Besucher hier Platz
nehmen und die ausgestellten
Geschöpfe berühren, in den Arm       Installationsansicht Sexuelles Vegetieren,
                                     Installation, Galerie Weisser Elefant Berlin, 2019
nehmen und streicheln.               © VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Die Lust am bisher verwehrten
taktilen Erleben erhält jedoch       dass das Gegenüber dem Wesen
durch die dazugehörigen Hör-         verfällt und sich ihnen lustvoll
stücke eine irritierende Wendung.    hingibt. Die durch Kopfhörer zu
Denn bei den ausgestellten Ge-       hörenden Texte geben darüber
schöpfen handelt es sich um Pa-      Auskunft, wie die Fortpflanzung
rasiten, welche den Menschen als     geschieht und lässt eine unge-
Wirt nutzen. Deren Körper dienen     wohnte Intimität entstehen, die
den pflanzlichen Gebilden als Ort    auch räumlich durch abgegrenzte
und Mittel zur Fortpflanzung.        Separees unterstrichen wird.
Mit Ausstülpungen, Fruchtkör-        Fiktion und Realität werden hier
pern oder Wurzeln umschlingen        stark vermischt und sollen zum
sie ihr Gegenüber oder dringen       Nachdenken über zukünftige
in es ein. Jedoch geschieht dies     Mischformen nachdenken, gleich-
nicht in aggressiver Art. Vielmehr   zeitig aber auch den Herrschafts-
sind Lock- beziehungsweise Bo-       anspruch des Menschen gegen-
tenstoffe dafür verantwortlich,      über der Natur in Frage stellen.
POLLEN                                gehörigen seines Instituts in Ke-
Die von der Galerie mit Fernglä-      ramik nachgearbeitet, um durch
sern aus zu betrachtenden Kera-       das handwerkliche Nachformen
mikarbeiten sind Nachbildungen        ein Verständnis des Aufbaus zu
mikroskopischer Aufnahmen             erlangen, um so weitere Schlüs-
von Pollenkörnern. Ähnlich wie        se für zukünftige Entwicklungen
bei den Radolarien dienen sie         ableiten zu können. Wie könnten
dem Institut für postevolutionäre     etwa die gut funktionierenden
Lebensformen zur Analyse von          Prinzipien der Bestäubung durch
unterschiedlichen Strukturen in       Pollen auf andere, postevolutio-
der Natur sowie deren Nutzen.         näre Lebensformen übertragen
                                      werden?
Bei einem Pollenkorn handelt
es sich um eine Art Verpackung,       Übrigens: Der Grund für aller-
die sowohl dem Schutz als auch        gische Reaktionen während der
dem Transport der männlichen          Pollenflugzeit liegt an der chemi-
Keimzellen (sog. Gameten) dient.      schen Struktur von Eiweißen, die
Diese Doppelfunktion hat zur          um das Sporoderm gelagert sind,
Folge, dass die Struktur der Hülle    und die als Botenstoff für die
(Sporoderm) gleichzeitig wider-       Pflanze fungieren. Trifft der Pollen
standsfähig und trotzdem leicht       mit den männlichen Erbanlagen
sein muss. Hinzu kommt, dass          auf die Narbe der Blüte entwächst
manche der Pollen bis zu 500          dem Pollen ein sogenannter Pol-
Kilometer fliegen, während ande-      lenschlauch, der die Keimzellen
re schwimmen oder große Hitze         zum Fruchtknoten bringt und so
ertragen können. Häufig tragen        männliche und weibliche Keim-
sie elektrische Ladungen, um          zellen zusammenbringt.
der Pflanze ein Signal zu senden,
damit diese sich weiter öffnet,
was einen selektiven und damit
fortpflanzungstechnischen Vorteil
bietet. All diese Bedingungen und
Ansprüche haben einen Einfluss
auf die Gestalt des jeweiligen Pol-
lenkorns.

Einige der sehr diversen Formen       Pollenstudie, Institut für postevolutionäre Lebens-
hat Reiner Maria Matysik mit An-      formen, 2021, Keramik © VG Bild-Kunst, Bonn 2021
LEBENDIGE PLASTIK                     nur Zellgewebe, sondern ganze
Die bisher in der Ausstellung zu      Organismen gezüchtet werden
sehenden Objekte waren künst-         können. Und an diesem Punkt
lerischer Natur. Entweder es wur-     beginnt die Selbstpositionierung
den bereits existierende mikro-       des Menschen zu bröckeln. Denn
skopische Strukturen in Styrodur      wenn wir in Zukunft lebensfähige
oder Keramik nachempfunden            Organismen aus Menschenzellen
oder es wurden aus Glas, Plastilin,   gestalten können, muss die Form
Wachs oder anderen Materialien        eines Körperaufbaus, wie wir ihn
neue Lebensformen generiert.          gewohnt sind, nicht zwingend
Bei dem hier ausgestellten Werk       notwendig sein.
handelt es sich tatsächlich um
lebendiges Gewebe. Unter Ein-
satz des sogenannten Tissue
Engineering [künstliche Herstel-
lung biologischer Gewebe durch
Kultivierung von Zellen] ließ sich
Matysik in Kooperation mit dem
Deutschen Institut für Zell- und
Gewebeersatz Haut-, Knorpel-
und Blutgewebe entnehmen,
welches anschließend in einer
Nährlösung zum Wachsen ge-
bracht wurde. Diese heute schon
mögliche Form des künstlich
generierten Zellwachstums ist
noch begrenzt. Gerade im Hin-         Filmstill aus der Dokumentation zu Jenseits des
                                      menschen, 2010/11 © VG Bild-Kunst, Bonn 2021
blick auf die Produktion von
künstlich gewachsenem Fleisch,
sogenanntem In-vitro-Fleisch,
zeichnet sich aber eine massen-
tauglichere Produktion ab. In die-
sem Zusammenhang werfen die
lebendige Skulptur und der dazu-
gehörige, dokumentarische Film
bereits erste Schlaglichter auf
die bald mögliche Entwicklung,
bei der womöglich nicht mehr
Die Broschüre erscheint anlässlich der Ausstellung:
INSTITUT FÜR POSTEVOLUTIONÄRE LEBENSFORMEN
Reiner Maria Matysik
21. August bis 25. Oktober 2021
im Kunstmuseum Heidenheim

Herausgeber und Veranstalter:
Stadt Heidenheim, Fachbereich Kultur, Matthias Jochner

Texte:
Marco Hompes

Gestaltung:
Miriam Röhrig

Lektorat:
Helene Reich

Copyright, sofern nicht anders angegeben:
Künstler & VG Bild-Kunst, Bonn 2021

© Kunstmuseum Heidenheim

Auflage: 800 Stück

Ein herzliches Dankeschön an alle Sponsorinnen und Sponsoren,
an das gesamte Team des Kunstmuseums sowie an alle,
die zum Gelingen der Ausstellung beigetragen haben.

                                                      Hermann-Voith-
                                                         Stiftung
Kunstmuseum Heidenheim
Hermann Voith Galerie
Marienstraße 4, 89518 Heidenheim
Tel. 07321 327-4810 oder -4814
kunstmuseum@heidenheim.de
www.kunstmuseum-heidenheim.de
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