INTERKULTURELLES MITEINANDER - Schwerpunkt: Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW

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INTERKULTURELLES MITEINANDER - Schwerpunkt: Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
Ansprechstellen im
                        Land NRW zur
                        Palliativversorgung,
                        Hospizarbeit und
                        Angehörigenbegleitung

Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen
April 2020 Ausgabe 83

Schwerpunkt:
INTERKULTURELLES MITEINANDER
INTERKULTURELLES MITEINANDER - Schwerpunkt: Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83
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INTERKULTURELLES MITEINANDER - Schwerpunkt: Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
Liebe Leserinnen und Leser,
                                    seit der Herausgabe des letzten Hospiz-Dialogs haben sich die Schwerpunkte in unserem
                                    Leben völlig verschoben. Wir beginnen, in neuen Kategorien zu denken. Durch das Coronavirus
                                    stellen sich zahllose Fragen … zur Entwicklung der Infektionsraten über wirtschaftliche und
                                    damit existentielle Aspekte hin zur Versorgung der Erkrankten lauten die Antworten vielfach:
                                    Wir wissen es nicht. Nie wurden so oft und umfänglich Nachrichten gehört wie in dieser Zeit,
                                    da uns jeden Tag neue Informationen erreichen.

                                    Und natürlich ist auch die Hospiz- und Palliativversorgung von diesen Entwicklungen betroffen: Es
                                    stellen sich hier die Fragen nach alternativen Begleitungsformen und geschützter Versorgung, aber
                                    auch nach der Finanzierungssicherheit.

                                    Bei der redaktionellen Planung dieses Hospiz-Dialogs und der Festlegung auf den Schwerpunkt
                                    „Interkulturelles Miteinander“ haben wir diese Entwicklungen nicht erwartet. Aber natürlich ist das
                                    Thema auch in und nach der Krise relevant … und vielleicht exemplarisch für eine grundsätzliche
                                    Auseinandersetzung des „Miteinanders“. Denn gerade in Krisenzeiten, wenn Tendenzen bestehen, sich
                                    abzugrenzen und Eigeninteressen in den Vordergrund zu stellen, ist das Zusammenrücken besonders
                                    notwendig.

                                    Eine gute Lektüre wünscht Ihnen
                                                                                                                   Ihre
                                                                                                                          Dr. Gerlinde Dingerkus

                                    INFORMATION                                         SCHWERPUNKT
                                                                                        INTERKULTURELLES MITEINANDER

                                    4 Wohin geht die Reise?                             17 Was macht eine erfolgreiche inter-
                                      Hospizarbeit 2025                                    kulturelle Öffnung der Hospiz-
                                        Heidi Mertens-Bürger, Ursula Elisa Witteler,       und Palliativversorgung aus?
                                        Irmgard Hewing                                       Christian Banse, Nicola Rieder,
                                                                                             Franziska Schade, Friedemann Nauck
                                    7 Wenn man sich einfach mal
                                      sehen könnte, würde man sehen,                    20 Dong Ban Ja Interkultureller
                                      was ist                                              Hospizdienst
                                        Kristina Woock, Nele Mindermann, Linda               Dharma Raj Bhusal
                                        Völtzer, Susanne Busch
                                                                                        23 Wege des Abschieds – im Quartier
                                    10 Selbstbestimmt über medizinische                    bis zuletzt?
                                       Maßnahmen entscheiden trotz                         Vorstellung eines Projektes
                                       Alzheimer Demenz?                                     Bernd Vinke
                                       Das Projekt EmMa
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                                        Julia Haberstroh, Frank Oswald
                                                                                        26 Kultursensibel oder einfach nur
                                                                                           menschlich
                                    13 SANDS – Eine Organisation für                         Gerlinde Dingerkus
                                       Familien mit perinatal verstorbenen
                                       Kindern                                          31 Impressum
                                        Interview mit Clea Harmer
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    WOHIN GEHT DIE REISE?
    HOSPIZARBEIT 2025
    HEIDI MERTENS-BÜRGER, URSULA ELISA WITTELER, IRMGARD HEWING

    W
                  ohin geht die Reise? Das war das               haben oder rechnen konnten. Nachdem sie sich für
                  Thema eines Fachtages – veranstal-             diese Aufgabe aus recht unterschiedlicher Motiva-
                  tet durch die Ansprechstelle des               tion entschieden haben, erkennen sich die ehren-
                  Landes NRW für Palliativversorgung,            amtlichen Vorstände schnell als „Chefs“ eines
    Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung in West-              Kleinunternehmens, das im ambulanten Bereich einen
    falen-Lippe (ALPHA) am 13.09.2019 in Hamm.1                  Jahresumsatz von durchschnittlich ca. 80.000 €
    Eingeladen waren Tandems aus den westfälisch-                haben kann.
    lippischen Hospizdiensten, bestehend aus Vorstän-
    den, Geschäftsführungen und Koordinatorinnen                 Dies ist Menschen, die für das Amt des Vorstandes
    und Koordinatoren.                                           angefragt werden, nicht so klar. Mit dem Amtsan-

    Hintergrund
    Die Hospizarbeit hat sich über viele
    Jahre etabliert, in ihrer Vielfalt
    institutionalisiert und professiona-
    lisiert. Von den hauptamtlich und
    ehrenamtlich Tätigen erfordert die
    Begleitung der Betroffenen und
    ihrer Familien und Zugehörigen ein
    Denken in systemischen Strukturen,
    ein Präsentsein mit großer Empathie
    und ein hohes Maß an Authentizität.
    Ein kleiner Teil der Hospizdienste
                                               © H.-H. Scheer

    ist Teil eines Verbandes, ein großer
    Teil der Hospizdienste arbeitet in
    den Strukturen eines eingetrage-
    nen Vereins mit in der Regel ehren-
    amtlichen Vorständen. Diese möchten in erster Li-            tritt stellen sich auch viele weitere Fragen: Wie kann
    nie die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterin-             Hospizarbeit gemeinsam gelingen? Wie viel
    nen und Mitarbeiter in ihrer Tätigkeit unterstützen,         Führung braucht oder verträgt Haupt- und Ehren-
    was teilweise eher unspezifisch und unkonkret ist.           amt? Wie viel Organisationslogik verträgt die Kultur
    In ihrer Funktion als Arbeitgeber jedoch sind die            der Hospizarbeit? Welche Haltung ist notwendig
    Aufgaben sehr spezifisch: Sie sind verantwortlich            und tragfähig in der Führung dieser klein- und
                                                                                                                          Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

    für alles, was in den Diensten geschieht, und sie            mittelständischen Organisationen?
    tragen auch eine hohe finanzielle Verantwortung,
    mit der sie möglicherweise vorab nicht gerechnet             Immer wieder geraten diese Systeme aus haupt-
                                                                 amtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, eh-
    1 Die ALPHA-Stellen orientieren sich oft an den Fragen und   renamtlich Begleitenden und ehrenamtlichen Vor-
      Bedarfen der Einrichtungen und möchten dazu beitragen,
      der Beantwortung näherzukommen, indem sie ihnen
                                                                 ständen an ihre Grenzen. Wie kann daraus ein trag-
      teilweise auf Landesebene, teilweise auf Landesteilebene   fähiges Dreieck werden? Welche Rolle hat der
      einen Rahmen geben.                                        Vorstand, wenn die Koordinatorin/der Koordinator
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                                    © H.-H. Scheer

                                                     einen Kontrakt – ebenfalls in einer Dreiecksbezie-   Akteurinnen und Akteure vermutlich schauspiele-
                                                     hung – zwischen ehrenamtlich Tätigen, Koordina-      risches Talent hatten, aber vor allem trafen sie mit
                                                     tion und Familien eingeht?                           dem „Drehbuch“ den Nerv der Anwesenden.

                                                     All diese Räume und Begriffe sind mitunter nicht     Im anschließenden Vortrag wurden die vielseitigen
                                                     miteinander ausgehandelt, es können völlig unter-    Herausforderungen beschrieben: Da sind zunächst
                                                     schiedliche Begriffsdefinitionen, Zuschreibungen     die originären Aufgaben der Hospizarbeit, die im-
                                                     und Bewertungen bei allen Beteiligten vorliegen.     mer wieder bewusst in den Fokus zu rücken sind:
                                                     Aushandeln lässt sich ein gemeinsames Verständ-      Wir begleiten schwer kranke und sterbende Men-
                                                     nis nur in gemeinsam gestalteten Kommunikations-     schen und ihre Zugehörigen, dort wo sie leben und
                                                     formen. Häufig hilft eine Moderation von außen.      mit allen Themen, die damit verbunden sind.

                                                     Der Fachtag                                          Aber Hospizarbeit geht ja weiter: Unter anderem
                                                     Der Fachtag startete mit einem Rollenspiel: Frau     hat die Präsenz in der Öffentlichkeitsarbeit zuge-
                                                     Geldlich („Wir müssen etwas sparsamer sein!“),       nommen, hier ist der Auftrag, zur Enttabuisierung
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                                                     Herr Herzlich („Es ist eine solch erhebende Erfah-   beizutragen. Hospizdienste gehen in Kitas und
                                                     rung!“), Frau Urgestein („Das war früher ganz        Schulen, informieren in öffentlichen Veranstaltun-
                                                     anders!“) und Frau Jugendfrisch („Ich habe da mal    gen immer wieder zu Krankheit, Sterben und Tod,
                                                     eine super Idee!“) trafen sich auf der Bühne zu      Themen, die in der Gesellschaft nach wie vor gerne
                                                     einer Vorstandssitzung und berührten in ihrem        ausgeblendet werden. Was darüber hinaus langfris-
                                                     Rollenspiel etliche Themen aus dem Alltag der        tig in den Blick zu nehmen ist, sind z. B. komplexe
                                                     aktiven Hospizmitarbeiterinnen und -mitarbeiter.     Begleitungssituationen, in denen eine Eins-zu-eins-
                                                     Die Reaktionen zeugten auch davon, dass die          Betreuung nicht genügt. Damit verbunden ist die
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    Arbeit in immer größer werdenden Netzwerken, die        und Akquise, Finanzierung, Spenden und Fundrai-
    eine Koordination benötigen. Auch der Generatio-        sing, dauerhafte finanzielle Absicherung (Rückgang
    nenwechsel beschäftigt die Mitarbeitenden: Men-         der Spenden), Gewinnung neuer EA für Begleitung
    schen der ersten Stunde traten ihre Arbeit unter        und Vorstandsarbeit, Aufgabenverteilung zwischen
    anderen Umständen und mit anderen Motivations-          Vorstand und Koordinatorinnen und Koordinatoren,
    lagen an, als dies heute geschieht: Wie gehen die       Männerkurse.
    Dienste damit um? Was ist zu berücksichtigen? Dies
    sind nur einige Themen, und nicht zuletzt bringt        Die Themen, die die hauptamtlichen Koordinato-
    die gesetzliche Förderung, aber auch die vielen Ko-     rinnen und Koordinatoren beschäftigten, stimmten
    operationen die Notwendigkeit einer umfassenden         – zumindest bzgl. der Begriffe – in vielen Punkten
    Dokumentation mit sich, neue Verwaltungsaufga-          mit den Themen der Vorstände überein. Sie laute-
    ben und Dienste sind hinzugekommen, was die             ten: Aufgaben und Ansprüche von den Vorständen
    Koordinatorinnen und Koordinatoren an ihre Kapa-        und Trägern, Rollendiffusionen, Gehälter, Bewälti-
    zitätsgrenzen bringen kann.                             gung der vielschichtigen Aufgaben, Gewinnung von
                                                            ehrenamtlich tätigen Menschen, Trauerbegleitung
    In dem Vortrag wurde unterstrichen, was unter die-      wird nicht gefördert, nimmt aber zu. Wollen wir
    sen Rahmenbedingungen wichtig ist:                      noch größer werden? Wo macht öffentliche Präsenz
    • die Wertschätzung untereinander (unter der Be-        Sinn? Neue Vorstände finden und diese gut vorbe-
        rücksichtigung neuer und langjähriger Mitar-        reiten! Wer begleitet diesen Prozess? Wo gibt es
        beit, verschiedener Professionen, unterschied-      ein Angebot? Im nächsten Schritt sammelten die
        licher Wissensstände …)                             Teilnehmenden in gemischten Runden kreative Um-
    • eine klare Verteilung und Definition von Rollen       setzungsideen.
    • Transparenz und Klarheit schaffen, z. B. über
        Entscheidungsbefugnisse, über Prioritäten,          Mit diesen Ideen und den Eindrücken des gesamten
        über Strategien …                                   Tages gingen die jeweiligen Kolleginnen und Kol-
    • kritisches Aushandeln von Themen, Positionen …        legen in den Austausch. Koordinatorinnen/Koordi-
    • Regeln & Methoden für das „Onboarding“                natoren und ihre Vorstände dachten gemeinsam
    • eine große Portion Phantasie und Kreativität          nach über die Frage: Welche nächsten Schritte in
        ... aber ebenso der Sinn für die Realitäten         unserem Dienst können und wollen wir gemeinsam
                                                            gehen? Was ist wichtig? Was sollte rasch, was lang-
    Die Workshops                                           fristig umgesetzt werden? Und wie kommunizieren
    In nach Funktionen getrennten Gruppen erarbeite-        wir das mit den Kolleginnen/Kollegen vor Ort? So
    ten die Koordinatorinnen und Koordinatoren und          war dieser Tag nicht nur gekennzeichnet von der
    die Vorstände Themen, die für sie in ihrer jeweiligen   Vielfalt der Impulse und von der Diskussion zwi-
    Rolle von Bedeutung sind. So entstand eine bunte        schen den Kolleginnen und Kollegen aus Vorstand
    Themensammlung, die in Kleingruppen diskutiert          und Koordination, sondern mündete in ganz kon-
    wurde.                                                  kreten Aufgaben, die die „Tandems“ für sich und
                                                            ihre Dienste mitnahmen. Ihr Fazit: Diese Veranstal-
    Bei den Vorständen standen folgende Stichworte          tung hat uns vorangebracht und gutgetan – gerne
    auf den Flipcharts: Generationswechsel, Umgang          wieder!
    mit der Wirtschaftlichkeit, Angebote über die
                                                                                                                  Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

    Sterbebegleitung hinaus, Bezahlung der Koordina-                  Heidi Mertens-Bürger, Irmgard Hewing
    torinnen und Koordinatoren, Kompetenz der                                           alpha@muenster.de
    Vorstände mit dem Blick auf die praktische Arbeit
    und die finanzielle Förderung, Implementierung                                      Ursula Elisa Witteler
    neuer Projekte (Wollen oder müssen wir auf jeden                              info@entwicklung-wagen.de
    Zug aufspringen?), Personalverantwortung, Hierar-
    chie und Weisungsbefugnis, Ehrenamt versus
    Hauptamt, neue Strukturen, Nachfrage Begleitungen
INTERKULTURELLES MITEINANDER - Schwerpunkt: Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
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                                    WENN MAN SICH EINFACH MAL SEHEN
                                    KÖNNTE, WÜRDE MAN SEHEN, WAS IST
                                    Die besonderen Herausforderungen entfernt lebender Angehöriger
                                    KRISTINA WOOCK, NELE MINDERMANN, LINDA VÖLTZER, SUSANNE BUSCH

                                    I
                                           mmer mehr Familien in Deutschland leben        mende Unterstützungsbedürftigkeit der Eltern in
                                          geografisch voneinander getrennt. Erwach-       Verbindung mit der geografischen Distanz trägt
                                          sene Kinder verlassen ihr Elternhaus, um ihr    nicht dazu bei, diese Sorge zu verringern.
                                          Studium in einer anderen Stadt aufzunehmen
                                    oder um sich beruflich weiterzuentwickeln. Insbe-     Pflege auf Distanz („distant caregiving“) umfasst
                                    sondere strukturschwache Gegenden verlieren           vor allem unterstützende Tätigkeiten, die – nicht
                                    viele junge Erwachsene an wirtschaftlich stärkere     nur, aber auch – aus der Entfernung geleistet wer-
                                    Regionen (Statistisches Bundesamt, 2019). So          den können. Dazu gehört die emotionale Unter-
                                    kommt es, dass die mittlere Entfernung vom Wohn-      stützung der alten Menschen sowie möglicher
                                    ort der Eltern zu dem ihrer erwachsenen Kinder        Angehöriger vor Ort ebenso wie das Knüpfen,
                                    wächst. Etwa die Hälfte der erwachsenen Kinder        Anpassen und Aufrechterhalten eines Versorgungs-
                                    lebt an einem anderen Ort als die Eltern, in einer    netzwerks aus der Ferne. Die Betroffenen werden
                                    Entfernung von bis zu zwei Stunden, ein Fünftel       zu einem „orchestrator in the background“ (Ed-
                                    sogar mehr als zwei Stunden entfernt (Frewer-Grau-    wards, 2014). Letzteres wird dadurch erschwert,
                                    mann, 2014; BMFSFJ,                                                                 dass die Angehöri-
                                    2016).                                                                              gen häufig nur unzu-
                                                                                                                        reichend wissen, wie
                                    Die Entfernung wird                                                                 sich die Situation bei
                                    zunehmend dann zu                                                                   Vater oder Mutter im
                                    einem Problem, wenn                                                                 Detail      gestaltet.
                                    die Eltern älter und                                                                Wenn Besuche statt-
                                    damit sehr häufig                                                                   finden, stehen des-
                                    auch unterstützungs-                                                                halb häufig organi-
                                    bedürftiger werden.                                                                 satorische Aufgaben
                                    Welche Form von                                                                     sowie das Einholen
                                    Unterstützung lässt                                                                 verlässlicher Infor-
                                    sich aus der Entfer-                                                                mationen im Vorder-
                                    nung überhaupt lei-                                                                 grund. Beziehungs-
                                    sten? Offensichtlich ist die klassische „Hands-on“-   pflege und emotionale Unterstützung können
                                    Pflege von entfernt lebenden Angehörigen nur in       aufgrund der begrenzten Zeit nicht im gewünschten
                                    Ausnahmefällen leistbar – wodurch sich auch           Umfang geleistet werden (Bevan & Sparks, 2011).
                                    erklärt, warum der Begriff des entfernt lebenden
Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

                                    pflegenden Angehörigen kaum gebräuchlich ist.         Mit den geschilderten Herausforderungen sehen
                                    Passender und umfassender ist die englischspra-       sich früher oder später fast alle konfrontiert, die
                                    chige Bezeichnung „Distant Caregiver“, denn das       ihre Heimatregion verlassen haben und auch die
                                    Wort „Care“ umfasst auch Begriffe wie „(Für-)         Mitglieder des Projektteams „AniTa“ der Hochschu-
                                    Sorge“, „Obhut“, „Betreuung“ und „Zuwendung“          le für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Ham-
                                    (vgl. auch Otto et al., 2017; Schnepp & Söhngen,      burg kennen die Herausforderungen aus eigener
                                    2018). Insbesondere das Gefühl der Sorge kennen       Erfahrung.
                                    fast alle entfernt lebenden Kinder, und eine zuneh-
INTERKULTURELLES MITEINANDER - Schwerpunkt: Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
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    AniTa – Tausch von Fürsorge
    und Unterstützung
    Das vom GKV-Spitzenver-
    band geförderte Modell-
    projekt „AniTa-Angehöri-
    ge im Tausch“ ist ein
    spezifisches Angebot
    für entfernt lebende An-
    gehörige. Die Idee ist
    einfach. Erwachsene
    Söhne oder Töchter, die
    sich nicht selber regel-
    mäßig um ihre alt ge-
    wordenen Angehörigen
    kümmern können, vernet-
    zen sich über die Internet-
    plattform „AniTa-Familie“
    (www.anita-familie.de) mit
    anderen Menschen, die in einer
    ähnlichen Situation sind. Das Ziel
    ist, jemanden zu finden, der oder die
    in der Nähe der eigenen Eltern oder an-
    derer hilfebedürftiger Verwandter lebt und
    bereit ist, diese regelmäßig zu unterstützen. Wie
    diese Unterstützung aussehen kann, ist breit gefä-
    chert und kann von den beteiligten Parteien unter-     ihren sterbenden Vater und die gesundheitlich
    einander ausgehandelt werden. Bei alten Men-           ebenfalls eingeschränkte Mutter zu besuchen.
    schen, die noch keine intensive Pflege benötigen,      „Das war“, so sagt sie “eine heftige Belastung. Man
    ist von regelmäßigen Besuchen, Begleitung bei          macht es. Und man funktioniert einfach. Und
    Spaziergängen oder kleineren Unternehmungen            irgendwann klappt man dann so ein bisschen zu-
    über einfache Handreichungen bis hin zu Unter-         sammen.“
    stützung bei organisatorischen Dingen, wie dem
    Einlösen eines Rezeptes, alles möglich. Gleichzeitig   Die schwere Erkrankung eines Elternteils ist immer
    ist auch der jeweilige Tauschpartner bzw. die          ein erheblicher Stressor – für den Betroffenen
    Tauschpartnerin bereit, sich für einen anderen alten   selbst, für vor Ort lebende Angehörige, aber auch
    Menschen an seinem oder ihrem Wohnort ähnlich          für entfernt lebende erwachsene Kinder. Diese ha-
    einzubringen. Auch Menschen, die sich (gerade) in      ben die gleichen Sorgen und Ängste wie vor Ort
    keiner eigenen Betreuungssituation befinden, kön-      pflegende Angehörige, aber ohne die emotionale
    nen sich einbringen und vor Ort alte Menschen aus      Unterstützung beispielsweise durch ein Hospiz-
    multilokalen Familien unterstützen.                    Team zu erfahren. So beschrieben Teilnehmer und
                                                           Teilnehmerinnen einer Interviewstudie in den USA
                                                                                                                 Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

    … und in der letzten Lebensphase?                      Gefühle wie Stress, Unsicherheit, Schuldgefühle
    Die Literatur und auch die im Rahmen von „AniTa“       und Angst bzw. Sorge. Diese Emotionen sind spe-
    gemachten Erfahrungen zeigen, dass Pflege und          zifische Komponenten der Beziehung auf Distanz
    Unterstützung auf Distanz für die betroffenen er-      und dem gleichzeitigen Wissen um die schwere
    wachsenen Kinder sehr herausfordernd und oft           Erkrankung bzw. das Sterben eines nahen Fami-
    auch überfordernd sind. So fuhr beispielsweise ei-     lienmitglieds (vgl. beispielsweise Douglas et al.,
    ne der im Projekt befragten Interviewpartnerinnen      2016; Mazanec et al., 2011). Auch die Frage, ob man
    über Monate jedes Wochenende 700 Kilometer, um         im Falle einer krisenhaften Situation schnell genug
INTERKULTURELLES MITEINANDER - Schwerpunkt: Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
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                                    bei dem sterbenden Elternteil sein kann, setzt den     den sterbenden Menschen als auch für das entfernt
                                    Betroffenen zu. Eine entfernt lebende Tochter, die     lebende erwachsene Kind, eine (weitere) wichtige
                                    im Rahmen des Projektes „AniTa“ befragt wurde,         Stütze und Hilfe sein.
                                    sprach in diesem Zusammenhang von ihrer Angst,
                                    „… dass man sich nicht rechtzeitig verabschiedet
                                    hat. Wenn es dann doch mal so weit ist. Es ist ja      Literatur
                                    einfach so.“ Dazu kommt die Unsicherheit, wie es       Bevan, J., Sparks, L. (2011). Communication in the Context of
                                    dem schwerkranken Elternteil geht – wann ein Be-           Long-Distance Family Care-Giving: An Integrated Review
                                                                                               and Practical Applications. Patient Education and Counse-
                                    such angebracht ist, wann ein Anruf vielleicht eher        ling (85) 26–30.
                                    stört … (Mazanec et al., 2011).                        Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
                                                                                               (2016). Siebter Altenbericht. Berlin: BMFSFJ.
                                    Ob „AniTa“ in diesem Zusammenhang eine Unter-          Douglas, S., Mazanec, P., Lipson, A. et al. (2016). Distance
                                                                                               Caregiving a Family Member with Cancer: A Review of the
                                    stützung sein kann, hängt stark von den jeweiligen         Literature on Distance Caregiving and Recommendations
                                    Umständen ab. Es empfiehlt sich in jedem Fall, eine        for Future Research. World Journal of Clinical Oncology 7
                                    Tauschbeziehung so früh wie möglich anzubahnen.            (2), 214-219.
                                    So können alle Beteiligten einander kennenlernen       Edwards, M. (2014). Distance Caregivers of People with Alz-
                                                                                               heimer’s Disease and Related Dementia: A Phenomenolo-
                                    und Vertrauen zueinander aufbauen. Wenn ein El-            gical Study. British Journal of Occupational Therapy (7).
                                    ternteil schwer erkrankt und schließlich auch im       Frewer-Graumann, S. (2014). Zwischen Fremdfürsorge und
                                    Sterben liegt, kann der Tauschpartner oder die             Selbstfürsorge. Familiäre Unterstützungsarrangements von
                                    Tauschpartnerin ein wertvolles Puzzleteil in dem           Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen. Wiesbaden:
                                                                                               Springer VS.
                                    Versorgungsnetzwerk darstellen. Wenn die Rezepte
                                                                                           Mazanec, P., Daly, B., Ferrell, B., Prince-Paul, M. (2011). Lack
                                    bereits eingelöst sind, die Glühbirne gewechselt           of Communication and Control: Experiences of Caregivers
                                    und der Kühlschrank gefüllt, können die entfernt           of Parents with Advanced Cancer. Oncology Nursing Forum
                                    lebenden Kinder, wenn sie ihr Elternteil besuchen,         38(3): 307–313.
                                    wertvolle Zeit damit verbringen, emotionalen Sup-      Otto, U., Bischofberger, I., Hegedüs, A., Kramer, B., van Holten,
                                                                                               K., Franke, A. (2017). Wenn pflegende Angehörige weiter
                                    port zu leisten und „einfach nur da“ zu sein. Sie          entfernt leben – Technik eröffnet Chancen für Distance
                                    haben eine Ansprechperson vor Ort und können               Caregiving, ist aber nicht schon die Lösung. In: Umge-
                                    diese bitten, in Krisensituationen wichtige Dinge          bungsunterstütztes Leben. Beiträge zum Usability Day XV,
                                    vorab zu klären, bis die Betroffenen selber ihre An-       Hrsg. I. Hämmerle und G. Kempter, 140-148. Lengerich,
                                                                                               Westfalen: Papst Science Publishers.
                                    reise bewältigt haben.                                 Schnepp, W., und J. Söhngen (2018). Vereinbarkeit von Pflege
                                                                                               und Beruf bei Pflege auf Distanz. https://www.wege-zur-
                                    Eine Vernetzung über „AniTa“ kann und will im Fall         pflege.de/fileadmin/daten/Beirat/Pflege_auf_Distanz_
                                    von schwerkranken und sterbenden Menschen eine             Schnepp.pdf. Zugegriffen: 26. März 2019.
                                                                                           Statistisches Bundesamt (2019). Bevölkerung und Erwerbstä-
                                    gute professionelle Versorgung und ehrenamtliche           tigkeit 2017. Wanderungen. Fachserie 1. Reihe 1.2. Wiesba-
                                    Betreuung durch den örtlichen Hospizdienst nicht           den: Statistisches Bundesamt.
                                    ersetzen. Aber eine bereits im Vorfeld angebahnte
                                    Tauschbeziehung kann helfen, Sorge zu mindern,
                                    Unsicherheiten aufzulösen und kann, sowohl für

                                                                                 Kristina Woock, MPH
Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

                                                                                 Wissenschaftliche Mitarbeiterin
                                                                                 Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW Hamburg)
                                                                                 Department Pflege & Management
                                                                                 Steindamm 105 (Postanschrift: Alexanderstraße 1)
                                                                                 20099 Hamburg
                                                                                 Tel.: 0 40 - 4 28 75 72 30
                                                                                 kristina.woock@haw-hamburg.de
INTERKULTURELLES MITEINANDER - Schwerpunkt: Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
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     SELBSTBESTIMMT ÜBER MEDIZINISCHE
     MASSNAHMEN ENTSCHEIDEN
     TROTZ ALZHEIMER DEMENZ?
     Das Projekt EmMa
     JULIA HABERSTROH, FRANK OSWALD

     D
                 as Projekt EmMa (Förderung der Einwil-       Diagnose gestellt, welche Behandlung beschlossen
                 ligungsfähigkeit in medizinische Maß-        wurde. Der Arzt hält sie für nicht einwilligungsfä-
                 nahmen bei Demenz durch ressourcen-          hig“ (Haberstroh et al., 2014, S. 195).
                 orientierte Kommunikation) wurde von
     2011 bis 2019, gefördert von der Volkswagen              Menschen mit Alzheimer Demenz haben – wie jeder
     Stiftung am Frankfurter Forum für interdisziplinäre      andere Mensch – das Recht, selbstbestimmte
     Alternsforschung (FFIA) der Goethe-Universität           Entscheidungen in Bezug auf ihre medizinische
     Frankfurt am Main, in Kooperation mit dem Institut       Behandlung zu treffen. Um selbstbestimmt in eine
     für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin        Behandlung einzuwilligen oder diese abzulehnen,
     der Ruhr-Universität Bochum (Prof. Dr. Dr. Jochen        bedarf es der informierten Einwilligung. Damit eine
     Vollmann), dem Forschungs- und Innovationsver-           Einwilligung gemäß deutschem Recht als wirksam
     bund an der Evangelischen Hochschule Freiburg            gilt, müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
     (FIVE ) (Prof. Dr. Thomas Klie), der Sektion Geronto-
     psychiatrische Forschung des Universitätsklinikums       1. eine/ein einwilligungsfähige/r Patientin/Patient
     Heidelberg (Prof. Dr. med. Johannes Schröder) und        2. wird adäquat informiert und kann daraufhin
     der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der        3. eine freiwillige Entscheidung treffen.
     Main-Kinzig-Kliniken Schlüchtern (Dr. Susanne
     Markwort) durchgeführt. Im Projekt EmMa wurden           Kognitive Fähigkeiten, die für die Einwilligung in
     praxistaugliche Methoden entwickelt und evaluiert,       komplexe medizinische Maßnahmen von Nöten
     mit deren Hilfe es möglich sein soll, Menschen mit       sind, werden bereits in frühen Stadien der Alzheimer
     leichter bis mittelschwerer Demenz zu befähigen,         Demenz beeinträchtigt. Daher ist es gängige Praxis,
     ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen.             dass die Einwilligungsfähigkeit von Menschen mit
                                                              Alzheimer Demenz von den behandelnden Ärztin-
     Problemstellung                                          nen und Ärzten überprüft wird. Nicht selten
     Das einleitende Fallbeispiel könnte gerade eben in       kommen die Ärztinnen und Ärzte hierbei bereits bei
     einem deutschen Krankenhaus stattfinden.                 leichter Demenz zum Urteil, dass die Person nicht
                                                              einwilligungsfähig sei.
     „Die demenzkranke Frau Schneider sitzt mit ihrem
     Sohn beim Arzt, der sie über das Ergebnis einer          Betrachtet man das einleitende Fallbespiel, so stellt
                                                                                                                      Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

     medizinischen Untersuchung und die folgende Be-          sich die Frage, ob das Urteil „einwilligungsunfähig“
     handlung aufklären soll. Der Arzt redet schnell und      in diesem Fall auf die demenzbedingten, der Person
     zunehmend laut. Frau Schneider schaut ihn irritiert      innewohnenden kognitiven Beeinträchtigungen zu-
     an. Sie scheint ihn nicht zu verstehen. Der Arzt klärt   rückzuführen ist. Das kurze Fallbeispiel liefert be-
     im Folgenden den Sohn auf, der als Betreuer zur          reits Hinweise darauf, dass Frau Schneider nicht
     Sorge für die Gesundheit der Mutter eingesetzt ist.      adäquat informiert wurde. Die Darbietung der In-
     Der Sohn stimmt der Behandlung zu. Frau Schnei-          formationen wurde nicht an den Adressaten ange-
     der verlässt den Raum, ohne zu wissen, welche            passt, sondern es wurden grundlegende Fehler in
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                                                                                            punkte für Maßnahmen zur Förderung von Einwil-
                                                                                            ligungsfähigkeit im Prozess der informierten Ein-
                                                                                            willigung ermittelt (u. a. Haberstroh et al., 2014;
                                                                                            Haberstroh et al., 2018; Haberstroh & Oswald,
                                     © G. Achtermann

                                                                                            2014; Müller et al., 2015; Müller et al., 2017; Schatz
                                                                                            et al., 2017; Wied et al., 2019).

                                                                                            Eine umfassende Zusammenstellung der Ergeb-
                                                                                            nisse des Projekts EmMa sowie verwandter Projek-
                                                                                            te wird voraussichtlich 2021 im Kohlhammer Verlag
                                    der Kommunikation mit Menschen mit Demenz ge-           veröffentlicht werden (Arbeitstitel: Entscheidungs-
                                    macht (u. a. schnelle, laute Sprache, über die Pa-      assistenz und Einwilligungsfähigkeit bei Demenz:
                                    tientin redend, nicht mit ihr).                         Ein Manual für die klinische Praxis und Forschung;
                                                                                            Scholten & Haberstroh, in Vorbereitung). Zudem
                                    Grundlegende Annahme des Projekts EmMa ist, dass        finden sich einige Ergebnisse des Projektes EmMa
                                    Einwilligungsfähigkeit keine statische, der Person      in einer aktuellen und online abrufbaren AWMF-S2k-
                                    innewohnende Eigenschaft ist, sondern dass diese        Leitlinie wieder (DGGG, DGPPN & DGN, 2019).
                                    im Wechselspiel von Person und Umwelt veränder-
                                    bar und eine Befähigung zur Selbstbestimmung            Im Folgenden soll ein zusammenfassender Über-
                                    durch adäquate Informationsdarbietung möglich ist.      blick über einige wesentliche empfohlene Maßnah-
                                    Demgemäß folgte das Projekt EmMa dem General            men gegeben werden. Wichtig ist hierbei, dass der
                                    Comment zu Artikel 12 der UN-Behindertenrechts-         Grundsatz „Viel hilft viel“ hier nicht gilt. Vielmehr
                                    konvention, in dem es heißt, dass die Vertragsstaa-     geht es darum, die individuellen Stärken und
                                    ten davon abkommen müssen, Menschen ihre                Schwächen eines Menschen mit Demenz zu erken-
                                    Rechtsfähigkeit abzusprechen und ihnen stattdes-        nen und dementsprechend Entscheidungsassis-
                                    sen den Zugang zu Unterstützung bereitstellen müs-      tenz anzubieten. Gut gemeinte Assistenz und Sim-
                                    sen, die sie eventuell benötigen, um zu rechtskräfti-   plifizierung kann einen erwachsenen Menschen
                                    gen Entscheidungen befähigt zu werden (Committee        (mit und ohne Demenz) irritieren und das Gefühl
                                    on the Rights of Persons with Disabilities, 2014).      vermitteln, nicht ernst genommen zu werden.
                                                                                            Daher gilt vielmehr der Grundsatz: „Assistieren so
                                    Ziel des Projekts EmMa war es daher, Maßnahmen          viel wie nötig, so wenig wie möglich“. Nähere
                                    zur Unterstützung von Menschen mit Demenz bei           Informationen zu den folgenden zusammengefassten
                                    der Ausübung ihrer Handlungsfähigkeit bei medi-         Maßnahmen der Entscheidungsassistenz sind den
                                    zinischen Entscheidungen auf Grundlage wissen-          unten angegebenen Quellen zu entnehmen.
                                    schaftlicher Erkenntnisse bereitzustellen und deren
                                    Wirksamkeit zu evaluieren. Derartige Maßnahmen          Aufmerksamkeit unterstützen
                                    werden inzwischen unter dem Begriff der Entschei-       - Aufmerksamkeit gewinnen und halten (u. a.
                                    dungsassistenz zusammengefasst (Zentrale Ethik-            durch direkte Ansprache mit dem Namen, Blick-
                                    kommission bei der Bundesärztekammer, 2016).               kontakt aufnehmen und halten, Gespräch „auf
                                                                                               Augenhöhe“ führen)
                                    Prozedere und Ergebnisse des Projekts EmMa              - falls angebracht: mit Zeigegesten die Aufmerk-
Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

                                    Um das vorgenannte Ziel zu erreichen, wurde zu-            samkeit lenken
                                    nächst das Instrument CODEMamb zur Beurteilung
                                    von Kommunikation bei Demenz entwickelt und va-         Struktur geben
                                    lidiert, das nicht – wie herkömmliche Instrumente       - Informationen in kurze Abschnitte zerlegen (ei-
                                    – allein auf die Defizite fokussiert, sondern ebenso       ne Informationseinheit je Abschnitt)
                                    dazu in der Lage ist, Ressourcen aufzudecken (Kne-      - Thema des Informationsabschnitts benennen
                                    bel et al., 2016). Im folgenden Studienabschnitt           und Abschnitte nacheinander Schritt für Schritt
                                    wurden u. a. mithilfe dieses Instruments Ansatz-           präsentieren
12

     -   das Verständnis nach jedem Informationsab-            grenzen (Empfehlung: max. drei Personen, näm-
         schnitt überprüfen und ggf. Information in den        lich Arzt/Ärztin, Patient/Patientin, Betreuer/
         gleichen Worten wiederholen                           Betreuerin/Angehörige/Angehöriger)
     -   nach jedem Informationsabschnitt anbieten,        -   für ein vertrauensvolles und wenig beängstigen-
         Fragen zu stellen und Pausen zu machen                des Gesprächsklima sorgen
                                                           -   Raum aufgeräumt und reizarm gestalten oder
     Sprachliche Anforderungen anpassen                        einen reizarmen Abschnitt des Raumes nutzen
     - klare Sprache, d. h. geringe syntaktische Kom-          (z. B. vermeiden von reizüberladenen Bildern
        plexität (keine Schachtelsätze, wiederholendes,        und vollen Schreibtischen)
        gleichbleibendes Vokabular, Fachbegriffe ver-      -   Raum mit Tageslicht auswählen oder zumindest
        meiden)                                                grelles, künstliches Licht vermeiden
     - Elaborationen (Schlüsselbegriffe von Satz zu        -   Raum vorher lüften
        Satz wiederholend aufgreifen)
     - keine simplifizierende Sprache (z. B. keine ex-     Konkrete Empfehlungen zur Umsetzung einiger der
        trem kurzen Sätze, nicht nur Hauptsätze)           vorgenannten Punkte finden sich im Buch Kommu-
     - neutrale Prosodie (kein übertrieben langsames       nikation bei Demenz von Haberstroh et al. (2016).
        Sprechtempo, keine sehr hohe Stimmlage, son-
        dern einen ruhigen, deutlichen – nicht zu leise,   Fazit
        nicht zu laut – gleichmäßigen und respektvollen    Abschließend ist zu betonen, dass das Konzept der
        Tonfall wählen)                                    Entscheidungsassistenz einen wichtigen Beitrag
                                                           zur Förderung der Selbstbestimmung leisten kann,
     Gedächtnis stützen                                    jedoch bei weitem nicht in allen Fällen zur Einwilli-
     - verbal mithilfe einer Stichpunktliste               gungsfähigkeit betroffener Personen führt. Gleich-
     - falls angebracht: nonverbal mithilfe von Pikto-     wohl kann Entscheidungsassistenz auch bei ein-
       grammen, Visualisierungen oder haptischen           willigungsunfähigen Personen zur Unterstützung
       Informationen, die das Gesagte veranschaulichen     von Selbstbestimmung beitragen (Haberstroh et
                                                           al., 2018).
     Situation und Umwelt gestalten
     - störende Umweltreize von außen minimieren,
        u. a. laute Außengeräusche möglichst verhin-       Die Literaturliste zu diesem Artikel kann per E-Mail
        dern, Unterbrechungen vorbeugen (z. B. Telefon     bei der Redaktion angefordert werden.
        ausschalten), Anzahl anwesender Personen be-       sigrid.kiessling@alpha-nrw.de

                                                       Prof. Dr. Julia Haberstroh
                                                       Psychologische Alternsforschung
                                                       Universität Siegen
                                                       Fakultät II – Dep. Erziehungswissenschaft-Psychologie
                                                       Institut für Psychologie
                                                       Adolf-Reichwein-Str. 2a
                    © Klaus Ditté

                                                       57068 Siegen
                                                       Tel.: 02 71 - 7 40-40 53
                                                                                                                   Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

                                                       Julia.Haberstroh@uni-siegen.de

                                                       Prof. Dr. Frank Oswald
                                                       Professur für Interdisziplinäre Alternswissenschaft
                                                       Goethe-Universität Frankfurt am Main
                   © Klaus Ditté

                                                       Tel.: 0 69 – 79 83 63 98
                                                       oswald@em.uni-frankfurt.de
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                                    SANDS – EINE ORGANISATION FÜR FAMILIEN
                                    MIT PERINATAL VERSTORBENEN KINDERN
                                    INTERVIEW MIT CLEA HARMER VON SANDS - STILLBIRTH AND NEONATAL DEATH CHARITY

                                    W
                                                 as ist das Hauptanliegen von Sands?
                                                 Sands arbeitet daran, die Trauerbe-
                                                 gleitung für Eltern und Familien zu
                                                 verbessern durch zahlreiche Schu-
                                    lungsprogramme und andere Angebote in Partner-
                                    schaft mit Angehörigen des Gesundheitswesens,
                                    Trusts und Gesundheitsämtern. Aber Sands arbei-
                                    tet ebenso daran, die Zahl der sterbenden Babys
                                    zu reduzieren und die Ursachen für den Tod von
                                    Babys besser zu verstehen. Sands arbeitet mit
                                    Regierungen und anderen Organisationen zusam-
                                    men, um Veränderungen voranzutreiben und das
                                    Bewusstsein für die Probleme im Zusammenhang
                                    mit dem Verlust eines Babys zu schärfen.                große Unterstützung. Ein trauerndes Elternteil äu-
                                                                                            ßerte dies so: „Ich habe die Helpline mehrmals an-
                                    Können Sie uns ein wenig über Ihre Strukturen           gerufen, nachdem meine Tochter im Januar gestor-
                                    erzählen?                                               ben ist. Die Leute, mit denen ich gesprochen habe,
                                    Sands beschäftigt rund 70 Mitarbeiter, die am Haupt-    waren unglaublich. Sie haben mir durch die dun-
                                    sitz in London ansässig sind, und Kollegen, die von     kelsten Momente meines Lebens geholfen. Sie
                                    zu Hause aus an Standorten in ganz Großbritannien       konnten nicht unterstützender und sachkundiger
                                    arbeiten. Die Organisation hat Unterstützungsgrup-      sein. Sie wissen, was sie sagen sollten und was
                                    pen für alle, die vom Tod eines Babys betroffen sind.   besser nicht. Danke für die Hilfe durch die dunkels-
                                    Die Gruppen werden von ehrenamtlichen Hinterblie-       ten Tage.“
                                    benen geleitet, die dafür ausgebildet wurden, ande-
                                    re Hinterbliebene zu unterstützen.                      Welche Angebote machen Sie für professionelle
                                                                                            Mitarbeiter?
                                    Sands wird von einem Stiftungsrat geleitet, der von     Sands hat eine Reihe von Schulungskursen und Be-
                                    seinen Mitgliedern gewählt wird. Das Gesamtein-         ratungsdiensten für medizinisches Fachpersonal
                                    kommen der Wohltätigkeitsorganisation betrug im         entwickelt, darunter Hebammen, Hebammen in
                                    März 2019 über 4,1 Millionen Pfund. Sands ist bei       Ausbildung und sogenannte Health Visitors1. Eines
                                    Spenden und finanzieller Unterstützung auf die          der Hauptziele von Sands ist es, sicherzustellen,
                                    Großzügigkeit der Öffentlichkeit und der Partner-       dass Hinterbliebene die bestmögliche Betreuung
                                    schaften mit Unternehmen angewiesen.                    bekommen, wenn sie die Nachricht erhalten, dass
Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

                                                                                            ihr Baby gestorben ist. Eine pflegerische Ausbil-
                                    Sie machen viele Angebote für Eltern bzw. Fami-
                                    lien, können Sie uns ein wenig über Ihre Erfah-
                                    rungen mit der Nutzung Ihrer Dienste erzählen?          1 Health Visitors sind qualifizierte Pflegekräfte oder Hebam-
                                    Sands erhält viele sehr positive Rückmeldungen            men mit zusätzlicher Qualifikation als „specialist community
                                    von Hinterbliebenen, die gesagt haben, dass die           public health nurses“. Diese Qualifikation ermöglicht es,
                                                                                              gesundheitliche Bedarfe in einer Region zu erkennen und
                                    Organisation ihnen geholfen hat. Die Mitarbeiten-         zur Aufrechterhaltung der Gesundheit bzw. zur Prävention
                                    den wissen, was sie durchmachen, und sind eine            von Erkrankungen beizutragen.
14

     dung allein genügt jedoch nicht, so dass Angehöri-
     ge der Gesundheitsberufe eine Ausbildung in der
     Trauerbegleitung absolvieren müssen, damit sie
     sensibel reagieren können. Im vergangenen Jahr
     bildete Sands über 2.700 medizinische Fachkräfte
     aus, wobei 100% der Teilnehmer die Schulung als
     hilfreich empfanden und sie sie anderen Kollegen
     empfehlen würden. Eine Hebamme sagte nach der
     Schulung: „Ein hervorragendes Training, wirklich
     hilfreich. Ich fühle mich jetzt viel sicherer im
     Umgang mit diesen Familien.“

     Können Sie Ihre Erfahrungen mit der Sands
     Online Community beschreiben?
     Viele Hinterbliebene sagten, dass es ihnen hilft,
     nach dem Tod ihres Babys online mit anderen
     Hinterbliebenen zu kommunizieren, da sie ihre
     Trauer verstehen. Die Sands Online Community ist
     rund um die Uhr geöffnet und über 2.100 Eltern ha-
     ben sich angemeldet, um die von der Organisation
     moderierte Website zu nutzen. Sie bietet einen si-
     cheren Raum für Hinterbliebene, um miteinander
     in Kontakt zu treten und 24 Stunden am Tag ihre
     Gefühle teilen zu können. Einige Leute fühlen sich
     zunächst nicht in der Lage, etwas zu schreiben,
                                                          4) eine qualitativ hochwertige Überprüfung der Be-
     aber sie können großen Trost finden, wenn sie über
                                                          treuung nach dem Tod jedes Babys durchzuführen.
     die Erfahrungen anderer Menschen lesen.
                                                          5) für die Probleme im Zusammenhang mit Totge-
     Sie haben eine neue Forschungsstrategie, was
                                                          burt und Neugeborenentod zu sensibilisieren und
     ist das und was erwarten Sie davon?
                                                          das Tabu im Zusammenhang mit diesen Todesfällen
     Die Förderung und Finanzierung von Forschung, die
                                                          zu verringern;
     dazu beitragen könnte, Totgeburten und Neugebo-
     renensterben zu reduzieren, ist eines der drei
                                                          6) sicherzustellen, dass jeder Hinterbliebene eine
     Hauptziele von Sands, und die aktuelle For-
                                                          kostenlose Erinnerungsbox erhält, die Eltern die
     schungsstrategie der Organisation wird von 2017
                                                          Möglichkeit bietet, sich an ihr kostbares Baby er-
     bis 2020 umgesetzt.
                                                          innern zu können.
     Der Auftrag von Sands geht dahin,
                                                          Sie interessieren sich für die Bedürfnisse der
     1) dass die Zahl der sterbenden Babys um mindes-
                                                          Männer nach einer Totgeburt
     tens 20% gesenkt wird;
                                                          Ja, viele Hinterbliebene haben Sands gesagt, dass
                                                          sie kämpfen und es schwierig finden, über ihre Ge-
                                                                                                                Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

     2) dass es einen Trauerverantwortlichen in jedem
                                                          fühle nach dem Tod eines Babys zu sprechen, da
     „Trust“ oder Gesundheitsamt und mindestens ei-
                                                          der Fokus oft hauptsächlich auf der Hinterbliebe-
     nen Trauerraum in jedem Krankenhaus gibt;
                                                          nenmutter liegt und der Vater das Gefühl hat, stark
                                                          sein zu müssen und seine eigenen Gefühle zu ver-
     3) die Einführung eines „National Bereavement Ca-
                                                          bergen, um seine Partnerin zu unterstützen.
     re Pathway“, um sicherzustellen, dass alle Eltern
     eine gleichwertig gute Trauerbegleitung erhalten;
                                                          2 Nationaler Plan zur Trauerbegleitung
15

                                    Machen Sie spezielle Angebote für Männer?
                                    Sands unterstützt Männer, egal ob Väter, Brüder
                                    oder Großväter auf vielfältige Weise. Z. B. haben
                                    mehrere trauernde Väter ihre eigenen Fußballver-
                                    eine gegründet, die als „Sands United“ bekannt
                                    sind, wo sie sich regelmäßig treffen, um Fußball zu
                                    spielen und sich gegenseitig zu unterstützen. Eini-
                                    ge Väter sticken den Namen ihres Babys auf ihre
                                    Hemden und spielen zu ihrem Gedächtnis. Sands
                                    hofft, dass durch den Aufbau von Vertrauen und ei-
                                    ner gemeinsamen Bindung, indem sie als ein Team
                                    zusammenspielen, viel mehr Männer in der Lage
                                    sein werden, ihr Schweigen über den Verlust des
                                    Babys zu brechen und anderen zu helfen, dasselbe
                                    zu tun.

                                    Was bedeutet es, Teil eines nationalen Netz-
                                    werks zu sein?
                                    Der Vorteil eines nationalen Netzwerks ist es, dass
                                    wir in der Lage sind, sehr viele trauernde Eltern und
                                    Familien, die Hilfe benötigen, zu erreichen. Viele
                                    Sands-Mitarbeitende arbeiten von zu Hause, so
                                    dass sie vor Ort Unterstützung und Begleitung an-
                                                                                              © Sands

                                    bieten können.

                                    Unsere Leser sind Menschen, die in der Hospiz-
                                    und Palliativversorgung tätig sind. Was möchten
                                    Sie ihnen sagen (empfehlen)?                             eines Babys betroffen ist, ist es wichtig, dass sie
                                    Das Thema Babyverlust ist immer noch ein Tabu-           sich nicht isoliert oder allein fühlen. Sands hat fünf
                                    thema, daher ist es wichtig, darüber zu sprechen         hilfreiche Möglichkeiten formuliert3, wie man je-
                                    und das Bewusstsein zu schärfen. In Großbritan-          manden unterstützen kann, dessen Baby gestor-
                                    nien sterben jeden Tag 14 Babys vor und kurz nach        ben ist, um ein Gespräch zu beginnen. Vielleicht
                                    der Geburt. Wenn Sie einen Freund, ein Familien-         sind sie auch für Ihre Arbeit hilfreich.
                                    mitglied oder einen Kollegen haben, der vom Tod

                                                                                            Clea Harmer
                                                                                            Geschäftsführerin
                                                                                            Tel.: +44 - 0 20 - 74 36 79 40
Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

                                                                                            info@sands.org.uk
                                                                                            www.sands.org.uk

                                                                                              3
                                                                                                        https://www.sands.org.uk/sites/default/files/5%20ways
                                                                                                        % 20to%20help%20leaflet%20V4.pdf
Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83
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                                    © G. Achtermann
INTERKULTURELLES MITEINANDER                      17

                                    WAS MACHT EINE ERFOLGREICHE
                                    INTERKULTURELLE ÖFFNUNG DER HOSPIZ-
                                    UND PALLIATIVVERSORGUNG AUS?
                                    Eine Handreichung zu den Faktoren einer besseren
                                    interkulturellen Versorgung
                                    CHRISTIAN BANSE, NICOLA RIEDER, FRANZISKA SCHADE, FRIEDEMANN NAUCK

                                    S
                                               eit einigen Jahren weisen Forschungser-     se Menschengruppe schwerer zu überwinden als
                                               gebnisse darauf hin, dass das hospizliche   für Menschen ohne Migrationshintergrund (Paal &
                                               und palliative Versorgungsangebot nicht     Bükki, 2017). Die Gründe sind in den Strukturen des
                                               von allen Patientinnen und Patienten        Gesundheitssystems zu finden, das noch wenig vor-
                                    gleichermaßen genutzt wird (Wasner & Raischl,          bereitet ist auf etwa Sprachprobleme und kulturell
                                    2019). Besonders Menschen mit Migrationshinter-        diverse Vorstellungen vom Sterben. Bisher wenig
                                    grund, die selbst oder von denen mindestens ein        empirisch untersucht wurde, wie gerade im Bereich
                                    Elternteil zugewandert ist, stehen im Mittelpunkt      der Hospiz- und Palliativversorgung, in dem die Pa-
                                    der Untersuchungen (Henke et al., 2015; Jansky &       tientinnen und Patienten besonders vulnerabel
                                    Nauck, 2014; Banse, 2018). In Deutschland hat jeder    sind, eine interkulturelle Öffnung gelingen kann.
                                    Vierte einen Migrationshintergrund. Trotz dieses An-
                                    teils an der Gesamtbevölkerung sind die Zugänge        Um diese Frage zu beantworten, haben wir als For-
                                    zur hospizlichen und palliativen Versorgung für die-   schungsteam der Klinik für Palliativmedizin Göttingen
                                                                                           uns für ein offenes Forschungsdesign entschieden.
                                                                                           Unsere früheren Studien haben gezeigt, dass das
                                                                                           Bedürfnis nach konkreten Lösungen für die Versor-
                                                                                           gung von Patientinnen und Patienten mit Migra-
                                                                                           tionshintergrund groß ist (Jansky & Nauck, 2014;
                                                                                           Owusu-Boakye et al., 2020). In einem vom Bundes-
                                                                                           ministerium für Familie, Senioren, Frauen und
                                                                                           Jugend (BMFSFJ) geförderten und von der Deutschen
                                                                                           Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) unterstütz-
                                                                                           ten Forschungsprojekt haben wir dementsprechend
                                                                                           ein Vorgehen gewählt, bei dem Vertreterinnen und
                                                                                           Vertreter von hospizlichen und palliativmedizi-
                                                                                           nischen Einrichtungen selbst zu Wort kommen.
                                                                                           Nach der Auswertung der migrationsspezifischen
Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

                                                                                           Daten des Wegweisers der DGP konnten wir Einrich-
                                                                                           tungen für das Projekt gewinnen. Wir haben die
                                                                                           Vertreterinnen und Vertreter in Fokusgruppen
                                                                                           gebeten, sich über hinderliche und förderliche
                                                                                           Faktoren interkultureller Öffnungsprozesse auszu-
                                                                                           tauschen. Diese Gespräche, die wir in vier Städten
                                                                                           in unterschiedlichen Regionen geführt haben,
                                                                                           wurden von uns angeleitet, wortwörtlich verschrift-
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                                                              stehen, die sich darin ausdrückt, dass es ein Inter-
                                                              esse der Versorgerinnen und Versorger gibt, auf
                                                              respektvolle Weise mehr über den einzelnen Men-
                                                              schen zu erfahren.

                                                              „Grundsätzlich jeden Menschen fragen.“ (FG Berlin
                                                              TN 4)

                                                              „Man muss einfach fragen, fragen – das zeugt
                                                              schon mal von Respekt.“ (FG Wiesbaden TN 2)

                                                              Offenheit zeigt sich auf verschiedenen Ebenen. Of-
                                                              fenheit sollte nicht nur im direkten Umgang mit den
     licht und mittels Qualitativer Inhaltsanalyse ausge-     Patientinnen und Patienten, sondern auch beim
     wertet. In der Folge konnten vier weitere einzelne       Austausch mit An- und Zugehörigen, die vermeint-
     fokussierte Interviews zu erfolgreichen Beispielen       lich fremde Religionen und Umgangsweisen in Ster-
     aus der Praxis geführt werden. Die Ergebnisse            besituationen betonen, angestrebt werden. Auch
     wurden schließlich in einer Handreichung zu-             innerhalb des Versorgungsteams kann Offenheit
     sammengetragen, um den Informationsrückfluss in          im Austausch eine wichtige Ressource sein.
     die alltägliche Hospiz- und Palliativarbeit zu gewähr-
     leisten.                                                 Auch bei den Faktoren, die die Teilnehmerinnen und
                                                              Teilnehmer der Fokusgruppen als förderlich für die
     Inhaltlicher Ausgangspunkt für die Fokusgruppen-         Öffnung der Einrichtungen genannt haben, ist Of-
     gespräche war die Frage, was von den Einrichtun-         fenheit zentral. Diese Kategorie steht im engen Zu-
     gen, die in den Fokusgruppen vertreten sind, unter       sammenhang mit einer Reihe von anderen Kate-
     interkultureller Öffnung verstanden wird. Es zeigte      gorien.
     sich in den Gruppen schnell, dass die Ansichten
     und das Verständnis darüber, was Interkulturalität       So ist Netzwerk-, Community- und Öffentlichkeits-
     ist, unterschiedlich sind. So wurde die Engführung       arbeit förderlich. Besonders bei zu begleitenden
     des Begriffs auf interkulturelle Prozesse mit Men-       Personen, die aus Sicht der Versorgerinnen und
     schen mit Migrationshintergrund kritisiert. Weitge-      Versorger nicht in die Strukturen des Versorgungs-
     hend einig jedoch waren sich die Teilnehmerinnen         alltages passen, weil sie etwa aus einem wenig ver-
     und Teilnehmer darin, dass das hospizliche und           trauten religiösen Kontext kommen, kann es helfen,
     palliativmedizinische Angebot auf jeden Menschen         ein Netzwerk zu bilden. Dieses Netzwerk kann in-
     bzw. auf die konkrete Situation der Patientinnen         formell unter Kolleginnen und Kollegen
     und Patienten bezogen werden sollte.                     entstehen oder Informationsflüsse unter den
                                                              Versorgungseinrichtungen fördern oder über die
     „Erfolgreich wäre für mich, dass jeder, der einen        hospizlichen und palliativmedizinischen Einrichtun-
     Bedarf hat, auch die Leistung abfragen oder abru-        gen hinausgehen. Für den Aufbau eines Netzwerkes
     fen kann.“ (FG Wiesbaden TN 1)                           empfiehlt sich zunächst die regionale Ausrichtung.
                                                                                                                      Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

     Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer betonten des-         „Was mir jetzt tatsächlich fehlt, ist sozusagen diese
     halb, dass es bei den Öffnungsprozessen viel mehr        Voraussetzungen zu schaffen und ich bin noch gar
     um eine grundlegende Offenheit gehen muss. Inter-        nicht richtig vernetzt, das heißt ich muss einfach
     kulturalität sollte in der alltäglichen hospizlichen     wissen, was ist [in meiner Stadt] und um [meine
     und palliativmedizinischen Arbeit nicht nur auf eth-     Stadt] herum.“ (FG Berlin, TN 3)
     nische und territoriale Herkunft bezogen werden.
     Im Umgang mit den Patientinnen und Patienten             Bei der Netzwerkbildung ist nicht nur wichtig, dass
     sollte eine Offenheit im Mittelpunkt der Versorgung      im regionalen Kreis bekannt gemacht wird, welche
INTERKULTURELLES MITEINANDER                                 19

                                    hospizlichen und palliativmedizinischen Angebote         Das Forschungsprojekt konnte einige förderliche
                                    vorhanden sind sondern auch, welche Vertreterin-         Faktoren finden, durch die eine interkulturelle Öff-
                                    nen und Vertreter von welchen Menschen(-grup-            nung erleichtert werden kann. Alle Teilnehmerinnen
                                    pen) wie und wo erreicht werden können. Gibt es          und Teilnehmer der Studie betonten, dass es auch
                                    beispielsweise Wohn- und Pflegeeinrichtungen             hinderliche, meistens bürokratische oder finanziel-
                                    oder spezifische Communities, die gezielt ange-          le, Faktoren gibt. Die Handreichung soll dazu anre-
                                    sprochen werden können, um die Vernetzung zu             gen, konkrete Lösungen für die Hospiz- und Pallia-
                                    ermöglichen? Auch für die Community- und Öffent-         tivversorgung zu finden.
                                    lichkeitsarbeit kann es hilfreich sein, den regiona-
                                    len Kontext des Versorgungsgebietes zu kennen.           Literatur
                                                                                             Banse, C. (2018). Komplexe Grenzziehungen und ungewisse
                                    Ein weiterer wichtiger förderlicher Faktor interkul-         Grenzdynamiken. Zur Palliativversorgung von Menschen
                                                                                                 mit Migrationshintergrund und Geflüchteten. Berliner De-
                                    tureller Öffnungsprozesse ist die Aus-, Fort- und            batte Initial, 29 (1), 84-94.
                                    Weiterbildung.                                           Henke, O. et al. (2015). Schmerzen sind eher zu ertragen als
                                                                                                 das Alleinsein. Zeitschrift für Palliativmedizin, 16, 254-263.
                                    „Ich hatte ja auch keine Ahnung, also habe ich an        Jansky, M., Nauck, F. (2014). Palliativ- und Hospizversorgung
                                                                                                 von Menschen mit Migrationshintergrund. Aktueller Stand
                                    so einem Seminar in der Moschee teilgenommen.“               und Handlungsempfehlungen für Hospiz- und Palliativver-
                                    (FG TN 7)                                                    sorger. Göttingen: Universitätsmedizin Göttingen und
                                                                                                 Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Fa-
                                    Wichtig ist bei Wissensaneignung nicht nur die               milie.
                                                                                             Owusu-Boakye et al. (2020). Hospiz- und Palliativversorgung
                                    Neugierde auf Neues (die sicher nicht schaden                für Menschen mit Migrationshintergrund. In: Schenk, L.,
                                    kann), sondern auch, dass bestimmte Formen der               Habermann, M. Migration und Alter. Berlin: de Gruyter. 133-
                                    Offenheit explizit erlernt werden können. Das Stel-          143.
                                    len von Fragen und eine offene, kreative Haltung         Paal, P., Bükki, J. (2017). „If I had stayed back home, I would
                                                                                                 not be alive any more…” – Exploring end-of-life preferences
                                    im Umgang mit Patientinnen und Patienten sowie
                                                                                                 in patients with migration background. PLoS ONE, 12 (4):
                                    deren Angehörigen können besonders bei Men-                  e0175314.
                                    schen mit Migrationshintergrund, zu denen eine           Wasner, M., Raischl, J. (2019). Kultursensibilität am Lebensen-
                                    kulturelle Barriere besteht, eine Vertrauensbezie-           de. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
                                    hung ermöglichen.

                                    Besonders in diesen Bereichen, die meistens größere                            Dr. disc. pol. Christian Banse
                                    zeitliche Ressourcen für etwa biographische Arbeit                             Universitätsmedizin Göttingen
                                    bedeuten, kann die Nutzung eines weiteren Faktors                              Georg-August-Universität
                                    hilfreich sein. Das Ehrenamt und seine interkulturelle                         Klinik für Palliativmedizin
                                    Öffnung sind ein wichtiger Baustein in der hospiz-                             Forschungsbereich
                                                                                                                   Von-Siebold-Str. 3
                                    lichen und palliativmedizinischen Versorgung.
                                                                                                                   37075 Göttingen
                                                                                                                   Tel.: 05 51 - 39 6 05 55
                                    „Es ist […] ganz häufig so, dass sozusagen das Eh-                             christian.banse@med.uni-goettingen.de
                                    renamt zu dem Menschen kommt, […] und dann ist
                                    der oder die Ehrenamtliche beim Erstgespräch die
                                    erste, die mal fragt, was haben Sie denn beruflich
Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

                                    gemacht? Das ist so eine schöne Einstiegsfrage,
                                    und dann kommt man ins Reden.“ (FB Berlin TN 3)
                                    Ehrenamtliche mit Migrationshintergrund als Mitt-
                                    lerinnen und Mittler sind derzeit noch selten. In den
                                    Fällen, in denen sie sich etablierten, konnten sie
                                    die Versorgung bei zugewanderten Patientinnen
                                    und Patienten maßgeblich erleichtern.                    Nicola Rieder         Franziska Schade       Prof. Dr. Friedemann
                                                                                                                                          Nauck
                                    © Malteser
20

     DONG BAN JA INTERKULTURELLER
     HOSPIZDIENST
     DR. DHARMA RAJ BHUSAL

     D
                ong Ban Ja ist seit 2009 ein Projekt des   Türkei und Deutschland tätig. Seit 2005 bilden wir
                Humanistischen Verbandes Deutsch-          ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zur
                land, Berlin-Brandenburg und bedeutet      Begleitung schwerkranker und sterbender Men-
                „begleiten“. Der Humanistische Ver-        schen aus. Unser Team besteht aus fünf ausgebil-
     band ist Träger von über 60 sozialen, kulturellen     deten hauptamtlichen Koordinatorinnen und Koor-
     und pädagogischen Projekten und Einrichtungen.        dinatoren aus Indien, Korea, Libyen, Nepal und
                                                           Vietnam. 2019 wurden über 190 Menschen von uns
                                                                         begleitet und unterstützt.

                                                                         Was wir tun
                                                                         Wir begleiten diese schwerkranken
                                                                         Migranten in ihrer häuslichen Umge-
                                                                         bung, in Krankenhäusern und Pfle-
                                                                         geeinrichtungen in ihrer jeweiligen
                                                                         Herkunftssprache. Wir beraten zur
                                                                         Krankheitsverarbeitung sowie zur
                                                                         sozialen und pflegerischen Versor-
                                                                         gung bei Bedarf in Zusammenarbeit
                                                                         mit SAPV-Teams, Pflegediensten,
                                                                         Ärzten und Ärztinnen und Angehöri-
     Dong Ban Ja widmet sich der Begleitung schwer-        gen. Wir beraten außerdem zu palliativen Versor-
     kranker und sterbender Menschen vorwiegend mit        gungsmöglichkeiten, geben Hilfe bei der Erstellung
     Migrationshintergrund im Rahmen eines ambulan-        von Patientenverfügungen, Hilfe bei der Suche nach
     ten interkulturellen Hospizdienstes, wobei der        einem stationären Hospizplatz. Außerdem unterstüt-
     Schwerpunkt darauf liegt, dass Menschen bzw.          zen wir bei der Vernetzung und Organisation von
     Gäste/Patienten und Patientinnen von Begleiten-       weiteren Hilfen. Wir bieten Trauergespräche, Trau-
     den, die ihre Sprache sprechen und ihre Religion      erbegleitung und Hilfe bei der Trauerfeier an.
     sowie ihre Kultur kennen, unterstützt werden.
                                                           Die Bedeutung der Muttersprache
     Ein multikulturelles Team                             Unsere ehrenamtlichen Hospizbegleiterinnen und
     Entstanden ist das Projekt in 2005 hauptsächlich      -begleiter bieten den schwerkranken und sterben-
     für Migranten und Migrantinnen aus Korea. Inzwi-      den Menschen und ihren Angehörigen eine würdige
     schen wurde der Wirkungskreis auf den gesamten
                                                                                                                Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83

     asiatischen, afrikanischen, arabischen Raum und
     nicht zuletzt auf den deutschsprachigen Raum aus-
     gedehnt.

     Zurzeit sind für uns circa 120 ausgebildete ehren-
     amtliche Begleitpersonen aus Korea, China, Viet-
     nam, Japan, Afghanistan, Pakistan, Indien, Bangla-
     desch, Burma, Nepal, Kamerun, Kenia, Irak, Libyen,
INTERKULTURELLES MITEINANDER                       21

                  interkulturelle Sterbebegleitung in der für sie an-     zurück in ihre Heimat zu gehen. Von denen, die hier-
                  gemessenen Form, Sprache, Kultur und Religion in        bleiben, gibt es viele, die sich fürchten in einem für
                  ihrer jeweiligen Muttersprache. Menschen, die de-       sie fremden Land zu sterben. Ihnen fehlt der für sie
                  ment und schwerkrank sind, vergessen oft ihre spä-      wichtige kulturelle Kontext, den die deutschen Ins-
                  ter gelernte Sprache und gehen zurück in ihre ur-       titute und Einrichtungen durch fehlendes Wissen
                  sprüngliche Muttersprache. Die muttersprachliche        häufig nur schwer vermitteln können.
                  Begleitung spielt daher eine große Rolle, weil in
                  den hiesigen Heimen, Krankenhäusern und Pflege-         Respekt vor den Älteren ist in den entsprechenden
                  einrichtungen kaum muttersprachige Mitarbeiten-         Ländern bis heute noch Tradition in den Familien.
                  de zu finden sind. Leider kennen viele dieser Insti-    Sie treffen wichtige Entscheidungen und leben in
                  tutionen unser Angebot noch nicht oder nehmen           der Regel (über 70 %) mit Kindern und Enkelkin-
                  es nicht wahr.                                          dern zusammen. Sie sorgen für die Enkelkinder,
                                                                          übernehmen Aufgaben im Haushalt und werden fi-
                  Unsere ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbei-         nanziell sowie im Pflegefall von den Kindern ver-
                  terinnen sind Menschen aus unterschiedlichen            sorgt.
                  Kulturen und Religionen, die in der Lage sind, nach
                  der Ausbildung kultursensible, spirituelle Begleitung   Viele Menschen aus Asien, dem arabischen Raum
                  durchzuführen (kultursensibel bedeutet für uns          und auch Afrika, die in Deutschland leben, denken
                  Respekt, Achtsamkeit und Wertschätzung für Men-         dabei erst einmal an das ihnen bekannte heimatli-
                  schen mit anderen Kulturen und Religionen). Der         che Familiensystem und realisieren nicht, dass die
                  Kreis unserer ehrenamtlich Mitarbeitenden setzt         Lage hier völlig anders ist.
                  sich zurzeit aus muslimischen, christlichen, buddhis-
                  tischen, hinduistischen und auch Personen ohne          Häufig befinden sie sich in einer schlechten ge-
                  Religionszugehörigkeit zusammen.                        sundheitlichen Situation infolge prekärer Arbeits-
                                                                          bedingungen und nicht rechtzeitiger Inanspruch-
                  Warum ein solch spezialisierter Hospizdienst?           nahme von Vorsorgemöglichkeiten. Deutschkennt-
                  Viele hier in Deutschland lebende Migrantinnen          nisse sind oft unzureichend, viele leben alleine
                  und Migranten haben den Wunsch, im Alter wieder         zuhause oder in Pflegeeinrichtungen und haben
© G. Achtermann
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