INTERKULTURELLES MITEINANDER - Schwerpunkt: Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
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Ansprechstellen im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen April 2020 Ausgabe 83 Schwerpunkt: INTERKULTURELLES MITEINANDER
Liebe Leserinnen und Leser, seit der Herausgabe des letzten Hospiz-Dialogs haben sich die Schwerpunkte in unserem Leben völlig verschoben. Wir beginnen, in neuen Kategorien zu denken. Durch das Coronavirus stellen sich zahllose Fragen … zur Entwicklung der Infektionsraten über wirtschaftliche und damit existentielle Aspekte hin zur Versorgung der Erkrankten lauten die Antworten vielfach: Wir wissen es nicht. Nie wurden so oft und umfänglich Nachrichten gehört wie in dieser Zeit, da uns jeden Tag neue Informationen erreichen. Und natürlich ist auch die Hospiz- und Palliativversorgung von diesen Entwicklungen betroffen: Es stellen sich hier die Fragen nach alternativen Begleitungsformen und geschützter Versorgung, aber auch nach der Finanzierungssicherheit. Bei der redaktionellen Planung dieses Hospiz-Dialogs und der Festlegung auf den Schwerpunkt „Interkulturelles Miteinander“ haben wir diese Entwicklungen nicht erwartet. Aber natürlich ist das Thema auch in und nach der Krise relevant … und vielleicht exemplarisch für eine grundsätzliche Auseinandersetzung des „Miteinanders“. Denn gerade in Krisenzeiten, wenn Tendenzen bestehen, sich abzugrenzen und Eigeninteressen in den Vordergrund zu stellen, ist das Zusammenrücken besonders notwendig. Eine gute Lektüre wünscht Ihnen Ihre Dr. Gerlinde Dingerkus INFORMATION SCHWERPUNKT INTERKULTURELLES MITEINANDER 4 Wohin geht die Reise? 17 Was macht eine erfolgreiche inter- Hospizarbeit 2025 kulturelle Öffnung der Hospiz- Heidi Mertens-Bürger, Ursula Elisa Witteler, und Palliativversorgung aus? Irmgard Hewing Christian Banse, Nicola Rieder, Franziska Schade, Friedemann Nauck 7 Wenn man sich einfach mal sehen könnte, würde man sehen, 20 Dong Ban Ja Interkultureller was ist Hospizdienst Kristina Woock, Nele Mindermann, Linda Dharma Raj Bhusal Völtzer, Susanne Busch 23 Wege des Abschieds – im Quartier 10 Selbstbestimmt über medizinische bis zuletzt? Maßnahmen entscheiden trotz Vorstellung eines Projektes Alzheimer Demenz? Bernd Vinke Das Projekt EmMa Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 Julia Haberstroh, Frank Oswald 26 Kultursensibel oder einfach nur menschlich 13 SANDS – Eine Organisation für Gerlinde Dingerkus Familien mit perinatal verstorbenen Kindern 31 Impressum Interview mit Clea Harmer
4 WOHIN GEHT DIE REISE? HOSPIZARBEIT 2025 HEIDI MERTENS-BÜRGER, URSULA ELISA WITTELER, IRMGARD HEWING W ohin geht die Reise? Das war das haben oder rechnen konnten. Nachdem sie sich für Thema eines Fachtages – veranstal- diese Aufgabe aus recht unterschiedlicher Motiva- tet durch die Ansprechstelle des tion entschieden haben, erkennen sich die ehren- Landes NRW für Palliativversorgung, amtlichen Vorstände schnell als „Chefs“ eines Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung in West- Kleinunternehmens, das im ambulanten Bereich einen falen-Lippe (ALPHA) am 13.09.2019 in Hamm.1 Jahresumsatz von durchschnittlich ca. 80.000 € Eingeladen waren Tandems aus den westfälisch- haben kann. lippischen Hospizdiensten, bestehend aus Vorstän- den, Geschäftsführungen und Koordinatorinnen Dies ist Menschen, die für das Amt des Vorstandes und Koordinatoren. angefragt werden, nicht so klar. Mit dem Amtsan- Hintergrund Die Hospizarbeit hat sich über viele Jahre etabliert, in ihrer Vielfalt institutionalisiert und professiona- lisiert. Von den hauptamtlich und ehrenamtlich Tätigen erfordert die Begleitung der Betroffenen und ihrer Familien und Zugehörigen ein Denken in systemischen Strukturen, ein Präsentsein mit großer Empathie und ein hohes Maß an Authentizität. Ein kleiner Teil der Hospizdienste © H.-H. Scheer ist Teil eines Verbandes, ein großer Teil der Hospizdienste arbeitet in den Strukturen eines eingetrage- nen Vereins mit in der Regel ehren- amtlichen Vorständen. Diese möchten in erster Li- tritt stellen sich auch viele weitere Fragen: Wie kann nie die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterin- Hospizarbeit gemeinsam gelingen? Wie viel nen und Mitarbeiter in ihrer Tätigkeit unterstützen, Führung braucht oder verträgt Haupt- und Ehren- was teilweise eher unspezifisch und unkonkret ist. amt? Wie viel Organisationslogik verträgt die Kultur In ihrer Funktion als Arbeitgeber jedoch sind die der Hospizarbeit? Welche Haltung ist notwendig Aufgaben sehr spezifisch: Sie sind verantwortlich und tragfähig in der Führung dieser klein- und Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 für alles, was in den Diensten geschieht, und sie mittelständischen Organisationen? tragen auch eine hohe finanzielle Verantwortung, mit der sie möglicherweise vorab nicht gerechnet Immer wieder geraten diese Systeme aus haupt- amtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, eh- 1 Die ALPHA-Stellen orientieren sich oft an den Fragen und renamtlich Begleitenden und ehrenamtlichen Vor- Bedarfen der Einrichtungen und möchten dazu beitragen, der Beantwortung näherzukommen, indem sie ihnen ständen an ihre Grenzen. Wie kann daraus ein trag- teilweise auf Landesebene, teilweise auf Landesteilebene fähiges Dreieck werden? Welche Rolle hat der einen Rahmen geben. Vorstand, wenn die Koordinatorin/der Koordinator
5 © H.-H. Scheer einen Kontrakt – ebenfalls in einer Dreiecksbezie- Akteurinnen und Akteure vermutlich schauspiele- hung – zwischen ehrenamtlich Tätigen, Koordina- risches Talent hatten, aber vor allem trafen sie mit tion und Familien eingeht? dem „Drehbuch“ den Nerv der Anwesenden. All diese Räume und Begriffe sind mitunter nicht Im anschließenden Vortrag wurden die vielseitigen miteinander ausgehandelt, es können völlig unter- Herausforderungen beschrieben: Da sind zunächst schiedliche Begriffsdefinitionen, Zuschreibungen die originären Aufgaben der Hospizarbeit, die im- und Bewertungen bei allen Beteiligten vorliegen. mer wieder bewusst in den Fokus zu rücken sind: Aushandeln lässt sich ein gemeinsames Verständ- Wir begleiten schwer kranke und sterbende Men- nis nur in gemeinsam gestalteten Kommunikations- schen und ihre Zugehörigen, dort wo sie leben und formen. Häufig hilft eine Moderation von außen. mit allen Themen, die damit verbunden sind. Der Fachtag Aber Hospizarbeit geht ja weiter: Unter anderem Der Fachtag startete mit einem Rollenspiel: Frau hat die Präsenz in der Öffentlichkeitsarbeit zuge- Geldlich („Wir müssen etwas sparsamer sein!“), nommen, hier ist der Auftrag, zur Enttabuisierung Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 Herr Herzlich („Es ist eine solch erhebende Erfah- beizutragen. Hospizdienste gehen in Kitas und rung!“), Frau Urgestein („Das war früher ganz Schulen, informieren in öffentlichen Veranstaltun- anders!“) und Frau Jugendfrisch („Ich habe da mal gen immer wieder zu Krankheit, Sterben und Tod, eine super Idee!“) trafen sich auf der Bühne zu Themen, die in der Gesellschaft nach wie vor gerne einer Vorstandssitzung und berührten in ihrem ausgeblendet werden. Was darüber hinaus langfris- Rollenspiel etliche Themen aus dem Alltag der tig in den Blick zu nehmen ist, sind z. B. komplexe aktiven Hospizmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Begleitungssituationen, in denen eine Eins-zu-eins- Die Reaktionen zeugten auch davon, dass die Betreuung nicht genügt. Damit verbunden ist die
6 Arbeit in immer größer werdenden Netzwerken, die und Akquise, Finanzierung, Spenden und Fundrai- eine Koordination benötigen. Auch der Generatio- sing, dauerhafte finanzielle Absicherung (Rückgang nenwechsel beschäftigt die Mitarbeitenden: Men- der Spenden), Gewinnung neuer EA für Begleitung schen der ersten Stunde traten ihre Arbeit unter und Vorstandsarbeit, Aufgabenverteilung zwischen anderen Umständen und mit anderen Motivations- Vorstand und Koordinatorinnen und Koordinatoren, lagen an, als dies heute geschieht: Wie gehen die Männerkurse. Dienste damit um? Was ist zu berücksichtigen? Dies sind nur einige Themen, und nicht zuletzt bringt Die Themen, die die hauptamtlichen Koordinato- die gesetzliche Förderung, aber auch die vielen Ko- rinnen und Koordinatoren beschäftigten, stimmten operationen die Notwendigkeit einer umfassenden – zumindest bzgl. der Begriffe – in vielen Punkten Dokumentation mit sich, neue Verwaltungsaufga- mit den Themen der Vorstände überein. Sie laute- ben und Dienste sind hinzugekommen, was die ten: Aufgaben und Ansprüche von den Vorständen Koordinatorinnen und Koordinatoren an ihre Kapa- und Trägern, Rollendiffusionen, Gehälter, Bewälti- zitätsgrenzen bringen kann. gung der vielschichtigen Aufgaben, Gewinnung von ehrenamtlich tätigen Menschen, Trauerbegleitung In dem Vortrag wurde unterstrichen, was unter die- wird nicht gefördert, nimmt aber zu. Wollen wir sen Rahmenbedingungen wichtig ist: noch größer werden? Wo macht öffentliche Präsenz • die Wertschätzung untereinander (unter der Be- Sinn? Neue Vorstände finden und diese gut vorbe- rücksichtigung neuer und langjähriger Mitar- reiten! Wer begleitet diesen Prozess? Wo gibt es beit, verschiedener Professionen, unterschied- ein Angebot? Im nächsten Schritt sammelten die licher Wissensstände …) Teilnehmenden in gemischten Runden kreative Um- • eine klare Verteilung und Definition von Rollen setzungsideen. • Transparenz und Klarheit schaffen, z. B. über Entscheidungsbefugnisse, über Prioritäten, Mit diesen Ideen und den Eindrücken des gesamten über Strategien … Tages gingen die jeweiligen Kolleginnen und Kol- • kritisches Aushandeln von Themen, Positionen … legen in den Austausch. Koordinatorinnen/Koordi- • Regeln & Methoden für das „Onboarding“ natoren und ihre Vorstände dachten gemeinsam • eine große Portion Phantasie und Kreativität nach über die Frage: Welche nächsten Schritte in ... aber ebenso der Sinn für die Realitäten unserem Dienst können und wollen wir gemeinsam gehen? Was ist wichtig? Was sollte rasch, was lang- Die Workshops fristig umgesetzt werden? Und wie kommunizieren In nach Funktionen getrennten Gruppen erarbeite- wir das mit den Kolleginnen/Kollegen vor Ort? So ten die Koordinatorinnen und Koordinatoren und war dieser Tag nicht nur gekennzeichnet von der die Vorstände Themen, die für sie in ihrer jeweiligen Vielfalt der Impulse und von der Diskussion zwi- Rolle von Bedeutung sind. So entstand eine bunte schen den Kolleginnen und Kollegen aus Vorstand Themensammlung, die in Kleingruppen diskutiert und Koordination, sondern mündete in ganz kon- wurde. kreten Aufgaben, die die „Tandems“ für sich und ihre Dienste mitnahmen. Ihr Fazit: Diese Veranstal- Bei den Vorständen standen folgende Stichworte tung hat uns vorangebracht und gutgetan – gerne auf den Flipcharts: Generationswechsel, Umgang wieder! mit der Wirtschaftlichkeit, Angebote über die Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 Sterbebegleitung hinaus, Bezahlung der Koordina- Heidi Mertens-Bürger, Irmgard Hewing torinnen und Koordinatoren, Kompetenz der alpha@muenster.de Vorstände mit dem Blick auf die praktische Arbeit und die finanzielle Förderung, Implementierung Ursula Elisa Witteler neuer Projekte (Wollen oder müssen wir auf jeden info@entwicklung-wagen.de Zug aufspringen?), Personalverantwortung, Hierar- chie und Weisungsbefugnis, Ehrenamt versus Hauptamt, neue Strukturen, Nachfrage Begleitungen
7 WENN MAN SICH EINFACH MAL SEHEN KÖNNTE, WÜRDE MAN SEHEN, WAS IST Die besonderen Herausforderungen entfernt lebender Angehöriger KRISTINA WOOCK, NELE MINDERMANN, LINDA VÖLTZER, SUSANNE BUSCH I mmer mehr Familien in Deutschland leben mende Unterstützungsbedürftigkeit der Eltern in geografisch voneinander getrennt. Erwach- Verbindung mit der geografischen Distanz trägt sene Kinder verlassen ihr Elternhaus, um ihr nicht dazu bei, diese Sorge zu verringern. Studium in einer anderen Stadt aufzunehmen oder um sich beruflich weiterzuentwickeln. Insbe- Pflege auf Distanz („distant caregiving“) umfasst sondere strukturschwache Gegenden verlieren vor allem unterstützende Tätigkeiten, die – nicht viele junge Erwachsene an wirtschaftlich stärkere nur, aber auch – aus der Entfernung geleistet wer- Regionen (Statistisches Bundesamt, 2019). So den können. Dazu gehört die emotionale Unter- kommt es, dass die mittlere Entfernung vom Wohn- stützung der alten Menschen sowie möglicher ort der Eltern zu dem ihrer erwachsenen Kinder Angehöriger vor Ort ebenso wie das Knüpfen, wächst. Etwa die Hälfte der erwachsenen Kinder Anpassen und Aufrechterhalten eines Versorgungs- lebt an einem anderen Ort als die Eltern, in einer netzwerks aus der Ferne. Die Betroffenen werden Entfernung von bis zu zwei Stunden, ein Fünftel zu einem „orchestrator in the background“ (Ed- sogar mehr als zwei Stunden entfernt (Frewer-Grau- wards, 2014). Letzteres wird dadurch erschwert, mann, 2014; BMFSFJ, dass die Angehöri- 2016). gen häufig nur unzu- reichend wissen, wie Die Entfernung wird sich die Situation bei zunehmend dann zu Vater oder Mutter im einem Problem, wenn Detail gestaltet. die Eltern älter und Wenn Besuche statt- damit sehr häufig finden, stehen des- auch unterstützungs- halb häufig organi- bedürftiger werden. satorische Aufgaben Welche Form von sowie das Einholen Unterstützung lässt verlässlicher Infor- sich aus der Entfer- mationen im Vorder- nung überhaupt lei- grund. Beziehungs- sten? Offensichtlich ist die klassische „Hands-on“- pflege und emotionale Unterstützung können Pflege von entfernt lebenden Angehörigen nur in aufgrund der begrenzten Zeit nicht im gewünschten Ausnahmefällen leistbar – wodurch sich auch Umfang geleistet werden (Bevan & Sparks, 2011). erklärt, warum der Begriff des entfernt lebenden Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 pflegenden Angehörigen kaum gebräuchlich ist. Mit den geschilderten Herausforderungen sehen Passender und umfassender ist die englischspra- sich früher oder später fast alle konfrontiert, die chige Bezeichnung „Distant Caregiver“, denn das ihre Heimatregion verlassen haben und auch die Wort „Care“ umfasst auch Begriffe wie „(Für-) Mitglieder des Projektteams „AniTa“ der Hochschu- Sorge“, „Obhut“, „Betreuung“ und „Zuwendung“ le für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Ham- (vgl. auch Otto et al., 2017; Schnepp & Söhngen, burg kennen die Herausforderungen aus eigener 2018). Insbesondere das Gefühl der Sorge kennen Erfahrung. fast alle entfernt lebenden Kinder, und eine zuneh-
8 AniTa – Tausch von Fürsorge und Unterstützung Das vom GKV-Spitzenver- band geförderte Modell- projekt „AniTa-Angehöri- ge im Tausch“ ist ein spezifisches Angebot für entfernt lebende An- gehörige. Die Idee ist einfach. Erwachsene Söhne oder Töchter, die sich nicht selber regel- mäßig um ihre alt ge- wordenen Angehörigen kümmern können, vernet- zen sich über die Internet- plattform „AniTa-Familie“ (www.anita-familie.de) mit anderen Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind. Das Ziel ist, jemanden zu finden, der oder die in der Nähe der eigenen Eltern oder an- derer hilfebedürftiger Verwandter lebt und bereit ist, diese regelmäßig zu unterstützen. Wie diese Unterstützung aussehen kann, ist breit gefä- chert und kann von den beteiligten Parteien unter- ihren sterbenden Vater und die gesundheitlich einander ausgehandelt werden. Bei alten Men- ebenfalls eingeschränkte Mutter zu besuchen. schen, die noch keine intensive Pflege benötigen, „Das war“, so sagt sie “eine heftige Belastung. Man ist von regelmäßigen Besuchen, Begleitung bei macht es. Und man funktioniert einfach. Und Spaziergängen oder kleineren Unternehmungen irgendwann klappt man dann so ein bisschen zu- über einfache Handreichungen bis hin zu Unter- sammen.“ stützung bei organisatorischen Dingen, wie dem Einlösen eines Rezeptes, alles möglich. Gleichzeitig Die schwere Erkrankung eines Elternteils ist immer ist auch der jeweilige Tauschpartner bzw. die ein erheblicher Stressor – für den Betroffenen Tauschpartnerin bereit, sich für einen anderen alten selbst, für vor Ort lebende Angehörige, aber auch Menschen an seinem oder ihrem Wohnort ähnlich für entfernt lebende erwachsene Kinder. Diese ha- einzubringen. Auch Menschen, die sich (gerade) in ben die gleichen Sorgen und Ängste wie vor Ort keiner eigenen Betreuungssituation befinden, kön- pflegende Angehörige, aber ohne die emotionale nen sich einbringen und vor Ort alte Menschen aus Unterstützung beispielsweise durch ein Hospiz- multilokalen Familien unterstützen. Team zu erfahren. So beschrieben Teilnehmer und Teilnehmerinnen einer Interviewstudie in den USA Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 … und in der letzten Lebensphase? Gefühle wie Stress, Unsicherheit, Schuldgefühle Die Literatur und auch die im Rahmen von „AniTa“ und Angst bzw. Sorge. Diese Emotionen sind spe- gemachten Erfahrungen zeigen, dass Pflege und zifische Komponenten der Beziehung auf Distanz Unterstützung auf Distanz für die betroffenen er- und dem gleichzeitigen Wissen um die schwere wachsenen Kinder sehr herausfordernd und oft Erkrankung bzw. das Sterben eines nahen Fami- auch überfordernd sind. So fuhr beispielsweise ei- lienmitglieds (vgl. beispielsweise Douglas et al., ne der im Projekt befragten Interviewpartnerinnen 2016; Mazanec et al., 2011). Auch die Frage, ob man über Monate jedes Wochenende 700 Kilometer, um im Falle einer krisenhaften Situation schnell genug
9 bei dem sterbenden Elternteil sein kann, setzt den den sterbenden Menschen als auch für das entfernt Betroffenen zu. Eine entfernt lebende Tochter, die lebende erwachsene Kind, eine (weitere) wichtige im Rahmen des Projektes „AniTa“ befragt wurde, Stütze und Hilfe sein. sprach in diesem Zusammenhang von ihrer Angst, „… dass man sich nicht rechtzeitig verabschiedet hat. Wenn es dann doch mal so weit ist. Es ist ja Literatur einfach so.“ Dazu kommt die Unsicherheit, wie es Bevan, J., Sparks, L. (2011). Communication in the Context of dem schwerkranken Elternteil geht – wann ein Be- Long-Distance Family Care-Giving: An Integrated Review and Practical Applications. Patient Education and Counse- such angebracht ist, wann ein Anruf vielleicht eher ling (85) 26–30. stört … (Mazanec et al., 2011). Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2016). Siebter Altenbericht. Berlin: BMFSFJ. Ob „AniTa“ in diesem Zusammenhang eine Unter- Douglas, S., Mazanec, P., Lipson, A. et al. (2016). Distance Caregiving a Family Member with Cancer: A Review of the stützung sein kann, hängt stark von den jeweiligen Literature on Distance Caregiving and Recommendations Umständen ab. Es empfiehlt sich in jedem Fall, eine for Future Research. World Journal of Clinical Oncology 7 Tauschbeziehung so früh wie möglich anzubahnen. (2), 214-219. So können alle Beteiligten einander kennenlernen Edwards, M. (2014). Distance Caregivers of People with Alz- heimer’s Disease and Related Dementia: A Phenomenolo- und Vertrauen zueinander aufbauen. Wenn ein El- gical Study. British Journal of Occupational Therapy (7). ternteil schwer erkrankt und schließlich auch im Frewer-Graumann, S. (2014). Zwischen Fremdfürsorge und Sterben liegt, kann der Tauschpartner oder die Selbstfürsorge. Familiäre Unterstützungsarrangements von Tauschpartnerin ein wertvolles Puzzleteil in dem Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen. Wiesbaden: Springer VS. Versorgungsnetzwerk darstellen. Wenn die Rezepte Mazanec, P., Daly, B., Ferrell, B., Prince-Paul, M. (2011). Lack bereits eingelöst sind, die Glühbirne gewechselt of Communication and Control: Experiences of Caregivers und der Kühlschrank gefüllt, können die entfernt of Parents with Advanced Cancer. Oncology Nursing Forum lebenden Kinder, wenn sie ihr Elternteil besuchen, 38(3): 307–313. wertvolle Zeit damit verbringen, emotionalen Sup- Otto, U., Bischofberger, I., Hegedüs, A., Kramer, B., van Holten, K., Franke, A. (2017). Wenn pflegende Angehörige weiter port zu leisten und „einfach nur da“ zu sein. Sie entfernt leben – Technik eröffnet Chancen für Distance haben eine Ansprechperson vor Ort und können Caregiving, ist aber nicht schon die Lösung. In: Umge- diese bitten, in Krisensituationen wichtige Dinge bungsunterstütztes Leben. Beiträge zum Usability Day XV, vorab zu klären, bis die Betroffenen selber ihre An- Hrsg. I. Hämmerle und G. Kempter, 140-148. Lengerich, Westfalen: Papst Science Publishers. reise bewältigt haben. Schnepp, W., und J. Söhngen (2018). Vereinbarkeit von Pflege und Beruf bei Pflege auf Distanz. https://www.wege-zur- Eine Vernetzung über „AniTa“ kann und will im Fall pflege.de/fileadmin/daten/Beirat/Pflege_auf_Distanz_ von schwerkranken und sterbenden Menschen eine Schnepp.pdf. Zugegriffen: 26. März 2019. Statistisches Bundesamt (2019). Bevölkerung und Erwerbstä- gute professionelle Versorgung und ehrenamtliche tigkeit 2017. Wanderungen. Fachserie 1. Reihe 1.2. Wiesba- Betreuung durch den örtlichen Hospizdienst nicht den: Statistisches Bundesamt. ersetzen. Aber eine bereits im Vorfeld angebahnte Tauschbeziehung kann helfen, Sorge zu mindern, Unsicherheiten aufzulösen und kann, sowohl für Kristina Woock, MPH Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 Wissenschaftliche Mitarbeiterin Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW Hamburg) Department Pflege & Management Steindamm 105 (Postanschrift: Alexanderstraße 1) 20099 Hamburg Tel.: 0 40 - 4 28 75 72 30 kristina.woock@haw-hamburg.de
10 SELBSTBESTIMMT ÜBER MEDIZINISCHE MASSNAHMEN ENTSCHEIDEN TROTZ ALZHEIMER DEMENZ? Das Projekt EmMa JULIA HABERSTROH, FRANK OSWALD D as Projekt EmMa (Förderung der Einwil- Diagnose gestellt, welche Behandlung beschlossen ligungsfähigkeit in medizinische Maß- wurde. Der Arzt hält sie für nicht einwilligungsfä- nahmen bei Demenz durch ressourcen- hig“ (Haberstroh et al., 2014, S. 195). orientierte Kommunikation) wurde von 2011 bis 2019, gefördert von der Volkswagen Menschen mit Alzheimer Demenz haben – wie jeder Stiftung am Frankfurter Forum für interdisziplinäre andere Mensch – das Recht, selbstbestimmte Alternsforschung (FFIA) der Goethe-Universität Entscheidungen in Bezug auf ihre medizinische Frankfurt am Main, in Kooperation mit dem Institut Behandlung zu treffen. Um selbstbestimmt in eine für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Behandlung einzuwilligen oder diese abzulehnen, der Ruhr-Universität Bochum (Prof. Dr. Dr. Jochen bedarf es der informierten Einwilligung. Damit eine Vollmann), dem Forschungs- und Innovationsver- Einwilligung gemäß deutschem Recht als wirksam bund an der Evangelischen Hochschule Freiburg gilt, müssen folgende Kriterien erfüllt sein: (FIVE ) (Prof. Dr. Thomas Klie), der Sektion Geronto- psychiatrische Forschung des Universitätsklinikums 1. eine/ein einwilligungsfähige/r Patientin/Patient Heidelberg (Prof. Dr. med. Johannes Schröder) und 2. wird adäquat informiert und kann daraufhin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der 3. eine freiwillige Entscheidung treffen. Main-Kinzig-Kliniken Schlüchtern (Dr. Susanne Markwort) durchgeführt. Im Projekt EmMa wurden Kognitive Fähigkeiten, die für die Einwilligung in praxistaugliche Methoden entwickelt und evaluiert, komplexe medizinische Maßnahmen von Nöten mit deren Hilfe es möglich sein soll, Menschen mit sind, werden bereits in frühen Stadien der Alzheimer leichter bis mittelschwerer Demenz zu befähigen, Demenz beeinträchtigt. Daher ist es gängige Praxis, ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen. dass die Einwilligungsfähigkeit von Menschen mit Alzheimer Demenz von den behandelnden Ärztin- Problemstellung nen und Ärzten überprüft wird. Nicht selten Das einleitende Fallbeispiel könnte gerade eben in kommen die Ärztinnen und Ärzte hierbei bereits bei einem deutschen Krankenhaus stattfinden. leichter Demenz zum Urteil, dass die Person nicht einwilligungsfähig sei. „Die demenzkranke Frau Schneider sitzt mit ihrem Sohn beim Arzt, der sie über das Ergebnis einer Betrachtet man das einleitende Fallbespiel, so stellt Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 medizinischen Untersuchung und die folgende Be- sich die Frage, ob das Urteil „einwilligungsunfähig“ handlung aufklären soll. Der Arzt redet schnell und in diesem Fall auf die demenzbedingten, der Person zunehmend laut. Frau Schneider schaut ihn irritiert innewohnenden kognitiven Beeinträchtigungen zu- an. Sie scheint ihn nicht zu verstehen. Der Arzt klärt rückzuführen ist. Das kurze Fallbeispiel liefert be- im Folgenden den Sohn auf, der als Betreuer zur reits Hinweise darauf, dass Frau Schneider nicht Sorge für die Gesundheit der Mutter eingesetzt ist. adäquat informiert wurde. Die Darbietung der In- Der Sohn stimmt der Behandlung zu. Frau Schnei- formationen wurde nicht an den Adressaten ange- der verlässt den Raum, ohne zu wissen, welche passt, sondern es wurden grundlegende Fehler in
11 punkte für Maßnahmen zur Förderung von Einwil- ligungsfähigkeit im Prozess der informierten Ein- willigung ermittelt (u. a. Haberstroh et al., 2014; Haberstroh et al., 2018; Haberstroh & Oswald, © G. Achtermann 2014; Müller et al., 2015; Müller et al., 2017; Schatz et al., 2017; Wied et al., 2019). Eine umfassende Zusammenstellung der Ergeb- nisse des Projekts EmMa sowie verwandter Projek- te wird voraussichtlich 2021 im Kohlhammer Verlag der Kommunikation mit Menschen mit Demenz ge- veröffentlicht werden (Arbeitstitel: Entscheidungs- macht (u. a. schnelle, laute Sprache, über die Pa- assistenz und Einwilligungsfähigkeit bei Demenz: tientin redend, nicht mit ihr). Ein Manual für die klinische Praxis und Forschung; Scholten & Haberstroh, in Vorbereitung). Zudem Grundlegende Annahme des Projekts EmMa ist, dass finden sich einige Ergebnisse des Projektes EmMa Einwilligungsfähigkeit keine statische, der Person in einer aktuellen und online abrufbaren AWMF-S2k- innewohnende Eigenschaft ist, sondern dass diese Leitlinie wieder (DGGG, DGPPN & DGN, 2019). im Wechselspiel von Person und Umwelt veränder- bar und eine Befähigung zur Selbstbestimmung Im Folgenden soll ein zusammenfassender Über- durch adäquate Informationsdarbietung möglich ist. blick über einige wesentliche empfohlene Maßnah- Demgemäß folgte das Projekt EmMa dem General men gegeben werden. Wichtig ist hierbei, dass der Comment zu Artikel 12 der UN-Behindertenrechts- Grundsatz „Viel hilft viel“ hier nicht gilt. Vielmehr konvention, in dem es heißt, dass die Vertragsstaa- geht es darum, die individuellen Stärken und ten davon abkommen müssen, Menschen ihre Schwächen eines Menschen mit Demenz zu erken- Rechtsfähigkeit abzusprechen und ihnen stattdes- nen und dementsprechend Entscheidungsassis- sen den Zugang zu Unterstützung bereitstellen müs- tenz anzubieten. Gut gemeinte Assistenz und Sim- sen, die sie eventuell benötigen, um zu rechtskräfti- plifizierung kann einen erwachsenen Menschen gen Entscheidungen befähigt zu werden (Committee (mit und ohne Demenz) irritieren und das Gefühl on the Rights of Persons with Disabilities, 2014). vermitteln, nicht ernst genommen zu werden. Daher gilt vielmehr der Grundsatz: „Assistieren so Ziel des Projekts EmMa war es daher, Maßnahmen viel wie nötig, so wenig wie möglich“. Nähere zur Unterstützung von Menschen mit Demenz bei Informationen zu den folgenden zusammengefassten der Ausübung ihrer Handlungsfähigkeit bei medi- Maßnahmen der Entscheidungsassistenz sind den zinischen Entscheidungen auf Grundlage wissen- unten angegebenen Quellen zu entnehmen. schaftlicher Erkenntnisse bereitzustellen und deren Wirksamkeit zu evaluieren. Derartige Maßnahmen Aufmerksamkeit unterstützen werden inzwischen unter dem Begriff der Entschei- - Aufmerksamkeit gewinnen und halten (u. a. dungsassistenz zusammengefasst (Zentrale Ethik- durch direkte Ansprache mit dem Namen, Blick- kommission bei der Bundesärztekammer, 2016). kontakt aufnehmen und halten, Gespräch „auf Augenhöhe“ führen) Prozedere und Ergebnisse des Projekts EmMa - falls angebracht: mit Zeigegesten die Aufmerk- Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 Um das vorgenannte Ziel zu erreichen, wurde zu- samkeit lenken nächst das Instrument CODEMamb zur Beurteilung von Kommunikation bei Demenz entwickelt und va- Struktur geben lidiert, das nicht – wie herkömmliche Instrumente - Informationen in kurze Abschnitte zerlegen (ei- – allein auf die Defizite fokussiert, sondern ebenso ne Informationseinheit je Abschnitt) dazu in der Lage ist, Ressourcen aufzudecken (Kne- - Thema des Informationsabschnitts benennen bel et al., 2016). Im folgenden Studienabschnitt und Abschnitte nacheinander Schritt für Schritt wurden u. a. mithilfe dieses Instruments Ansatz- präsentieren
12 - das Verständnis nach jedem Informationsab- grenzen (Empfehlung: max. drei Personen, näm- schnitt überprüfen und ggf. Information in den lich Arzt/Ärztin, Patient/Patientin, Betreuer/ gleichen Worten wiederholen Betreuerin/Angehörige/Angehöriger) - nach jedem Informationsabschnitt anbieten, - für ein vertrauensvolles und wenig beängstigen- Fragen zu stellen und Pausen zu machen des Gesprächsklima sorgen - Raum aufgeräumt und reizarm gestalten oder Sprachliche Anforderungen anpassen einen reizarmen Abschnitt des Raumes nutzen - klare Sprache, d. h. geringe syntaktische Kom- (z. B. vermeiden von reizüberladenen Bildern plexität (keine Schachtelsätze, wiederholendes, und vollen Schreibtischen) gleichbleibendes Vokabular, Fachbegriffe ver- - Raum mit Tageslicht auswählen oder zumindest meiden) grelles, künstliches Licht vermeiden - Elaborationen (Schlüsselbegriffe von Satz zu - Raum vorher lüften Satz wiederholend aufgreifen) - keine simplifizierende Sprache (z. B. keine ex- Konkrete Empfehlungen zur Umsetzung einiger der trem kurzen Sätze, nicht nur Hauptsätze) vorgenannten Punkte finden sich im Buch Kommu- - neutrale Prosodie (kein übertrieben langsames nikation bei Demenz von Haberstroh et al. (2016). Sprechtempo, keine sehr hohe Stimmlage, son- dern einen ruhigen, deutlichen – nicht zu leise, Fazit nicht zu laut – gleichmäßigen und respektvollen Abschließend ist zu betonen, dass das Konzept der Tonfall wählen) Entscheidungsassistenz einen wichtigen Beitrag zur Förderung der Selbstbestimmung leisten kann, Gedächtnis stützen jedoch bei weitem nicht in allen Fällen zur Einwilli- - verbal mithilfe einer Stichpunktliste gungsfähigkeit betroffener Personen führt. Gleich- - falls angebracht: nonverbal mithilfe von Pikto- wohl kann Entscheidungsassistenz auch bei ein- grammen, Visualisierungen oder haptischen willigungsunfähigen Personen zur Unterstützung Informationen, die das Gesagte veranschaulichen von Selbstbestimmung beitragen (Haberstroh et al., 2018). Situation und Umwelt gestalten - störende Umweltreize von außen minimieren, u. a. laute Außengeräusche möglichst verhin- Die Literaturliste zu diesem Artikel kann per E-Mail dern, Unterbrechungen vorbeugen (z. B. Telefon bei der Redaktion angefordert werden. ausschalten), Anzahl anwesender Personen be- sigrid.kiessling@alpha-nrw.de Prof. Dr. Julia Haberstroh Psychologische Alternsforschung Universität Siegen Fakultät II – Dep. Erziehungswissenschaft-Psychologie Institut für Psychologie Adolf-Reichwein-Str. 2a © Klaus Ditté 57068 Siegen Tel.: 02 71 - 7 40-40 53 Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 Julia.Haberstroh@uni-siegen.de Prof. Dr. Frank Oswald Professur für Interdisziplinäre Alternswissenschaft Goethe-Universität Frankfurt am Main © Klaus Ditté Tel.: 0 69 – 79 83 63 98 oswald@em.uni-frankfurt.de
13 SANDS – EINE ORGANISATION FÜR FAMILIEN MIT PERINATAL VERSTORBENEN KINDERN INTERVIEW MIT CLEA HARMER VON SANDS - STILLBIRTH AND NEONATAL DEATH CHARITY W as ist das Hauptanliegen von Sands? Sands arbeitet daran, die Trauerbe- gleitung für Eltern und Familien zu verbessern durch zahlreiche Schu- lungsprogramme und andere Angebote in Partner- schaft mit Angehörigen des Gesundheitswesens, Trusts und Gesundheitsämtern. Aber Sands arbei- tet ebenso daran, die Zahl der sterbenden Babys zu reduzieren und die Ursachen für den Tod von Babys besser zu verstehen. Sands arbeitet mit Regierungen und anderen Organisationen zusam- men, um Veränderungen voranzutreiben und das Bewusstsein für die Probleme im Zusammenhang mit dem Verlust eines Babys zu schärfen. große Unterstützung. Ein trauerndes Elternteil äu- ßerte dies so: „Ich habe die Helpline mehrmals an- Können Sie uns ein wenig über Ihre Strukturen gerufen, nachdem meine Tochter im Januar gestor- erzählen? ben ist. Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, Sands beschäftigt rund 70 Mitarbeiter, die am Haupt- waren unglaublich. Sie haben mir durch die dun- sitz in London ansässig sind, und Kollegen, die von kelsten Momente meines Lebens geholfen. Sie zu Hause aus an Standorten in ganz Großbritannien konnten nicht unterstützender und sachkundiger arbeiten. Die Organisation hat Unterstützungsgrup- sein. Sie wissen, was sie sagen sollten und was pen für alle, die vom Tod eines Babys betroffen sind. besser nicht. Danke für die Hilfe durch die dunkels- Die Gruppen werden von ehrenamtlichen Hinterblie- ten Tage.“ benen geleitet, die dafür ausgebildet wurden, ande- re Hinterbliebene zu unterstützen. Welche Angebote machen Sie für professionelle Mitarbeiter? Sands wird von einem Stiftungsrat geleitet, der von Sands hat eine Reihe von Schulungskursen und Be- seinen Mitgliedern gewählt wird. Das Gesamtein- ratungsdiensten für medizinisches Fachpersonal kommen der Wohltätigkeitsorganisation betrug im entwickelt, darunter Hebammen, Hebammen in März 2019 über 4,1 Millionen Pfund. Sands ist bei Ausbildung und sogenannte Health Visitors1. Eines Spenden und finanzieller Unterstützung auf die der Hauptziele von Sands ist es, sicherzustellen, Großzügigkeit der Öffentlichkeit und der Partner- dass Hinterbliebene die bestmögliche Betreuung schaften mit Unternehmen angewiesen. bekommen, wenn sie die Nachricht erhalten, dass Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 ihr Baby gestorben ist. Eine pflegerische Ausbil- Sie machen viele Angebote für Eltern bzw. Fami- lien, können Sie uns ein wenig über Ihre Erfah- rungen mit der Nutzung Ihrer Dienste erzählen? 1 Health Visitors sind qualifizierte Pflegekräfte oder Hebam- Sands erhält viele sehr positive Rückmeldungen men mit zusätzlicher Qualifikation als „specialist community von Hinterbliebenen, die gesagt haben, dass die public health nurses“. Diese Qualifikation ermöglicht es, gesundheitliche Bedarfe in einer Region zu erkennen und Organisation ihnen geholfen hat. Die Mitarbeiten- zur Aufrechterhaltung der Gesundheit bzw. zur Prävention den wissen, was sie durchmachen, und sind eine von Erkrankungen beizutragen.
14 dung allein genügt jedoch nicht, so dass Angehöri- ge der Gesundheitsberufe eine Ausbildung in der Trauerbegleitung absolvieren müssen, damit sie sensibel reagieren können. Im vergangenen Jahr bildete Sands über 2.700 medizinische Fachkräfte aus, wobei 100% der Teilnehmer die Schulung als hilfreich empfanden und sie sie anderen Kollegen empfehlen würden. Eine Hebamme sagte nach der Schulung: „Ein hervorragendes Training, wirklich hilfreich. Ich fühle mich jetzt viel sicherer im Umgang mit diesen Familien.“ Können Sie Ihre Erfahrungen mit der Sands Online Community beschreiben? Viele Hinterbliebene sagten, dass es ihnen hilft, nach dem Tod ihres Babys online mit anderen Hinterbliebenen zu kommunizieren, da sie ihre Trauer verstehen. Die Sands Online Community ist rund um die Uhr geöffnet und über 2.100 Eltern ha- ben sich angemeldet, um die von der Organisation moderierte Website zu nutzen. Sie bietet einen si- cheren Raum für Hinterbliebene, um miteinander in Kontakt zu treten und 24 Stunden am Tag ihre Gefühle teilen zu können. Einige Leute fühlen sich zunächst nicht in der Lage, etwas zu schreiben, 4) eine qualitativ hochwertige Überprüfung der Be- aber sie können großen Trost finden, wenn sie über treuung nach dem Tod jedes Babys durchzuführen. die Erfahrungen anderer Menschen lesen. 5) für die Probleme im Zusammenhang mit Totge- Sie haben eine neue Forschungsstrategie, was burt und Neugeborenentod zu sensibilisieren und ist das und was erwarten Sie davon? das Tabu im Zusammenhang mit diesen Todesfällen Die Förderung und Finanzierung von Forschung, die zu verringern; dazu beitragen könnte, Totgeburten und Neugebo- renensterben zu reduzieren, ist eines der drei 6) sicherzustellen, dass jeder Hinterbliebene eine Hauptziele von Sands, und die aktuelle For- kostenlose Erinnerungsbox erhält, die Eltern die schungsstrategie der Organisation wird von 2017 Möglichkeit bietet, sich an ihr kostbares Baby er- bis 2020 umgesetzt. innern zu können. Der Auftrag von Sands geht dahin, Sie interessieren sich für die Bedürfnisse der 1) dass die Zahl der sterbenden Babys um mindes- Männer nach einer Totgeburt tens 20% gesenkt wird; Ja, viele Hinterbliebene haben Sands gesagt, dass sie kämpfen und es schwierig finden, über ihre Ge- Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 2) dass es einen Trauerverantwortlichen in jedem fühle nach dem Tod eines Babys zu sprechen, da „Trust“ oder Gesundheitsamt und mindestens ei- der Fokus oft hauptsächlich auf der Hinterbliebe- nen Trauerraum in jedem Krankenhaus gibt; nenmutter liegt und der Vater das Gefühl hat, stark sein zu müssen und seine eigenen Gefühle zu ver- 3) die Einführung eines „National Bereavement Ca- bergen, um seine Partnerin zu unterstützen. re Pathway“, um sicherzustellen, dass alle Eltern eine gleichwertig gute Trauerbegleitung erhalten; 2 Nationaler Plan zur Trauerbegleitung
15 Machen Sie spezielle Angebote für Männer? Sands unterstützt Männer, egal ob Väter, Brüder oder Großväter auf vielfältige Weise. Z. B. haben mehrere trauernde Väter ihre eigenen Fußballver- eine gegründet, die als „Sands United“ bekannt sind, wo sie sich regelmäßig treffen, um Fußball zu spielen und sich gegenseitig zu unterstützen. Eini- ge Väter sticken den Namen ihres Babys auf ihre Hemden und spielen zu ihrem Gedächtnis. Sands hofft, dass durch den Aufbau von Vertrauen und ei- ner gemeinsamen Bindung, indem sie als ein Team zusammenspielen, viel mehr Männer in der Lage sein werden, ihr Schweigen über den Verlust des Babys zu brechen und anderen zu helfen, dasselbe zu tun. Was bedeutet es, Teil eines nationalen Netz- werks zu sein? Der Vorteil eines nationalen Netzwerks ist es, dass wir in der Lage sind, sehr viele trauernde Eltern und Familien, die Hilfe benötigen, zu erreichen. Viele Sands-Mitarbeitende arbeiten von zu Hause, so dass sie vor Ort Unterstützung und Begleitung an- © Sands bieten können. Unsere Leser sind Menschen, die in der Hospiz- und Palliativversorgung tätig sind. Was möchten Sie ihnen sagen (empfehlen)? eines Babys betroffen ist, ist es wichtig, dass sie Das Thema Babyverlust ist immer noch ein Tabu- sich nicht isoliert oder allein fühlen. Sands hat fünf thema, daher ist es wichtig, darüber zu sprechen hilfreiche Möglichkeiten formuliert3, wie man je- und das Bewusstsein zu schärfen. In Großbritan- manden unterstützen kann, dessen Baby gestor- nien sterben jeden Tag 14 Babys vor und kurz nach ben ist, um ein Gespräch zu beginnen. Vielleicht der Geburt. Wenn Sie einen Freund, ein Familien- sind sie auch für Ihre Arbeit hilfreich. mitglied oder einen Kollegen haben, der vom Tod Clea Harmer Geschäftsführerin Tel.: +44 - 0 20 - 74 36 79 40 Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 info@sands.org.uk www.sands.org.uk 3 https://www.sands.org.uk/sites/default/files/5%20ways % 20to%20help%20leaflet%20V4.pdf
Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 16 © G. Achtermann
INTERKULTURELLES MITEINANDER 17 WAS MACHT EINE ERFOLGREICHE INTERKULTURELLE ÖFFNUNG DER HOSPIZ- UND PALLIATIVVERSORGUNG AUS? Eine Handreichung zu den Faktoren einer besseren interkulturellen Versorgung CHRISTIAN BANSE, NICOLA RIEDER, FRANZISKA SCHADE, FRIEDEMANN NAUCK S eit einigen Jahren weisen Forschungser- se Menschengruppe schwerer zu überwinden als gebnisse darauf hin, dass das hospizliche für Menschen ohne Migrationshintergrund (Paal & und palliative Versorgungsangebot nicht Bükki, 2017). Die Gründe sind in den Strukturen des von allen Patientinnen und Patienten Gesundheitssystems zu finden, das noch wenig vor- gleichermaßen genutzt wird (Wasner & Raischl, bereitet ist auf etwa Sprachprobleme und kulturell 2019). Besonders Menschen mit Migrationshinter- diverse Vorstellungen vom Sterben. Bisher wenig grund, die selbst oder von denen mindestens ein empirisch untersucht wurde, wie gerade im Bereich Elternteil zugewandert ist, stehen im Mittelpunkt der Hospiz- und Palliativversorgung, in dem die Pa- der Untersuchungen (Henke et al., 2015; Jansky & tientinnen und Patienten besonders vulnerabel Nauck, 2014; Banse, 2018). In Deutschland hat jeder sind, eine interkulturelle Öffnung gelingen kann. Vierte einen Migrationshintergrund. Trotz dieses An- teils an der Gesamtbevölkerung sind die Zugänge Um diese Frage zu beantworten, haben wir als For- zur hospizlichen und palliativen Versorgung für die- schungsteam der Klinik für Palliativmedizin Göttingen uns für ein offenes Forschungsdesign entschieden. Unsere früheren Studien haben gezeigt, dass das Bedürfnis nach konkreten Lösungen für die Versor- gung von Patientinnen und Patienten mit Migra- tionshintergrund groß ist (Jansky & Nauck, 2014; Owusu-Boakye et al., 2020). In einem vom Bundes- ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten und von der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) unterstütz- ten Forschungsprojekt haben wir dementsprechend ein Vorgehen gewählt, bei dem Vertreterinnen und Vertreter von hospizlichen und palliativmedizi- nischen Einrichtungen selbst zu Wort kommen. Nach der Auswertung der migrationsspezifischen Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 Daten des Wegweisers der DGP konnten wir Einrich- tungen für das Projekt gewinnen. Wir haben die Vertreterinnen und Vertreter in Fokusgruppen gebeten, sich über hinderliche und förderliche Faktoren interkultureller Öffnungsprozesse auszu- tauschen. Diese Gespräche, die wir in vier Städten in unterschiedlichen Regionen geführt haben, wurden von uns angeleitet, wortwörtlich verschrift-
18 stehen, die sich darin ausdrückt, dass es ein Inter- esse der Versorgerinnen und Versorger gibt, auf respektvolle Weise mehr über den einzelnen Men- schen zu erfahren. „Grundsätzlich jeden Menschen fragen.“ (FG Berlin TN 4) „Man muss einfach fragen, fragen – das zeugt schon mal von Respekt.“ (FG Wiesbaden TN 2) Offenheit zeigt sich auf verschiedenen Ebenen. Of- fenheit sollte nicht nur im direkten Umgang mit den licht und mittels Qualitativer Inhaltsanalyse ausge- Patientinnen und Patienten, sondern auch beim wertet. In der Folge konnten vier weitere einzelne Austausch mit An- und Zugehörigen, die vermeint- fokussierte Interviews zu erfolgreichen Beispielen lich fremde Religionen und Umgangsweisen in Ster- aus der Praxis geführt werden. Die Ergebnisse besituationen betonen, angestrebt werden. Auch wurden schließlich in einer Handreichung zu- innerhalb des Versorgungsteams kann Offenheit sammengetragen, um den Informationsrückfluss in im Austausch eine wichtige Ressource sein. die alltägliche Hospiz- und Palliativarbeit zu gewähr- leisten. Auch bei den Faktoren, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fokusgruppen als förderlich für die Inhaltlicher Ausgangspunkt für die Fokusgruppen- Öffnung der Einrichtungen genannt haben, ist Of- gespräche war die Frage, was von den Einrichtun- fenheit zentral. Diese Kategorie steht im engen Zu- gen, die in den Fokusgruppen vertreten sind, unter sammenhang mit einer Reihe von anderen Kate- interkultureller Öffnung verstanden wird. Es zeigte gorien. sich in den Gruppen schnell, dass die Ansichten und das Verständnis darüber, was Interkulturalität So ist Netzwerk-, Community- und Öffentlichkeits- ist, unterschiedlich sind. So wurde die Engführung arbeit förderlich. Besonders bei zu begleitenden des Begriffs auf interkulturelle Prozesse mit Men- Personen, die aus Sicht der Versorgerinnen und schen mit Migrationshintergrund kritisiert. Weitge- Versorger nicht in die Strukturen des Versorgungs- hend einig jedoch waren sich die Teilnehmerinnen alltages passen, weil sie etwa aus einem wenig ver- und Teilnehmer darin, dass das hospizliche und trauten religiösen Kontext kommen, kann es helfen, palliativmedizinische Angebot auf jeden Menschen ein Netzwerk zu bilden. Dieses Netzwerk kann in- bzw. auf die konkrete Situation der Patientinnen formell unter Kolleginnen und Kollegen und Patienten bezogen werden sollte. entstehen oder Informationsflüsse unter den Versorgungseinrichtungen fördern oder über die „Erfolgreich wäre für mich, dass jeder, der einen hospizlichen und palliativmedizinischen Einrichtun- Bedarf hat, auch die Leistung abfragen oder abru- gen hinausgehen. Für den Aufbau eines Netzwerkes fen kann.“ (FG Wiesbaden TN 1) empfiehlt sich zunächst die regionale Ausrichtung. Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer betonten des- „Was mir jetzt tatsächlich fehlt, ist sozusagen diese halb, dass es bei den Öffnungsprozessen viel mehr Voraussetzungen zu schaffen und ich bin noch gar um eine grundlegende Offenheit gehen muss. Inter- nicht richtig vernetzt, das heißt ich muss einfach kulturalität sollte in der alltäglichen hospizlichen wissen, was ist [in meiner Stadt] und um [meine und palliativmedizinischen Arbeit nicht nur auf eth- Stadt] herum.“ (FG Berlin, TN 3) nische und territoriale Herkunft bezogen werden. Im Umgang mit den Patientinnen und Patienten Bei der Netzwerkbildung ist nicht nur wichtig, dass sollte eine Offenheit im Mittelpunkt der Versorgung im regionalen Kreis bekannt gemacht wird, welche
INTERKULTURELLES MITEINANDER 19 hospizlichen und palliativmedizinischen Angebote Das Forschungsprojekt konnte einige förderliche vorhanden sind sondern auch, welche Vertreterin- Faktoren finden, durch die eine interkulturelle Öff- nen und Vertreter von welchen Menschen(-grup- nung erleichtert werden kann. Alle Teilnehmerinnen pen) wie und wo erreicht werden können. Gibt es und Teilnehmer der Studie betonten, dass es auch beispielsweise Wohn- und Pflegeeinrichtungen hinderliche, meistens bürokratische oder finanziel- oder spezifische Communities, die gezielt ange- le, Faktoren gibt. Die Handreichung soll dazu anre- sprochen werden können, um die Vernetzung zu gen, konkrete Lösungen für die Hospiz- und Pallia- ermöglichen? Auch für die Community- und Öffent- tivversorgung zu finden. lichkeitsarbeit kann es hilfreich sein, den regiona- len Kontext des Versorgungsgebietes zu kennen. Literatur Banse, C. (2018). Komplexe Grenzziehungen und ungewisse Ein weiterer wichtiger förderlicher Faktor interkul- Grenzdynamiken. Zur Palliativversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund und Geflüchteten. Berliner De- tureller Öffnungsprozesse ist die Aus-, Fort- und batte Initial, 29 (1), 84-94. Weiterbildung. Henke, O. et al. (2015). Schmerzen sind eher zu ertragen als das Alleinsein. Zeitschrift für Palliativmedizin, 16, 254-263. „Ich hatte ja auch keine Ahnung, also habe ich an Jansky, M., Nauck, F. (2014). Palliativ- und Hospizversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund. Aktueller Stand so einem Seminar in der Moschee teilgenommen.“ und Handlungsempfehlungen für Hospiz- und Palliativver- (FG TN 7) sorger. Göttingen: Universitätsmedizin Göttingen und Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Fa- Wichtig ist bei Wissensaneignung nicht nur die milie. Owusu-Boakye et al. (2020). Hospiz- und Palliativversorgung Neugierde auf Neues (die sicher nicht schaden für Menschen mit Migrationshintergrund. In: Schenk, L., kann), sondern auch, dass bestimmte Formen der Habermann, M. Migration und Alter. Berlin: de Gruyter. 133- Offenheit explizit erlernt werden können. Das Stel- 143. len von Fragen und eine offene, kreative Haltung Paal, P., Bükki, J. (2017). „If I had stayed back home, I would not be alive any more…” – Exploring end-of-life preferences im Umgang mit Patientinnen und Patienten sowie in patients with migration background. PLoS ONE, 12 (4): deren Angehörigen können besonders bei Men- e0175314. schen mit Migrationshintergrund, zu denen eine Wasner, M., Raischl, J. (2019). Kultursensibilität am Lebensen- kulturelle Barriere besteht, eine Vertrauensbezie- de. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. hung ermöglichen. Besonders in diesen Bereichen, die meistens größere Dr. disc. pol. Christian Banse zeitliche Ressourcen für etwa biographische Arbeit Universitätsmedizin Göttingen bedeuten, kann die Nutzung eines weiteren Faktors Georg-August-Universität hilfreich sein. Das Ehrenamt und seine interkulturelle Klinik für Palliativmedizin Öffnung sind ein wichtiger Baustein in der hospiz- Forschungsbereich Von-Siebold-Str. 3 lichen und palliativmedizinischen Versorgung. 37075 Göttingen Tel.: 05 51 - 39 6 05 55 „Es ist […] ganz häufig so, dass sozusagen das Eh- christian.banse@med.uni-goettingen.de renamt zu dem Menschen kommt, […] und dann ist der oder die Ehrenamtliche beim Erstgespräch die erste, die mal fragt, was haben Sie denn beruflich Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 gemacht? Das ist so eine schöne Einstiegsfrage, und dann kommt man ins Reden.“ (FB Berlin TN 3) Ehrenamtliche mit Migrationshintergrund als Mitt- lerinnen und Mittler sind derzeit noch selten. In den Fällen, in denen sie sich etablierten, konnten sie die Versorgung bei zugewanderten Patientinnen und Patienten maßgeblich erleichtern. Nicola Rieder Franziska Schade Prof. Dr. Friedemann Nauck © Malteser
20 DONG BAN JA INTERKULTURELLER HOSPIZDIENST DR. DHARMA RAJ BHUSAL D ong Ban Ja ist seit 2009 ein Projekt des Türkei und Deutschland tätig. Seit 2005 bilden wir Humanistischen Verbandes Deutsch- ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zur land, Berlin-Brandenburg und bedeutet Begleitung schwerkranker und sterbender Men- „begleiten“. Der Humanistische Ver- schen aus. Unser Team besteht aus fünf ausgebil- band ist Träger von über 60 sozialen, kulturellen deten hauptamtlichen Koordinatorinnen und Koor- und pädagogischen Projekten und Einrichtungen. dinatoren aus Indien, Korea, Libyen, Nepal und Vietnam. 2019 wurden über 190 Menschen von uns begleitet und unterstützt. Was wir tun Wir begleiten diese schwerkranken Migranten in ihrer häuslichen Umge- bung, in Krankenhäusern und Pfle- geeinrichtungen in ihrer jeweiligen Herkunftssprache. Wir beraten zur Krankheitsverarbeitung sowie zur sozialen und pflegerischen Versor- gung bei Bedarf in Zusammenarbeit mit SAPV-Teams, Pflegediensten, Ärzten und Ärztinnen und Angehöri- Dong Ban Ja widmet sich der Begleitung schwer- gen. Wir beraten außerdem zu palliativen Versor- kranker und sterbender Menschen vorwiegend mit gungsmöglichkeiten, geben Hilfe bei der Erstellung Migrationshintergrund im Rahmen eines ambulan- von Patientenverfügungen, Hilfe bei der Suche nach ten interkulturellen Hospizdienstes, wobei der einem stationären Hospizplatz. Außerdem unterstüt- Schwerpunkt darauf liegt, dass Menschen bzw. zen wir bei der Vernetzung und Organisation von Gäste/Patienten und Patientinnen von Begleiten- weiteren Hilfen. Wir bieten Trauergespräche, Trau- den, die ihre Sprache sprechen und ihre Religion erbegleitung und Hilfe bei der Trauerfeier an. sowie ihre Kultur kennen, unterstützt werden. Die Bedeutung der Muttersprache Ein multikulturelles Team Unsere ehrenamtlichen Hospizbegleiterinnen und Entstanden ist das Projekt in 2005 hauptsächlich -begleiter bieten den schwerkranken und sterben- für Migranten und Migrantinnen aus Korea. Inzwi- den Menschen und ihren Angehörigen eine würdige schen wurde der Wirkungskreis auf den gesamten Hospiz-Dialog NRW - April 2020/83 asiatischen, afrikanischen, arabischen Raum und nicht zuletzt auf den deutschsprachigen Raum aus- gedehnt. Zurzeit sind für uns circa 120 ausgebildete ehren- amtliche Begleitpersonen aus Korea, China, Viet- nam, Japan, Afghanistan, Pakistan, Indien, Bangla- desch, Burma, Nepal, Kamerun, Kenia, Irak, Libyen,
INTERKULTURELLES MITEINANDER 21 interkulturelle Sterbebegleitung in der für sie an- zurück in ihre Heimat zu gehen. Von denen, die hier- gemessenen Form, Sprache, Kultur und Religion in bleiben, gibt es viele, die sich fürchten in einem für ihrer jeweiligen Muttersprache. Menschen, die de- sie fremden Land zu sterben. Ihnen fehlt der für sie ment und schwerkrank sind, vergessen oft ihre spä- wichtige kulturelle Kontext, den die deutschen Ins- ter gelernte Sprache und gehen zurück in ihre ur- titute und Einrichtungen durch fehlendes Wissen sprüngliche Muttersprache. Die muttersprachliche häufig nur schwer vermitteln können. Begleitung spielt daher eine große Rolle, weil in den hiesigen Heimen, Krankenhäusern und Pflege- Respekt vor den Älteren ist in den entsprechenden einrichtungen kaum muttersprachige Mitarbeiten- Ländern bis heute noch Tradition in den Familien. de zu finden sind. Leider kennen viele dieser Insti- Sie treffen wichtige Entscheidungen und leben in tutionen unser Angebot noch nicht oder nehmen der Regel (über 70 %) mit Kindern und Enkelkin- es nicht wahr. dern zusammen. Sie sorgen für die Enkelkinder, übernehmen Aufgaben im Haushalt und werden fi- Unsere ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbei- nanziell sowie im Pflegefall von den Kindern ver- terinnen sind Menschen aus unterschiedlichen sorgt. Kulturen und Religionen, die in der Lage sind, nach der Ausbildung kultursensible, spirituelle Begleitung Viele Menschen aus Asien, dem arabischen Raum durchzuführen (kultursensibel bedeutet für uns und auch Afrika, die in Deutschland leben, denken Respekt, Achtsamkeit und Wertschätzung für Men- dabei erst einmal an das ihnen bekannte heimatli- schen mit anderen Kulturen und Religionen). Der che Familiensystem und realisieren nicht, dass die Kreis unserer ehrenamtlich Mitarbeitenden setzt Lage hier völlig anders ist. sich zurzeit aus muslimischen, christlichen, buddhis- tischen, hinduistischen und auch Personen ohne Häufig befinden sie sich in einer schlechten ge- Religionszugehörigkeit zusammen. sundheitlichen Situation infolge prekärer Arbeits- bedingungen und nicht rechtzeitiger Inanspruch- Warum ein solch spezialisierter Hospizdienst? nahme von Vorsorgemöglichkeiten. Deutschkennt- Viele hier in Deutschland lebende Migrantinnen nisse sind oft unzureichend, viele leben alleine und Migranten haben den Wunsch, im Alter wieder zuhause oder in Pflegeeinrichtungen und haben © G. Achtermann
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