Wert voll Zeitschrift der evangelischen Gemeinden Martha und Tabor in Kreuzberg 36 - Martha Gemeinde
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September - Oktober - November 2020 Zeitschrift der evangelischen Gemeinden Martha und Tabor in Kreuzberg 36 wert voll
wertvoll MUT 3 Liebe Leserin, Inhalt lieber Leser, Editorial 3 für mich ist sie eine Ma- Monika Matthias ria, eine Schutzmantel- madonna. Haben Sie auf dem Titelblatt das Wertvoll Insektenhotel ent- deckt? Sie breitet über Das Wertvolle im Menschen 4 die bedrohten Insekten Sabine Albrecht ihren Schutzmantel und lädt sie ein, hier Was ihr nicht seht 8 Schutz zu finden. Vor ei- Dominik Lucha und Susanne Billig nem Jahr auf dem Hildegard-von-Bingen-Weg habe ich sie am Wegesrand entdeckt. Damals wie Wertvolles entdecken und mehren 10 heute sind Insekten bedroht, Bäume, unser Klima, Monika Matthias wir Menschenkinder, die wir so verletzlich und an- gewiesen sind. Mir fällt das Lied ein: Weißt du, wie- Das Buch, von dem du dir wünschst 14 viel Mücklein spielen in der heißen Sonnenglut…. Gott, der Herr, rief sie mit Namen, dass sie all ins Susanne Billig Leben kamen…Welche schöne und kühne Vision, welche weise ökologische Spiritualität, die alles, Jetzt in der Corona Krise 16 auch das Allerkleinste als wertvoll feiert. Arwith Bartsch Wertvoll – das ist das Thema dieser Ausgabe. Sa- Mittelseite bine Albrecht macht einen weiten Bogen von ei- Gottesdienste in Tabor und Martha nem bekannten Gleichnis Jesu, in dem es um das Wertvolle im Menschen geht, bis hin zur Bewe- Kann weg! 22 gung „black lives matter“. Wertvolles wahrneh- men und mehren, das geht Hand in Hand damit, Els van Vemde Überheblichkeiten zu erkennen, Alltagsrassismus, eine Dominanzkultur, aus der wir uns Schritt für Seniorenclub in Tabor 25 Schritt befreien lassen können. Unser Zusammen- Christina Lenz und Annemarie Böhl leben mit Kindern wird Thema sein und die Pro- zesse seit 1989, die zum 30. Jahrestag der Deut- Aus Tabor 26 schen Einheit unter dem Aspekt des Wertvollen Sabine Albrecht und des Entwertens biographischer Erfahrungen kritisch reflektiert werden. Der Lichtfaden 29 Und natürlich beschäftig uns weiterhin die Bernd Stark Corona-Zeit. Was ist uns in diesen Zeiten wichtig und wertvoll geworden? Und wie sehr spüren wir Kirche im Licht 30 gerade jetzt, wie wertvoll Treffen und Austausch Sabine Albrecht und Ben Mergelsberg sind. Annemarie Böhl und Christina Lenz berich- ten vom Seniorenclub in Tabor. Aus Martha 31 Monika Matthias Weitere Berichte aus den beiden Gemeinden fol- gen samt Einladungen. Und dies leitet über zum Impressum 35 Thema Licht. Wenn die Jahreszeit dunkler wird, lassen wir uns gerne vom „Lichtfaden“ und von der „Kirche im Licht“ bezaubern. Um Licht geht es Gemeinsam unterwegs: 39 auch beim Mirjamgottesdienst, den beide Ge- Mirjamgottesdienst 2020 meinden feiern: Lasst euer Licht leuchten! Ute Behrens Liebe Leserin, lieber Leser, und nun wünsche ich Euch und Ihnen viel Freude beim Lesen. Bleiben wir behütet und lassen wir unser Licht leuchten! Eure und Ihre Pfarrerin Monika Matthias
wertvoll MUT 4 „Ich bin hinfort nicht wert, dass ich dein Sohn heiße“ Das Wertvolle im Menschen - Das Gleichnis vom verlorenen Sohn Sabine Albrecht / Was ist mir wert-voll? Wieso Lk 15, 11-32: Der verlorene Sohn sind mir Menschen so wertvoll? Und Jesus sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne. Bei der bekannten biblischen Geschichte vom Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: "verlorenen Sohn" im Lukas-Evangelium hat mich Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und die Antwort des "verlorenen" Sohnes schon immer er teilte Hab und Gut unter sie. gestört: wieso sagt er so was? "Vater, ... ich bin hinfort nicht wert, dass ich dein Sohn heiße". Kann Und nicht lange danach sammelte der ein Menschen etwas wert sein? jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Haben wir einen Wert, der uns auch genommen Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit werden kann? Prassen. Als er aber alles verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm. Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich einem deiner Tagelöhner gleich! Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. (Rembrandt – Der verlorene Sohn, Radierung 1636)
wertvoll MUT 5 Aber der Vater sprach zu seinen hegt wahrscheinlich große Zweifel an seinem Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her Leben und Lebensstil. Das, was er getan hat, und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an macht ihn „wert-los“. So empfindet er. Ein seine Hand und Schuhe an seine Füße und bringt Restfunke an Lebenswillen führt ihn zurück zu das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns seinem Elternhaus, seinem Vater entgegen. Der essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn sieht ihn, einerseits so wie er ist, abgemagert, war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verwahrlost. verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen Andererseits sieht der Vater den Sohn, an, fröhlich zu sein. nicht den "looser", den Taugenichts. Den Vater berührt der Zustand, die Seele seines Sohnes. Er Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. spürt, der Sohn leidet an Selbstzweifel, am Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen verlorenen Selbst“wert“gefühl. und Tanzen und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre. Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat. Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden. Wie oft werden Menschen bewertet! Zum Beispiel bei uns im Wrangelkiez, wenn sich (Max Slevogt - Der verlorene Sohn, 1898/99) Menschen abwenden von Obdachlosen oder Drogenabhängigen, weil sie vielleicht stinken, nicht ansprechbar sind, Beschaffungskriminalität Er gibt dem Sohn alle Würde und Wert zurück, sie zu Dieben macht. Oder umgekehrt ganz nach indem er ihn wie einen Menschen, wie seinen dem Motto „Kleider machen Leute“, wenn Sohn behandelt. Er läuft ihm entgegen, fällt ihm Äußerlichkeiten zu positiver Bewertung führen. um den Hals, küsst ihn. Intensivste emotionale Können Menschen unterschiedlich viel wert sein? Begegnung zwischen zwei gleichberechtigten oder gleich-wertigen (?) Menschen! Im Gleichnis wird uns erzählt: der jüngere Sohn hat ein schlechtes Gewissen. Sein Erbteil ist Der Sohn kann nur in seinem Gefühl der ausgegeben, "verprasst"; er selbst verarmt, so sehr, Wertlosigkeit verharren und möchte nicht mehr dass er hungern muss. Er fühlt sich „wert-los“, als Sohn des Vaters und Besitzers des Hofes gesehen werden. Er möchte selbst nur als
wertvoll MUT 6 Tagelöhner bei seinem Vater arbeiten. „Ich bin Umgekehrt ist es manchmal bei hinfort nicht wert, dass ich dein Sohn heiße.“ Leistungen: wenn z.B. ein Seminar oder Musik- oder Sprach-Unterricht kostenlos angeboten wird, Der Vater reagiert unerwartet anders, vielleicht einfach, weil einem etwas wichtig ist außerhalb des Systems von Wertigkeit und weiter zu geben, weil es einem wertvoll ist, dann Wertlosigkeit durch seine Empathie zu seinem wird das oft als (selbst-) ausbeuterisch oder als zu Sohn. Dann auch durch sein materielles wenig wertvoll eingeschätzt, weil’s ja nichts Unterstützen: neue schöne Kleidung, Schmuck kostet! Ist es deshalb weniger wert? Wo bleiben und der Organisation eines Festes mit Festmahl. die ideellen Werte? Er nimmt seinen Sohn wieder ganz auf in seine Familie, gibt ihm auch materiell gesehen seine Gibt es eine "Wertschätzung" mit oder Würde, seinen Wert zurück. von Menschen? Wenn wir anfangen Menschen zu vergleichen, zu "ökonomisieren", sie Sehr zum Ärger des älteren Sohnes, der wertzuschätzen, ihren Wert zu schätzen im rechnet sich aus, was da geschieht. Zur Frage des Vergleich zu anderen, dann geht meines Erachtens Wertes gehört vergleichen: "Wer ist größer als, viel kaputt an Menschlichkeit, Vielfalt und wichtiger als, schöner als, reicher als, glücklicher Vertrauen. als ... ich?" So kennen wir es aus unserem Lebensalltag, wenn Konkurrenz oder auch nur Vielleicht sollten wir einfach aufhören, in Vergleichen unser Leben prägt, oder von der solchen Kategorien zu denken und zu handeln. Ökonomie, bei der Bezahlung von Gegenständen. Wenden wir uns der Vielfalt dessen zu, was uns Oft bekommen Gegenstände, wenn sie rar sind, wertvoll ist in all der Fülle, wie sie uns begegnet. einen überhöhten Geldwert zugeschrieben. Da Vermeiden wir Vergleiche und Vermessungen, stimmt der Materialwert mit dem ideellen Wert oft wo es nur geht. Verzichten wir darauf, "wert zu nicht überein. Vergleichen, abwiegen, messen, schätzen" und suchen einen neuen positiven schätzen und einschätzen gehört zum Geschäft der Ansatz an gutem verlässlichen ehrlichen Umgang Wertschätzung. Interessant, wie sehr die Sprache miteinander. der Ökonomie in unsere Alltagssprache eingegangen ist, wenn wir heutzutage so So verstehe ich den älteren Sohn in der selbstverständlich und ohne viel nachzudenken Gleichniserzählung des Lukasevangeliums. Auch von "wertschätzendem" Umgang immer so er ist genauso gefangen in "wertschätzendem" kritiklos positiv sprechen. Steckt dahinter eine vergleichendem Denken wie sein jüngerer Bruder. Ökonomie des Vergleichens und Messens? Geht Der Vater - Symbol für Gott - durchbricht das mit es dabei etwa darum Gewinne zu machen? seiner Empathie und selbstverständlichen bedingungslosen Liebe zu seinen Söhnen. Der Mir kommt der Satz der Deutschen Bahn Vater lebt eine „Verschenk-Ökonomie“, bei der in den Sinn, der gerade auf allen Anzeigetafeln zu jeder alles gibt, was er zu verschenken hat, auf lesen ist: "Schön, dass Sie da sind. Bitte halten Sie dass alle ein reiches und erfülltes Leben haben Abstand ...". Findet es die Bahn wirklich schön, können, ein wertvolles Leben. dass ich da bin, wenn sie so was "wertschätzendes" über ihre „Kunden“ schreibt? Oder erfreut es sie, dass ich reise, ein Ticket bezahlt habe und so als Kundin das Unternehmen in seiner finanziellen Existenz unterstütze, indem ich für die Leistung des Transportes etwas bezahlt habe? Manchmal bin ich unsicher, ob wertschätzender Umgang wirklich von Herzen kommt oder ob dahinter eine Strategie steckt.
wertvoll MUT 7 Die Black lives matter (Schwarze Leben zählen) Bewegung unterstützt einen solchen Blickwinkel, dass Menschen nicht unterschiedliche Werte haben können, schon gar nicht wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft. Der tiefsitzende Rassismus von „weiß“ über „schwarz“ hat auch etwas mit Bewerten von Menschen zu tun. Die Black lives matter Bewegung macht sich stark für die Befreiung marginalisierter Gruppen und setzt sich ein für Überwindung aus unterdrückenden Strukturen. Entstanden ist die internationale Bewegung als Protest gegen Polizeigewalt und Tötung Schwarzer durch Polizisten. Durch Demonstrationen und direkte Aktionen machen Menschen auf Rassismus, Ungleichbehandlung und Gewalt aufmerksam. Auch in Berlin gingen 15000 Menschen Anfang Juni 2020 mit der Black lives matter Bewegung auf die Straße, um den Mord an George Floyd durch einen weißen Polizisten anzuprangern. Aus der Bibel und aus sozialen Bewegungen erfahren wir immer wieder wie wertvoll Menschen sind. In der Gemeinde können wir achtsamen wertvollen Umgang miteinander einüben, uns darin bestärken, dass über solch einem Verhalten und Denken Gottes Segen liegt. Darauf zu vertrauen, daran zu wachsen, auch wenn es uns nicht immer gelingt, das Wertvolle im Gegenüber zu entdecken, ist Gemeindeleben pur.
wertvoll MUT 8 #wasihrnichtseht Schwarze Menschen machen auf Instagram unter #wasihrnichtseht auf die vielen, teils subtilen, teils offenen Formen von Rassismus in Deutschland aufmerksam. Wenige Mo- nate nach dem Start folgen dem Kanal inzwischen über 90.000 Menschen. Hinter dem Projekt steht der Neuköllner Medienmanagementstudent Dominik Lucha, 29. Er hat uns erlaubt, einige der Instagram-Beiträge in „MUT“ vorzustellen.
wertvoll MUT 9 Dominik Lucha ist mein Nachbar in Neukölln. Im Nutzer/innen) haben jetzt ihren Aha-Moment und Tagesspiegel-Interview erzählt er über das Pro- beginnen zu reflektieren, dass Deutschland, viel- jekt: „Eigentlich bin ich gerade im Endspurt mei- leicht aber auch ihre Freunde und sie selbst ein ner Masterarbeit. Mein Arbeitstag ist länger ge- Rassismusproblem haben.“ worden, bis zu 21 Stunden. Ich möchte allen Men- tinyurl.com/dominik-tagesspiegel schen antworten, die ihren erlebten Alltagsrassis- tinyurl.com/dominik-amadeu-antonio mus auf meiner Seite teilen – dafür gehen im Mo- ment die Nächte drauf. Es ist zwar schön, dass der Account so wächst und dass mir so viele schrei- ben. Vor allem ist es aber auch traurig. (Viele Susanne Billig
wertvoll MUT 10 Wertvolles entdecken und mehren „Es ist ein Kind hier, das hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische dabei. Aber, was ist das für so viele Menschen?“ Liebe Leserin, lieber Leser, Hunger ist ein Mindestens 200 Silberstücke würde das kosten, Menschheitsthema, so alt wie die Bibel, so aktuell und selbst das wäre noch lange nicht genug. wie Corona. Und ebenso alt und aktuell ist die Jesus aber sprach zu ihnen: Wie viele Frage, was uns im Teufelskreis von Hunger, Man- Brote habt ihr? Geht hin und seht. Schaut ganz ge- gel und Öde hält und was uns hilft, ihn zu durch- nau nach. Da sprach einer der Jünger, Andreas: brechen und in einen Kreislauf der Fülle zu gelan- Es ist ein Kind hier. Das hat fünf Gerstenbrote da- gen. Vieles von dem, was hier zu lesen ist, wisst bei und zwei Fische. Aber was ist das für so viele ihr so gut wie ich. Aber es tut not, dies immer wie- Menschen? Und Jesus gebot den Menschen, dass der im Licht unserer heiligen Texte zu sehen und sie sich alle lagerten im Gras, in Gruppen. Und mit der Weisheit von Spiritualität zu verbinden. die Menschen setzten sich ins grüne Gras, in Ich lade ein, in eine wundersame Vermehrungsge- Gruppen, zu hundert und zu fünfzig. schichte einzutauchen, wie sie uns in den Evange- lien nach Matthäus und Johannes, jeweils im 6. Und Jesus nahm die fünf Brote und zwei Kapitel, erzählt wird: Fische. Er schaute auf zum Himmel, er sprach das Dankgebet, er segnete das Brot, er brach es und Danach ging Jesus weg ans andere Ufer gab es seinen Jüngerinnen und Jüngern. Und die des Galiläischen Meeres. Und es zog ihm viel Volk teilten das Brot aus und auch die Fische, unter die nach. Jesus aber ging hinauf auf einen Berg und vielen, vielen Menschen. Und alle aßen und wur- setzte sich dort mit seinen Jüngerinnen und Jün- den satt. gern. Es war aber kurz vor dem Passahfest. Und Jesus hob seine Augen auf und sah die große Men- schenmenge. Das ging ihm nahe und er hatte gro- ßes Mitgefühl. Sie kamen ihm vor wie Schafe, die keinen Hirten haben. Da begann er sie vieles zu lehren. Als es schon spät war, kamen zu Jesus seine Jüngerinnen und Jünger und sprachen: Es ist öde hier. Der Tag ist schon fast vorüber, die Nacht bricht herein. Die Menschen haben Hunger. Lass sie gehen, nach Hause. Dann können sie sich in den Höfen und Dörfern ringsum Brot kaufen. Vor einem Jahr sind Stefan Matthias und Hier gibt es nichts. Jesus antwortete und sprach ich gepilgert auf dem schwäbischen Teil des Ja- zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen. Wie – fragten kobsweges. Wir haben wunderbare Landschaften seine Jüngerinnen und Jünger. Sollen wir hinge- kennen gelernt und wir sind unvorstellbarem Leid hen und für so viele Menschen Brot kaufen? begegnet.
wertvoll MUT 11 An einem Tag, inmitten von Weite und leichter Weg, dies auch bei unseren Menschenge- Fülle der beseelten Schöpfung entdeckten wir die schwistern und Schöpfungsgeschwistern zu reali- Wirklichkeit von Massentierhaltung. sieren. Es war heiß, das Thermometer kletterte Was aber hält uns im Teufelskreis von auf fast 40 Grad. Und in einem Flachbau waren Missachtung und Hunger, Mangel und Öde, und Puten, auf engstem Raum, in der Hitze Fleisch an was hilft uns, diesen zu durchbrechen und in einen Fleisch, es gab vereinzelte Wasserstellen, aber wir von Sattwerden und Fülle einzutreten? konnten uns nicht vorstellen, wie sie dahin gelan- Bewegt von diesen Themen lassen wir uns gen können. Die Laute, die aus dem Gebäude her- ein auf das, was da auf dem Berg geschieht. ausdrangen, waren erbärmlich. Und dabei gab es drumherum Landschaft ohne Ende. Wie kann es Es ist öde hier. Die Menschen haben Hun- sein, dass inmitten der beseelten Schöpfung die ger. Und in diese Sätze können wir alle Ödnis un- Seele der Tiere so dermaßen verachtet wird? Wel- serer Zeit und allen Hunger nach Würde, nach dem che Logik erzeugt solch ein himmelschreiendes Brot des Lebens, nach Gerechtigkeit für Mensch Leiden? Nun, wir wissen es. Es ist die Logik der und Tier hineinweben. Hunger nach gesunder und billigen Fleischproduktion. Bevor Tönnies die wohlschmeckender Nahrung, nach einem selbst- prekär Beschäftigten ausbeutet und ihnen sklaven- gekochten warmen Essen, Hunger nach Liebe und ähnliche Arbeitsbedingungen zumutet, haben die Anerkennung, nach Sinn und Gemeinschaft. Tiere schon Unsagbares erlitten. Corona sei Dank gerät dieser Teil der Wirklichkeit in den kritischen Focus. Wir brau- chen nicht nur einen entschiedenen Ausstieg aus der Kohle und der fossilen Energieerzeugung, wir brauchen einen ebenso entschiedenen Ausstieg aus Massentierhaltung, aus unwürdiger Fleischer- zeugung und billigem Fleischkonsum. Menschenwohl und Tierwohl gehören zu- sammen. Und was wir den Tieren an Leid antun, das fällt früher oder später auf uns zurück. Wir wissen, dass Massentierhaltung eine Gefahren- quelle für multiresistente Keime ist. Keine Antibi- otika helfen dagegen und kein Impfstoff. Es hilft nur die Beendigung der Massentierhaltung. Und Vielleicht können wir uns mit unserem der billige Fleischkonsum ist auch wesentlich ver- ganz eigenen Hunger einfühlen in die Menge der antwortlich für das Roden der Regenwälder, für Hungrigen, die sich da bei Jesus auf dem Berg ver- Klimaerhitzung und für Zoonosen wie Corona, sammelt hat. So viel Hunger, so viel Angst, dass also für das Übergehen von Viren, die bei Wildtie- nicht genug da ist, so viel Angst, nicht zu genügen. ren sich unbeschadet tummeln können, auf uns Und alle Augen ruhen auf Jesus. Wie kann dieser Menschen. Und bei uns lösen sie Pandemien aus eine die Angst erlösen und den Hunger stillen? und wir können nicht davon ausgehen, dass nicht Und Angst und Hunger sitzen tief, ob wir nun in bald ein neuer Virus eine Pandemie auslöst, der einem armen Land leben oder in einem reichen- vielleicht noch gefährlicher als Corona ist. Um- armen. Es ist letztlich die Angst des kleinen Kin- weltschutz ist Pandemieschutz. Wenn wir uns des, dass nicht genug Liebe da ist, die Angst, nicht selbst und unser Leben als wertvoll immer wieder zu genügen, nicht so zu genügen, dass für mich entdecken, ist es ein selbstverständlicher und genug da ist. Der große Hunger ist gepaart mit
wertvoll MUT 12 großer Überforderung. Wenn wir es uns erkämp- „Da spricht zu Jesus einer seiner Jünger, fen müssen, genug zu bekommen und zu genügen, Andreas, der Bruder des Simon Petrus,“ Andreas, dann ist unser Leben sehr anstrengend, eine Über- der so wenig in Erscheinung tritt, dass noch gesagt forderung, die uns nie zur Ruhe kommen lässt. werden muss, dass er der Bruder des bekannten Si- Erst recht nicht, wenn wir nicht nur unseren Hun- mon Petrus ist. Er spricht: „Es ist ein Kind hier, ger im Blick haben, sondern auch den der Vielen das hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Aber um uns herum. „Für 200 Silbergroschen ist nicht was ist das für so Viele?“ genug für sie, dass jede und jeder ein wenig be- Philippus hat die Größe des Mangels im komme.“ So viel Not, so viel Krankheit, so viel Blick und des Ungenügens, Andreas richtet seine Leid, so viel wird gebraucht. Und das, was wir im Aufmerksamkeit auf das, was die Leute mitbrin- Blick haben, ist lange nicht genug, um auch nur gen. Und er entdeckt ein Kind. Voller Zweifel und einen kleinen Teil des großen Hungers zu stillen. Selbstzweifel bringt er seine Entdeckung in die Also, unsere Geschichte beginnt ganz nor- Problemlösung ein. „Es ist ein Kind hier, das hat mal, mit Hunger auf der einen, Überforderung auf fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Aber was ist der anderen Seite. Und doch beginnt sie schon et- das für so viele?“ Es ist eine alte und immer wie- was anders. Die Hungrigen und Überforderten der aktuelle Weisheit, um die die Bibel weiß, um machen sich auf den Weg mit Jesus. Sie richten die Märchen und Mythen wissen: Die Wandlung sich auf den aus, dem sie eine Wandlung der Situ- der Situation nimmt da ihren Ausgang, wo wir es ation zutrauen. Und sie gehen mit ihm zusammen nicht erwarten. In Märchen sind es oft die jüngsten auf den Berg, an einen Ort, an dem sie Abstand Geschwister, Antiheldinnen und –helden, denen bekommen, Überblick, Supervision, an einen Ort, niemand etwas zutraut. Und hier – ein unbekann- der Freiheit und Weite atmet. An einen Ort, an ter Jünger entdeckt ein Kind. Ausgerechnet ein dem Suchende aller Zeiten und Kulturen das Hei- Kind! Kinder sind doch selbst hungrig und bedürf- lige und Heilsame in besonderer Weise erfahren tig. Was kann ein Kind, entdeckt von einem unbe- haben. deutenden Jünger voller Zweifel und Selbstzwei- fel, zur Lösung eines großen Problems beitragen? „Jesus aber ging auf einen Berg und setzte sich mit seinen Jüngerinnen und Jüngern.“ Es war In gewisser Hinsicht fast gar nichts. Es ist kurz vor dem Pessachfest, dem Fest, das an den lediglich genug für einen kleinen Teil der Men- Auszug aus Ägypten erinnert, an den Weg aus den schen. In anderer Hinsicht ist diese scheinbar un- 1000 Gefangenschaften heraus in die Freiheit der bedeutende Entdeckung wesentlicher Teil einer Töchter und Söhne Gottes. Lösungsbewegung, die weite Kreise zieht. „Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war „Da hob Jesus die Augen auf und sieht, aber viel Gras an dem Ort.“ Schon weitet sich der dass viel Volk zu ihm kommt.“ Er sieht die Hung- Blick auf das, was sonst noch alles da ist. Viel rigen und Überforderten. Er sieht die, die alle Lö- Gras! Darauf lässt es sich gut lagern. Zudem mag sung von ihm erwarten, und die, die es schon auf- manchen das Wort aus Psalm 23 in den Sinn ge- gegeben haben, dass es je eine Lösung geben kommen sein: Mir mangelt nichts. Du weidest könnte, zumal eine für alle. „Für 200 Silbergro- mich auf grünen Auen. schen Brot ist nicht genug für sie, dass jede und jeder auch nur ein wenig bekomme“ „Jesus aber nahm die Brote, dankte, und gab sie denen, die sich gelagert hatten, desgleichen auch von den Fischen, so viel sie wollten.“ Und sie aßen alle und wurden satt. Was geschieht hier?
wertvoll MUT 13 Etwas ganz Modernes und etwas ganz Alt- Speichen fallen. Ja. Beides ist nötig. Und noch et- modisches, so uralt, dass es etwas Zeitloses an sich was drittes: Wir können und dürfen neue Räder er- hat und ein Hauch von Ewigkeit hereinweht. finden, die ohne Opfer auskommen und die uns helfen, dem Reich Gottes entgegenzurollen und Das Moderne: Jesus ist eine Art Modera- Brot des Lebens zu vermehren. tor oder Coach in einem ressourcenorientierten Prozess. Er traut den Menschen zu, dass sie das Wir dürfen uns verlocken lassen dazu, Si- Potential, die Situation zu verändern, in sich und tuationen wunderbarer Verwandlung von Mangel bei sich haben. Und er hilft dabei, es zu entdecken, in Fülle wahrzunehmen und das unsere hinzuzu- es wahrzunehmen, es zu stärken und ins Spiel zu geben, einzubringen – sei es viel, sei es wenig, sei bringen. „ Wie viele Brote habt Ihr? Gebt Ihr ihnen es fast nichts. Es ist genug. Es ist wertvoll. Es ist zu essen.“ genau das Richtige. Und so wird die Frage, wie denn genau die wunderbare Vermehrung gesche- Und dann: „Jesus nahm die fünf Brote und hen kann, in unsere segnenden und gesegneten zwei Fische und sah auf zum Himmel und dankte Hände gelegt. und brach sie.“ Er tut das, was uralter religiöser Vollzug ist. Er nimmt das, was da ist, das schein- Und alle essen und werden satt. Leib und bar Unbedeutende, sieht auf zum Himmel, verbin- Seele werden genährt und die Sehnsucht eines ge- det die Gaben der Erde mit dem Segen des Him- lingendes Miteinanders, dessen Teil wir sind, mels und dankt. Und, so meine ich, spätestens hier empfangend und schenkend. durchbrechen wir den Teufelskreis von Missach- Liebe Leserin, lieber Leser, auf diesen tung des Lebendigen. Wir nehmen das, was da ist, Wegen, Wertvolles zu erinnern, zu danken, zu ver- in sorgfältige Achtsamkeit, wir verbinden es mit mehren wünsche ich Ihnen Freude und Segen in dem Himmel, spüren staunend und ehrfürchtig, Fülle. In jedem Moment können wir so Erntedank wie unendlich wertvoll es ist, wir danken. feiern. Lassen Sie sich gerne dabei von unseren Dankend und segnend und gesegnet vermehrt sich Gottesdiensten und Angeboten begleiten. das scheinbar Ungenügende. Es entfaltet seine Eure / Ihre Pfarrerin Monika Matthias ganze Wirkkraft und es lockt bei anderen das her- vor, das sie beizutragen haben – sei es viel, sei es wenig, sei es fast gar nichts. Wie genau die wunderbare Vermehrung vor sich gegangen ist, bleibt verborgen. Wir dür- fen teilhaben am Beginn, an der ersten Bewegung, die weitere initiiert. Wir dürfen uns erinnern las- sen an Orte und Zeiten, wo wir ähnliches schon erlebt haben, erinnern daran, dass das Hilfreiche oft von ganz unerwarteter Seite kommt, von den Übersehenen, von den Kindern, von dem Kind, das wir einmal waren und immer noch sind. Liebe Leserin, lieber Leser, die Mächte, die unsere reiche Erde, die genug für alle, für Mensch und Tier und Pflanze hat, in den Mangel und in Öde treiben, sind gewaltig. Dietrich Bon- hoeffer hat einmal ungefähr so gesagt: Es genügt nicht, die Verwundeten, die unter die Räder kom- men, zu verbinden. Wir müssen dem Rad in die
wertvoll MUT 14 Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen Kinder seien das wertvollste Gut der Gesellschaft, heißt es oft. Doch selbst in modernen Familien sind Kinder oft permanenter Zurechtweisung ausgesetzt – um der guten Erziehung willen. In ihrem sehr besonderen Erziehungsratgeber zeigt die US-amerikanische Psychotherapeutin Philippa Perry: Erziehung kann nur gelingen, wenn nicht abstrakte Werte und Ziele, sondern die Qualität des Umgangs miteinander im Mittelpunkt steht. Die dreijährige Flo möchte unbedingt ohne Buggy aus der Perspektive des Kindes aussieht. Flo ging zum Einkaufen mitkommen. Auf dem Rückweg es nicht um einen abstrakten Machtkampf. Ihre weigert sie sich weiterzugehen. Allen Bitten zum Beine waren müde. Darum sehnte sie sich – egal, Trotz setzt sie sich in einen Hauseingang und tut was vorher besprochen worden war – nach einer keinen Schritt mehr… kleinen Pause; nicht weniger und nicht mehr. Kin- der brauchen es, dass Eltern ihnen helfen, ihre wo- Das Leben mit Kindern kann wunderschön sein genden Gefühle zu sortieren. „Du scheinst müde, – und an den Nerven zerren. Was tun, wenn der wütend, traurig, enttäuscht zu sein.“ Solche Sätze Geduldsfaden reißt? sind wichtige Wachstumshilfen. Lebendig erzählte Fallgeschichten „Definieren Sie sich selbst Einen ganz besonderen Erziehungsratgeber legt und nicht Ihr Kind!“ Philippa Perry mit „Das Buch, von dem du dir Wie sich der Ausgleich zwischen elterlichen wünschst, deine Eltern hätten es gelesen“ vor. In Grenzen und Möglichkeiten einerseits, kindlichen lebendig erzählten Fallgeschichten aus eigener El- Bedürfnissen andererseits quer durch die Phasen ternschaft und psychotherapeutischer Praxis und der Kindheit bis in Teenagerzeit und junges Er- angereichert mit viel psychologischem Hinter- wachsenenleben bewerkstelligen lässt, spielt Phi- grundwissen rückt sie ein anspruchsvolles Thema lippa Perry in ihrem reichhaltigen Buch an zahllo- in den Blick: die Qualität der Eltern-Kind-Bezie- sen lebensnahen Beispielen durch, während sie in hung. großen Abschnitten besondere Aspekte in den Der Einkauf mit Flo wird zum Machtkampf, wenn Vordergrund rückt – etwa die Voraussetzungen die Mutter ihn so interpretiert. „Sie muss lernen, seelischer Gesundheit oder die immense Rolle ei- dass ihr Verhalten Konsequenzen hat!“ – „Ich darf gener Kindheitsprägungen. Jedes Kapitel be- sie nicht verwöhnen!“ – „Ich habe ihr gesagt, dass schließt sie mit einem Übungsangebot zur persön- wir es eilig haben!“ – Wer Kinder argumentativ lichen Reflexion. oder mit Machtworten in die Ecke drängt, riskiert Es hat sicher zum großen Erfolg des Buches in das gute Verhältnis, betont die Autorin. Stattdes- Großbritannien beigetragen, dass viele der darin sen sollten Eltern sich fragen, wie die Lage gerade
wertvoll MUT 15 geschilderten hochstressigen Erziehungssituatio- Vorgestellt von Susanne Billig. Zuerst erschienen nen sich in Philippa Perrys Händen auf wunder- auf: deutschlandfunkkultur.de same Weise in Luft auflösen. Immer wieder rät die Autorin: „Definieren Sie sich selbst – nicht Ihr Kind.“ Philippa Perry: „Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen (und Etwa wenn der Teenager um die Uhrzeit für das deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen Heimkommen feilscht. Statt eine Riesendebatte hast)“, aus dem Englischen übersetzt von Karin darum zu entfesseln, wieviel Unabhängigkeit ein Schuler, Ullstein Verlag, Berlin 2020, 304 Seiten, Mensch von 15 Jahren vertragen kann, sollten El- 19,99 Euro tern von sich selbst – und damit die Wahrheit – sprechen: „Ich bin noch nicht so weit, dass ich es aushalte, wenn du später als 22 Uhr nach Hause kommst.“ Als Flo sich im Hauseingang niederließ, hat ihre Mutter – es war Philippa Perry selbst – sich ein- fach ein paar Minuten neben sie gesetzt. Eine Ameise lief über die Steine, verschwand in einer Ritze, krabbelte wieder hervor. Dann standen Mutter und Tochter auf und gingen weiter.
wertvoll MUT 16 Jetzt in der Corona-Krise Was ist für uns alle wichtig, was ist wertvoll und wichtig für mich? Arwith Bartsch / Weltweit erleben wir eine große Die rücksichtslosen Macher dieser Welt: „Ich“ Krise, wie wir sie in diesem Ausmaß zuvor nicht oder „wir“ „first“. Die selbst in den Krisen, kannten. Es gibt niemanden, der die Auswirkung- tatsächlich hilflos, noch zeigen wollen und en nicht spürt. Diesmal geht es um Leben und Tod. müssen, dass sie alles beim Abstürzen noch im Knapp 8 Milliarden Menschen auf der Welt sind Griff haben, und uns auch darin belügen. Gegen in der gleichen Angst vereint. das Getrumpel und Getöse der Welt: im Auge behalten, was wirklich wertvoll und wichtig ist, Darunter 3,8 Millionen Berlinerinnen und Berli- worum es wirklich geht. ner, wir in Kreuzberg, Du und ich. Und diese Krise ist auch deshalb so grausam, weil sie uns das Wir müssen nicht Verschwörungstheoretikern in nimmt, was für uns alle doch so wichtig ist: der ihrer Angst folgen, in ihrem, zwar verständlichen, Wunsch nach Nähe in schweren Zeiten. Was hat aber ebenso kurzsichtigen Bemühen die das mit Tabor, mit Martha, mit Kirche - was mit Komplexität zu reduzieren. Und in ihrem Gott - zu tun? verantwortungslosen Verhalten in der Krise, diese zu leugnen und uns alle mit zu gefährden. Hat Gott denn (noch) Einfluss auf diese weltweit katastrophale Situation? Oder hat er sich zurückgezogen? Ist Sein Einfluss, sein Wirken, für so viele Menschen überhaupt nicht sichtbar? Und in Bezug auf Corona, auf Kriege und Gewalt, auf Klima und auf Flüchtlingsproblematik? Kann denn irgendwer - kann Gott - vor diesem Desaster die Augen verschließen? Oder ist gar der Teufel am Werk? Gottes Gegenspieler, jetzt kräftig mächtig, gegen das Leben? Stärker als die Botschaft der Bibel „ich bin gekommen, damit ihr das Leben habt, in seiner ganzen Fülle“ (Joh 10,10b)? Wie im Neuen Testament, alles nur „metanoia“ (Verwandlung)?: Jesus´ Hauptbotschaft: „kehrt um, denkt um, handelt um“. Luther übersetzt das mit „Buße“. Müssen wir jetzt büßen? Für den Unsinn, den wir gedankenlos über die Zeiten hinweg angerichtet haben? Und immer noch fortwährend anrichten? Wir, die wir die wirtschaftliche Macht haben, Wenn in vielen Stellen der Bibel Propheten, andere auf der (gar nicht mehr so fernen Seite) der Könige oder andere wichtige Entscheidungsträger Welt, den gesamten Planeten, ausbeuten? Und gar von Gott angerufen werden, mit „wo bist du?“ nicht merken, wie wir uns selbst damit innerlich oder dergleichen, doch nicht, weil dieser nicht ausbeuten und zerstören? wüsste, wo derjenige ist. Nein, weil derjenige mit „hier bin ich“ dann unter Beweis zeigt: „ich stelle mich“, und ich laufe nicht weg.
wertvoll MUT 17 Unzählige Male geht es in der Bibel um die Angst. Glaube ist ein Akt der Freiheit und Freundschaft, Und ebenso oft übersetzt Luther dann die ohne Freiheit nicht denkbar! Botschaft des Heiligen Geistes, da, wo wirklich Und deswegen spielt das Leben sein eigenes Spiel: die Kraft ist: „Fürchte dich nicht“. Es ist geprägt von so viel Unvorhergesehenem, Von wem - Psalm 91 - sonst sollte die Hilfe „im von so vielen Zufällen, die einem Menschen den Schatten der Nacht“ kommen? Und das steht doch Boden unter den Füßen immer wieder schwanken nicht im Widerspruch zu Paulus‘ Wort „seid nicht lassen. - Aber dann ist es auch alles andere als ohne Verstand“. Setzt diesen doch ein, um diese selbstverständlich, glauben zu können! eine Welt nicht noch mehr zu ruinieren, Und schlimmer noch: Es gibt sicherlich auszubeuten und an den Abgrund zu führen. Und Situationen, die den Glauben zerstören können. - euch selbst. Verliert doch nicht aus dem Auge, Ist also Gott tatsächlich, so wie es die Bibel was wirklich wertvoll und wichtig ist. behauptet, Liebe? Ja, aber eine Liebe, die unendliche Zumutungen für den Menschen bereithält. Aber es ist eben auch eine Liebe, die sich in einer Weise in der Welt gezeigt hat, die wunderbarer nicht sein kann: Gott selbst wird Mensch und beendet so endgültig die Frage, wer die Wirklichkeit eigentlich trägt. Im Alten Testament verspricht Gott am Sinai: „Ich bin, der ich für euch da war, der da ist und der ich da sein werde.“ (Ex 3,14). Eines aber dürfte jetzt Denn vielleicht haben wir uns zu sehr eingerichtet auch klar sein: Billig ist dieser Glaube keines- in einer Welt, in der Leid und Not recht weit weg wegs! Er mutet dem Menschen unendlich viel zu. sind oder als behebbare, letztlich individuelle - Vielleicht auch eine Krise wie die gegenwärtige? Störung betrachtet werden. Doch das Leid ist einfach so da. Es ist auf eine sehr radikale Art Und zugleich fordert dieser Glaube dazu auf, dass "demokratisch", es geht nicht einfach so "weg" Menschen sich in den Lauf der Welt einbringen. und es macht keine Unterschiede. Dort Hilfe leisten und sich engagieren, wo es nötig ist. Auch dies hat Jesus von Nazareth selbst vor- Gleichzeitig macht es Ungerechtigkeit, gelebt und den Menschen mit auf den Weg gege- Privilegien und Asymmetrie radikal erkennbar: in ben. der Art, wie damit umgegangen wird, denn wenn du arm bist, stirbst du schneller. Mit Vielleicht geht also weniger darum, irgendeinen Verharmlosung, mit Instrumentalisierung des „Sinn“ in die gegenwärtige Krise hinein zu inter- Leides als vermeintlicher Ausbruch des Zornes pretieren. - Und jedes Leiden ist eines zu viel. Je- Gottes, mit Beschwichtigung, mit Gesundbeterei der Schrei einer zu viel? im übelsten Sinne ist uns nicht geholfen, mit Aber es ist ein Glaube an einen Gott im Spiel, der moralischen Appellen auch nicht. jeden Menschen darum bittet, genau diese Welt zu „Auf Hoffnung werdet ihr errettet werden“ (Röm lieben. Weil Gott sie um die Freiheit der Men- 8,24), sagt die Bibel. Es muss doch gut enden! schen riskiert hat und deswegen selbst Mensch ge- Glauben wir daran? Aber wie soll denn dann worden ist. Ein Glaube, der alles auf eine Karte Glaube „funktionieren“? Warum können denn setzt und der deswegen nicht über die Freiheit des einige Menschen voller Inbrunst zu Gott beten, Menschen hinweggeht. andere hingegen nicht? „In unserer Welt, die du, Herr, noch mehr liebst Gott tatsächlich sucht die Freundschaft des als wir selbst, sind wir mit voller Geschwindigkeit Menschen, so wird es in der Bibel beschrieben. weiter gerast und hatten dabei das Gefühl, stark zu sein und alles zu vermögen“.
wertvoll MUT 18 In unserer Gewinnsucht haben wir uns ganz von Es gilt den Mut zu finden, alle Widrigkeiten der den materiellen Dingen in Anspruch nehmen las- Gegenwart anzunehmen und für einen Augenblick sen und von der Eile betäuben lassen. Wir haben unser Lechzen nach Allmacht und Besitz vor deinen Mahnrufen nicht angehalten. Wir ha- aufzugeben, um der Kreativität Raum zu geben, ben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtig- die nur der Heilige Geist zu wecken vermag. Es keit nicht aufrütteln lassen. bedeutet, den Mut zu finden, Räume zu öffnen, in denen sich alle berufen fühlen, und neue Formen Wir haben nicht auf den Schrei der Armen und un- der Gastfreundschaft, Brüderlichkeit und seres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben Solidarität zuzulassen. unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund blei- Den Herrn umarmen, um die Hoffnung zu ben würden. umarmen – das ist die Stärke des Glaubens, der uns von der Angst befreit und uns Hoffnung gibt. „Kehrt um“, ruft uns Jesus entgegen (Mk 1,15). - Vielleicht schaffen wir es ja gemeinsam, neben „Kehrt um zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, allen berechtigten Sorgen und jetzt notwendigen Weinen und Klagen“, steht es im Alten Testament Erschwernissen und Einschränkungen, das (Joël 2,12). neuartige Virus auch als eine gesellschaftliche und „Herr, du rufst uns auf, diese Zeit der Prüfung als gemeindliche Übung zu begreifen. Als Übung im eine Zeit der Entscheidung zu nutzen. Die Zeit, zu gegenseitigen Umgang und in Solidarität. entscheiden, was wirklich zählt, was wichtig und wertvoll ist - und was vergänglich ist. Die Zeit, das Notwendige von dem zu unterscheiden, was nicht notwendig ist. Es ist die Zeit, den Kurs des Lebens wieder neu auf dich, Herr, und auf die Mitmenschen auszurichten“. Denn das ist Gottes Stärke: alles, was uns widerfährt, zum Guten zu wenden, auch die schlechten Dinge. Er bringt Ruhe in unsere Stürme, denn Gott selbst ist das Leben, und mit ihm geht das Leben nicht zugrunde. Der Herr fordert uns heraus, und inmitten des Sturms lädt er uns ein, Solidarität und Hoffnung Denn diese Corona-Pandemie ist ja nicht der ein- zu wecken und zu aktivieren, die diesen Stunden, zige Anlass, bei dem sich zeigt, wie weit unsere in denen alles unterzugehen scheint, Festigkeit, Vorstellungen oft auseinandergehen. Auch in der Halt und Sinn geben. Klimadebatte und in den ungelösten Fragen der Flüchtlingskrise zeigt es sich, wie schwer es ist, Inmitten von Isolation, Quarantäne und Krankheit, die oft gegensätzlichen Standpunkte zu ertragen. in der andere oder wir selbst unter einem Mangel an Zuneigung und Begegnungen leiden und den Und daraus formt sich das elementare Gebet. Die Mangel an vielen Dingen erleben, lasst uns erneut elementare Klage, die elementare Bitte: Kyrie die Botschaft hören, die uns rettet: Jesus ist eleison. Herr, errette uns. Herr, erlöse uns. Lass auferstanden und lebt unter uns. Der Herr ruft uns Tod und Vernichtung, Verlust und Vergehen nicht von seinem Kreuz aus auf, das Leben, das uns das letzte Wort sein. Herr, öffne uns einen Hori- erwartet, wieder zu entdecken. zont des Mutes, in einer Welt voller Leid. Auf die zu schauen, die uns brauchen, und die „Herr, segne die Welt, schenke Gesundheit den Gnade, die in uns wohnt, zu stärken, zu erkennen Körpern und den Herzen Trost. Du möchtest, dass und zu ermutigen. Löschen wir die kleine Flamme wir keine Angst haben; doch unser Glaube ist nicht aus (vgl. Jes 42,3), die niemals erlischt, und schwach und wir fürchten uns. Du aber, Herr, tun wir alles, dass sie die Hoffnung wieder überlass uns nicht den Stürmen. Sag zu uns noch entfacht. einmal: »Fürchtet euch nicht« (Mt 28,5). Und wir
wertvoll MUT 19 werfen zusammen mit Petrus „alle unsere Sorge Dafür hat die Vernunft aber keine Kategorien. Da- auf dich, denn du kümmerst dich um uns“ (vgl. 1 rin ist der Glaube unvernünftig, weil er auf der Petr 5,7). Liebe beharrt: auf reiner Zuwendung. Das ist die Vernunft des Glaubens, darin ist sie die vernünfti- gere Vernunft. Das bringt die Corona-Seuche ans Licht. Wer nur an sich denkt, begeht Verrat. Es geht um Zuwendung. Sie ist die Antwort auf das Leid. Vielleicht schaffen wir es ja gemeinsam, neben allen berechtigten Sorgen und jetzt notwen- digen Erschwernissen und Einschränkungen, das neuartige Virus auch als eine gesellschaftliche und gemeindliche Übung zu begreifen, als Übung im gegenseitigen Umgang und in Solidarität. Aber vielleicht haben sich die Menschen in den Krisenzeiten der Geschichte, während der Kriege und Seuchen, sehr viel vernünftiger und solidari- scher verhalten, als man das gemeinhin glauben mag. Der Mensch ist auch in schwierigen Zeiten ein so- ziales Wesen. Jetzt ist die Zeit, dafür den Beweis anzutreten! Wir glauben fest daran, dass wir dabei Jesus Christus an unserer Seite haben. Arwith Bartsch
wertvoll MUT 20 Gottesdienste in Tabor So. 6. September 10 Uhr Gottesdienst 13. So. nach Trinitatis Sabine Albrecht So. 13. September 10 Uhr Gottesdienst 14. So. nach Trinitatis Thomas Ulrich So. 20. September 10 Uhr Gottesdienst 15. So. nach Trinitatis Bernhard Wagner Christus spricht: Ihr seid das Licht der Welt. So. 27. September 10 Uhr Gottesdienst 16. So. nach Trinitatis Stefan Matthias Wir laden euch herzlich zu unseren Gottesdiensten ein. So. 4. Oktober 10 Uhr Familiengottesdienst Erntedank Sabine Albrecht So. 11. Oktober 10 Uhr Gottesdienst 18. So. nach Trinitatis Stefan Matthias So. 18. Oktober 10 Uhr Regionalgottesdienst in Martha 19. So. nach Trinitatis Rebecca Marquardt (Predigt) und Monika Matthias (Liturgie) So. 25. Oktober 10 Uhr Gottesdienst 20. So. nach Trinitatis Sabine Albrecht So. 1. November 10 Uhr Gottesdienst 21. So. nach Trinitatis Thomas Ulrich So. 8. November 10 Uhr Mirjamgottesdienst Mirjamsonntag Sabine Albrecht und Team So. 15. November 10 Uhr Gottesdienst Vorl. So. d. Kirchenjahres Christian Müller So. 22. November 10 Uhr Gottesdienst Ewigkeitssonntag Sabine Albrecht So. 29. November 10 Uhr Familiengottesdienst zum 1. Advent 1. Advent Sabine Albrecht mit der Kita Wochenschlussandacht freitags um 9 Uhr in der Kirche Kirchenmusik: Ulrike Brand Bitte schaut für aktuelle Informationen auf die Webseite oder die Aushänge im Schaukasten. Dort informieren wir wann Abendmahlsgottesdienste wieder möglich sind. Für alle Gottesdienste gelten die aktuellen Hygieneregeln zum Schutz vor Covid 19!
wertvoll MUT 21 Gottesdienste in Martha So. 6. September 10 Uhr Gottesdienst 13. So. nach Trinitatis Pfarrerin Josephine Furian So. 13. September 10 Uhr Gottesdienst mit Kinderkirche 14. So. nach Trinitatis Christine Buchholz MdB, Monika Matthias So. 20. September 10 Uhr Mirjamgottesdienst 15. So. nach Trinitatis Lektorin Els van Vemde und Team So. 27. September 10 Uhr Gottesdienst mit Taufe 16. So. nach Trinitatis Pfarrerin Monika Matthias So. 4. Oktober 10 Uhr Gottesdienst mit Kinderkirche* Erntedank Monika Matthias und Team So. 11. Oktober 10 Uhr Gottesdienst 18. So. nach Trinitatis Dr. Hartmut Draeger So. 18. Oktober 10 Uhr Regionalgottesdienst in Martha 19. So. nach Trinitatis Rebecca Marquardt (Predigt) und Monika Matthias (Liturgie) So. 25. Oktober 10 Uhr Gottesdienst 20. So. nach Trinitatis Gundula Lembke So. 1. November 10 Uhr Gottesdienst mit Kinderkirche 21. So. nach Trinitatis Monika Matthias So. 8. November 10 Uhr Gottesdienst mit Kinderkirche* St. Martin Monika Matthias und Team So. 15. November 10 Uhr Gottesdienst mit Kinderkirche Vorletzter So. d. Kirchenjahres Josephine Furian So. 22. November 10 Uhr Gottesdienst mit Totengedenken Ewigkeitssonntag Monika Matthias So. 29. November 10 Uhr Gottesdienst mit Kinderkirche 1. Advent Pfarrer Stefan Matthias Kirchenmusik: Uli Domay, Michael Luikart, Ulf Hausmann Kinderkirche feiern wir mit Christiane Klimisch, Maria Wassermann, Jan Uplegger. Weitere Termine sind in Planung *Wie wir Erntedank und Martinsfest mit Corona Bedingungen feiern, ist ebenfalls in Planung. Bitte schaut auf unsere Webseite. Nach dem Gottesdienst laden wir ein zu einer Gesprächsrunde bei Kaffee, Tee, guten Gedan- ken, schöner Gemeinschaft, zurzeit im Garten oder in der Kirche. Und irgendwann feiern wir wieder Abendmahl, Segnungsgottesdienste, Feste......
wertvoll MUT 22 Kann weg … 30 Jahre deutsche Einheit: wenn biografische Erfahrungen entwertet werden. In ihrem Buch „Der Schnee von gestern ist die Maueröffnung nicht sofort über die offene Grenze Sintflut von heute“ schreibt Daniela Dahn: “Die um das Begrüßungsgeld im Empfang zu nehmen. Einheit…sie war eine feindliche Übernahme auf Sie kannten durch ihre Kontakte weltweit (und Wunsch der Übernommenen.“ nicht durch den „Schwarzen Kanal“) den Kapitalismus sehr gut und machten sich während der Wendezeit keine Illusionen. Sie waren Realisten und waren gut informiert. Mit ihnen zusammen konnte auch ich nicht in der um sich greifenden Euphorie mit einstimmen. Wir sahen nämlich die Kriege schon kommen, die dann tatsächlich kamen, als das prekäre Gleichgewicht zwischen den Blockstaaten auseinanderbrach. Ich selbst habe die Wende und die Zeit danach sehr nah am Herzen der Freund*innen in der DDR erlebt, die vielleicht nicht in den typischen Kategorien der Ostdeutschen fielen , oder nicht so wie man sie im Westen gern einordnen möchte. Sie waren nicht in der SED und sie waren keine Dissidenten. Sie waren aber Christ*innen und Sozialist*innen und Teil der weltweiten Ökumene und einer christlichen Friedensbewegung, die sowohl Nord und Süd, als auch Ost und West mit einander verband. Heute haben wir die Vorgänge in einem In dieser Bewegung hatten sie (und wir) erlebt, gemeinsamen Schreiben so formuliert: dass die Erfahrungen in der DDR wertvoll waren, „Dass die einseitige Auflösung des in Ost und sowohl ihr Gelingen als auch ihr mühsames West geteilten europäischen Bündnisgefüges und Ringen. die politische Verwestlichung Osteuropas, zu ei- Sie lebten bescheiden und genügsam; sie nem geeinten Europa, zum Abbau militärischer Si- brauchten keine 50 Brotsorten und rannten nach cherheitsstrukturen und zur Abnahme der Gewalt
wertvoll MUT 23 weltweit hätte führen können, war illusionäres Blick auf 30 Jahre Wende, habe ich zum ersten Wunschdenken und ein eklatanter Irrtum.“ (G.H.) Mal erlebt, dass dieses Unrecht hier und da offen ausgesprochen wurde, zum Beispiel in Trotzdem war die Zeit zwischen der Wende bis zur Verbindung mit der Rolle der Treuhand. Bis dahin deutschen Einheit, eine sehr wichtige Zeit, war das Thema tabu. wo viele demokratischen Kräfte in der DDR hofften, dass sie den Staat reformieren und einen demokratischen Sozialismus aufbauen könnten. Sie gründeten den Runden Tisch der leider in Bonn nie ernst genommen wurde. Und sie versuchten, eine neue Verfassung auf den Weg zu bringen. Das neu gegründete Bündnis 90 wollte „(…) auch das Volkseigentum sichern und verlangte dazu einen Volksentscheid. Umfragen hatten eine hohe Zustimmung zu diesem Vorhaben signalisiert…“ aber das sollte in Zugkraft des Einheitsbestrebens … “schnellstens durch Rechtsangleichung verhindert werden. Nach der überstürzten Währungsunion vom Juli 1990 war die wertvollste Mitgift der Ostdeutschen schon aufgekauft“ (D.D.) In meinen Augen hat man das Volk der DDR einfach durch Privatisierung enteignet. Ich möchte eine Sache aus dem Buch von Daniela Dahn herausnehmen, weil sie eine symbolische Aussagekraft i.B.a. die allgemeine Entwertung hat. Nämlich zeigt sie, wie das historische Gedächtnis im Osten durch hundertfache Umbenennungen von Straßen, Schulen, Klubs, Betrieben, Brücken und Plätzen bereinigt wurde. Dass diese „Bereinigung“ in vielen Fällen von Daniela Dahn zeigt in ihrem Buch (das ich sehr rechter Hand initiiert wurde, lässt sich leicht wärmstens empfehlen möchte) viele nachweisen. Es geschah in einem sehr schnellen Ungerechtigkeiten auf, die während der Wendezeit Tempo. D.D.: „Um sich überhaupt noch orientie- geschahen. Diese zu erkennen, kann helfen, Ost- ren zu können, mussten oft neue Stadtpläne ge- Deutschland besser zu verstehen. Letztes Jahr, mit druckt werden.“
wertvoll MUT 24 Vergleichen wir diesen Vorgang mit den äußerst widrigen Bedingungen. Im Bilde gespro- mühsamen Bestrebungen, Straßennamen im chen, waren es stets mühselige Baustellenerfah- Rahmen von „Black lives matter“ heute rungen. Deshalb erschienen sie in der Regel in ei- umzubenennen, kann man die Hauruck-Aktion nem negativen Licht, auch bei den Betroffenen. von damals nur bestaunen. Aber wir wehren uns entschieden dagegen, dass unsere Erfahrungen als Indiz herhalten soll e n , d D.D.: „Belastet waren die meisten offensichtlich e n S o z i a l i s m u s a l s v e rg a n g e n abzutun.“ mit ihrer Gegnerschaft zu Hitler. Die kommunisti- (G.H.) schen Widerstandskämpfer entgingen der Entwür- digung der zweiten Art nicht, aber auch ein Dut- zend Autoren, die schon Hitlers Bücherverbren- nung zum Opfer gefallen waren, wurden nicht ver- schont, selbst wenn sie anderswo akzeptiert wa- ren. So in Chemnitz August Bebel, Max Holen, Ste- fan Zweig, Franz Mehring oder in anderen Städ- ten Johannes R. Becher, Maxim Gorki, F.C. Weis- kopf, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin.“ (…) „Bereinigt wurden die üblichen DDR-Störgrößen. Straße der Befreiung ging immer noch nicht. Der Name wurde getilgt“ (…) „Straße der Völker- freundschaft“ (…) „Auch Straße der Einheit war nicht mehr angesagt, obwohl die frühe DDR damit durchaus die deutsche Einheit im Sinn hatte. Ver- mutlich sollte das gerade nicht ihr Verdienst sein.“ Die Erinnerungskultur der alten DDR wurde platt Literatur: gemacht. Aber nicht nur diese Kultur, sondern vor D.D.: Daniela Dahn „Der Schnee von gestern ist die allem die Kultur der Millionen Ost-Biografien. Sintflut von Morgen“ (Rowohlt) „Wir müssen wieder von Sozialismus reden“ sa- G.H.: „Wir müssen wieder von Sozialismus reden“, gen meine Freund*innen aus der DDR. Folgende eine Wortmeldung der Niederländischen Ökumeni- authentische Aussage könnte dazu beitragen, den schen Gemeinde (NÖG) 30 Jahre nach der Wende Gi- Wert“ der ostdeutschen Erfahrungen in ein neues selher Hickel Licht zu rücken: „Unsere Option für eine sozialistische Perspektive Nachdem die deutsche Einheit ein Fakt war, malte beruht nicht in erster Linie auf theoretischen ich das Geschehen. Die Zeichnungen stammen Überzeugungen oder Einsichten in praktische alle aus dem Jahre 1992. ökonomische Abläufe, sondern auf biografischen Erfahrungen: Wir haben in der DDR einen ent- Els van Vemde spannteren Umgang untereinander erlebt, eine Minderung der sozialen Differenzen, eine durch die Umstände bedingte Einschränkung des Kon- sums, eine geringere Bedeutung des Geldes, einen nichtelitären Umgang mit Bildung, ein nüchternes Verständnis von Eigentum, eine grundsätzlich po- sitive Wertung des Internationalismus, eine solida- rische Tradition, eine durch Ressourcen-Knapp- heit gebremste Geschwindigkeit des ökonomi- schen Wachstums. Es sind dies keine Erfahrungen, die geeignet sind, verklärt zu werden. Sie sind gewonnen unter teils
wertvoll MUT 25 Seniorenclub in der Tabor-Kirche oder wie wertvoll es ist, sich treffen und austauschen zu können Das Corona-Virus hat uns alle in diesem Jahr spü- Dennoch sind wir froh darüber, den Senior*innen ren lassen, dass uns lieb gewordene Gewohnheiten wieder einen Ort das Austauschs und der Ab- plötzlich abgebrochen und unterbunden wurden. wechslung zu geben und sie – leider auch nur fast Kinder durften nicht in die Kita und in die Schule, alle - gesund und fröhlich wieder begrüßen zu dür- Spielplätze wurden geschlossen, Gottesdienste fen. waren untersagt und öffentliche Einrichtungen für Annemarie Böhl und Christina Lenz Menschen aller Altersstufen waren nicht mehr zu- gänglich. Die sozialen Beziehungen waren auf ein Minimum beschränkt. Für viele Leute war diese Zeit eine große Herausforderung, sie fühlten sich einsam, der Alltag war eintönig und wenig ab- wechslungsreich. So konnten sich auch die Senior*innen nicht an den Donnerstagen in der Tabor-Kirche treffen, um miteinander zu reden, zu singen, sich auszutau- schen. Mit kleinen Briefen, die Überraschungen enthielten, haben wir sie in der Zwischenzeit be- dacht, um zu zeigen, dass wir sie nicht aus den Au- gen verlieren, sondern weiterhin für sie da sind. Nach drei Monaten wagten wir den ersten Schritt: an zwei Nachmittagen in der Woche durfte jeweils eine kleine Gruppe nach Voranmeldung mit ge- bührendem Abstand ins Taborium kommen. Die- ses Angebot wurde gern angenommen, die Stim- mung zeigte allerdings, dass es nicht so war wie vorher. Wir saßen weiter auseinander, eine Unter- haltung war schwieriger, die gewohnte Sitzord- nung unterbrochen. Jetzt dürfen wieder alle am Donnerstag zum Seni- orenclub kommen, es ist fast wie früher; aber eben nur fast! Denn ein Abstand zu den anderen soll nach wie vor gewährleistet sein und das Singen ist immer noch verboten!
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