Aufstehen gegen Ausgrenzung - Landkreis Pfaffenhofen

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Aufstehen gegen Ausgrenzung - Landkreis Pfaffenhofen
Sprache - Bildung - Arbeit - Teilhabe

Aufstehen gegen Ausgrenzung
Was eine Gesellschaft gegen Diskriminierung tun kann

weitere Themen im Heft:
Chancen hybrider kultureller Herkunft
    Interviews mit Angehörigen verschiedener Kulturen

Integrationsarbeit in der Pandemie

Beratungsangebote der Caritas in Pfaffenhofen
Unternehmer sein
    Blerim Cakiqis Weg zum eigenen Handwerksbetrieb                     Heft 4 | September 2021

                                                                          landkreis-pfaffenhofen.de

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Aufstehen gegen Ausgrenzung - Landkreis Pfaffenhofen
Impressum
Herausgeber: Landratsamt Pfaffenhofen a.d.Ilm
             Integration
             Hauptplatz 22
             85276 Pfaffenhofen a.d.Ilm
Telefon:     08441 27-2961
E-Mail:      integration@landratsamt-paf.de
Redaktion:   Tu Trang Tram Do, Gerhard Trautmannsberger, Admir Kraja & Gerhard Wenzl
Ausgabe:     Heft 4 | September 2021
Homepage: https://www.landkreis-pfaffenhofen.de/leben/integration
             Besuchen Sie uns hier für alle weiteren Projekte, Veranstaltungen und Informationen!

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Aufstehen gegen Ausgrenzung - Landkreis Pfaffenhofen
DIVERSECO
                  Das Integrationsmagazin für den Landkreis Pfaffenhofen a.d.Ilm

Inhalt
Vorwort                                                                                       Seite 4

Leitartikel: Aufstehen gegen Ausgrenzung                                                      Seite 5

Was eine Gesellschaft gegen Rassismus & Diskriminierung tun kann

Interview: Chancen einer hybriden kulturellen Herkunft                                       Seite 10

Interviewreihe Teil 1: Landkreisbürgerinnen und -bürger sprechen über ihre diversen
kulturellen Identitäten sowie ihre Perspektiven auf Selbst- und Fremdwahrnehmung

Aus der Integrationspraxis                                                                   Seite 14

Projekte und Veranstaltungen im Landkreis Pfaffenhofen a.d.Ilm

Integrationsarbeit in der Pandemie                                                           Seite 16

Welche Auswirkungen hat die Krise auf die Beratung für Zugewanderte?

Akteure der Integration: Caritas-Zentrum Pfaffenhofen                                        Seite 18

Ein weiterer starker Netzwerkpartner in der Gestaltung der Integrationsarbeit im Landkreis

»Unternehmer sein ...«                                                                       Seite 20

Story: Blerim Cakiqis Weg zum eigenen Handwerksbetrieb

Mistero – Die Seite zum Mitdenken                                                            Seite 22

Rätsel und Nachdenkliches

Ihr Sachgebiet Integration                                                                   Seite 23

Kontaktadressen und Ansprechpartner

                                                                                                        Seite 3
Aufstehen gegen Ausgrenzung - Landkreis Pfaffenhofen
Vorwort

          Liebe Leserinnen und Leser,

          die Meinungsfreiheit ist ein zentraler Bestandteil jeder demokratischen Gesellschaft. Doch keine Freiheit ist völlig
          ohne Grenzen und so scheint im täglichen Miteinander nicht immer ganz klar, wo die Trennlinien zwischen freier
          Meinung und der Würde des Mitmenschen verlaufen. Die sogenannten »Sozialen Medien« erlauben es jedem
          Einzelnen persönliche Ansichten zu jedem Thema auch unreflektiert zu äußern. Die weitgehende Anonymität er-
          möglicht es dabei, sowohl fortwährend die Grenzen des guten Geschmackes als auch manchmal die der Gesetz-
          gebung zu überschreiten. Konsequenzen gibt es nur selten, sodass munter weiter diskutiert, interpretiert oder
          polemisiert werden darf. Natürlich sind das wie so oft extreme Formen und spiegeln nicht die breite Masse der
          Nutzer*innen wider. Jedoch scheint es, dass es auch Personen, die sich weder politisch noch emotional motiviert
          durchs »Netz« bewegen, immer schwerer fällt, diese Grenzen nicht zu verletzen. Ein unbedachtes Wort oder ein
          Kommentar in der Hitze der Debatte können hier schon genügen, damit der Vorwurf der Diskriminierung im Raum
          steht und im Falle sozialer Medien sind diese kritischen Worte manchmal schon weit verbreitet, ehe man die
          Möglichkeit hat, sie zu überdenken. Gerade wenn einmal nicht von Anfang an klar sein sollte, wie verletzend man-
          che Worte sein können, hilft es, erst einmal mit denen ins Gespräch zu kommen, über die man spricht.

          Personen, die aus dem Herzen Europas stammen, kennen rassistische Ausgrenzung meistens gar nicht, sprich,
          dass man aufgrund seines Aussehens be- oder verurteilt wird. Was kann nun ein »Weißer Mensch« über Diskrimi-
          nierung sagen? Wie soll man damit umgehen? Vor allem in den letzten Jahren haben sich so manche Diskussio-
          nen an Themen entzündet, die ein großer Teil der Mehrheitsgesellschaft aufgrund fehlender Betroffenheit nicht
          nachvollziehen konnte oder wollte. Dabei ist es immer wieder passiert, dass durch nicht betroffene Personen die-
          se Zustände und die damit verbundene Emotionalität relativiert wurden. Oftmals fehlte es allein an der nötigen
          Sensibilität. Da die Wahrnehmung von Diskriminierung oder Ausgrenzung immer sehr individuell ist, gibt es auch
          keine pauschale Lösung oder Erklärung. So vielfältig diese Wahrnehmungen und Reaktionen sind, so vielfältig ist
          eben auch der Umgang mit dieser Herausforderung. Die Macht der Bilder ist hierbei oft stärker als die der ver-
          nunftbasierten Kommunikation. Da uns diese Bilder aber fast täglich im Fernsehen, im Internet, in Zeitungen, auf
          den Straßen oder im Austausch mit der Familie, im Freundeskreis und Kolleg*innen begegnen, können wir uns
          einer Verantwortung gar nicht entziehen. Daher stellen sich die Fragen ganz konkret und persönlich: Was ist
          »Diskriminierung« oder »Rassismus« eigentlich und wann beginnt dies überhaupt für einen selbst? Worauf kann
          man wie Rücksicht nehmen und wie reagieren andere hierauf? Auch wenn diese Fragen natürlich nicht abschlie-
          ßend geklärt werden können, möchten wir Ihnen in diesem Heft ein paar Hintergrundinformationen anbieten und
          die eine oder andere neue Perspektive aufzeigen.

          Es erwarten Sie also wieder jede Menge interessante Beiträge rund ums Thema Integration in unserem Heimat-
          landkreis.

          Wir wünschen eine anregende Lektüre!

          Ihr Team Integration

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Aufstehen gegen Ausgrenzung - Landkreis Pfaffenhofen
Aufstehen gegen Ausgrenzung
Was eine Gesellschaft gegen Rassismus & Diskriminierung tun kann
Bei der Beschäftigung mit dem Thema Ras-              Doch wie konnte es überhaupt so weit kom-
simus und Diskriminierung bleiben viele Frage-        men? Als der erfahrene TV-Moderator Steffen
steller selbst im Jahr 2021 bereits bei der ers-      Hallaschka seine Gäste – unter ihnen Fernseh-      Info: »Shitstorm«
                                                                                                         Der Anglizismus »Shitstorm«
ten Frage hängen. Wann spricht man eigentlich         Legende Thomas Gottschalk oder auch der
                                                                                                         kursiert erst seit einigen
von Rassismus, wie und wann                                        Journalist Micky Beisenherz – in
                                                                                                         Jahren in der deutschen
wird jemand diskriminiert? Ganz »Eine Sendung, in der vier der WDR Talk-Sendung zum                      Medienlandschaft.
vereinfacht gesagt geht es zu- Kartoffeln sitzen und mit- »Meinungstalk« begrüßt, ahnt                   Gemeint ist der Sturm der
nächst um die persönliche Wahr- tels Karten über Rassis- noch keiner, was auf alle Beteilig-             Entrüstung im Internet, der
nehmung. Wenn sich eine Person mus abstimmen hat ein ten zukommen sollte. Vier Themen                    beispielsweise auf kritische
aufgrund von Merkmalen wie Problem. Und auch meine hatte die Redaktion aufbereitet,                      Aussagen von Persönlich-
Hautfarbe oder Herkunft ausge- Rolle in der Show war die die Gesellschaft mehr oder                      keiten des öffentlichen Inte-
grenzt oder angegriffen fühlt, dann keine gute. Ich habe die weniger bewegen: angefangen bei             resses folgen kann. Meist
handelt es sich um Rassismus. Kritik aufmerksam gelesen tätowierten Lehrer*innen über                    entlädt sich die oftmals
                                                                                                         auch unsachliche Kritik vor
Aber wann handelt es sich um und finde sie auch berech- Social Media bis hin zum Vertrau-
                                                                                                         allem in den sozialen Medi-
Diskriminierung?                     tigt. Ganz klar mein Fehler. en in die Polizei und eben auch der    en und reicht nicht selten
Am praktischen Beispiel durfte die Sorry #DieletzteInstanz« Streitpunkt »Zigeunersauce«. Die             bis zu Beleidigungen oder
Nation dies unlängst live im Fern- Micky Beisenherz am folgende Diskussion könnte dabei                  Drohungen.
sehen erleben. Der WDR wollte in 01.02.2021 auf Twitter beispielhaft für den allgemeinen                 Wie im Falle der in die Kritik
seiner Sendung »Die letzte In- über seinen TV-Auftritt             öffentlichen Diskurs zum Thema        geratenen WDR-Sendung
stanz« hierzu zur Diskussion anre-                                 Rassismus sein. Man müsse doch        »Die letzte Instanz« kann ein
gen. Vier prominente Gäste und das Publikum           nicht alles ändern, was schon immer so war,        solcher Shitstorm aber auch
sollten über die Frage abstimmen, ob man das          nur weil sich angeblich jemand daran störe. Die    zum Umdenken der Verant-
Z-Wort aus dem Namen der guten alten                  Prominenten kamen aus ihrer privilegierten Stel-   wortlichen anregen und so
                                                                                                         letztlich zu einer Versachli-
»Zigeunersauce« wirklich streichen müsse. Das         lung heraus zu dem Schluss, dass man nicht
                                                                                                         chung der Diskussion oder
Votum im Fernsehen: Nein! Ging die ursprüngli-        alles ändern müsse, nur weil es einige wenige
                                                                                                         einer generellen Neubewer-
che Ausstrahlung der Sendung im November              nicht gut fänden. Der Name muss bleiben dür-       tung führen.
2020 noch weitgehend an der öffentlichen              fen!
Wahrnehmung vorbei, fegte nun einen Tag nach          Am Tag nach der Wiederholung im Spätpro-
der Wiederholung Ende Januar ein beeindru-            gramm gab es in den Medien plötzlich eine rege
ckender »Shitstorm« über den Sender hinweg.           Diskussion zu diesem »Urteil«. War das nur ein

                                                                                                                              Seite 5
Aufstehen gegen Ausgrenzung - Landkreis Pfaffenhofen
Ausrutscher oder haben wir es mit einem struk-         Ben’s Reis«, welche uns die Genüsse der kreoli-
Info: »Erinnerungskultur«       turellen Problem unserer Gesellschaft zu tun?          schen Küche der US-amerikanischen Südstaa-
Die Bewältigung histori-                                                               ten (ehemaligen Sklavenstaaten) schmackhaft
scher Ereignisse in einer       Erbe der Vergangenheit, kulturelle Traditionen         machen wollten.
Gesellschaft kann nur gelin-    oder kollektives Unbewusstsein?                        Aber worüber wird denn eigentlich gesprochen?
gen, wenn die Gesamtheit        »Die letzte Instanz« hat das Thema natürlich           Wie weit muss die Auseinandersetzung über
der Gesellschaft beteiligt      nicht erfunden. Nach und nach kommen immer             Diskriminierung und Rassismus geführt werden,
ist. Denn was in der Vergan-
                                neue Diskussionen auf, an welchen Stellen Dis-         wie energisch? Für den Menschen in unserer
genheit geschehen ist,
                                kriminierung in unserer Gesellschaft existiert.        Gesellschaft wäre ein erster wichtiger Schritt zu
prägt die Gegenwart und
                                Vor allem die Frage, wann es denn »damit ge-           erkennen, dass es schlicht inakzeptabel ist,
die Zukunft. Vor allem die
Werteentwicklung einer          nug sei?«, wird dabei besonders oft heiß disku-        wenn stereotype Darstellungen bzw. Bezeich-
Gesellschaft wird dadurch       tiert. Darf man noch ein »Eskimo-Eis« bestellen        nungen jemanden ausgrenzen oder Menschen
beeinflusst. Sich an Vergan-    oder warum darf der klebrige schokoüberzoge-           dadurch Eigenschaften zugeschrieben werden.
genes zu erinnern und dem       ne Sahneschaum nun auf einmal nicht mehr               Wie man sich nun diesem stets präsenten The-
zu gedenken führt dazu,         »Negerkuss« heißen? Die historische Tradition          ma nähern soll, wird ebenso diskutiert. Oft wie
dass sich Menschen immer        von Begriffen mag stellenweise ein bewusst             eben zuletzt im WDR, wo eher Unverständnis
wieder mit der Vergangen-       herabwürdigendes Element ge-                                        gezeigt und Übertreibung attes-
heit auseinandersetzen.
                                habt haben, aber in der Gegen-                                      tiert wurde. Ein Auftritt, für den die
In Deutschland wird Erinne-
                                wart wird vieles davon einfach                                      Verantwortlichen prompt die Quit-
rungskultur oftmals mit dem
                                nicht mehr hinterfragt. Warum                                       tung über die sozialen Medien
NS-Regime und Gedenken
an die unzähligen jüdischen     auch, wenn man mit Rassismus                                        bekommen haben. Radikales An-
Opfer der damaligen Zeit in     eigentlich nichts zu tun haben will.                                greifen dagegen, wie es der
Verbindung gebracht. Dabei      Hier trifft es aber auch einen Kern                                 Mohrenbrauerei im Sommer 2020
gibt es verschiedene Erinne-    des Problems. Rassismus verbirgt       Das  alte Logo wurde   von   aufgrund der Weigerung ihr Logo
rungsformen, von politi-        sich nicht nur hinter bewusstem        1946  bis 2021 verwendet,    zu ändern widerfahren ist, scheint
schen Reden über Gedenk-        Handeln, sondern auch im unbe-         bis  aufgrund  der  »Black   auch nicht zielführend zu sein. Die
tage, bis hin zu historischen   dachten Akzeptieren, nicht Hinter- Lives Matter«-Bewegung Kommunikation miteinander als
Gedenkstätten und -orten.
                                fragen des scheinbar banalen All- ein neues Logo entworfen gleichwertige Menschen, die sich
Mithilfe der Erinnerungskul-
                                täglichen – der Alltagsrassismus wurde. © Mars                      über Erfahrungen und Wahrneh-
tur wird also das kritische
                                als ständiger Begleiter. Als konkre-                                mungen austauschen und somit
Denken gefördert, damit das
Selbstverständnis über die      tes Beispiel könnte hier der soge-                                  dem Unbewussten Präsenz verlei-
heutige Gegenwart in Frage      nannte »Mohr« dienen, als veralte-                                  hen sowie Eigenreflexion ansto-
gestellt wird. Allerdings       te Bezeichnung für die Menschen                                     ßen, hat bisher viel bewirkt. Das
geht es hier nicht explizit     Nordafrikas und später Synonym                                      eigene Handeln sowie die eigene
um Schuldfragen, sondern        für alle Personen mit dunkler Haut-                                 Sprache zu reflektieren, um so
darum, zu realisieren, dass     farbe. Durch die historischen Kon-                                  rassistischer Diskriminierung ent-
die Vergangenheit einen         takte, die vom 17. bis 19. Jahrhundert in eine         gegenzuwirken, wird u.a. in den Critical Whiten-
Gegenwartsbezug hat. Denn
                                Begeisterung für Exotisches aus Afrika und Ara-        ess Studies näher beleuchtet. So beschreiben
nur so kann die Wiederho-
                                bien gipfelten, fand der stilisierte »Mohr« Einzug     Unterstützende der Critical Whiteness, dass
lung vergangener Fehler
                                in Produktbezeichnungen, Firmennamen, Sym-             Weiße, die keinen Rassismus erfahren, sich
vermieden werden.
Gerade im Zuge der Black-       bole, Straßennamen und vieles mehr. In stereo-         meist ihrer eigenen Privilegien nicht bewusst
Lives-Matter Bewegung im        typischer Darstellung mit vollen Lippen, krau-         sind und dementsprechend unbewusst Rassis-
vergangenen Jahr wurden         sem Haar, oft devoter Haltung und meist regio-         men ausüben. Den Unbedachten aufmerksam
deshalb auch hierzulande        naler Bekleidung bzw. Schmuck wurde und wird           zu machen und dem Abgeneigten Alternativen
verstärkt die deutsche Kolo-    der »Mohr« auf Wappen wie dem der Stadt                anzubieten, hat zu äußerst kreativen Lösungen
nialzeit und ihr Erbe in den    Coburg gezeigt, in orientalischer Form auf Tafeln      geführt, auch wenn nicht alle Vorschläge Zu-
Blick genommen.                 der Sarrotti-Schokolade bzw. auch verneigend           stimmung fanden, wie die »Wiener Zeitung«
                                im Logo des Meinl-Kaffees. Und wer kennt               bereits 2014 anschaulich zusammenstellte. Zur
                                nicht die Werbefilme und das Logo von »Uncle           Lösung unserer Gesellschaft von rassistischer

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Aufstehen gegen Ausgrenzung - Landkreis Pfaffenhofen
Wahrnehmung bedarf es eines Prozesses, der           aktuelles Diskussionsthema sind vor allem De-
in Worten, aber ebenso in Bildern des Alltages       batten zu kolonialen Straßennamen. Vielerorts
fortgeführt wird. Auch wenn nicht immer alle         wurden mithilfe des Engagements zivilgesell-
Empfindungen gleich sein werden, verpflichten        schaftlicher Gruppen einige bereits durch die
uns die Prinzipien einer offenen und gerechten       Kolonialzeit vorbelastete Namen geändert. Al-
Gesellschaft auf andere Gefühle Rücksicht zu         lerdings ist eine Umbenennung allein nicht aus-
nehmen und Wege zu finden aufeinander zuzu-          reichend, sondern es bedarf mehr Auseinander-
gehen.                                               setzung mit der Thematik. Seit gut 20 Jahren
                                                     ist beispielsweise der Begriff des »Migrations-
Begriffe im Wandel                                   hintergrunds« fester Bestandteil vieler Bevölke-
Tatsächlich ist Diskriminierung aber nicht nur       rungsstatistiken. Gemeint sind Menschen, die
eine Frage der persönlichen Wahrnehmung.             entweder selbst nach Deutschland eingewan-
Auch die Sozialwissenschaft kennt und be-            dert sind oder von denen zumindest ein Eltern-
schreibt das Phänomen. Von Diskriminierung           teil nicht von hier stammt. Rechnet man alle
spreche man laut dieser dann, wenn eine Un-          zusammen, hat heute jeder vierte Einwohner
terscheidung verschiedener Gruppen anhand            unseres Landes einen solchen »Migrations-
von gewissen Merkmalen vorgenommen wer-              hintergrund«. Nun lässt sich darüber streiten,
de, mit der Absicht eine meist schwächere            ob der Begriff noch allzu viel Aussagekraft be-
Gruppe und deren Mitglieder gezielt abzuwer-         sitzt, wenn 25% der Bevölkerung gemeint sind.
ten, beispielsweise um ihnen den Zugang zu           Andererseits spiegelt er auch die diverse Her-
bestimmten Angeboten zu verwehren. Beide             kunft unserer Mitmenschen wider. Dabei ist er
Definitionen, also sowohl die über die persönli-     jedoch nicht ohne Kritik geblieben. Nicht weni-
che Wahrnehmung als auch die der Sozialwis-          ge sehen ihn sogar als eine Art Stigmatisierung.
senschaften, sind weder abschließend noch            Die von der aktuellen Regierung geschaffene
immer und zu jeder Zeit deckungsgleich. So           Fachkommission Integrationsfähigkeit hat An-
kann objektiv betrachtet jemand diskriminiert        fang 2021 ihren Bericht vorgelegt und darin
werden, weil er etwa in irgendeiner Form be-         unter anderem vorgeschlagen, den Begriff gänz-
nachteiligt wird, dies gleichzeitig aber nicht als   lich zu ersetzen. Besser könnte man nun von
negatives Erlebnis bewerten.                         »Eingewanderten und ihren (direkten) Nach-
So könnte ein Mensch, der selbst afrikanische        kommen« sprechen. Rein statistisch ändert sich       Info: »Firmenlogos«
Vorfahren hat, eine Abbildung wie auf dem            nicht viel. Lediglich Menschen, bei denen nur        »Der Affenbrotbaum als
Coburger Stadtwappen sehen und sich nichts           ein Elternteil eingewandert ist, sind nicht mehr     künstlerische Antwort auf
                                                                                                          den »Mohrenkopf«. Auch
dabei denken, vielleicht auch, weil er solche        mitgemeint. Jetzt geht es nur noch um Einge-
                                                                                                          Julius Meinl verzichtet mitt-
Darstellungen schon gewohnt ist, während ein         wanderte und Kinder von eingewanderten El-
                                                                                                          lerweile darauf, seine Mar-
anderer sich direkt angegriffen fühlt, weil er       tern. Die Gesamtzahl sinkt dadurch etwas, aber       kenfigur dunkelhäutig darzu-
eine Darstellung mit wulstigen Lippen und Gol-       nicht sehr. Ein weiterer Vorteil neben der Able-     stellen. Beim deutschen
dohrringen für sich als rassistisch wertet. Da es    gung des Stigmas soll sein, dass der Begriff         Schokoladeproduzenten
nicht immer möglich ist, wissenschaftliche           eindeutiger ist. Allerdings merkt nicht nur der      Sarotti wurde der Mohr zum
Standards anzulegen, müsste ein Gradmesser           Migrationsexperte Dr. Stefan Böckler im Online-      Zauberer. Mohrenbräu will
das Empfinden der Betroffenen sein, deren            Fachmagazin »Migazin« an, dass gerade der            hingegen an seinem Logo
Stimme im öffentlichen Diskurs noch wenig            Begriff »Nachkommen« alles andere als eindeu-        nichts ändern. © facebook/
Gehör findet. In diesem Sinne war es ein Schritt     tig sei. Letztlich handele es sich bei der Neufas-   wikipedia/meinl/wirinherten/
                                                                                                          sarottihoefe«
in die richtige Richtung das Thema im Fernse-        sung nur um »alten Wein in neuen Schläuchen«.
hen aufzugreifen, jedoch bedauerlicherweise          Wie sich der Begriff in der Praxis bewährt,          Quelle: https://
                                                                                                          www.wienerzeitung.at/
ohne Vertretung der Betroffenen.                     bleibt abzuwarten und beileibe hat er nicht nur
                                                                                                          nachrichten/chronik/
Ein weiteres Thema im Umgang mit Rassismus           Kritik hervorgerufen. So unterstützt Annette         oesterreich/628980-Hier-in-
wäre, dass mehr Sensibilität bei der Namens-         Widmann-Mauz, die Integrationsbeauftragte            Vorarlberg-haelt-es-niemand-
gebungen von öffentlichen Einrichtungen, Stra-       des Bundes, die Idee ausdrücklich.                   fuer-rassistisch.html
ßen und Gedenkstätten einfließen könnte. Ein

                                                                                                                                Seite 7
Aufstehen gegen Ausgrenzung - Landkreis Pfaffenhofen
Info: »Colorism«                Hass & Hetze im Netz                                  haben nicht nur eine Corona-Pandemie, wir
Warum werden Wörter wie         Diskussionen zu den Themen Rassismus und              haben auch eine Hass- oder Rassismus-
»Weiß«, »Schwarz« und           Diskriminierung laufen leider bei weitem nicht        Pandemie in Deutschland. Das drückt sich in
»Coloured« verwendet,
                                immer so gesittet und sachlich ab. Blickt man         den sozialen Netzwerken aus«, schlussfolgert
obwohl es wissenschaftlich
                                auf die Artikel mancher einschlägigen (rechts-)       Matthias Quent, Direktor des Instituts für De-
gesehen keine Rassen gibt?
                                populistischen Nachrichtenseiten oder in die          mokratie und Zivilgesellschaft.
Farbenblindheit im Kampf
gegen Rassismus ist keine       Kommentarspalten der sozialen Medien im In-
Lösung. Die aufgeführten        ternet, kann es einem leicht die Sprache ver-         Kritisches Weißsein
Termini werden verwendet,       schlagen. Von einfachen Beleidigungen über            Rassismus ist eine gesamtgesellschaftliche
um die Positionen der Men-      Kampfbegriffe wie »Hochverrat« bis hin zu Ver-        Herausforderung, welche nicht nur Menschen
schen zu beschreiben, wel-      gleichen der BRD mit einer Diktatur kann man          betrifft, die es erfahren, sondern auch die, die
che Rassismus und Diskri-       hier alles lesen. Sachliche Beiträge sind hier        es nicht erfahren. In vielen Situationen umge-
minierung erfahren. Es sind     häufig in der Minderzahl. Doch woher kommt            ben uns Rassismen, die wir nicht wahrnehmen
politische Begriffe und zie-
                                dieser Hass im Netz? Experten machen dabei            und unbewusst in der Gesellschaft reproduzie-
len nicht auf den Phänotyp
                                die Grundkonstruktion des Internets als mögli-        ren. Wie kann also ein Rassismus-Problem
eines Menschen ab. Daher
                                che Ursache aus. Dabei fällt das Schlagwort der       überwunden werden, wenn nicht realisiert wird,
werden diese Bezeichnun-
gen auch nicht wie Adjekti-     »intimisierten Öffentlichkeit«, wie es die Profes-    dass Rassismus unbewusst unser Verhalten
ve behandelt, sondern wer-      sorin Dr. Elke Wagner von der Universität Würz-       prägt?
den immer großgeschrie-         burg nennt. Jeder habe die Möglichkeit, sich          Wie bereits erwähnt befassen sich die »Critical
ben.                            am Diskurs zu beteiligen.                                              Whiteness Studies« bzw. die
Die Aussage »alle sind          Nutzer würden insbesondere                                             Kritische Weißseinsforschung
gleich« mag richtig klingen,    von Sozialen Medien persön-                                            mit der Annahme, dass
spiegelt aber die Realität in   lich angesprochen. Dadurch                                             »Weiße« Menschen auch Teil
unserer Gesellschaft nicht                                                  HASS & HETZE
                                falle es Menschen leichter,                                            des Rassismus-Problems sind.
wider. Über die Diskriminie-                                                   IM NETZ
                                ihr privates Empfinden nach                                            Kritisches Weißsein zielt darauf
rung, die durch Rassismus
                                außen zu tragen. Diese mögli-                                          ab, zu sensibilisieren, sich mit
in unserer Gesellschaft exis-
tiert, würde ohne Benen-        che Emotionalität könne eine                                           geschichtlichen Ereignissen
nung hinweggesehen und          gewisse Eigendynamik entwi-                                            auseinanderzusetzen und sich
die Betroffenen würden          ckeln und habe gleichzeitig                                            der eigenen Privilegien bewusst
ignoriert werden.               eine große Reichweite. Das                                             zu werden. Denn im Laufe der
Die französische Soziologin     mache es so leicht, vor allem                                          Zeit entstand ein Machtgefüge
und Feministin Colette          bei kontroversen Themen auch starke Gefühle           von Weißen Menschen gegenüber Nicht-
Guillaumin sagte einst:         wie Hass ans Tageslicht zu fördern und zu ver-        Weißen Menschen, die sogenannte »White
»Rasse existiert nicht, doch
                                breiten. Für solche Beiträge, die hasserfüllt oder    Supremacy« (= Weiße Überlegenheit).
sie tötet Menschen.«
                                verletzend sind, gebe es zwar in der Regel Mel-       Ursprünglich entstanden die Critical Whiteness
                                demechanismen auf den Plattformen. Doch vor           Studies in den 1990er Jahren in den USA als
Info: »Hate-Speech«             allem bei den großen Tech-Giganten hat sich in        Kritik an den zahlreichen Forschungen zu Rasse
Heißt zu deutsch
                                der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass          und Ethnizität, wie etwa den African American
»Hassrede« und wird u.a. in
                                diese Firmen teilweise gar nicht mehr in der          Studies, Native American Studies oder anderen
Zusammenhang mit grup-
                                Lage sind, den Auswüchsen mancher Nutzer-             Forschungszweigen zur ethnischen Herkunft. So
penbezogener Menschen-
feindlichkeit oder Volksver-    kreise noch Herr zu werden. Kritiker mahnen           wurde bemängelt, dass innerhalb solcher Stu-
hetzung im Internet verwen-     schon lange an, dass hier viel zu wenig und           dien die Attribute »rassisch« oder »ethnisch«
det. Hierbei werden Aus-        meist zu spät getan wird. So ist es leicht, oft       lediglich auf Nicht-Weiße Menschen bezogen
drucksweisen geäußert, die      genug anonym, »Hate-Speech« zu äußern. Ent-           wurden. Als Folge daraus wurden Nicht-Weiße
andere Menschen abwer-          sprechende Filterblasen, in denen die Informati-      Menschen »markiert« anders zu sein, fremdartig
ten, angreifen oder zu Hass     onen sehr stark einseitig geprägt sind, werden        zu sein. Wohingegen Weißsein zur unsichtbaren
und Gewalt aufrufen. Hate-      befeuert und bewirken oft großes psychisches          Norm wurde, weil »Weißsein« nicht benannt
Speech kann strafbare und
                                Leid bei den Opfern, während Täter meist keine        wurde. Sich nicht damit auseinanderzusetzen
nicht strafbare Kontexte
                                Konsequenzen für ihr Handeln erleben. »Wir            führte demnach schließlich dazu, dass Rassis-
beinhalten.

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Aufstehen gegen Ausgrenzung - Landkreis Pfaffenhofen
men ins Unterbewusstsein gelangten und unre-
flektiert in das Verhalten der Menschen über-
gingen. Die kritische Weißseinsforschung soll
also beleuchten, inwiefern sich Weißsein als
unsichtbarer Maßstab und damit das Nicht-
Weiße als Abweichung darstellt sowie als min-
derwertig abstuft. Mithilfe der Kritischen Weiß-
seinsforschung wird versucht, diese rassisti-
sche Markierung zu überwinden und Weißen zu
verdeutlichen, dass auch sie nicht davon ausge-
nommen sind, durch ethnische Merkmale in der
Gesellschaft wahrgenommen zu werden.
In der breiten Gesellschaft ist Critical Whiteness
noch sehr unbekannt, obwohl die Kritische            Screenshot aus der Sendung Schleichfernsehen, Bayeri-
                                                     scher Rundfunk vom 01.04.2021 (Quelle: Spiegel Online)   Info: »Blackfacing«
Weißseinsforschung schon längst zu den Kul-                                                                   Die Darstellung Schwarzer
turwissenschaften in Deutschland gehört. So          sismus und Diskriminierung erst am Anfang.               Menschen durch dunkel
sind unbewusste Denkmuster weiterhin in der          Denn auch nach der Diskussion um den Sende-              geschminkte Weiße Men-
Gesellschaft verankert und führen dazu, dass         beitrag »Die letzte Instanz« im WDR werden               schen wird als Blackfacing
beispielsweise viele Weiße Personen in               rassistische Klischees weiterhin aufgegriffen.           bezeichnet. Ihren Ursprung
Deutschland lebende Menschen mit Weißen              So zeigte sich Anfang April der bayerische Ka-           hat das ursprünglich soge-
                                                                                                              nannte »Blackface« in den
Menschen assoziieren, obwohl auch Nicht-             barettist Helmut Schleich in seiner Sendung im
                                                                                                              amerikanischen Minstrel-
Weiße Menschen hier leben, einen deutschen           Bayerischen Rundfunk als fiktiver unehelicher
                                                                                                              Shows vergangener Jahr-
Pass besitzen, bereits von Geburt an hier aufge-     afrikanischer Sohn von Franz Josef Strauß, der           hunderte. Auch ohne den
wachsen sind und sich deutsch fühlen.                sein ebenfalls fiktives Land als Diktator be-            Bezug zu diesen Shows
Oftmals zeigt ein Großteil unserer Mehrheitsge-      herrscht. Zum Sketch gehörte auch eine ordent-           wird die Praxis inzwischen
sellschaft bei einer Konfrontation mit den eige-     liche Portion brauner Farbe im Gesicht des Ko-           weithin als rassistisch ein-
nen Privilegien Abwehrhaltungen, man habe es         mikers, das sogenannte »Blackfacing«, was                gestuft und daher kritisiert.
doch nicht so gemeint, man solle doch nicht so       auch in diesem Fall zu deutlicher Kritik führte.         Auch Deutschland hat eine
empfindlich sein oder wieso dürfe man nicht          Sowohl der Künstler als auch der Sender konn-            koloniale Vorgeschichte, in
mehr »Zigeunersoße« sagen. Für viele Men-            ten der Kritik anfänglich nichts abgewinnen.             deren Rahmen immer wie-
                                                                                                              der Schwarze Menschen
schen ist es schwierig ihre eigenen Denkmuster       Dass der Sender inzwischen jedoch die Figur für
                                                                                                              karikiert und diskriminiert
aufzubrechen, über die Ursprünge gewisser            die Zukunft aus dem Programm gebannt hat,
                                                                                                              wurden. Von daher scheint
Begrifflichkeiten nachzudenken und sich eigene       zeigt, dass durch kritisches Rückmelden Be-              auch das Gegenargument,
Privilegien einzugestehen.                           wusstsein geschaffen wurde, wenn auch nicht              hierzulande habe der Begriff
Es sind also eben nicht nur die radikalen Men-       flächendeckend. Unsere Gesellschaft befindet             keine geschichtliche Rele-
schen, die Rassismen ausüben. Nicht immer            sich hier am Anfang eines Prozesses. Es gilt             vanz, zumindest fragwürdig.
stehen hinter rassistischen Handlungen oder          hierbei gemeinsam und offen ein wertschätzen-            Deshalb hat sich ausgehend
Äußerungen feindliche Absichten. Dennoch sind        des Miteinander zu entwickeln und sich gegen-            von Diskussionen rund um
solche Aussagen oder Taten dadurch nicht we-         seitig immer wieder aufs Neue zu sensibilisie-           die Theater-Szene auch in
niger rassistisch. Unsere Denkmuster bestim-         ren und aufmerksam zu machen.                            Deutschland der Konsens
                                                                                                              gebildet, dass die Praxis des
men, was wir mit welchen Worten assoziieren.         (Tram Do/Trautmannsberger/Wenzl)
                                                                                                              Blackfacings der Geschichte
Doch wenn unsere Denkmuster von Rassismus
                                                     Quellen und weiterführende Links:                        angehören sollte.
geprägt sind, muss dieses Muster durchbro-
chen werden. Dazu gehört auch die aktive Aus-
einandersetzung mit geschichtlichen Ereignis-
sen (Erinnerungskultur), um zu verstehen, dass
Rassismus an die Historie anschließt.
Obwohl wir in einer zunehmend aufgeklärten
                                                     •
Gesellschaft leben, steht die Debatte um Ras-

                                                                                                                                    Seite 9
Aufstehen gegen Ausgrenzung - Landkreis Pfaffenhofen
Chancen einer hybriden kulturellen Herkunft
              Interviewreihe Teil 1: Landkreisbürgerinnen und -bürger sprechen über ihre diversen kul-
              turellen Identitäten sowie ihre Perspektiven auf Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Der Landkreis Pfaffenhofen a.d.Ilm ist Heimat für eine vielfältige Gesellschaft, Menschen unterschiedlichster Migrationsbiografien sowie Men-
schen verschiedener kultureller Identitäten.

Info: »Deutsch-Sein«           HANA BESIREVIC (17 JAHRE)                            viel mit der Kultur hier gemeinsam zu haben
Was bedeutet eigentlich        ABITURIENTIN                                         und ganz andere Erfahrungen als deine deut-
»Deutschsein«?                 Was bedeutet für Dich »Deutschsein« (z.B.            schen Freunde oder Mitschüler zu machen,
Vielen Menschen in                                                                  bringt einen wieder zu dem Gedanken »wirklich
                               Werte, Traditionen, Denk- und Verhaltensmus-
Deutschland sind die eige-
                               ter, usw.)?                                                        deutsch bin ich aber auch nicht«.
nen Verhaltensweisen, die
                               Besirevic: Für mich hieß                                           Ich weiß, dass es vielen Men-
wir im gesellschaftlichen
Zusammenleben ausüben,         »Deutschsein« immer in Deutsch-                                    schen, die hier aufgewachsen und
nicht bewusst. Deutschsein     land geboren oder aufgewachsen                                     sich hier ein Leben aufgebaut ha-
kann also Lebens- und          zu sein. Erst als ich mich selbst                                  ben, so geht. Das Gefühl zwischen
Arbeitsweisen oder auch        mit der Frage auseinandergesetzt                                   zwei Stühlen zu stehen. Die Frage
Werte und Normen be-           habe, ist mir aufgefallen, wie viel-                               »Bin ich deutsch?« kann man nicht
schreiben. Genau festgeleg-    fältig »Deutschsein« ist und dass                                  einfach beantworten, man könnte
te Kriterien gibt es dafür     es jeder für sich selbst definieren                                ein Leben lang darüber philoso-
nicht. Lediglich verbreitete
                               muss. Ich kann mittlerweile selbst                                 phieren und würde zu keiner Ant-
Praktiken in der Mehrheits-
                               nicht genau sagen, wen ich als »Ich selbst konnte entde- wort kommen und das muss man,
gesellschaft.
                               »deutsch« sehen würde und ich cken, dass ich mich nicht denke ich, auch gar nicht. Ich bin
Wenn wir dem Prinzip der
Differenzkonstruktion glau-    denke, ich kann es mir selbst nicht an eine Kultur oder Natio- in Deutschland geboren, aufge-
ben schenken, kann eine        rausnehmen zu sagen, was nalität binden muss, um wachsen, lebe hier und fühle mich
Bedeutung erst generiert       »Deutschsein« ist.                    zu wissen, wer ich bin und wohl, das reicht mir. Meine Identi-
werden, nachdem wir eine                                             wofür ich stehe.«            tät definiere ich dann lieber aus
Abgrenzung zu anderen          Inwiefern würdest Du Dich inzwi-                                   meinen eigenen Werten, Verhal-
Dingen schaffen. Bedeutung                                                     – Hana Besirevic
                               schen sogar selbst als »deutsch«                                   tens- und Denkweisen.
entsteht quasi nicht im        bezeichnen?
leeren Raum. Das impliziert,   Besirevic: Wie wir uns sehen und definieren,         Wirst Du von anderen Menschen als »deutsch«
dass wir zunächst andere,
                               hat viel damit zu tun, wie andere Menschen uns       oder »nicht-deutsch« oder als beides wahrge-
uns fremde Kulturen bzw.
                               sehen und mit uns umgehen. Für mich kam es           nommen?
Lebens- und Verhaltenswei-
sen kennenlernen müssen,       lange nicht infrage, mich als »nicht-deutsch« zu     Besirevic: Ich bin mir oft unsicher, ob ich als
um für uns »Deutschsein«       sehen, wenn ich von Leuten aus dem Land mei-         deutsch wahrgenommen werde oder nicht. Ich
zu definieren.                 ner Eltern als »die Deutsche« beschrieben wur-       denke, meine Mitmenschen sind sich selbst
                               de. Man denkt sich dann eben »ok, ich bin wohl       teils unsicher, ob sie mich als deutsch wahr-
                               deutsch«. In Deutschland aufzuwachsen, nicht         nehmen sollen. Mitmenschen, die mir in dieser

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Hinsicht Interesse entgegenbringen und auf            AYOUB BOUALI (28 JAHRE)                              Info: »Kulturwissenschaft«
respektvolle Weise nachhaken, schätze ich im-         AZUBI IN DER PFLEGE                                  Die Kulturwissenschaft
mer sehr. Von allem anderen versuche ich mich         Was bedeutet für Dich »Deutschsein« (z.B.            erforscht die materielle und
nicht zu sehr beeinflussen zu lassen.                                                                      symbolische Dimension von
                                                      Werte, Traditionen, Denk- und Verhaltensmus-
                                                                                                           Kulturen. Sie ist interdiszipli-
                                                      ter, usw.)?
                                                                                                           när ausgerichtet und bildet
Welche weiteren multikulturellen Identitäten          Bouali: Deutsch zu sein heißt für mich die Su-
                                                                                                           viele Schnittmengen mit
hast Du? Welche positiven und negativen Erfah-        che nach Perfektion und Präzision in allen Le-       anderen Bereichen wie der
rungen hast Du damit gemacht?                         bensbereichen, das Gefühl der Zugehörigkeit zu       Kommunikation, der Spra-
Besirevic: Meine Eltern kommen beide aus Bos-         Deutschland als Mitglied der Gesellschaft sowie      che, der Geschichte, der
nien und bis vor einem Jahr, also vor der Pande-      die Offenheit gegenüber der Außenwelt für die        Wirtschaft, der Soziologie,
mie, haben wir auch jeden Sommer dort ver-            Entwicklung des Selbst (Respekt vor Minderhei-       der Ethnologie, der Anthro-
bracht. Meinen Eltern war es wichtig, dass ich        ten und Ausländern und die Anwendung des             pologie, den Medien, der
mich mit der Geschichte des Landes befasse            Gesetzes) und natürlich die Feier von Feiertagen     Kunst, der Musik, der Litera-
                                                                                                           tur oder der Technologie.
und mich mit der Kultur und Sprache auseinan-         wie Weihnachten und Ostern, usw.
                                                                                                           Analysiert werden das Ver-
dersetze. Das Gefühl eines zwei-
                                                                                                           halten des Menschen und
ten Zuhauses, die Menschen und                                     Inwiefern würdest Du Dich inzwi-
                                                                                                           die Veränderungsprozesse
Werte, die damit verbunden wa-                                     schen sogar selbst als »deutsch«        im kulturellen Raum .
ren, haben mein Leben schon im-                                    bezeichnen? Beschreibe bitte,
mer bereichert und geprägt. Einige                                 warum bzw. warum nicht.
meiner schönsten Erinnerungen                                      Bouali: Tatsächlich ist mir bis jetzt
stammen aus einem der Sommer                                       die Integration in die deutsche
in Bihac (Bosnien). Im Laufe der                                   Gesellschaft leichtgefallen, weil
Jahre entwickelten sich jedoch                                     ich mich meistens schnell anpas-
immer mehr Identitätsfragen. Bin                                   se. Wenn ich mich mit Bekannten
ich deutsch oder bosnisch? Was                                     und Kolleg*innen austausche,
heißt es, bosnisch oder deutsch zu »Das Bier oder die Brezen dann versuche ich möglichst ähn-
sein? Wie wichtig sind diese Fra- schmecken mir immer lich zu kommunizieren. Im Allge-
gen? Oder auch Sachen wie z. B. mehr. Manchmal ertappe meinen gefallen mir die deutsche
Defizite in der bosnischen Sprache ich mich dabei, wie ich Sprache und besonders der baye-
konnten oft Unsicherheit auslösen. länger plane oder mehr rische Dialekt sehr. Ich bin nicht so
Wie kann ich darüber nachdenken Kritik als früher über Sa- lange in Deutschland und fühle
bosnisch zu sein, wenn ich die chen äußere.«                       mich aber so, als ob ich länger hier
Sprache nicht richtig spreche. Mit                                 gewesen bin. Seitdem bin ich
                                                 – Ayoub Bouali
der Zeit lernt man darüber hinweg-                                 pünktlicher, selbstständiger und
zusehen und sich einfach zu verbessern.              lösungsorientierter geworden. Das Bier oder die
                                                     Brezen schmecken mir immer mehr. Manchmal
Welchen Mehrwert siehst Du für Dich und die          ertappe ich mich dabei, wie ich länger plane
Gesellschaft aufgrund der hybriden kulturellen       oder mehr Kritik als früher über Sachen äußere.
Einflüsse?                                           Zusätzlich bilde ich mich hier im Pflegebereich
Besirevic: Wir werden immer empathischer und         weiter aus und erlebe einen Durst nach mehr
toleranter im Umgang mit unseren Mitmen-             Wissen über unterschiedliche Themen. Mir ge-
schen und können Gewinne für die gesamte             fällt die deutsche Kultur und ich möchte viele
Gesellschaft hinsichtlich Sprache, Kunst, Musik      Bräuche und Traditionen weiter kennenlernen.
und Kultur erzielen. Ich selbst konnte entde-
cken, dass ich mich nicht an eine Kultur oder        Wirst Du von anderen Menschen in Deutsch-
Nationalität binden muss, um zu wissen, wer          land als »deutsch« oder »nicht-deutsch« oder
ich bin und wofür ich stehe.                         als beides wahrgenommen?
                                                     Bouali: Andere Menschen betrachten mich oft
                 ——————                              eher als eine deutsche Person, weil ich be-

                                                                                                                                Seite 11
weil mir die Kommunikation mit Menschen an-
                                                                                      derer Kulturen oder mit multikulturellen Identitä-
                                                                                      ten leichtfällt.

                                                                                      Welchen Mehrwert siehst Du für Dich und die
                                                                                      Gesellschaft aufgrund der hybriden kulturellen
                                                                                      Einflüsse?
                                                                                      Bouali: Die Auseinandersetzung mit den kultu-
                                                                                      rellen Einflüssen, die Kommunikation in Fremd-
                                                                                      sprachen und die Leidenschaft für Philosophie
                                                                                      haben mich zu einem sehr toleranten und offe-
                                                                                      nen Menschen gemacht. Dank meines mitge-
                                                                                      brachten und hier weiterentwickelnden Potenzi-
                                                                                      als würde ich gerne der Gesellschaft mehr zu-
Info: »Kulturelle Identität«      stimmte Verhaltensweisen erlangt habe, von          rückgeben. Mit meinem Geschick im elektro-
Das Phänomen, wenn sich           denen die wichtigste darin bestehen, »Nein« zu      technischen und meinem Engagement im Pfle-
ein Mensch einer Kultur           sagen, ernsthaft zu arbeiten, zu studieren, das     gebereich könnte ich einen Beitrag zum besse-
oder Region zugehörig fühlt       Timing zu respektieren, immer in einem anstän-      ren Leben in der sozialen Umgebung beitragen.
und sich mit ihr identifiziert,   digen und eleganten Erscheinungsbild aufzutre-      Vielleicht lassen sich diese auch miteinander
wird kulturelle Identität
                                  ten und natürlich die deutsche Sprache gut zu       verknüpfen, z.B., wenn man als Hausmeister
genannt.
                                  sprechen. Im Alltag erlebe ich viel Respekt,        oder als Fachmann für die Reparatur von Gerä-
Fühlt sich ein Mensch auch
zu einer anderen oder meh-
                                  Toleranz und Offenheit, die ich auch gerne zu-      ten im Gesundheitswesen arbeitet. All diese
reren Kulturen bzw. Regio-        rückgebe.                                           Facetten betrachte ich als eine gute Vorausset-
nen zugehörig, dann spricht                                                           zung für eine Integration, eine bessere gegen-
man von hybriden kulturel-        Welche weiteren multikulturellen Identitäten        seitige Verständigung und Teilhabe in der Ge-
len Identitäten.                  hast Du? Welche positiven und negativen Erfah-      sellschaft.
Hybride kulturelle Identitä-      rungen hast Du damit gemacht?
ten entstehen oft in trans-       Bouali: Ich bin ursprünglich Berber aus Tunesi-                     ——————
nationalen oder multikultu-       en, aber ein Teil meiner Familie hat italienische
rellen sozialen Kontexten.
                                  Wurzeln. Ich bin in einer religiösen Familie auf-   SHEMSI HAZIRI (59 JAHRE)
In den Zeiten des kulturellen
                                  gewachsen, aber heute bin ich eher philoso-         EHRENAMTLICHER DOLMETSCHER & MITAR-
Wandels sowie der Migrati-
on stehen Menschen mit
                                  phisch unterwegs. Meine Hobbys haben meist          BEITER IM GARTEN- UND LANDSCHAFTSBAU
Migrationsgeschichte oft          mit der Leidenschaft und Erkundungen in den         Was bedeutet für Dich »Deutschsein« (z.B.
zwischen zwei oder mehre-         Bereichen der Astronomie, Psychoanalyse             Werte, Traditionen, Denk- und Verhaltensmus-
ren Welten, wobei sie einen       (Charakteranalyse) und Geschichte zu tun. Mo-       ter, usw.)?
»dritten« Raum schaffen           mentan konzentriere ich mich auf die Ausbil-        Haziri: Ich habe die deutsche Staatsbürger-
und dadurch ihren eigenen         dung und die Arbeit, sodass wenig Zeit für Hob-     schaft. Ich liebe das Land, weil es auch meine
Status pflegen.                   bys bleibt. Das Lernen fremder Sprachen fiel mir    Heimat, historisch betrachtet, immer unter-
                                  leicht. Heute spreche ich fünf davon. All dies      stützt hat. Als ich mich damals von der Familie
                                  macht meine Person bzw. meine Identität aus.        verabschiedete, sagten meine Eltern, dass
                                  Die vielen Freundschaften mit Menschen aus          Deutschland unser Freund ist und sie sich des-
                                  anderen Kulturen und die Hobbyfreunde können        halb keine Sorgen um mich machten.
                                  dies bestätigen. Einzelfälle sind immer die Aus-    Typisch deutsch finde ich die besondere alte
                                  nahme. Einmal hat ein Bekannter mich mit            deutsche Sprache und die Philosophie. Auch die
                                  »Ausländer« angesprochen. Dann erinnerte ich        vielfältige Kultur finde ich besonders schön. Hier
                                  ihn an seine polnischen Wurzeln. So kamen wir       in Bayern wird ein interessanter Dialekt gespro-
                                  zum Thema Multikulturalität und standen einan-      chen, melodiös, aber auch etwas härter als in
                                  der plötzlich toleranter gegenüber. Daher habe      den anderen Regionen Deutschlands.
                                  ich meistens positive Erfahrungen gemacht,

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Inwiefern würdest Du Dich inzwischen sogar          ben möchte ich die deutschen Freunde, die
selbst als »deutsch« bezeichnen?                    etwas mehr Zeit zum Kennenlernen brauchten,
Haziri: Für mich, der mit 30 Jahren nach            aber einem dann mit offenen Armen begegnen.
Deutschland migrierte, bleibt die Heimat mein       Durch meine Offenheit, gegenseitiges Vertrauen
Geburtsort. Jedoch muss ich sagen, dass ich         und ständige Kommunikation konnte ich die
mich hier genauso wohlfühle, dahoam. Ich habe       bayerische bzw. deutsche Kultur besser ken-
sehr viele Freunde und Kontakte. Ich fühle mich     nenlernen. Ich finde dabei viele Parallelen zu
sowohl albanisch als auch deutsch. In Deutsch-      den Grundprinzipien der Erziehung, die ich aus
land habe ich mich gleich am Anfang sehr wohl       meiner Heimat mitgenommen habe. Respekt
                                                                                                      »Mit meinem 20-jährigen
gefühlt, da ich zum ersten Mal die Freiheit und     und Gastfreundschaftlichkeit habe ich oft erlebt.
                                                                                                         Engagement als ehren-
einen sozialen Staat erlebte. Dafür bin ich
Deutschland sehr dankbar. Ich lebe hier sehr        Welchen Mehrwert siehst Du für Dich und die
                                                                                                         amtlicher Dolmetscher
gern und würde nicht unbedingt weiterziehen         Gesellschaft aufgrund der hybriden kulturellen       versuche ich der Gesell-
wollen.                                             Einflüsse?                                           schaft meinen Dank zu-
Dennoch bin ich sehr stolz auf meine Herkunft,      Haziri: Mit meinem Verhalten und sozialen En-        rückzugeben.Während
weil meine Wurzeln und die Verbundenheit mit        gagement versuche ich hier ständig ein gutes         meiner Dolmetschertätig-
der Heimat noch stark sind. Zusätzlich finde ich    Bespiel als Shemsi sowie als Albaner zu geben.       keit erkläre ich oft die
auch die Lebensumstände und die erlebte Zeit        So gebe ich der Gesellschaft nicht nur eine Leis-    Kulturunterschiede und
prägend. Ich komme aus einem kleinen Dorf,          tung, sondern auch ein lebendiges Image eines        trage zur besseren Ver-
das sehr traditionell ist. Wäre ich in der          integrierten Albaners. Durch die guten Kontakte      ständigung bei.«
(Haupt-)Stadt geboren, hätte ich es vielleicht      und den vielfältigen Austausch habe ich bis jetzt             – Shemsi Haziri
leichter mit der Identitätsentwicklung. Ich bin     meistens nur Gutes erlebt. In Pfaffenhofen fühle
davon überzeugt, dass die Jugendlichen und die      ich mich sehr wohl.
jüngere Generation sich in den Zeiten der Globa-    In den Anfangsjahren als Migrant hat mich der
lisierung schneller integrieren können, weil die    Staat sehr viel unterstützt. Mit meinem
Verbindung mit der Heimat nicht sehr stark sein     20-jährigen Engagement als ehrenamtlicher
kann.                                               Dolmetscher versuche ich der Gesellschaft mei-
                                                    nen Dank zurückzugeben. Bei meiner Dolmet-
Wirst Du von anderen Menschen als »deutsch«         schertätigkeit erkläre ich oft die Kulturunter-
oder »nicht-deutsch« oder als beides wahrge-        schiede und trage zur besseren Verständigung
nommen?                                             bei.
Haziri: Meine Freunde und Arbeitskollegen se-       Aus der Herkunftskultur bringe ich auch die
hen mich mehr als einen Kosovo-Albaner. Dies        tolerante Haltung gegenüber anderen Religio-
vielleicht, weil ich es auch ausstrahle. Würde      nen mit, was mir den Integrationsweg erleich-
ich aber in ein fremdes Land gehen, dann zeigte     tert hat. Gleichzeitig unterstütze ich die albani-
ich mich wahrscheinlich mehr als Deutscher.         sche Community durch die Organisation von
Beispielsweise bin ich für die Freunde in den       Kinderveranstaltungen wie Malen, Tanzen oder
USA deutsch. Ich werde so gesehen, weil ich         Ausflüge. Ich mag Kinder und Kinder mögen
hier oft Deutsch rede, deutsche Musik höre,         mich. Dies erlebe ich auch mit den Kindern mei-
sehr gerne ins Theater gehe und total verrückt      ner deutschen Freunde.
nach bayerischen Heimatfilmen bin. Für diejeni-
gen bin ich deshalb deutsch.
                                                    Die Gespräche führten Admir Kraja und
Welche weiteren multikulturellen Identitäten        Tu Trang Tram Do.
hast Du? Welche positiven und negativen Erfah-
rungen hast Du damit gemacht?                       Die Reihe wird im nächsten Heft mit weiteren
Haziri: Ich bin sehr interkulturell unterwegs und   Interviews zu den hybriden kulturellen Identitä-
auch zufrieden mit meinem bisherigen Leben.         ten von Bewohnerinnen und Bewohnern unse-
Ich habe viele internationale Freunde. Hervorhe-    res Landkreises fortgesetzt.

                                                                                                                          Seite 13
Aus der Integrationspraxis
                    Projekte und Veranstaltungen zwischen Öffnung und Kontaktbeschränkungen

                                Corona und Integrationsarbeit                        Auch wenn uns die digitalen Hilfsmittel überall
                                                                                     einen enorm großen Dienst geleistet haben,
                                Dieser Bericht aus der Integrationspraxis be-        gibt es doch gerade bei der Begegnung von
                                ginnt erneut mit einem Verweis auf die Corona-       Menschen untereinander keinen Ersatz für den
                                Pandemie. Aber zum jetzigen Zeitpunkt scheint        direkten Kontakt. Genau auf diese Zwischen-
                                es zumindest, als würde sich die Lage zuse-          menschlichkeit kommt es beim Thema Integra-
                                hends verbessern. Man hört zwar von immer            tion insbesondere an. Solange uns diese grund-
                                neuen Mutationen und manchmal auch von               sätzlichen Möglichkeiten nur sehr begrenzt zur
                                bedenklichen lokalen Entwicklungen, jedoch           Verfügung stehen, haben wir keine andere
Peter Schleibinger              lassen die immer intensiveren Impfbemühungen         Wahl, als damit auszukommen. Wir bitten Sie
Integrationsberater am          Hoffnungen zu, dass bald wieder eine Form der        daher, unseren Online-Angeboten genauso zu
Landratsamt Pfaffenhofen        Normalität einkehrt. Das wäre aus medizini-          folgen, wie Sie dies bisher im direkten Kontakt
a.d.Ilm                         scher Sicht, für das persönliche und gesell-         getan haben und laden Sie gerne herzlich ein,
                                schaftliche Allgemeinwohl, die seelische Gene-       mit uns in Kontakt zu treten und zu bleiben.
Beim Thema Integration          sung, insbesondere bei den Kindern und Ju-
geht es für mich in erster
                                gendlichen und natürlich auch für die existenti-     Vortragsreihe »Lebenswelten im Wandel«
Linie darum, Chancengleich-
                                ellen Bedürfnisse der Wirtschaft bitter erforder-
heit zu gewährleisten. In-
tegration verlangt dabei
                                lich.                                                Die Vortragsreihe wurde auch in diesem Jahr
beiden Seiten, also der         In den Zeiten der Krise verschieben sich natür-      fortgesetzt, wenn auch nur in Form von Online-
aufnehmenden Gesellschaft       lich Wahrnehmungsperspektiven und man fo-            Vorträgen. Zunächst referierte Daniela Spitzer-
und der Person mit Migrati-     kussiert sich auf die brisantesten Herausforde-      Hochmuth über das Thema »Ankommen in der
onserfahrung, Anstrengung       rungen. Dies bedeutet dabei nicht, dass andere       Mitte Bayerns – Förderangebote zum Deutsch-
ab. Es ist ein wechselseiti-    Themen inzwischen »auf Eis« gelegt wurden,           spracherwerb für Kinder und Jugendliche«. Die
ger Prozess, der die migrie-    auch wenn diese zwischenzeitlich nicht mehr          Vohburger Förderlehrerin berichtete über ihre
rende Person zwar nicht         im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses la-       tägliche Praxis und darüber, wie Schüler*innen
ihrer kulturellen Identität
                                gen. Viele Aufgaben können dank der zuneh-           gezielt gefördert werden können. Doch erst
beraubt, jedoch die Wert-
                                menden Rücknahme der Maßnahmen wieder                einmal verstanden alle Teilnehmenden nur
schätzung der aufnehmen-
den Kultur und der dort
                                schrittweise angegangen werden. Nur eine ist         Bahnhof. Zu sehen war ein Video aus der be-
geltenden Werte und Re-         dabei der Umgang mit den Menschen mit Mig-           kannten »Sendung mit der Maus«, aber welche
geln voraussetzt.               rationsgeschichte bzw. die zahlreichen Facetten      Sprache war das denn? Die Antwort: Es handel-
Im Idealfall bedeutet gelun-    der Integrationsarbeit. Auch im Sachgebiet           te sich dabei um die Fantasiesprache
gene Integration einen Zu-      Integration fand neben der alltäglichen Integrati-   »Klingonisch« aus dem Science-Fiction Univer-
gewinn für alle Beteiligten.    onsberatung die Unterstützung bei der Anerken-       sum »Star Trek«. Der Hintergedanke wurde
In der Beratung ist es hilf-    nung von Bildungsabschlüssen sowie die Be-           schnell klar. Die Zuhörer*innen hatten auf ein-
reich, stets die Hintergründe   treuung von Klientinnen und Klienten weiterhin       mal die Perspektive gewechselt: weg vom
staatlicher Regeln zu erläu-
                                statt. Zusätzlich war es uns auch ein Anliegen,      Lehrerpult hin zur Schulbank, wo junge Men-
tern. Auch das Erlernen der
                                fortwährend alle Kontaktpartner, von den ehren-      schen im täglichen Unterricht mit einer Sprache
deutschen Sprache und die
Teilhabe an der Arbeitswelt
                                amtlich Tätigen bis zu den Klientinnen und Kli-      konfrontiert werden, die ihnen zum Teil noch
sind sicherlich ein wichtiger   enten, zeitnah mit den aktuellsten Informatio-       völlig unbekannt ist. Bestenfalls einige Brocken
Schlüssel für einen gelin-      nen zur Pandemie und zu gesundheitlichen In-         verstehen die frisch angekommenen Schü-
genden Integrationsprozess.     fektionsschutzmaßnahmen zu versorgen. Das            ler*innen und damit nicht mehr als das Publi-
                                Sachgebiet Integration unterstützte in diesem        kum zu Beginn von Frau Spitzer-Hochmuths
                                Rahmen auch die Impfaktionen des Landrats-           Präsentation. So ein Perspektivenwechsel kann
                                amtes in den dezentralen Unterkünften.               dabei helfen, sich besser einfühlen zu können

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und das ist auch wichtig, denn die Herausforde-     rellen Bräuche erläutert, welche das tägliche
rungen für die Schüler*innen mit Migrationsge-      Leben in der weltweit verzweigten Diaspora
schichte sind bisweilen enorm. Durchschnittlich     immer noch nachhaltig prägen. »Die tiefe Ver-
10 neue Wörter gilt es am Tag zu lernen. Das        bundenheit mit den albanischen Heimatregio-
betrifft in Bayern etwa 42.000 Schüler*innen,       nen ist für die albanische Diaspora und insbe-
die vor allem auf Grund- und Mittelschulen ge-      sondere auch für den Verein »Sali Çekaj« ein
hen. Der Besuch von Realschulen und Gymnasi-        Herzensanliegen, was sich in der Unterstützung
en ist hierbei selten. Einige Schulen weisen        zahlreicher humanitärer Projekte widerspiegelt«,
einen hohen Anteil von Schüler*innen mit Ein-       so Drilon Gubetini.
wanderungsgeschichte auf. Die meisten von           Wie sich der Verein »Sali Çekaj« seit über 30
ihnen kommen aus Staaten der Europäischen           Jahren um die Integration im Landkreis, aber             Leseprojekt
Union. Für sie wurden spezielle Förderinstru-       auch um die Förderung der albanischen Com-             »Lies‘ ein Buch
mente geschaffen wie etwa der Vorkurs               munity bemüht, erläuterte der Referent an zahl-           mit mir!«
Deutsch 240, der schon in der Kita ansetzt,         reichen Beispielen wie dem »Tisch der Religio-
oder auch die Berufsintegrationsklassen, die es     nen«, den Gedenkakademien relevanter albani-
auch älteren Schüler*innen ab 16 Jahren noch        scher Persönlichkeiten, aber auch an den inzwi-      Lesen Sie gern und
ermöglichen, einen Schulabschluss zu machen.        schen allseits bekannten Veranstaltungen von         möchten zusammen
In der Praxis ist vor allem Geduld gefragt, aber    der albanischen Festnacht bis zum jährlichen
                                                                                                         mit Kindern und Ju-
genauso soll der Spaß am Lernen nicht zu kurz       Fußballturnier. »Natürlich kann hier nicht auf die
                                                                                                         gendlichen die Welt
kommen. Frau Spitzer-Hochmuth, die selbst in        bekannte Kindertanzgruppe des Vereins verzich-
Förderkursen unterrichtet und als Beraterin zum     tet werden«, so Gubetini, womit ein weiterer         der Bücher entde-
Thema Migration für den Schulamtsbezirk Pfaf-       konkreter Punkt der interkulturellen Vereinsar-      cken?
fenhofen a.d.Ilm fungiert, verdeutlichte die Me-    beit erläutert wurde, der Generationenwechsel.       Dann melden Sie sich
thodik für gelingende Sprachförderung am Ende       Die Gründergeneration übergibt schrittweise die
                                                                                                         als Lesepatin oder
des Vortrags auf scherzhafte Weise anhand von       Aufgaben an die jungen Nachfolger und Nach-
                                                                                                         Lesepate an und un-
zwanzig nicht ganz ernst gemeinten Vorschlä-        folgerinnen, welche großteils hier in Deutsch-
gen. So solle man möglichst viele Arbeitsblätter    land geboren und aufgewachsen und somit die          terstützen Sie Schü-
einsetzen, jeden noch so kleinen Fehler penibel     erste Generation sind, welche die Heimat nicht       ler*innen bei der Er-
korrigieren und die Kinder ja nicht miteinander     mehr direkt erlebt hat. »Umso stolzer ist man        weiterung ihrer Lese-
sprechen lassen. Einige der ehemaligen Schü-        im Verein ›Sali Çekaj e.V.‹ darauf, dass so viele    kompetenz!
ler*innen von Frau Spitzer-Hochmuth machen          junge Menschen das kulturelle Erbe annehmen
jetzt eine Berufsausbildung, andere steuern auf     und sich an der Vereinsarbeit beteiligen«, fasste
ihren Schulabschluss oder sogar aufs Abitur zu.     Drilon Gubetini zusammen. Das Engagement                  Telefon:
Jede einzelne Geschichte zeigt jedoch eines         des interkulturellen Vereins mit seiner Integrati-
                                                                                                         08441 27-2964 oder
deutlich: Ohne viel Liebe zur Arbeit und gemein-    onsarbeit im Landkreis sowie mit der Unterstüt-
                                                                                                               -2967
same Anstrengung aber auch Spaß am Lernen           zung von Familien in den Heimatregionen wird
wäre das alles nicht möglich.                       nun auch durch diese nächste Generation fort-               E-Mail:
                                                    gesetzt und weiter erfolgversprechend ausge-          Integrationslotsen
Zum Abschluss lieferte Drilon Gubetini ebenfalls    baut.
                                                                                                           @landratsamt-
einen sehr praxisnahen Vortrag. Der wissen-
schaftliche Mitarbeiter der Technischen Univer-     Die nächste Saison unserer Vortragsreihe                  paf.de
sität München (TUM) aus Pfaffenhofen berich-        »Lebenswelten im Wandel« beginnt voraus-
tete hierbei von den Erfahrungen seiner langjäh-    sichtlich im Winter 2021/22. Wir informieren
rigen Tätigkeit beim »Internationalen Albanisch-    rechtzeitig auf der Homepage des Landkreises.
Deutschen Kulturverein Sali Çekaj«. Der Refe-
rent führte die zahlreichen Gäste zunächst in die
eindrucksvolle albanische Kulturgeschichte ein.
Hierbei wurde nicht nur über die albanische(n)
Sprache(n) gesprochen, sondern auch die kultu-

                                                                                                                       Seite 15
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