Klimawandel, Vielfalt, Gerechtigkeit - Wie Werthaltungen unsere Einstellungen zu gesellschaftlichen Zukunftsfragen bestimmen - Bertelsmann Stiftung

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Klimawandel, Vielfalt, Gerechtigkeit - Wie Werthaltungen unsere Einstellungen zu gesellschaftlichen Zukunftsfragen bestimmen - Bertelsmann Stiftung
Klimawandel, Vielfalt,
         Gerechtigkeit
 Wie Werthaltungen unsere Einstellungen zu
gesellschaftlichen Zukunftsfragen bestimmen
Klimawandel, Vielfalt, Gerechtigkeit - Wie Werthaltungen unsere Einstellungen zu gesellschaftlichen Zukunftsfragen bestimmen - Bertelsmann Stiftung
Das Programm „Lebendige Werte“

Wir widmen uns im Programm „Lebendige Werte“ dem gesellschaftlichen Zu-
sammenhalt und insbesondere der Rolle von Religionen und Werten für das
Zusammen­leben in der vielfältigen Gesellschaft. Zu diesen Themen forschen wir
und veröffent­lichen regelmäßig neue Studien aus dem Religions­monitor und dem
Radar gesell­schaftlicher Zusammenhalt. Darüber hinaus sind wir mit praktischen
Projekten und Methoden in der Wertebildung aktiv und vernetzen Akteur:innen
aus der Zivilgesellschaft in unserem Themenfeld.

                     Wenn Sie mehr über unsere Arbeit erfahren möchten und wir
                     Sie regelmäßig über neue Forschungsergebnisse, Studien und
                     Veranstaltungen informieren sollen, bitten wir Sie, den neben-
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Klimawandel, Vielfalt, Gerechtigkeit - Wie Werthaltungen unsere Einstellungen zu gesellschaftlichen Zukunftsfragen bestimmen - Bertelsmann Stiftung
Klimawandel, Vielfalt,
         Gerechtigkeit
 Wie Werthaltungen unsere Einstellungen zu
gesellschaftlichen Zukunftsfragen bestimmen
               Dr. Yasemin El-Menouar
                  Dr. Kai Unzicker
Klimawandel, Vielfalt, Gerechtigkeit - Wie Werthaltungen unsere Einstellungen zu gesellschaftlichen Zukunftsfragen bestimmen - Bertelsmann Stiftung
Inhalt
  Zusammenfassung                                                                         6

  1. Einleitung                                                                            9
     1.1 Wertemilieus                                                                      9
     1.2	Klimawandel, Zusammen­leben in Vielfalt und Gerechtigkeit                       11
     1.3 Bereitschaft zum Diskurs                                                         11
     1.4 Methodik der Studie                                                              11
     1.5 Aufbau der Studie                                                                11

  2. Haltungen zum Klimaschutz                                                            13
     2.1	Handeln oder abwarten? Der Einfluss von Wertorientierungen                      14
     2.2	Eine Frage der Generation? Die Rolle sozio­demo­gra­fischer Merkmale            15
     2.3	Relativ breiter Konsens – der Einfluss von Partei­präferenzen                   16

  3. Zusammenleben in Vielfalt                                                            19
     3.1	Grenzen der Toleranz – das Beispiel Kopftuch                                    21
     3.2	Vielfältige Nachbarschaft – die Wirkung von Erfahrungen                         23
     3.3	Bildung als Türöffner – die Rolle sozioökonomischer Faktoren                    24
     3.4	Liberal ist nicht gleich liberal – der Einfluss von Parteineigungen             25

  4. Vorstellungen von Gerechtigkeit                                                      27
     4.1	Relative Übereinstimmung – die Perspektive der Werte­milieus                    28
     4.2	Was als gerecht empfunden wird – der Einfluss sozialer Lagen                    30
     4.3	Der Glaube an eine gerechte Welt                                                31
     4.4	Leistungs- versus Bedarfs­prinzip – Parteineigung und Gerechtigkeit             32

  5.	Wertehomogenität und Offenheit für Dialog                                           34
     5.1	Grundkonsens trotz Diffe­ren­zen – wie weit die eigenen Überzeugungen reichen   34
     5.2	Respektvoll oder nicht – zum Umgang miteinander                                 36
     5.3	Relative Offenheit – Ein­lassen auf andere Meinungen                            37

  6. Fazit                                                                                39
     6.1	Diagnose der Polarisierung greift zu kurz                                       39
     6.2	Bei der Ausgestaltung von Vielfalt gehen die Meinungen auseinander              40
     6.3	Mehrheit findet Gesellschaft nicht gerecht                                      41
     6.4	Materialist:innen sehen sich als Außenseiter:innen                              41
     6.5	Leistungsorientierte für den Wandel gewinnen                                    42

  7. Literatur                                                                            44

  Impressum                                                                               46
  Literaturtipps                                                                          47

                                                                                               5
Zusammenfassung

    Hintergrund und Fragestellung                             Methode
    der Studie
                                                              Die Berechnung der Wertemilieus basiert auf 21 Fra-
    Aktuelle Debatten zu gesellschaftlichen Zukunftsfra-      gen zu persönlichen Wertvorstellungen nach Shalom
    gen vermitteln den Eindruck einer zunehmenden Po-         Schwartz (2012) sowie auf zehn Fragen zu Persönlich-
    larisierung in der Bevölkerung. Die vorliegende Studie    keitseigenschaften in Anlehnung an das Big-Five-Mo-
    hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Eindruck anhand der     dell (Rammstedt et al. 2013). Die Antworten auf die
    zentralen Themen Klimawandel, Vielfalt und Gerech-        insgesamt 31 Fragen wurden in einem mehrstufigen
    tigkeit zu überprüfen und zu analysieren, inwieweit       statistischen Analyseverfahren geprüft. So konnten
    bei diesen durchaus umstrittenen Fragen tatsächlich       empirisch sieben Wertemilieus identifiziert werden.
    von einem Auseinanderdriften in der Gesellschaft ge-
    sprochen werden kann. Ein Fokus liegt dabei auf der       Die Datengrundlage bildet eine repräsentative Bevöl-
    Frage, inwieweit Werthaltungen der Menschen ihre          kerungsbefragung, die in der letzten Novemberwoche
    Sicht auf gesellschaftliche Grundfragen prägen.           2020 in Deutschland stattfand. Das Norstat Institut
                                                              hat im Auftrag der Bertelsmann Stiftung im Rah-
    Analysegrundlage sind sieben Wertemilieus, die als        men einer Online-Befragung 1.012 Personen quanti-
    empirisches Instrument zur Beschreibung der gesell-       tativ befragt. Es handelt sich um eine nicht randomi-
    schaftlichen Wertepluralität dienen und Grundzüge         sierte Quotenstichprobe; sie ist repräsentativ für die
    unterschiedlicher Werthaltungen, die in unserer Ge-       deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren nach Alter, Ge-
    sellschaft vertreten werden, verdichtet wiedergeben       schlecht und Bundesland. Die Stichprobe wurde an-
    (El-Menouar 2021). Folgende Wertemilieus wurden           hand eines Online-Access-Panels gezogen.
    anhand repräsentativer Daten ermittelt: 1. kreative
    Idealist:innen, 2. bescheidene Humanist:innen, 3. indi-
    vidualistische Materialist:innen, 4. unbeschwerte Be-     Kernergebnisse der Studie
    ziehungsmenschen, 5. sicherheitsorientierte Konser-
    vative, 6. leistungsorientierte Macher:innen und 7.       1.	Die Diagnose einer in zwei Lager gespaltenen
    unkonventionelle Selbstverwirklicher:innen. Sie sind          Gesellschaft greift zu kurz. In allen drei The-
    in Deutschland etwa gleich stark und quer durch die          menkomplexen, die wir untersucht haben, lässt
    Gesellschaft in allen Alters-, Bildungs- und Einkom-         sich eine Bandbreite an Positionen identifizie-
    mensschichten vertreten. Allerdings lassen sich die          ren. Je nach Fragestellung werden zudem unter-
    Wertemilieus durch soziodemografische Charakte-              schiedliche Differenzierungslinien sichtbar, das
    ristika näher beschreiben (El-Menouar und Unzicker           heißt, es sind nicht immer die gleichen Personen,
    2021).                                                       die gegensätzliche Meinungen vertreten. Eine
                                                                 Ausnahme bilden die Materialist:innen: Sie haben
                                                                 fast durchgängig eine andere Sicht auf beste-
                                                                 hende Herausforderungen als die Mehrheit der
                                                                 Bevölkerung.

6
Zusammenfassung

2.	Die Veränderungsbereitschaft für mehr Kli-                Befragten abgelehnt (2 Prozent). Wenn es um das
    maschutz ist groß. Insgesamt ist mit 72 Prozent           Kopftuch geht, wird jedoch eine Polarisierung
   die Mehrheit der Befragten der Meinung, dass               quer durch alle Wertemilieus sichtbar.
   wir für die Bewältigung des Klimawandels tief-
   greifende gesellschaftliche und soziale Verände-
   rungen brauchen; diese Ansicht zieht sich durch         4.	Die Gerechtigkeitsprinzipien der Sozialen
   die meisten Wertemilieus. Bei den Maßnahmen                 Marktwirtschaft werden von einem Großteil
   gehen die Meinungen stärker auseinander. Wäh-               der Befragten geteilt. Mit 85 beziehungsweise
   rend die einen – vor allem die Leistungsorien-             86 Prozent stimmt die überwältigende Mehrheit
   tierten mit einem Anteil von 43 Prozent – stär-            der Befragten sowohl dem Leistungsprinzip – hart
   ker auf den technologischen Fortschritt setzen,            arbeitende Menschen sollten mehr verdienen als
   gehen die anderen davon aus, dass wirksamer Kli-           andere – als auch dem Bedarfsprinzip – die Ge-
   maschutz nicht ohne spürbare Veränderungen                 sellschaft kümmert sich, unabhängig von deren
   in unserem Alltagsverhalten machbar ist. Unter             Leistung, um Bedürftige – zu. Diese Prinzipien
   Materialist:innen ist jedoch nur eine Minderheit           werden auch von den Materialist:innen mehrheit-
   (43 Prozent) veränderungsbereit; in diesem Mi-             lich getragen, auch wenn sie bei der Befürwortung
   lieu geht mit 39 Prozent ein großer Anteil davon           des Bedarfsprinzips etwas abfallen (63 Prozent).
   aus, dass der Klimawandel ein natürliches Phäno-           Größere Unterschiede sind bei dem Glauben an
   men ist und die Natur sich selbst regeneriert.             eine „gerechte Welt“ festzustellen: Während 55
                                                              Prozent der Leistungsorientierten davon ausge-
                                                              hen, dass jede und jeder das bekommt, was ihr be-
3.	Beim Zusammenleben in Vielfalt geht es pri-               ziehungsweise ihm zusteht, sind lediglich 24 Pro-
    mär um Grenzen der Offenheit. Die vertretbare             zent der Materialist:innen dieser Ansicht.
   kulturelle und religiöse Vielfalt in der Gesellschaft
   fassen vor allem Idealist:innen (63 Prozent) und
   Humanist:innen (64 Prozent) weit und sehen den          5.	Offenheit für Dialog ist trotz kontroverser De-
   notwendigen Rahmen durch das Grundgesetz de-                batten gegeben. Rund zwei Drittel der Befragten
   finiert. Leistungsorientierte (55 Prozent) plädie-         sind der Ansicht, dass die öffentlichen Debatten
   ren eher für eine engere Grenzsetzung, die sich            respektloser geworden sind als früher. Dies spie-
   an westeuropäischen Standards orientiert. Wie-             gelt sich aber nur bei einer Minderheit (20 Pro-
   derum sind es die Materialist:innen, die am deut-          zent) auch im privaten Umfeld wider: Hier wer-
   lichsten abweichen: Unter ihnen halten insgesamt           den die Diskussionen mehrheitlich als genauso
   80 Prozent entweder nur eine „vertraute“ Viel-             respektvoll wie früher empfunden. Grundsätz-
   falt im westeuropäischen Rahmen für hinnehm-               lich sind die Befragten überwiegend offen für an-
   bar oder erwarten sogar eine Anpassung an eine             dere Meinungen – sie diskutieren sogar gerne (43
   „deutsche Leitkultur“. Vielfalt als solche wird ins-       Prozent) beziehungsweise finden es gut (36 Pro-
   gesamt nur von einer sehr kleinen Minderheit der           zent), dass es unterschiedliche Positionen gibt.

                                                                                                                     7
Zusammenfassung

          Lediglich die Beziehungsmenschen sind seltener
          an einem Austausch mit unterschiedlichen Po-
          sitionen interessiert (25 Prozent) beziehungs-
          weise haben grundsätzlich kein Interesse an ge-
          sellschaftspolitischen Themen (17 Prozent). Trotz
          der Kontroversen ist die Mehrheit der Befragten
          der Meinung, dass die meisten Menschen in ihrem
          Umfeld (rund 60 Prozent), aber auch in Deutsch-
          land insgesamt (rund 60 Prozent) ähnliche
          Werte teilen wie sie selbst. Eine Ausnahme bil-
          den hier wiederum die Materialist:innen, die sich
          nicht nur in ganz Deutschland mehrheitlich als
          Außenseiter:innen sehen, sondern auch in ihrem
          persönlichen Umfeld viel Gegenwind erfahren.

8
1. Einleitung

   Moderne offene Gesellschaften zeichnen sich durch          Im Umgang mit der Corona-Pandemie wurden in den
   Meinungs- und Wertevielfalt aus. Der gesellschaftli-       letzten Monaten einige dieser Wertefragen beson-
   che Zusammenhalt erwächst in ihnen weniger aus ge-         ders akut: Was wiegt schwerer: der Schutz der Ge-
   teilten Traditionen oder einer breiten Einmütigkeit in     sundheit oder der Erhalt wirtschaftlicher Existenzen
   moralischen oder politischen Fragen. Vielmehr misst        und des Wohlstands? Welches Leid hat Vorrang: das
   sich dieser Zusammenhalt daran, wie gut es im Dauer-       der Infizierten oder das derer, die psychisch unter
   streit der demokratischen Öffentlichkeit gelingt, die      Lockdown und Ausgangssperre leiden? Woran misst
   vielfältigen Interessen zu koordinieren, Wertekon-         man die Angemessenheit von Maßnahmen: an der Si-
   flikte auszutragen und – trotz aller Differenzen – zu      cherheit, die sie versprechen, oder an der Freiheit, die
   allgemein akzeptierten Entscheidungen zu kommen            sie einschränken? Um besser zu verstehen, wie in der
   (Dubiel 1999).                                             gesellschaftlichen Auseinandersetzung um diese Fra-
                                                              gen gerungen wird und ob das oben skizzierte Bild
   Momentan hat es jedoch den Anschein, die Gesell-           einer polarisierten Debatte überhaupt stimmt, haben
   schaft sei zunehmend polarisiert und gerate gerade         wir im letzten Jahr ein neues Forschungsinstrument
   angesichts der Pandemie in eine Zerreißprobe: Jede:r       entwickelt. Es liefert uns ein tieferes Verständnis der
   Zweite hat den Eindruck, dass die Menschen in dieser       in der Gesellschaft vorhandenen Werthaltungen und
   Krise an ihren eigenen Vorteil denken, statt zu helfen,    damit auch der Meinungsdifferenzen im gegenwär­
   zwei Drittel schätzen den Zusammenhalt als schlecht        tigen Diskurs. Zunächst haben wir es fokussiert auf
   ein, und ein Drittel geht davon aus, dass sich dieser in   den Umgang mit der Corona-Pandemie angewendet
   den nächsten fünf Jahren weiter verschlechtern wird.       (El-Menouar 2021).
   Das zeigt eine erste Auswertung der vorliegenden
   Daten der BSt-Wertestudie 2021, die im Rahmen des
   Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung durch­          1.1 Wertemilieus
   geführt wurde (siehe Kapitel 1.4 „Methodik der
   Studie“).                                                  Dafür galt es zunächst herauszufinden, welche Wert-
                                                              haltungen sich überhaupt unterscheiden lassen und
   Dabei steht das heutige Deutschland nicht nur ange-        wie sich die Wertepluralität hierzulande darstellt. Auf
   sichts der Folgen der Corona-Pandemie vor großen           diese Weise konnten wir sieben zentrale Wertemi-
   Herausforderungen, sondern sieht sich grundsätzlich        lieus identifizieren: das der kreativen Idealist:innen,
   mit gravierenden gesellschaftlichen, ökologischen,         der bescheidenen Humanist:innen, der individualis-
   technologischen, demografischen und mithin politi-         tischen Materialist:innen, der unbeschwerten Bezie-
   schen Veränderungen konfrontiert. Ob Klimawan-             hungsmenschen, der sicherheitsorientierten Konser-
   del oder Digitalisierung, ob Alterung oder Einwande-       vativen, der leistungsorientierten Macher:innen und
   rung, verbunden sind damit stets auch fundamentale         der unkonventionellen Selbstverwirklicher:innen.
   Wertefragen, die Menschen für sich durchaus unter-
   schiedlich beantworten.                                    Idealist:innen stehen stark für die Werte Gleichheit,
                                                              Pluralität und Nachhaltigkeit ein und verstehen sich
                                                              als Avantgarde, die meinungsstark einen an diesen

                                                                                                                         9
Einleitung

                                   Idealen orientierten gesellschaftlichen Wandel ver-                wertvoller als individuelle Entfaltungsmöglichkei-
                                   tritt oder sogar fordert. Humanist:innen sind an ähn-              ten. Sicher­heits­orientierte legen Wert auf die Bewah-
                                   lichen Werten orientiert, treten aber sehr viel mode-              rung be­währ­ter Zusammenhänge und Strukturen.
                                   rater auf. Anders als die hedonistisch eingestellten               Für das Gemeinwohl, das in einem solchen sicheren
                                   Idealist:innen stellen sie ihre eigenen Bedürfnisse zu-            Umfeld fußt, übernehmen sie gerne Verantwortung.
                                   rück – Bescheidenheit ist für sie ein wichtiger Wert.              Leis­tungs­­orientierten sind Erfolg und Anerkennung
                                   Materialist:innen legen hingegen Wert auf Wohl-                    sehr wichtig – dabei sind sie konservativ eingestellt,
                                   stand und Konsum – sie möchten sich etwas leisten                  Traditions­wahrung und ein ethisch einwandfreies
                                   können und auf niemanden angewiesen sein. Für Be-                  Ver­halten haben für sie einen hohen Wert. Selbstver­
                                   ziehungsorientierte zählt vor allem die Geborgen-                  wirklicher:innen sind darauf ausgerichtet, sich als In-
                                   heit sozialer Beziehungen – Zugehörigkeit ist für sie              dividuum stetig weiterzuentwickeln. Sie orientieren

                                                                       Sieben Wertemilieus in Deutschland

                              kreative             bescheidene          individualistische   unbeschwerte         sicherheits-      leistungs-        unkonventionelle
                              Idealist:innen       Humanist:innen       Materialist:innen    Beziehungs-          orientierte       orientierte       Selbst­ver­wirk­
                                                                                             menschen             Konservative      Macher:innen      licher:innen

                              Gleichheit           Gleichheit           Konsum               Zugehörigkeit        Sicherheit        Leistung          Selbst­ver­
                              Pluralität           Pluralität           Wohlstand            Geborgenheit         Loyalität         Einfluss          wirklichung
 Werthaltungen

                              Umweltschutz         Umweltschutz         Autonomie                                 Gemeinwohl        Anerkennung       Veränderung
                              Hedonismus           Bescheidenheit

                              idealistisch         moderat              misstrauisch         unbeschwert          konservativ       konservativ       unkonventionell
                              meinungsstark        zurückhaltend        pessimistisch        risikobereit         fürsorgend        traditionell      spirituell
                              unkonventionell      konventionell                                                                    optimistisch      konsumkritisch
                              kreativ              pragmatisch

                              18–29 Jahre          50+                  40–49 Jahre          18–29 Jahre          50+               unter 40 Jahre    60+
 typische soziale Merkmale

                              weiblich             weiblich             männlich                                                    männlich

                              Akade­mike­          Akade­mike­          höheres              niedrige Bildung                       hohes Einkommen   geringes
                              r:innen              r:innen              Einkommen                                                   religiös          Einkommen
                                                                        selbstständig                                                                 konfessionslos
                                                                        areligiös
                                                   BÜNDNIS 90/                               CDU, SPD,            SPD, DIE LINKE,
                              ohne Partei          DIE GRÜNEN           AfD                  auch AfD             FDP               CDU               DIE LINKE

                                    15 %                 17 %                  9%                  15 %                 16 %              14 %                 14 %

                             Die Prozentwerte geben den Anteil des jeweiligen Milieus in unserer Stichprobe an.
                             Quelle: BSt-Wertestudie 2021, Basis: N=1.012

10
Einleitung

sich an postmateriellen Werten und lehnen ein an ma-      homogen beziehungsweise heterogen die unter­
teriellen Gütern und Konsum orientiertes Leben ab.        schied­lichen Wertemilieus ihr eigenes Umfeld und
                                                          Deutschland insgesamt ansehen. Daran anschließend
Die sieben Wertemilieus sind in Deutschland etwa          unter­suchen wir, wie groß das Potenzial für eine of-
gleich stark und quer durch die Gesellschaft in allen     fene Debatte zwischen den Angehörigen der unter­
Alters-, Bildungs- und Einkommensschichten vertre-        schied­lichen Milieus ist. Denn eines ist klar: Wenn wir
ten. Es lassen sich aber auch Zusammenhänge mit           als Gesellschaft insgesamt nicht bereit sind, über die
sozioökonomischen Merkmalen ausmachen. Diese              Grenzen des jeweiligen Milieus hinweg miteinander
tragen dazu bei, die Wertemilieus näher zu charakte-      zu diskutieren, drohen die Fronten zu verhärten.
risieren. Eine ausführliche Beschreibung der Werte-
milieus und der Methodik findet sich in El-Menouar
(2021: 13–21) und soll daher an dieser Stelle nicht       1.4 Methodik der Studie
wiederholt werden.
                                                          Grundlage der hier vorliegenden Studie ist eine Be-
                                                          fragung von 1.012 Personen ab 18 Jahren im Novem-
1.2	Klimawandel, Zusammen­leben                          ber 2020 durch das Norstat Institut im Auftrag der
     in Vielfalt und Gerechtigkeit                        Bertelsmann Stiftung. Es handelt sich um eine nicht
                                                          randomisierte Quotenstichprobe; sie ist repräsenta-
In der hier vorliegenden Studie wenden wir das ana-       tiv für die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren nach
lytische Werkzeug dieser sieben Wertemilieus an,          Alter, Geschlecht und Bundesland. Die Stichprobe
um drei Themenkomplexe etwas genauer zu beleuch-          wurde anhand eines Online-Access-Panels gezogen.
ten, in denen Werthaltungen eine zentrale Rolle spie-     Die Panel-Teilnehmer:innen sind dabei sowohl online
len. Wir untersuchen die Auseinandersetzung um den        als auch offline im Rahmen von repräsentativen Tele-
Klimawandel, die Debatte um das Zusammenleben in          fonbefragungen rekrutiert worden. Durch eine Reihe
kultureller Vielfalt und den Streit um Gerechtigkeit.     von unterschiedlichen Rekrutierungsmethoden wur-
Wie man zu jedem dieser drei Themen steht, hängt          den Verzerrungen minimiert. Hochgebildete sind in
eben nicht nur von der sozialen Lage, dem Geschlecht      der Stichprobe jedoch überrepräsentiert.
oder der kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit ab.
Auch unterschiedliche Werthaltungen spielen hierbei
eine entscheidende Rolle.                                 1.5 Aufbau der Studie

Das zeigt sich beispielsweise bei der Frage, ob zur Be-   Die Studie gliedert sich in fünf Abschnitte, wobei sich
kämpfung des Klimawandels jetzt ein radikaler Kurs-       die direkt anschließenden drei Abschnitte jeweils
wechsel dringend nötig ist oder nicht. Die dahinter-      einem Themenkomplex widmen: Klimawandel,
liegenden Werthaltungen lassen erkennen, dass die         Zu­sammenleben in Vielfalt sowie Gerechtigkeit. In
Bevölkerung keineswegs nur in zwei große Lager ge-        jedem dieser Abschnitte betrachten wir, wie sich die
spalten ist, die sich konfrontativ gegenüberstehen,       Perspektiven auf die zentralen Fragestellungen in
sondern es werden unterschiedliche Facetten er­kenn­      dem jeweiligen Themenfeld anhand der Wertemilieus
bar. In eben diesem Meinungsspektrum liegen Ansatz-       ausdifferenzieren. Parallel wird überprüft, ob sozio-
punkte für konstruktiven Streit und lösungsorientierte    demografische Faktoren ebenfalls einen Effekt auf
Verständigung.                                            die Einstellungen zu den genannten Themen haben.
                                                          Im vierten Abschnitt beleuchten wir die Frage, wie
                                                          groß die Offenheit für einen Austausch mit anderen
1.3 Bereitschaft zum Diskurs                              Meinungen und Haltungen in den sieben Wertemili-
                                                          eus ausgeprägt ist. Das abschließende Kapitel fasst
Ergänzend zu den drei Themenfeldern, denen wir            die Ergebnisse zusammen und leitet daraus Hand-
uns in dieser Studie widmen, betrachten wir, als wie      lungsempfehlungen ab.

                                                                                                                          11
Haltungen zum Klimaschutz

12
2. Haltungen zum Klimaschutz

   Das richtungsweisende Klima-Urteil des Bundesver-        wusstseins hinsichtlich der Folgen des Klimawandels
   fassungsgerichts (2021) hat die zentrale Bedeutung       werden in der Debatte über die daraus erwachsenden
   des Klimaschutzes für den Zusammenhalt der Gesell-       Handlungskonsequenzen sehr unterschiedliche Po-
   schaft eindrücklich unterstrichen. Die Klimapolitik      sitionen vertreten. Während die einen radikale Maß-
   muss nun im Sinne des Staatsziels „Schutz der Lebens-    nahmen etwa im Verkehrssektor und in der Energie-
   grundlagen“ (Artikel 20a des Grundgesetzes) konse-       versorgung fordern, gehen andere davon aus, dass
   quenter gestaltet werden, um die jüngere Generation      sich die Natur auch ohne Eingreifen des Menschen
   in ihren Freiheitsrechten nicht unverhältnismäßig zu     regenerieren kann. Wiederum andere sind der Mei-
   beeinträchtigen.                                         nung, der technologische Fortschritt werde die Um-
                                                            weltprobleme lösen können, ohne dass dies die Le-
   Seit etwa 2018 hat der Klimaschutz in den öffentli-      bensgewohnheiten der Menschen berühren muss.
   chen Debatten in Deutschland wieder eine deutlich
   prominentere Rolle eingenommen. Gründe dafür             Insofern kommt es nicht nur darauf an, dass der Kli-
   dürften die ungewöhnlich trockenen Jahre 2018 und        mawandel als Problem erkannt wird. Was zählt, ist
   2019 und die in Deutschland besonders präsente           zugleich die Bereitschaft der Bürger:innen, politische
   „Fridays for Future“-Bewegung sein. Auch die Umfra-      Maßnahmen mitzutragen, die mit tiefgreifenden Ver-
   gen belegen, dass der Klimaschutz für die Deutschen      änderungen im Alltag jeder und jedes Einzelnen ein-
   deutlich an Bedeutung gewonnen hat. In der jüngsten      hergehen. Die Politik ist somit herausgefordert, nicht
   Umfrage des Bundesumweltamtes von 2019 stuften           nur wirkungsvolle Maßnahmen zu entwickeln, son-
   68 Prozent der Befragten das Thema als sehr wich-        dern auch die Bevölkerung bei deren Durchsetzung
   tige Herausforderung ein (Schipperges 2020). Drei        mitzunehmen.
   Jahre zuvor waren es noch 53 Prozent. Klimaschutz
   liegt damit inzwischen gleichauf mit den beiden ande-    Um die unterschiedlichen Haltungen zum Klimawan-
   ren Top-Themen Bildung (65 Prozent) und soziale Ge-      del zu erfassen, haben wir drei unterschiedliche
   rechtigkeit (63 Prozent). Auch wenn die öffentliche      Positionen abgefragt, die sich in ihrer Besorgnis hin-
   Wahrnehmung des Klimaschutzes gegenwärtig durch          sichtlich des Klimawandels sowie in der darauf basie-
   den Fokus auf die Corona-Pandemie überlagert wird,       renden Veränderungsbereitschaft unterscheiden.
   kann von einem ausgeprägten gesellschaftlichen Pro-
   blembewusstsein in Bezug auf den Klimawandel und         Erhoben wurde der Grad der Zustimmung zu folgen-
   deren Folgen ausgegangen werden.                         den drei Aussagen:

   Um den Klimawandel nachhaltig aufhalten zu kön-          •	
                                                              Es müssen keine großen Anstrengungen unter-
   nen, sind, so resümiert es der letzte Weltklimabericht       nommen werden, weil der Klimawandel ein natür-
   (IPPC 2018), tiefgreifende Veränderungen in allen            liches Phänomen ist und die Natur sich selbst
   Gesellschaftsbereichen notwendig. Derartige Maß-             regeneriert.
   nahmen müssen von der Breite der Bevölkerung ge-
   tragen sein. Trotz des inzwischen verbreiteten Be-

                                                                                                                     13
Haltungen zum Klimaschutz

               •	
                 Mit zunehmendem technologischem Fortschritt                          Insgesamt sind 22 Prozent der Befragten – also mehr
                    werden wir auch den Klimawandel bewältigen,                       als jede:r Fünfte – der Meinung, der Klimawandel
                    ohne dass wir unser Leben groß ändern müssen.                     sei ein natürliches Phänomen und könne sich daher
                                                                                      selbst regenerieren. Die sieben Wertemilieus unter­
               •	
                 Um den Klimawandel zu bewältigen, brauchen                           scheiden sich dabei teils deutlich in ihrer Einschät­
                    wir in Deutschland tiefgreifende gesellschaftliche                zung: Während es unter Humanist:innen, Idealis­t:in­
                    und soziale Veränderungen.                                        nen und Sicherheitsorientierten gerade einmal 15
                                                                                      Prozent oder weniger sind, die an die Resilienz der
                                                                                      Natur glauben, beträgt dieser Anteil unter Bezie-
               2.1	Handeln oder abwarten?                                            hungsmenschen und Leistungsorientierten rund 30
                    Der Einfluss von                                                  Prozent – und unter Materialist:innen denken mit 39
                    Wertorientierungen                                                Prozent sogar zwei von fünf so. Die größte Diskre-
                                                                                      panz ist mit einer Zustimmungsdifferenz von 26 Pro-
               Studien zufolge sind es vor allem Werthaltungen und                    zentpunkten zwischen Sicherheitsorientierten und
               Weltanschauungen sowie politische Orientierungen,                      Materialist:innen festzustellen.
               die Einstellungen zum Klimaschutz beeinflussen
               (Hoffman 2015; Hornsey 2016; Droste und Wendt                          Etwas höher ist der Anteil derer, die der Meinung
               2021). Im Folgenden analysieren wir daher die Zu-                      sind, der technologische Fortschritt werde die Prob-
               stimmung der sieben Wertemilieus zu den oben ge-                       leme des Klimawandels lösen, ohne dass wir als Ge-
               nannten drei Positionen und überprüfen, inwieweit                      sellschaft unser Leben verändern müssen. Insgesamt
               sie sich in Bezug auf Haltungen zum Klimawandel                        stimmt mit 27 Prozent mehr als jede:r vierte Befragte
               unterscheiden.                                                         dieser Aussage zu. Die geringste Zustimmung findet

     ABBILDUNG 1 Sieben Wertemilieus und ihre Einstellungen zum Klimawandel (Zustimmung in Prozent)
      100
        90
        80
                                       78                                                    78
        70          74                                                                                         73                 75          72
                                                                           69
        60
        50                                               43
        40                                                                 31                                  43
                                                         39                                                                                   27
        30                                                                                                                        23
                    19                 19                                  29                17                32
        20                                                                                                                                    22
                                                                                                                                  19
        10          15                 15                                                    13
         0
               Idealist:innen   Humanist:innen Materialist:innen      Beziehungs-        Sicherheits-      Leistungs-       Selbstverwirk-   Gesamt
                                                                       menschen           orientierte      orientierte       licher:innen

        Es ist ein tiefgreifender Wandel der Gesellschaft erforderlich.             Der technische Fortschritt wird die Probleme lösen.
        Die Natur regeneriert sich selbst.

     Zustimmung (stimme voll und ganz zu / stimme eher zu) in Prozent zu den drei Aussagen „Es müssen keine großen Anstrengungen unter­
     nommen werden, weil der Klimawandel ein natürliches Phänomen ist und die Natur sich selbst regeneriert“, „Mit zunehmendem techno­
     logischem Fortschritt werden wir auch den Klimawandel bewältigen, ohne dass wir unser Leben groß ändern müssen“, „Um den Klima­
     wandel zu bewältigen, brauchen wir in Deutschland tiefgreifende gesellschaftliche und soziale Veränderungen“.
     Quelle: BSt-Wertestudie 2021, Basis: N=1.012

14
Haltungen zum Klimaschutz

sich dabei unter Sicherheitsorientierten mit einem        Weniger überraschend ist die nach vorne gerichtete,
Anteil von rund 17 Prozent; vergleichsweise hohe          veränderungsbereite Haltung unter den Huma­nis­t:in­
Zustimmung finden sich wiederum unter Leistungs-          nen und Idealist:innen. Eine höchst ambivalente Hal-
orientierten und Materialist:innen: In beiden Werte-      tung vertreten dagegen die Leistungsorientierten, die
milieus sind es mit jeweils 43 Prozent recht große        sich durchaus im Klaren darüber sind, dass der Kli-
Anteile, die bei der Bewältigung des Klimawandels         mawandel ohne tiefgreifende Veränderungen im All-
auf den technischen Fortschritt setzen.                   tag jeder und jedes Einzelnen kaum aufzuhalten sein
                                                          wird. Dennoch setzen sie zugleich darauf, dass der
Insgesamt gibt es aber einen breiten Konsens, dass        technologische Fortschritt oder aber die Natur selbst
der Klimawandel nicht ohne einen tiefgreifenden ge-       eine Lösung herbeiführen wird, was es ihnen erlaubt,
sellschaftlichen und sozialen Wandel bewältigt wer-       solange es geht am Status quo festzuhalten.
den kann: Mit 72 Prozent sind fast drei Viertel der
Befragten dieser Meinung. Im Vergleich der sieben
Wertemilieus fällt der Konsens aber teilweise weni-       2.2	Eine Frage der Generation?
ger eindeutig aus. Die Materialist:innen zeigen die           Die Rolle sozio­demo­gra­
geringste Veränderungsbereitschaft: 43 Prozent der            fischer Merkmale
Befragten in diesem Milieu bejahen die Notwendig-
keit eines Wandels; damit ist diese Meinung hier nicht    Die Aufmerksamkeit, die die „Fridays for Future“-
mehrheitsfähig. Das ist in keinem anderen Wertemi-        Bewegung erfährt, hat den Eindruck hinterlassen,
lieu der Fall. Die Diskrepanz zu den Humanist:innen       Klimawandel und Klimaschutz bewegten vor allem
und Sicherheitsorientierten, die die größte Dringlich-    die jüngeren Generationen in Deutschland. Die Er-
keit des Handelns sehen, ist mit 35 Prozentpunkten        gebnisse unserer Studie zeigen jedoch, dass das Alter
besonders drastisch.                                      bei der Wahrnehmung des Klimawandels und der
                                                          Bereitschaft zu tiefgreifenden Veränderungen keine
In der Zusammenschau lässt sich festhalten, dass vor      signifikante Rolle spielt. In der Gruppe der 16- bis
allem Materialist:innen den Konsens nicht mittragen,      29-Jährigen sind mit 79 Prozent zwar mehr Men-
dass ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel         schen als im Durchschnitt (72 Prozent) der Meinung,
nötig ist, um den Klimawandel aufzuhalten. Sie glau-      dass tiefgreifende Veränderungen nötig sind. Aber
ben entweder an die Regenerationskraft der Natur          auffällige Differenzen zwischen den Generationen
oder setzen auf den technologischen Fortschritt, sind     zeigen sich nicht. Klimaschutz ist offenbar ein Anlie-
aber vergleichsweise wenig bereit, klimapolitisch mo-     gen, das alle Altersgruppen verbindet.
tivierte gesellschaftliche Veränderungen mitzutragen.
Die gegenteilige Haltung verkörpern die Sicherheits-      Die Betrachtung weiterer sozioökonomischer Fakto-
orientierten: Hier ist die Bereitschaft zu tiefgreifen-   ren lässt erkennen, dass einzig der Bildungsgrad einen
den Maßnahmen besonders stark ausgeprägt und nur          signifikanten, aber mäßigen Effekt auf die Haltungen
wenige glauben an eine sich selbst regenerierende         zum Klimawandel hat. So sind Befragte mit einem
Natur oder technologische Wege zur Bewältigung            niedrigen Bildungsniveau eher der Meinung, die
des Klimawandels. Das liegt auf den ersten Blick nicht    Natur könne sich selbst regenerieren (32 Prozent).
nahe, da die sicherheitsorientierte Werthaltung sich      Unter Befragten mit Hochschulreife halbiert sich die-
eher durch ein Festhalten an Bestehendem und Kon-         ser Anteil und beträgt nur noch 16 Prozent. Unter
servatismus auszeichnet. Aber gerade dieser Wunsch        den Niedriggebildeten setzen zudem mit 34 Prozent
nach Bewahrung und die Sorge, dass die natürlichen        überdurchschnittlich viele auf den technischen Fort-
Lebensgrundlagen auf unserem Planeten langfristig         schritt. Höher Gebildete sind zudem eher der Mei-
zerstört werden könnten, scheinen hier eine ausge-        nung, dass ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wan-
prägte Veränderungsbereitschaft zu aktivieren.            del erforderlich ist (76 Prozent). In der Gruppe mit

                                                                                                                   15
Haltungen zum Klimaschutz

     ABBILDUNG 2 Einstellungen zum Klimawandel nach Bildungsniveau (Zustimmung in Prozent)

                                                                                    16
                                 Die Natur regeneriert sich selbst.                           26
                                                                                                    32

                                                                                             25
              Der technische Fortschritt wird die Probleme lösen.                              27
                                                                                                      34

                                                                                                                                                76
  Es ist ein tiefgreifender Wandel der Gesellschaft erforderlich.                                                                     68
                                                                                                                                        70

                                                                   0        10       20        30          40     50        60       70         80   90   100

        hohes Bildungsniveau              mittleres Bildungsniveau               niedriges Bildungsniveau

     Niedriges Bildungsniveau entspricht max. Hauptschulabschluss, mittleres Bildungsniveau reicht von mittlerer Reife bis Fachhochschulreife
     und hohes Bildungsniveau umfasst Hochschulreife bzw. Abitur.
     Quelle: BSt-Wertestudie 2021, Basis: N=1.012

               mittlerem Bildungsgrad liegt dieser Anteil bei 68 Pro-                    den. Dass sich dies inzwischen deutlich verändert
               zent, unter den Niedriggebildeten bei 70 Prozent.                         hat, lässt auch eine Aufschlüsselung unserer Studien­
                                                                                         ergebnisse nach Parteineigung erkennen. Demnach
               Offenbar fördert ein höherer Bildungsgrad eine dif-                       spielt das Thema Klimaschutz, wenig überraschend,
               ferenziertere Auseinandersetzung mit den komple-                          vor allem für Anhänger:innen der GRÜNEN eine zen-
               xen Zusammenhängen der globalen Erderwärmung.                             trale Rolle – von ihnen sind 92 Prozent der Meinung,
               Auf der anderen Seite spricht die relativ hohe Zu-                        dass es tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderun-
               stimmung in allen Bildungsgruppen dafür, dass Auf-                        gen bedarf, um den Klimawandel aufzuhalten. Hier
               klärungskampagnen, die die Klimafolgen allgemein                          kommen auch Erwartungen an die Politik zum Aus-
               verständlich erläutern, auch weniger Informierte er-                      druck. Unter den Anhängerinnen und Anhängern
               reichen können.                                                           der Partei DIE LINKE (86 Prozent) – aber auch der
                                                                                         SPD (81 Prozent) – sind die Werte ebenfalls über-
               Insgesamt zeigen die Analysen jedoch, dass der Ein-                       durchschnittlich hoch. Selbst Befragte, die der CDU/
               fluss sozioökonomischer Faktoren auf die Haltungen                        CSU zugeneigt sind, sprechen sich mit großer Mehr-
               zum Klimaschutz eher gering ist. Damit bestätigen die                     heit (73 Prozent) für Veränderungen und damit kon-
               Ergebnisse dieser Untersuchung die Befunde anderer                        sequentes politisches Handeln aus. Aus diesem re-
               Studien zum Thema (Poortinga et al. 2018; Droste                          lativ parteiübergreifenden Konsens fallen vor allem
               und Wendt 2021).                                                          Anhänger:innen der AfD heraus: Von ihnen zeigt nicht
                                                                                         einmal ein Drittel eine grundlegende Veränderungs-
                                                                                         bereitschaft, dem Klimawandel zu begegnen. Das ent-
               2.3	Relativ breiter Konsens – der                                        spricht der Rhetorik der Partei, die den menschen-
                    Einfluss von Partei­präferenzen                                      gemachten Klimawandel in Zweifel zieht und ihren
                                                                                         Wählerinnen und Wählern vermittelt, dass sie ihren
               In den öffentlichen Debatten der letzten Jahre wurde                      gewohnten Lebensstil nicht ändern müssen. Folglich
               der Klimaschutz vor allem als Anliegen des linken po-                     finden hier die Haltung, die Natur könne sich selbst
               litischen Spektrums eingeordnet und insbesondere                          regenerieren, und der Glaube an den technologischen
               mit der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verbun-                              Fortschritt viel Zuspruch.

16
Haltungen zum Klimaschutz

ABBILDUNG 3 Einstellungen zum Klimawandel nach Parteineigung (Zustimmung in Prozent)
 100
   90                                                                                                                  92
   80                                                                                              86
                                        81
   70            73                                        62                                                                          72
   60                                                                         51
   50                                                      55
   40            32                                                           46
                                        30
                                                                                                                                       27
   30                                                      32                 30                   18
   20            23                                                                                                    13
                                        20                                                                                             22
   10                                                                                              13
                                                                                                                        9
    0
             CDU/CSU                SPD                   AfD                FDP               DIE LINKE         BÜNDNIS 90/         Gesamt
                                                                                                                 DIE GRÜNEN

   Es ist ein tiefgreifender Wandel der Gesellschaft erforderlich.            Der technische Fortschritt wird die Probleme lösen.
   Die Natur regeneriert sich selbst.

Zustimmung (stimme voll und ganz zu / stimme eher zu) in Prozent zu den drei Aussagen „Es müssen keine großen Anstrengungen unter­
nommen werden, weil der Klimawandel ein natürliches Phänomen ist und die Natur sich selbst regeneriert“, „Mit zunehmendem techno­
logischem Fortschritt werden wir auch den Klimawandel bewältigen, ohne dass wir unser Leben groß ändern müssen“ und „Um den Klima­
wandel zu bewältigen, brauchen wir in Deutschland tiefgreifende gesellschaftliche und soziale Veränderungen“.
Quelle: BSt-Wertestudie 2021, Basis: N=1.012

          Eine mittlere und tendenziell gespaltene Position
          nehmen Befragte ein, die der FDP zuneigen. Rund
          die Hälfte von ihnen sieht tiefgreifende Veränderun-
          gen als erforderlich an; die andere Hälfte setzt hinge-
          gen auf technologischen Fortschritt zur Bewältigung
          der Klimakrise und zeigt eine geringe Veränderungs-
          bereitschaft. Auch diejenigen, die den Klimawandel
          für ein natürliches Phänomen halten und davon aus-
          gehen, die Natur werde sich selbst regenerieren, sind
          unter den FDP-Anhängerinnen und -Anhängern mit
          30 Prozent vergleichsweise stark vertreten.

          Eine genauere Analyse der FDP-Anhänger:innen, die
          eine tiefgreifende ökologische Modernisierung be-
          fürworten, lässt zudem erkennen, dass nicht alle das
          Gleiche damit meinen. Rund die Hälfte von ihnen
          versteht unter dem geforderten gesellschaftlichen
          Wandel eben jenen technologiegetriebenen Innova-
          tionsprozess und sieht somit zwischen beiden Ant-
          wortmöglichkeiten keinen grundsätzlichen Wider-
          spruch.

                                                                                                                                              17
Zusammenleben in Vielfalt

18
3. Zusammenleben in Vielfalt

   Globalisierung und Zuwanderung haben in den                  In der vorliegenden Befragung haben wir diesen letz-
   vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen, dass               ten Aspekt weiter differenziert und danach gefragt,
   Deutschland vielfältiger geworden ist: Hier leben            inwieweit die kulturelle Anpassung mit der Vorstel-
   Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen und              lung einer Leitkultur als Maßstab verbunden wird.
   religiöser Überzeugungen, unterschiedlicher Her-             Außerdem analysieren wir genauer, welche Rolle per-
   kunft und kultureller Traditionen zusammen. Diese            sönliche Werthaltungen bei den Vorstellungen eines
   Vielfalt wird zunehmend als gesellschaftliche Norma-         gelingenden Zusammenlebens spielen.
   lität anerkannt. Das belegt etwa der jüngste Radar
   gesellschaftlicher Zusammenhalt, der eine Zunahme            Die Befragten konnten den folgenden Aussagen auf
   der Akzeptanz von Diversität in den Jahren 2017 bis          einer vierstufigen Skala „voll und ganz“, „eher“, „eher
   2020 feststellt (Brand, Follmer und Unzicker 2020).          nicht“ oder „gar nicht“ zustimmen:
   Die Ergebnisse einer aktuellen Studie des Pew Re-
   search Center (Silver et al. 2021) zeigen, dass die          •	
                                                                  Gesetze alleine reichen nicht. Unsere deutschen
   Deutschen ihre nationale Identität immer weniger                 Traditionen, die deutsche Kultur sollte Richt-
   restriktiv verstehen. In Deutschland halten es heute             schnur sein für alle.
   nur noch 25 Prozent der Befragten für notwendig,
   tatsächlich im Land geboren zu sein, um deutsch zu           •	
                                                                  Zu viel Vielfalt gefährdet den Zusammenhalt.
   sein; 2016 waren es noch 34 Prozent. Zugleich ist die
   Offenheit für Veränderungen gestiegen: 59 Prozent            •	
                                                                  Vielfalt sollte vornehmlich aus dem westlichen
   der Befragten stimmen inzwischen der Aussage zu,                 Kulturkreis kommen.
   dass Deutschland in Zukunft besser dastehen wird,
   wenn das Land in seinen Traditionen und Lebensfor-           •	
                                                                  Solange sich alle im Rahmen des Grundgesetzes
   men offen für Veränderungen ist.                                 bewegen, kann ein Zusammenleben in Vielfalt
                                                                    gelingen.
   Ergebnisse des Religionsmonitors zum Zusammenleben
   in kultureller Vielfalt (Benoit, El-Menouar und Helbling     •	
                                                                  Wenn wir uns auf für alle verbindliche Regelun-
   2018) bestätigen diese Befunde. Sie belegen, dass sich           gen einigen können, haben wir eine gute Grund-
   die Vorstellungen der Menschen über ein gelingendes              lage für gesellschaftliche Vielfalt.
   Zusammenleben in Vielfalt im Generationenverlauf
   verändern. So wünschen sich die unter 25-Jährigen            •	
                                                                  Wir müssen offen sein für die Vielfalt der Men-
   in Deutschland, egal ob mit oder ohne Migrationsge-              schen, ihre Herkunft, Kultur und Religion, und
   schichte, bereits heute mehrheitlich (55 Prozent) ein            darauf Rücksicht nehmen. Es kommt auf Respekt
   stärkeres Zusammenwachsen der Kulturen. Insgesamt                und Anerkennung an.
   spricht sich allerdings lediglich rund ein Drittel der Be-
   fragten für ein Zusammenwachsen aus, und es domi-            Für die Auswertung wurden jeweils drei dieser Aus­
   niert mit 52 Prozent die Vorstellung, dass sich die Ein­     sagen zu einem Index zusammengefasst: Ein Index
   gewanderten kulturell an die Mehrheit anpassen.              (gebildet aus den ersten drei Aussagen) misst den

                                                                                                                          19
Zusammenleben in Vielfalt

 ABBILDUNG 4 Vier Vorstellungen von Zusammenleben in Vielfalt

                                                                                   Zustimmung zu einer leitkulturellen Anpassung

                                                                                      –                                     +

                                                                                                                       Offenheit für
                                                +                        Offenheit für breite Vielfalt
                                                                                                                  eingeschränkte Vielfalt
        Zustimmung zu
         einem offenen
      Vielfaltsverständnis
                                                                                                                      Offenheit für
                                                –                          Ablehnung von Vielfalt
                                                                                                                    angepasste Vielfalt

     Quelle: eigene Darstellung

               Grad der Zustimmung zu einer leitkulturellen Anpas-             mehr ethnisch beziehungsweise mit Abstam-
               sung. Der zweite Index (gebildet aus den letzten drei           mungskriterien begründet. Auch Menschen mit
               Aussagen) liefert die Messgrundlage für ein Verständ-           Migrationsbezügen können Teil dieser Gesell-
               nis von Vielfalt, dem primär durch das Grundgesetz ein          schaft sein, wenn sie sich an das deutsche Ideal
               Rahmen gesetzt ist und bei dem es vor allem um ge-              anpassen.
               genseitige Anerkennung und Respekt geht. Durch die
               Kombination der beiden Indizes in ihren unterschied­       4.	Ablehnung von Vielfalt: Gesellschaftliche Viel-
               lichen Ausprägungen werden vier Vorstellungen von               falt ist in dieser Sichtweise nicht vorgesehen.
               gelingendem Zusammenleben in Vielfalt sichtbar:
                                                                          Die Ergebnisse zeigen, dass fast die Hälfte (48 Pro-
               1.	Offenheit für breite Vielfalt: Unterschiedliche        zent) und damit der größte Teil der Befragten für eine
                    religiöse und kulturelle Traditionen werden aner-     breite Vielfalt offen ist. Dicht darauf folgt die Aner-
                    kannt, solange sie sich im Rahmen der Verfassung      kennung einer eingeschränkten Vielfalt mit einem An-
                    bewegen. Innerhalb dieses Rahmens gibt es keine       teil von 40 Prozent. Die Vorstellung einer angepass-
                    Anpassungserwartungen. Gegenseitiger Respekt          ten Vielfalt vertritt nur eine Minderheit (9 Prozent).
                    und wechselseitige Anerkennung werden als             Verschwindend gering ist mit 2 Prozent der Anteil
                    Grund­­pfeiler eines gelingenden Zusammenlebens       derer, die sich gegen eine vielfältige Gesellschaft aus-
                    angesehen.                                            sprechen. Auch unserer Studie zufolge erkennt also
                                                                          eine große Mehrheit der Menschen hierzulande an,
               2.	Offenheit für eingeschränkte Vielfalt: Hier            dass Deutschland ein vielfältiges Einwanderungsland
                    stellt der grundgesetzliche Rahmen zwar eine          ist. Unterschiedliche Meinungen gibt es allerdings in
                    notwendige, aber noch keine hinreichende Be-          Bezug auf die Frage, was mit dieser Vielfalt gemeint
                    dingung für ein gelingendes Zusammenleben dar.        ist und ob die Ausprägung einer vielfältigen Gesell-
                    Daher wird hier für eine „vertraute“ Vielfalt plä-    schaft stärker gesteuert werden sollte.
                    diert, die sich an hiesigen Traditionen orientiert
                    und im westeuropäischen Kontext bewegt.               Inwieweit die Wahrnehmung von gesellschaftlicher
                                                                          Vielfalt durch persönliche Werthaltungen geprägt
               3.	Offenheit für angepasste Vielfalt: Nach dieser         wird, illustriert Abbildung 5. Hier werden zum Teil
                    Vorstellung ist nach wie vor eine homogene Ge-        deutliche Differenzen zwischen den unterschied­
                    sellschaft das Ideal; allerdings wird dieses nicht    lichen Wertemilieus sichtbar.

20
Zusammenleben in Vielfalt

ABBILDUNG 5 Sieben Wertemilieus und ihre Offenheit gegenüber kultureller Vielfalt (in Prozent)

             Idealist:innen                                           63                                                                 33                                   4

          Humanist:innen                                               64                                                              28                             8           1

         Materialist:innen              18                                     42                                                           38                                2

    Beziehungsmenschen                            36                                                        48                                           9                7

    Sicherheitsorientierte                                   50                                                               42                                      7           1

     Leistungsorientierte                           38                                                              55                                                4       3

Selbstverwirklicher:innen                                        54                                                            36                                 7           2

                   Gesamt                                   48                                                           40                                   9               2

                               0         10            20             30         40            50           60            70                80           90                   100
   offen für breite Vielfalt          offen für eingeschränkte Vielfalt             offen für angepasste Vielfalt             nicht offen für Vielfalt

Zu den vier unterschiedlichen Kategorien von Offenheit für Vielfalt und wie sie gebildet wurden siehe S. 19 f., insbesondere Abbildung 4.
Die Werte summieren sich aufgrund von Rundungen nicht in jedem Fall auf 100 Prozent.
Quelle: BSt-Wertestudie 2021, Basis: N=1.012

          Wenig überraschend plädieren vor allem die Idea­lis­                        Beziehungsmenschen und Leistungsorientierte ste-
          t:innen und Humanist:innen für eine Anerkennung von                         hen einer Offenheit für kulturelle Vielfalt ebenfalls
          religiöser und kultureller Diversität; jeweils rund zwei                    skeptisch gegenüber. Auch sie sind der Meinung, dass
          Drittel der Befragten in diesen Gruppen sind offen                          eine eingeschränkte Vielfalt besser handhabbar und
          für eine breite Vielfalt. Aber auch Selbst­ver­wirk­liche­                  daher über den gesetzlichen Rahmen hinaus ein Wer-
          r:innen und Sicherheitsorientierte zeigen sich mehr-                        terahmen im Sinne einer Leitkultur geboten ist.
          heitlich offen dafür. Am wenigsten teilen diese Sicht-
          weise die Materialist:innen; von ihnen gehen lediglich
          18 Prozent davon aus, dass ein Zusammenleben in Viel-                       3.1	Grenzen der Toleranz – das
          falt gelingen kann, wenn unterschiedlichen Kulturen                              Beispiel Kopftuch
          und Religionen ein möglichst großer Freiraum im Rah-
          men der Verfassung gewährt wird. Im materialistischen                       Die dargestellten Befunde machen deutlich, dass es
          Wertemilieu sind zwei Vorstellungen dominant und fast                       bei der Debatte um gesellschaftliche Vielfalt weni-
          gleichauf vertreten: zum einen die Überzeugung, dass                        ger um eine Entweder-oder-Option geht. Vielmehr
          ein Zusammenleben lediglich in eingeschränkter Viel-                        lässt sich ein Spektrum an Meinungen ausmachen,
          falt – also mit Menschen, die zwar unterschiedliche Mi-                     innerhalb dessen abgestufte Schwellen von Toleranz
          grationsbezüge aufweisen, sich aber kulturell recht                         unterscheidbar sind. Dies belegen auch die Studien
          ähnlich sind – gelingen kann (42 Prozent). Zum anderen                      des Religionsmonitors. Insgesamt weisen dessen Er-
          sind in diesem Milieu restriktivere Einstellungen zu ge-                    gebnisse darauf hin, dass die Anerkennung von Viel-
          sellschaftlicher Vielfalt verbreitet: 38 Prozent sind der                   falt für viele Menschen vor allem bei sichtbar nach
          Meinung, dass ein Zusammenleben nur gelingen kann,                          außen gelebter Religion deutliche Grenzen findet
          wenn sich Eingewanderte an die hiesige Kultur und Tra-                      (Bertelsmann Stiftung 2019).
          ditionen anpassen. Zu viel Vielfalt schwäche dagegen
          den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

                                                                                                                                                                                      21
Zusammenleben in Vielfalt

         Ein Beispiel ist das Kopftuch von Musliminnen, über              nehmen. Weitere 30 Prozent erkennen das Kopftuch
         das in Deutschland seit mehr als 20 Jahren gestritten            als Teil gesellschaftlicher Normalität auch bei Kinder-
         wird. Dabei wird es nur von rund einem Drittel der               gärtnerinnen an.
         hier lebenden Musliminnen tatsächlich immer in der
         Öffentlichkeit getragen (Pfündel, Stichs und Tanis               Differenziert nach Wertemilieus ergibt sich folgen-
         2021, 119). Trotzdem bildet dieses Stück Stoff eine              des Bild: Lediglich die Materialist:innen sprechen sich
         Projektionsfläche für generelle Vorurteile gegenüber             deutlich gegen das Kopftuch aus; fast zwei Drittel
         dem Islam. Damit ist das Kopftuch in Deutschland                 lehnen es grundsätzlich ab und weitere 17 Prozent
         nicht nur zu einem Symbol des Misstrauens gegen-                 sind dagegen, dass Kinder in Betreuungseinrichtun-
         über Muslim:innen geworden, sondern auch ein kon-                gen auf diese Weise mit Religion konfrontiert wer-
         kreter Anlass für Diskriminierungen der Frauen, etwa             den. Am ehesten befürwortet wird das Kopftuch
         bei der Wohnungs- oder Stellensuche (Weichselbau-                von Humanist:innen und Idealist:innen; hier sind je-
         mer 2016). Einer pauschalen Kritik an der Sichtbar-              weils rund 40 Prozent der Meinung, dass in einer of-
         keit praktizierter Religiosität steht die Überzeugung            fenen Gesellschaft selbstverständlich auch Frauen
         gegenüber, dass öffentlich gelebte Religion auch Teil            mit Kopftuch in Kindergärten arbeiten sollten. Etwas
         der pluralistischen Gesellschaft ist und sein sollte. Sie        mehr als 20 Prozent sagen jeweils, dass das Kopftuch
         kann dazu beitragen, dass religiöse Vielfalt stärker als         zumindest hinzunehmen ist. In allen anderen Werte-
         gesellschaftliche Normalität wahrgenommen wird.                  milieus halten sich Ablehnung und Befürwortung die
         Insofern wird im Folgenden auch nach den Einstel­                Waage. Die Polarisierung bei dieser Frage lässt sich
         lungen zum islamischen Kopftuch in den unterschied-              also nicht allein auf gesamtgesellschaftlicher Ebene
         lichen Wertemilieus gefragt.                                     ausmachen, sondern zieht sich durch sämtliche Be-
                                                                          völkerungsgruppen – auch durch Milieus, die grund­
         Dabei haben wir bewusst auf Debatten zum Kopftuch                legende Wertvorstellungen miteinander teilen.
         in der Arbeitswelt Bezug genommen, um den Maß-
         stab relativ hoch anzusetzen. So haben wir danach                Während die persönliche Werthaltung eine entschei-
         gefragt, inwieweit aus Sicht der Befragten bei Kinder­           dende Rolle für die grundsätzliche Offenheit und den
         gärtnerinnen in nicht staatlichen1 Betreuungseinrich-            Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt spielt, ist vor
         tungen das Kopftuch erlaubt sein sollte. Hierbei fallen          allem das Alter entscheidend bei der Frage, wie in-
         die Antworten insgesamt, aber auch in den verschie-              klusiv das Vielfaltsverständnis in einer offenen Ge-
         denen Wertemilieus wenig eindeutig aus.                          sellschaft gefasst wird. So sind es insbesondere die
                                                                          jüngsten Befragten, die das Kopftuch auch in Betreu-
         Insgesamt lassen sich die Befragten in zwei relativ              ungseinrichtungen befürworten – es also entweder
         gleich große Gruppen teilen, von denen die eine das              tolerieren oder sogar anerkennen. Insgesamt spre-
         Kopftuch (eher) befürwortet, die andere es (eher)                chen sich unter den 18- bis 29-Jährigen drei von vier
         ablehnt: 29 Prozent lehnen es grundsätzlich ab, und              Befragten für das Kopftuch aus. Vermutlich spielen
         jede:r Fünfte vertritt eine eher laizistische Sichtweise,        hierbei persönliche Erfahrungen eine große Rolle. Die
         wonach Kinder in einer Bildungseinrichtung nicht in              jüngere Generation ist in einer vielfältigen Gesell-
         der Weise mit Religion konfrontiert werden sollten.              schaft aufgewachsen, in der das islamische Kopftuch
         Auf der anderen Seite plädieren 21 Prozent für eine              längst zum selbstverständlichen Alltag gehört. Auch
         tolerante Haltung und sind der Meinung, man müsse                Altersgenossinnen tragen es, die nicht fremd, sondern
         das Selbstbestimmungsrecht von Frauen akzeptieren                beispielsweise Mitschülerin oder Kommilitonin sind.
         und das Kopftuch auch bei Kindergärtnerinnen hin-                Solche sozialen Kontakte erleichtern es, individuelle
                                                                          Entscheidungen für das Kopftuch nachzuvollziehen
         1	In staatlichen Einrichtungen spielen Fragen der staatlichen   und sich von pauschalen Vorstellungen zu lösen.
            Neutralität eine Rolle; um diese beiden Debatten nicht zu
            vermengen, haben wir hier bewusst nach nicht staatlichen
            Einrichtungen gefragt.

22
Zusammenleben in Vielfalt

ABBILDUNG 6 S
             ieben Wertemilieus und ihre Haltungen zum Kopftuch bei Kindergärtnerinnen in freien Einrichtungen
            (in Prozent)

            Idealist:innen                              41                                   21                          16                  22

          Humanist:innen                               39                                  22                            20                   19

        Materialist:innen        6          14                17                                                    63

    Beziehungsmenschen                       27                             23                          19                             31

   Sicherheitsorientierte                         33                                  22                       20                            25

     Leistungsorientierte               23                            25                                25                                   27

Selbstverwirklicher:innen                        31                              19                      21                             29

                  Gesamt                         30                              21                      20                             29

                             0         10              20       30           40            50           60           70           80          90       100
   Das Kopftuch ist Teil der gesellschaftlichen Normalität. (Anerkennung)         Das Kopftuch sollte man auch bei Kindergärtnerinnen hinnehmen. (Toleranz)
   Das Kopftuch lehne ich bei Kindergärtnerinnen ab, nicht im Privatleben. (Laizismus)          Das Kopftuch lehne ich grundsätzlich ab. (Ablehnung)

Die Werte summieren sich aufgrund von Rundungen nicht in jedem Fall auf 100 Prozent.
Quelle: BSt-Wertestudie 2021, Basis: N=1.012

          3.2	Vielfältige Nachbarschaft –                                        schätzen; die andere Befragte, die ihr Wohnumfeld
               die Wirkung von Erfahrungen                                        als überdurchschnittlich vielfältig einschätzen. Die in
                                                                                  Abbildung 7 dargestellten Ergebnisse zeigen, wie sich
          Dem Einfluss von Erfahrungen wollen wir im Folgen-                      in den unterschiedlichen Wertemilieus die Offenheit
          den weiter nachgehen. Eine kürzlich erschienene                         für eine breite Vielfalt (siehe oben) unterscheidet – je
          Studie des Woolf Institute (Hargreaves et al. 2020)                     nachdem, wie vielfältig ihr Wohnumfeld ist.
          zur ethnischen, nationalen und religiösen Vielfalt in
          England und Wales kommt zu dem Ergebnis, dass die                       Insgesamt wird deutlich, dass die Offenheit für eine
          Bewertung gesellschaftlicher Vielfalt stark davon ab-                   breite Vielfalt tatsächlich zunimmt, wenn Befragte ihr
          hängt, ob die eigene Wohngegend vielfältig ist und als                  persönliches Wohnumfeld als vielfältig erleben – der
          vielfältig wahrgenommen wird. Dann fallen die Ein-                      Anteil steigt von 45 Prozent auf 51 Prozent. Der Blick
          stellungen zur gesamtgesellschaftlichen Vielfalt deut-                  auf die einzelnen Wertemilieus lässt jedoch erkennen,
          lich positiver aus. Die Forscherinnen und Forscher                      dass sich dieses Muster nicht gleichermaßen durch
          deuten die Ergebnisse dahin gehend, dass freund-                        alle Milieus zieht. Der beschriebene Effekt zeigt sich
          schaftliche Kontakte in der Nachbarschaft dazu bei-                     vor allem in den Wertemilieus, deren Weltsicht be-
          tragen, Vorurteile abzubauen.                                           reits durch eine grundsätzliche Offenheit anderen
                                                                                  Menschen und Kulturen gegenüber geprägt ist. So
          Deswegen richten wir jetzt den Blick auf die Frage,                     steigt die Zustimmung zu einem weit gefassten Tole­
          welchen Einfluss die Wahrnehmung der Vielfalt im                        ranz­verständnis unter Humanist:innen, Selbst­ver­
          eigenen Wohnumfeld in den unterschiedlichen Wer-                        wirklicher:innen und auch Sicherheitsorientierten
          temilieus hat. Dafür haben wir die Befragten in zwei                    um jeweils rund 10 Prozentpunkte an, wenn sie ihre
          Gruppen unterteilt: Die eine umfasst Befragte, die ihr                  Werte durch persönliche Erfahrungen im eigenen
          Wohnumfeld als unterdurchschnittlich vielfältig ein-                    Umfeld bestätigt sehen. Überraschend ist, dass auch

                                                                                                                                                              23
Zusammenleben in Vielfalt

     ABBILDUNG 7 Offenheit für eine breite Vielfalt nach Vielfalt im eigenen Wohnumfeld (in Prozent)
       100
        90
        80
                                     69
        70        62     64
                                            58                                                                                      59
        60                                                                                    54
                                                                                                                                           49     51
        50                                                                 43                        45                                                45
                                                                                                                 37     39
        40
                                                                                  30
        30                                                     22
        20
                                                        10
        10
         0
               Idealist:innen    Humanist:innen Materialist:innen        Beziehungs-        Sicherheits-        Leistungs-       Selbstverwirk-   Gesamt
                                                                          menschen           orientierte        orientierte       licher:innen

         überdurschnittlich vielfältiges Wohnumfeld                 unterdurchschnittlich vielfältiges Wohnumfeld
     Zu den vier unterschiedlichen Kategorien von Offenheit für Vielfalt und wie sie gebildet wurden siehe S. 19 f., insbesondere Abbildung 4.
     Die Vielfalt des Wohnumfelds wurde mit folgender Frage erhoben: „Nun zu einem anderen Thema. Deutschland zeichnet sich heute durch
     eine gesellschaftliche Vielfalt aus. Menschen aus unterschiedlichen Ländern, unterschiedlicher Kultur und Religion leben hier zusammen.
     Wenn Sie nun an Ihren eigenen Wohnort denken: Wie vielfältig ist Ihr Wohnumfeld?“; Antwortskala: 0 = „gar nicht vielfältig“ bis 10 = „sehr
     vielfältig“; Kategorien: Befragte, die ihr Wohnumfeld als überdurchschnittlich/unterdurchschnittlich vielfältig bewerten (Abweichungen
     vom Mittelwert)
     Quelle: BSt-Wertestudie 2021, Basis: N=1.012

               Beziehungsmenschen deutlich offener für Vielfalt                          schen, die ihr Umfeld als vielfältig bezeichnen, einer
               sind, wenn sie diese in ihrem persönlichen Wohnum-                        breiten Vielfalt noch skeptischer gegenüber. Unter
               feld erleben. Hier steigt der Anteil sogar um 13 Pro-                     ihnen sinkt der Wert deutlich von 22 auf 10 Prozent.
               zentpunkte von 30 auf 43 Prozent an. Dies unter-
               mauert erneut, wie wichtig soziale Kontakte und                           Diese Befunde untermauern erneut, dass die Wert-
               persönliche Erfahrungen gerade für die Einstellungen                      haltungen persönliche Erfahrungen einordnen und
               der Beziehungsmenschen sind. Für sie spielen prin-                        rahmen; Menschen, die ohnehin eine große Offenheit
               zipielle Werthaltungen eine geringere Rolle bei der                       gegenüber Vielfalt mitbringen, fühlen sich durch per-
               Wahrnehmung der Welt.                                                     sönliche Erfahrungen positiv, solche mit einer reser-
                                                                                         vierten Haltung negativ bestärkt. Für Wertemilieus,
               Anders stellt sich der Zusammenhang von Erfahrun-                         für die die persönlichen Haltungen stark handlungs-
               gen und Einstellungen zu Vielfalt bei den stark durch                     leitend sind, bleiben jedoch auf persönliche Erfahrun-
               Werte getriebenen Idealist:innen und Leistungsorien-                      gen abzielende Maßnahmen wirkungslos.
               tierten dar. In beiden Milieus spielt die Vielfältigkeit
               des Wohnumfelds für die Offenheit gegenüber brei-
               ter Vielfalt keine Rolle. Das lässt den Schluss zu, dass                  3.3	Bildung als Türöffner – die
               diese beiden Milieus ihre Haltungen weniger von ein-                           Rolle sozioökonomischer
               zelnen persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen ab-                            Faktoren
               hängig machen, die ja gleichermaßen positiv wie ne-
               gativ sein können.                                                        Alter, Einkommen und auch die Region spielen unse-
                                                                                         ren Analysen zufolge keine signifikante Rolle bei der
               Auch für Materialist:innen spielt die persönliche                         Frage, wie die Menschen auf das Thema Vielfalt bli-
               Wert­haltung eine entscheidende Rolle bei der Wahr-                       cken und wie offen sie dafür sind. Allein die Bildung
               nehmung von Vielfalt: In diesem Milieu stehen Men-                        zeigt einen signifikanten Effekt: Mit zunehmender

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