Januar februar märz april mai juni juli august september oktober november 21 dezember - Arsenal Berlin

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januar februar märz april mai juni juli august september oktober november 21 dezember

                                                    arsenal
                                                     institut für film und videokunst e.V.
2   november 21 inhalt

                                   Künstlerinnenprogramm    > 17

                                                                    Farewell
                                                                    Until the Next War       > 28

                                   AFRIKAMERA 2021:
                                   Urban Africa, Urban Movies –
                                   Youth & Youth Culture     > 18

Film Restored
Das Filmerbe-Festival       >4

                                                                    Großes Kino, kleines Kino:
                                                                    #47 und #48                > 29

                                                                    Learning from Cinema 16
                                   Werkschau                        & SchulKinoWochen       > 29
                                   Helma Sanders-Brahms     > 22

„The gatekeepers exist to be
 overthrown.“ Amos Vogel –
 ­Reprisen und Repliken (II) > 8

                                                                     arsenal 3
                                   Werkschau Leos Carax     > 25     Werke von diesjährigen
                                                                     ­Stipendiatinnen aus dem
                                                                    ­Arsenal-Verleih          > 30
                                   Buchpräsentation:
                                   Moments of Rupture: Space,
                                   ­Militancy & Film        > 28
editorial november 21 3

                                  Wie in jedem Monat findet sich in unserem November-Pro-
                                  gramm Zeitgenössisches sowie Historisches, steht Main-
                                  stream neben Experimentellem. Besonders aufschluss-
                                  reich ist es, wenn sich Verbindungslinien ziehen lassen,
                                  Einflüsse erkennbar werden, Filme miteinander zu kom-
                                  munizieren beginnen. Die Beziehungen zwischen der US-
                                  amerikanischen und europäischen Kinokultur und der fil-
                                  mischen Avantgarde der 60er Jahre etwa lassen sich im
                                  Amos Vogel (1921–2012) gewidmeten Programm studieren.
                                  Reprisen von Programmen mit amerikanischen Experi-
                                  mentalfilmen, die der New Yorker Filmkurator Vogel 1965 in
                                  der Berliner Kongresshalle (heute das Haus der Kulturen
                                  der Welt) vorstellte, lassen den Stellenwert erahnen, den
                                  diese New Yorker Programme für das damalige Berliner
                                  Publikum hatten.
Neu                               Bei der Präsentation von Filmprojekten im Rahmen des von
bei arsenal distribution   > 31   der Senatsverwaltung für Kultur und Europa geförderten
                                  Künstlerinnenprogramms zeigen Stipendiatinnen ihre
Kalendarium                > 32   Filmprojekte, die sich zumeist noch im Entstehungsstadi-
                                  um befinden. In Werkstattgesprächen werden die Arbeiten
                                  diskutiert und künstlerische Ansätze reflektiert. Neben
Impressum                  > 39   diesen ganz neuen Projekten können beim jährlich statt-
                                  findenden und von der Deutschen Kinemathek organisier-
                                  ten Festival Film Restored restaurierte Filme gesehen
                                  werden, die damit ein „neues“ Leben erhalten. Der The-
                                  menschwerpunkt widmet sich dieses Jahr der filmischen
                                  Repräsentation von Exil, Emigration und Flucht.
                                  Like in every month, the program this November includes
                                  contemporary and historical, mainstream and experimen-
                                  tal works. It is particularly appealing when connections can
                                  be made and influences detected, and when films start to
                                  communicate with each other.
                                  As part of the artists’ program funded by the Senate De-
                                  partment for Culture and Europe scholarship holders pres-
                                  ent film projects that are mostly still in the development
                                  phase. The projects and artistic approaches are then dis-
                                  cussed in workshops. Ihr Arsenal-Team
4   november 21 film restored – das filmerbe-festival

                                                                            PALERMO ODER WOLFSBURG
                                                                        (Werner Schroeter, BRD/CH 1980)

                                                                IL VALORE DELLA DONNA È IL SUO SILENZIO
                                                                          (Gertrud Pinkus, CH/BRD 1980)

Film Restored
Das Filmerbe-Festival
Flucht- und Migrationserfahrungen prägen           in doppeltem Sinne deutlich: Die aus Süditalien
nicht nur die Realität, sondern auch 125 Jahre     weiter wirkende Schweigepflicht (Omertà) ver-
Filmgeschichte. Sie spiegeln sich in Biografien,   bot es den Protagonistinnen, vor die Kamera zu
Produktionsbedingungen und den Geschichten,        treten. Ihre Erzählungen über den Alltag in der
die das Kino erzählt. Unter dem Titel „Cinematic   Fremde sind aus dem Off zu hören und geben
Migrations“ widmet sich die sechste Ausgabe        der Migrationserfahrung eine weibliche Stimme.
des Festivals Film Restored in 18 Filmprogram-     LO STAGIONALE (Alvaro Bizzarri, CH 1971 | 6.11.)
men den vielfältigen internationalen Verflech-     Der aus der und für die Gemeinschaft der Sai-
tungen von Flucht, Auswanderung und Filmge-        sonarbeiter in der Schweiz gedrehte Mobili­
schichte.                                          sierungsfilm schildert die unmenschlichen
PALERMO ODER WOLFSBURG (BRD/CH 1980 |              Beschränkungen des Familiennachzugs am
                                                   ­
3.11.) Werner Schroeters Epos, das in seiner re-   Beispiel eines verwitweten Arbeiters und seines
staurierten Fassung seine Premiere bei der Er-     Sohns mit Anklängen an den italienischen Neo-
öffnung des Festivals erlebt, ist eine Erzählung   realismus.
über Arbeitsmigrant*innen. Das mit dem Golde-      In DÉJÀ S’ENVOLE LA FLEUR MAIGRE (Paul Mey-
nen Bären der Berlinale prämierte Werk verbin-     er, B 1960 | 5.11.) stehen Einwanderer vor der
det Dokumentarisches mit opernhaften Insze-        Kamera, um auf die verheerenden Arbeits- und
nierungen und satirischen Schlaglichtern auf       Lebensbedingungen der Bergleute in der Bori-
die Bundesrepublik und ihren Arbeitsethos. Die     nage-Gegend in Belgien aufmerksam zu ma-
Armutsflucht aus Süditalien ist ein wiederkeh-     chen. Im Zentrum der Erzählung steht ein Junge
rendes Thema in der Filmgeschichte.                mit seinen Erfahrungen als Kind von Einge­
IL VALORE DELLA DONNA È IL SUO SILENZIO            wanderten. Die Lebenswelt der Kinder wird in
(Gertrud Pinkus, CH/BRD 1980 | 7.11.) macht die    diesem Film berührend und authentisch darge-
Unsichtbarkeit der Ehefrauen der Gastarbeiter      stellt. Hier wie dort veranschaulichen die kind-
film restored – das filmerbe-festival november 21 5

lichen Protagonisten als nur sekundär von der         alle aus Nazi-Deutschland geflohenen Film-
Migration der Erwachsenen Betroffene eine             schaffenden konnten in Hollywood Fuß fassen
existenzielle Verletzlichkeit in der oftmals feind-   und dort ihre Karriere aufbauen wie beispiels-
lichen Umgebung. Zugleich künden sie von der          weise Robert Siodmak. Mit THE KILLERS schuf
Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die schwie-        er einen prototypischen Film Noir-Klassiker, der
rigen Arbeits- und Lebensbedingungen der in           den Einfluss der Herkunft des Regisseurs und
den Norden Emigrierten stehen im Zentrum der          des expressionistischen deutschen Kinos der
beiden dokumentarischen Filme LO STAGIONA-            20er Jahre nicht verleugnet.
LE und DÉJÀ S’ENVOLE LA FLEUR MAIGRE.                 DOÑA FRANCISQUITA (Spanien 1934 | 4.11.) Hans
In 300 MIL DO NIEBA (Maciej Dejczer, PL/DK/F          Behrendt verschlug es in das vor-franquistische
1989 | 7.11.) werden die Kinder selbst zu Akteuren    Spanien, wo er zusammen mit anderen Exilanten
und begeben sich auf eine abenteuerliche Reise,       DOÑA FRANCISQUITA drehte – eine Tonfilmope-
um der Perspektivlosigkeit zuhause zu entkom-         rette mit Weimar Touch in spanischem Ambiente.
men, wo ihr Vater als Solidarność-Aktivist von        HORTOBAGY (Georg Höllering, HU 1937 | 6.11.)
den Behörden schikaniert wird.                        Auch der Österreicher Georg Höllering durchlief
ISABEL AUF DER TREPPE (Hannelore Unterberg,           verschiedene Stationen in seinem Exil. Bevor er
DDR 1984 | 7.11.) Einen politischen Hintergrund       endgültig nach Großbritannien übersiedelte,
hat auch die Emigration des zwölfjährigen Mäd-        drehte er in Ungarn den erzählerischen Doku-
chens, das nach dem Putsch in Chile mit ihrer         mentarfilm über die Puszta und ihre Bewoh­ne­
Mutter in die DDR flieht, wo die beiden jahrelang     r*innen, der stark gekürzt ins Kino kam und nun
auf eine Nachricht von Mann und Vater warten.         die Premiere der restaurierten Fassung erlebt.
THE KILLERS (Robert Siodmak, USA 1946 | 4.11.)        INSEL DER DÄMONEN (Friedrich Dalsheim, D 1933
Das politisch bedingte Exil war und ist für die       | 4.11.) ist ein Dokumentarfilm mit Spielhandlung,
internationale Filmgeschichte prägend. Nicht          der nun digital restauriert auf der Leinwand zu
6   november 21 film restored – das filmerbe-festival

 sehen ist. Friedrich Dalsheims ethnografisch ge-     1958 | 6.11.) Ins selbstgewählte Exil ging in den
 nauer „Kulturfilm“ über ein balinesisches Dorf       30er Jahren Lotte Reiniger: In Großbritannien
 und den dort herrschenden Geisterglauben wur-        drehte sie einige ihrer besten Scherenschnitt-
 de zwar sehr positiv in Nazi-Deutschland aufge-      Animationen. Sie greifen Opernthemen auf und
 nommen, dennoch musste der jüdische Filme-           setzen sie in farbenprächtige Trickfilme um.
 macher kurz darauf emigrieren.                       UN CHAPEAU DE PAILLE D’ITALIE (René Clair,
 Ein Programm mit fünf Animationsfilmen (DDR          F 1928 | 6.11.) Wenig bekannt ist, dass die russi-
 1977–1988 | 7.11.) von Kurt Weiler illustriert die   sche Revolution von 1917 ebenfalls einen Mas-
 künstlerische Bandbreite des wichtigsten Avant-      senexodus nicht zuletzt unter Filmschaffenden
 gardefilmers der DDR. Nach 1945 kehrten einige       hervorrief. In Paris gründeten diese „Weißrus-
 Filmschaffende aus dem Exil nach Deutschland         sen“ ein eigenes Filmstudio – das Albatros-
 zurück, so z.B. Kurt Weiler, der in die DDR ging     Studio -, in dem René Clair seine wunderbare
 und bei der DEFA Karriere machte. Andere Re-         Komödie drehte. Das Boulevardstück um den
 migranten versuchten in der BRD Fuß zu fassen        von einem Pferd entwendeten Strohhut einer
– oft wenig erfolgreich. Ein eindrückliches Bei-      verheiraten Dame, die sich mit einem Liebhaber
 spiel hierfür ist Peter Lorres DER VERLORENE         vergnügt, verbindet gekonnt die Tradition fran-
 (BRD 1951 | 7.11.). Der Regisseur spielt in seinem   zösischer Stummfilmkomödien à la Max Linder
 Film einen von Zwangsvorstellungen getriebe-         mit amerikanischem Slapstick.
 nen Wissenschaftler, den seine Nazi-Vergan-          EL DÍA QUE ME QUIERAS (John Reinhardt, USA
 genheit einholt. Das nachkriegsdeutsche Publi-       1935 | 4.11.) Das Festival würdigt darüber hinaus
 kum wollte mit Thema und Machart des Films           auch Produktionen, die gezielt für eine migranti-
 nichts anfangen.                                     sche Community produziert wurden. Stellvertre-
 HELEN LA BELLE (Lotte Reiniger, GB 1957 | 6.11.)     tend wird ein Schlaglicht auf die spanischspra-
 und A NIGHT IN THE HAREM (Lotte Reiniger, GB         chige Filmkultur in den USA geworfen, für die
film restored – das filmerbe-festival november 21 7

                                                      INSEL DER DÄMONEN
                                                      (Friedrich Dalsheim, D 1933)

                                                      DER VERLORENE
                                                      (Peter Lorre, BRD 1951)

                                                      ULKOMAALAINEN
                                                      (Muammer Özer, Schweden/Finnland 1983)

Kinohits mit dem Tango-Star Carlos Gardel ge-         gen, wie Fremdheitserfahrungen mit eigenwilli-
dreht wurden.                                         gen, teils experimentellen Stilmitteln veran-
ULKOMAALAINEN (Muammer Özer, Schweden/                schaulicht und in eine nicht-lineare Narration
Finnland 1983 | 5.11.) setzt die sich ins Wahnhafte   übersetzt werden.
steigernde Entfremdung eines türkischen Land-         Das vielfältige Filmprogramm wird ergänzt
arbeiters in einer Montage von dokumentari-           durch Vorträge und Podiumsrunden, die die Hin-
schen und surreal anmutenden Bildern filmisch         tergründe dieser Filmproduktionen beleuchten
um. TRAVERSÉES (Mahmoud Ben Mahmoud, B/               sowie die Herausforderungen transnationaler
Tunesien 1982 | 5.11.) schildert die kafkaeske Si-    Archivarbeit diskutieren. Ehrengast Jan-Chris-
tuation zweier Zufluchtsuchender, die von den         topher Horak schildert in seinem Eröffnungsvor-
Grenzbehörden abgewiesen werden und auf ei-           trag, wie Los Angeles über Jahrzehnte hinweg
ner Fähre zwischen den Ländern hin und her            zum Schmelztiegel verschiedenster Migrations-
pendeln.                                              biografien und -erfahrungen in der Filmbranche
FRANTZ FANON: BLACK SKIN, WHITE MASK                  wurde. Mahmoud Ben Mahmoud stellt die Res-
(Isaac Julien, GB 1996 | 5.11.) erzählt unter Ver-    taurierung seines Films TRAVERSÉES vor und
wendung von Rekonstruktionen, Archivmaterial          Werkstattberichte und Filmeinführungen geben
und Interviews mit bedeutenden Theore­                Auskunft über aktuelle Restaurierungsarbeiten.
tiker*innen vom Leben und Werk des einfluss-          Eine Auswahl der Festivalfilme, Gespräche, Ein-
reichen antikolonialistischen Aktivisten und          führungen und zusätzliche Bonusfeatures wer-
Schriftstellers Frantz Fanon und reflektiert da-      den online auf www.film-restored.de zur Verfü-
bei Fremdheitserfahrung und „Othering“ in             gung stehen. (ah)
(post-)kolonialem Zusammenhang.                       18 programs of the Film Restored festival focus
Filme wie ULKOMAALAINEN, TRAVERSÉES und               on the many international connections between
FRANTZ FANON: BLACK SKIN, WHITE MASK zei-             escape, emigration and film history.
8 november 21 „the gatekeepers exist to be overthrown.“

                                                                                               PULL MY DAISY
                                                         (Alfred Leslie, Robert Frank, Jack Kerouac, USA 1959)

                                                                                                        MOST
                                                               (The Bridge, Vladimir Petek, Jugoslawien 1963)

„The gatekeepers exist to be overthrown.“
 Amos Vogel – Reprisen und Repliken (II)
Die Hommage an den New Yorker Filmkurator           tionale Rezeption und Wertschätzung experi-
Amos Vogel (1921–2012) würdigt eine Persönlich-     menteller Filmformen, so hat ihre Dominanz
keit, für die Filmkultur ein kollektives emanzi­    auch zu Engführungen und Auslassungen in
patorisches Abenteuer war und die damit der Ki-     der Filmgeschichte geführt. Das Novemberpro-
noarbeit einen Weg wies, den auch das Arsenal       gramm folgt dagegen einer schon damals von
gegangen ist und der heute noch relevant ist.       Amos Vogel formulierten Forderung nach einem
Das in drei Teilen konzipierte Programm begann      geografisch breiteren und formal anspruchsvol-
im September mit einem Fokus auf die legendä-       leren Verständnis von Avantgarde. Unter dem
re „Film Society for the adult moviegoer“ Cinema    Arbeitstitel „A Changing Canon“ haben verschie-
16, die Vogel 1947 mit seiner Frau Marcia gegrün-   dene Kurator*innen Programme zusammenge-
det hatte und die zur Wiege der New ­Yorker Ex-     stellt, die die Heterogenität der Experimental-
perimentalfilmbewegung wurde. Von 8. bis 15.11.     filmszenen in den USA aufzeigen, aber auch auf
stehen nun die 60er Jahre im Mittelpunkt: die       zeitgleiche Aufbrüche in Europa aufmerksam
sukzessive Etablierung des „New American Cin-       machen und daran erinnern, wie auch der „Un-
ema“, aber auch andere Aufbrüche und Schlüs-        derground“ schon bald unterminiert wurde. Ein-
selmomente einer Dekade, in der sich die siebte     mal mehr: Die Wächter*innen der Freiheit, so
Kunst noch einmal neu erfand.                       Vogel im Schlusssatz seines Buchs „Film as a
Schon in der zeitgenössischen Wahrnehmung           Subversive Art“ (1974), „sind zu allen Zeiten und
des Experimentalfilms spielten die New Yorker       unter allen Bedingungen die Rebellen.“
Film-Makers’ Coop und der dort vertretene Ka-       REPRISE: THE CINEMA OF IMPROVISATION (8.11.)
non des New American Cinema eine dominie-           Der Auftakt erinnert noch einmal an die Schlüs-
rende Rolle und tun es auch heute noch. War die     selrolle, die Cinema 16 für das New American
Produktivität der New Yorker Szene zweifellos       Cinema hatte. Im November 1959 lief dort unter
entscheidend für eine breite, bald auch interna-    dem Titel „The Cinema of Improvisation“ ein auf-
„the gatekeepers exist to be overthrown.“ november 21 9

sehenerregendes double bill: John Cassavetes’        den sich die Geister. Vogel sah ihn erstmals auf
Debüt SHADOWS (USA 1959), in dem Ben Car-            dem Experimentalfilmfestival 1958 in Brüssel
ruthers, Lelia Goldini und Hugh Hurd drei Ge-        und notierte: „silent – silent“, „movement never
schwister spielen, die ein Zusammenleben jen-        stops“, „terrible for eyes“, „show only as wild ex-
seits der herrschenden Konventionen erproben,        periment“ – und: „bad audience“, „lots people
sowie einer der ersten programmatischen Filme        leave“. Was in Brüssel tumultartige Proteste
der Beat-Bewegung, PULL MY DAISY (USA 1959)          auslöste, gilt heute als Meilenstein im Werk
von Robert Frank und Alfred Leslie. Wenn ein         Brakhages: eine Reflexion über Licht, Sehen und
Bekenntnis zur Gegenwart, zum Jazz und zur           Spiritualität, die radikal mit traditionellen Mon-
Nonkonformität beide Filme verband, so ist ihre      tageverfahren brach. Dass Vogel den Film nicht
improvisierte Entstehung ein Mythos. SHADOWS,        bei Cinema 16 zeigen wollte, führte zu einem zeit-
wie allen späteren Filmen Cassavetes’, gingen        weisen Bruch mit Stan Brakhage, der bis dahin
monatelange Proben voraus, und auch die ver-         zu seinen engsten Kontakten in der experimen-
meintliche Spontaneität, mit der die Beatpoeten      tellen Filmszene gehört hatte. Auch der Filmkri-
Allen Ginsberg, Peter Orlovsky und Gregory Cor-      tiker Parker Tyler, Brakhages Mentor und Vogels
so in PULL MY DAISY eine Dinnerparty sprengen,       Freund und Weggefährte, lehnte den Film ab. Der
folgte einem genauen Script, nämlich einer lite-     Filmwissenschaftler Henning Engelke wird die
rarischen Vorlage von Jack Kerouac. In dersel-       Zäsur ANTICIPATION OF THE NIGHT mit einer
ben Kombination liefen beide Filme 1961 auch         Montage aus Briefwechseln und Streitgesprä-
auf dem Festival in Spoleto, Italien, in einer der   chen zwischen Vogel, Brakhage und Tyler einfüh-
ersten Werkschauen des „Nuovo Cinema Ame-            ren, die ein Licht auf die sich verändernde Expe-
ricano“.                                             rimentalfilmkultur der späten 50er Jahre wirft.
ANTICIPATION OF THE NIGHT (USA 1958 | 9.11.) An      VERÄNDERUNGEN IM FILM: VERSUCHE AUS NEW
Stan Brakhages bis dahin längstem Film schie-        YORK (10.11.). Am 8. Dezember 1965 präsentierte
10 november 21 „the gatekeepers exist to be overthrown.“

Amos Vogel in der Berliner Kongresshalle ein         unternommenen Ausflug nach Ost-Berlin. Stan
Filmprogramm unter dem Titel „Versuche aus           Vanderbeek beendete den Abend mit einem Ma-
New York“. Als Vertreter*innen des jungen ame-       nifest für eine neue, technologisch versierte
rikanischen Films saßen mit ihm auf der Bühne:       Filmavantgarde und einer Expanded Cinema
Stan Brakhage, Shirley Clarke, Bruce Conner,         Vorführung. Die (fast vollständige) Reprise der
Carmen d’Avino, Ed Emshwiller und Stan Van-          Filmfolge ist am 11.11. zu sehen.
derbeek, zudem Walter Höllerer, der Leiter des       PERMISSION TO CROSS THE WHITE LINE, SIR!
Literarischen Colloquiums Berlin, dessen neu         DAS LIVING THEATRE UND THE BRIG. Am 15.11.
gegründete Filmsektion die Veranstaltung orga-       thematisiert eine Veranstaltung im Literari-
nisiert hatte. Die Auswahl an Filmen und Gästen,     schen Colloquium Berlin ein paralleles Projekt
die Amos Vogel für diesen Anlass traf, lässt sich    zu Amos Vogels Programm „Versuche aus New
als Matrix seiner Positionierung innerhalb des       York“ aus der gleichen Zeit: Das erste Stück der
New American Cinema lesen, wobei er auf den          vom LCB initiierten Reihe „Modernes Theater
Begriff hier verzichtete, da dieser bereits zu eng   auf kleinen Bühnen“ war Ende 1964 „The Brig“ in
mit der Film-Makers’ Coop um Jonas Mekas             einer Inszenierung des New Yorker Living Thea-
identifiziert wurde. Der Sender Freies Berlin        tre, das damals im Berliner Exil arbeitete. Von
zeichnete die fast dreistündige Veranstaltung auf    der Aufführung in der Akademie der Künste gibt
und sendete im Januar 1966 einen 75-minütigen        es eine Fernsehschnittfassung mit einem einlei-
Zusammenschnitt. Darin sind die Hälfte der ge-       tenden Gespräch zwischen Walter Höllerer und
zeigten Filme enthalten – nebst hörbarer Publi-      den Leitern des Ensembles, Judith Malina und
kumsreaktionen –, Vogels Kurzvorstellungen           Julian Beck. Der gleichnamige Film THE BRIG
der Beteiligten und ihre persönlichen State-         (USA 1964) von Jonas und Adolphas Mekas ent-
ments, die mal von der Aufbruchstimmung im           stand bei der letzten Aufführung des Stücks in
Experimentalfilm handelten, mal vom tags zuvor       New York. Eine Sichtung der beiden Dokumente
„the gatekeepers exist to be overthrown.“ november 21 11

                                                    THE CONNECTION
                                                    (Shirley Clarke, USA 1961)

                                                    A MOVIE
                                                    (Bruce Conner, USA 1958, Courtesy of the Conner Family
                                                    Trust and Kohn Gallery)

                                                    DOG STAR MAN PART II
                                                    (Stan Brakhage, USA 1963, Courtesy of the Estate of
                                                    Stan Brakhage and www.fredcamper.com)

bietet die Grundlage eines Gesprächs zwischen   Welt) zu sehen war. Den Auftakt machten zwei
der Kuratorin Nora Molitor und dem Dramatur-    Collagefilme von Bruce Conner, A MOVIE (1958)
gen Henning Fülle über das Spannungsverhält-    und COSMIC RAY (1962), satirische Pamphlete ge-
nis von Film und Theater.                       gen die Kriegstrunkenheit der amerikanischen
In diesem Spannungsverhältnis entstand auch     Kulturindustrie. Carmen D’Avinos Animationen
Shirley Clarkes THE CONNECTION (USA 1961 |      A TRIP (1960) und PIANISSIMO (1963) sind farben-
10.11.), basierend auf einem Theaterstück von   frohe Wunderwerke, in denen die schiere Faszi-
Jack Gelber, das zwei Jahre zuvor vom Living    nation an bewegten Bilder fortlebt. Stan Bra-
Theatre in New York uraufgeführt wurde. Die     khage zeigte drei Arbeiten, die seine Technik der
Stück-im-Stück-Struktur der Vorlage übersetzt   kreativen Manipulation des Filmmaterials ver-
Shirley Clarke in eine Film-im-Film-Erzählung   anschaulichten: TWO: CREELEY/MCCLURE (1965),
über einen Regisseur, der einen Film mit Jun-   zwei zu einem Filmstreifen überlagerte „Port-
kies drehen will und mit ihnen auf das Eintreffen
                                                räts“ von Robert Creeley und Michael McClure,
ihres Dealers wartet. Clarkes brillant inszenier-
                                                DOG STAR MAN PART II (1963), in dem ein zum
tes Kammerspiel (der ganze Film spielt im sel-  Leben (d.h. Sehen) erwachendes Baby einem
ben Apartment) warf unbequeme Fragen nach       ununterbrochenen Schauer physischer Bildein-
dem Authentizitätskult im engagierten Doku-     griffe ausgesetzt ist, und MOTHLIGHT (1963), für
mentarfilm auf.                                 den Brakhage Partikel toter Motten direkt auf
REPRISE: VERSUCHE AUS NEW YORK (KON- den Filmstreifen belichtete. Ed Emshwiller war
GRESSHALLE BERLIN, 1965) (11.11.) Eine weit­ ein Pionier der Experimentalfilmbewegung, des-
gehende Rekonstruktion des von Amos Vogel       sen Arbeit Vogel seit den Anfängen mit großer
zusammengestellten Programms, das im De- Sympathie verfolgt hatte. In THANATOPSIS (1962)
zember 1965 in der voll besetzten Berliner Kon- setzt er zu einem pulsierenden Soundtrack die
gresshalle (das heutige Haus der Kulturen der „inneren Qualen“ eines Mannes in Szene. Shirley
12 november 21 „the gatekeepers exist to be overthrown.“

Clarkes SCARY TIME (1960) zeigt Kinder in ver-   1964 erstmals durch Europa tourte. Weniger be-
schiedenen Ländern, ihre Spiele, ihre Masken,    achtet, aber filmisch und historisch nicht weni-
ihre Armut. Ursprünglich eine Auftragsarbeit für ger interessant war ein 26 Filme umfassendes
UNICEF, wurde der Film jedoch nie in Umlauf      Programm mit dem Titel „The Western American
gebracht, vermutlich weil Clarke sich in ihrer   Experimental“, das bereits ein halbes Jahr vor-
Darstellung keine Euphemismen gestattete. Im     her in Stockholm, Kopenhagen, Amsterdam und
Anschluss ist ihr berühmtes Brückenballett       zu Teilen auch bei den Freunden der Deutschen
BRIDGES-GO-ROUND (1958) zu sehen, das sie in     Kinemathek in Berlin zu sehen war. Zusammen-
                                                 gestellt hatten es Bruce Baillie und Chick Strand,
Berlin als „my last dance film“ vorstellte. Der Ab-
schluss des Berliner Abends bestand aus einem    die 1961 in Berkeley das Canyon Cinema Collec-
Versuch Stan Vanderbeeks, seine für mehrere      tive gegründet hatten. Ihre Auswahl stellte vor-
Projektoren konzipierte Arbeit Feedback #1 in diewiegend Filmemacher (sic) vor, die noch kaum
Architektur der Kongresshalle zu transponieren.  bekannt waren und von denen viele auch später
Diese auf ständige Aktualisierung angelegte      nicht zum Mainstream das New American Cine-
Found-Footage-Live-Montage lässt sich nicht      ma zählten. John Sundholm und Miguel Fernan-
rekonstruieren, stattdessen ist Vanderbeeks      déz Labayen untersuchen derzeit in einer kolla-
BREATHDEATH (1963) zu sehen, eine irre Geister-  borativen Recherche die schrittweise Ankunft
bahnfahrt durch seinen Bilderfundus zu einem     des New American Cinema in Europa und haben
kongenialen Soundtrack von Jay Watt.             aus dem „West Coast“-Programm neben Stan
A CHANGING CANON: THE WESTERN AMERICAN           Brakhages REFLECTIONS ON BLACK (1955) –
EXPERIMENTAL (12.11.) Ein wichtiges Ereignis in „four possible sexual dramas, visualized by a
der Geschichtsschreibung der Dekade ist die von  blind man“ (Amos Vogel) – vor allem Filme aus-
Jonas Mekas und der Film-Makers’ Coop organi- gewählt, die es (wieder) zu entdecken gilt: Film
sierte „New American Cinema Exhibition“, die     als Lichtspiel begreifende Naturbeobachtungen
„the gatekeepers exist to be overthrown.“ november 21 13

                                                   SCARY TIME
                                                   (Shirley Clarke, USA 1960)

                                                   BREATHDEATH
                                                   (Stan Vanderbeek, USA 1963)

                                                   BEAT
                                                   (Christopher Maclaine, USA 1958, NACG – The Film-Makers’
                                                   Cooperative)

wie Lawrence Jordans THE SEASON’S CHANGE           spontane Abstecher. Einer davon führte Sitney
(1960) und Will Hindles Debütfilm PASTORALE        im Dezember 1967 auf das Genre Experimental
D’ÉTÉ (1958), Christopher Maclaines BEAT (1958),   Festival (GEFF) in Zagreb, seit 1963 der vitale
ein Stimmungsbild der Beat-Szene von San           Treffpunkt der jugoslawischen Experimental-
Francisco, oder HAVE YOU SOLD YOUR DOZEN           filmszene, die ihre Basis in den landesweiten
ROSES? (1959), in dem Lawrence Ferlinghetti ein    Amateur-Filmclubs hatte. In der „Atmosphäre
zynisch-heiteres Gedicht über kontrapunktisch      des fruchtbaren Chaos“, die laut Dušan Maka-
gesetzte Aufnahmen einer Mülldeponie spricht.      vejev das GEFF auszeichnete, mag Sitneys Wan-
Am Anfang und Ende des Programms stehen Fil-       derzirkus neben neuen Inspirationen womöglich
me, die erst etwas später entstanden: Ben Van      ebenso viele alte Hüte geboten haben. Ein loka-
Meters POON TANG TRILOGY (1965), eine Art Cine-    ler Rezensent bescheinigte dem New American
tract gegen die damals notorische Filmzensur in    Cinema jedenfalls, den dadaistischen Ansprü-
Kalifornien, und Chick Strands zweiter Film, AN-   chen des Zagreber Festivals nicht genügt zu
SELMO (1967), in dem sie die Odyssee beschreibt,   haben. GEFF wurde vom Kinoclub Zagreb orga-
die es bedeutete, einem mexikanischen Freund       nisiert, der für einen „Antifilm“ eintrat, den etwa
ein Geschenk zu machen.                            Mihovil Pansini in K3 ILI ČISTO NEBO BEZ OBLA-
I’M MAD – OUTTAKES FROM THE HISTORY OF YU-         KA (K3 or Clear Sky Without Clouds, 1963) zu
GOSLAV UNCONVENTIONAL CINEMA (12.11.) Als          einer Konsequenz führte, die erst zum Trend und
Jonas Mekas und P. Adams Sitney im Sommer          dann zum Witz wurde. Auch der jugoslawische
1967 die Koffer für die zweite New American Ci-    Experimentalfilm lancierte Attacken aufs Mate-
nema Exhibition packten, konnten sie nicht vor-    rial, lochte, kratzte, nähte, verklebte die Film-
aussehen, wohin die Reise schließlich gehen        streifen wie Vladimir Petek in MOST (Bridge,
würde. Zwischen einigen vorab gebuchten Sta-       1963) und SRETANJE (Encounter, 1963), zerriss
tionen machte die Tour immer wieder auch           die Bilder mit wilder Handkamera wie FLUORE-
14 november 21 „the gatekeepers exist to be overthrown.“

SCENCIJE (Fluorescences, 1966) von Ante Ver­          SCHMEERGUNTZ (USA 1966), eine visuelle Kis-
zotti und ließ durch rigorose Anwendung der           senschlacht gegen den Sexismus der Konsum-
Schnittprinzipien mystisch kinematische Super-        gesellschaft – und vieler „Undergroundfilme“.
novas entstehen, so Ivan Martinac in I’M MAD          Die wildesten Scherze des Antifilms wurden oft
(1967) oder SVE ILI NIŠTA (Everything or Nothing,     seine berühmtesten Museumsstücke – KARIO-
1968). Die Zagreber Filmwissenschaftlerin Petra       KINEZA (Karyokinesis, 1965) von Zlatko Hajdler
Belc stellt eine Auswahl von zwölf Filmen vor,       – und während dort aus der Zerstörung des Film-
die einen Einblick geben in die zu dieser Zeit wo-    materials Kunst wurde, belichtete Tatjana
möglich agilste und gleichzeitig idiosynkra-          Ivančić den wertvollen Rohstoff nicht weniger
tischste Experimentalfilmszene Europas.               demonstrativ mit Nahaufnahmen ihrer Milch
13 CONFUSIONS: SUBVERTING THE SUBVERSION              schleckenden Katze (DO POSLJEDNJE KAPI, Un-
 (13.11.) Ein weiteres von Petra Belc zusammen-       til the Last Drop, 1972). Durch das Programm
 gestelltes Programm zeigt neun Filme, die die        zieht sich ein stichelndes „Ja, und?“: Yes, but is
 Floskeln und Tropen einer kanonisch werden-          it art? Der Titel „13 Confusions“ zitiert einen be-
 den Avantgarde dekonstruieren, um mit einer          rühmt gewordenen Artikel, den Amos Vogel im
 solchen Kritik von innen dem Subversiven erneut      Sommer 1967 in der Evergreen Review veröffent-
 Gestalt zu geben. Es spürt einem dadaistischen       lichte. Der „Underground“ war auf dem Gipfel
 Grundimpuls nach – verkörpert im letzten             seiner internationalen Popularität, als Vogel
 Sprechvers Hugo Balls, „Gadji Beri Bimba“, der       dazu aufrief, ihn gegen „die blinde Ablehnung
 zum Auftakt gespielt wird – und zeigt Filme, die     der kommerziell orientierten Filmkritik ebenso
 jenseits des Kanons ein anarchisches Begehren        wie gegen die blinde Verehrung durch seine
 wachhielten: zum Beispiel Jane Conger Belsons        Apostel“ zu verteidigen.
„Mockexperimental“ ODDS & ENDS (USA 1959)            THE EUROPEAN KNOKKE ’67 AND SOME DEVIA-
 oder Gunvor Nelsons und Dorothy Wileys              TIONS (13.11.) Die Reibungsprozesse dieser De-
„the gatekeepers exist to be overthrown.“ november 21 15

                                                    HAVE YOU SOLD YOUR DOZEN ROSES?
                                                    (Philip Green, David Myers, Irving Saraf, Allen Willis,
                                                    USA 1959)

                                                    SVE ILI NIŠTA
                                                    (Everything or Nothing, Ivan Martinac, Jugoslawien 1968)

                                                    SOLILOQUY
                                                    (Stephen Dwoskin, GB 1967)

 kade verdichteten sich auf dem vierten EX-         des amerikanischen Experimentalfilms, Taylor
 PRMNTL Festival, das über den Jahreswechsel        Mead, in der Turiner Galleria Arte Moderna, wo
 1967/68 im belgischen Seebad Knokke-le-Zoute       Sitney und Mekas im Juli zum Auftakt ihrer eu-
 stattfand. Die dominante Präsenz des New Ame-      ropäischen Tournee gastiert hatten. Das grüne
 rican Cinema auch dort gab dessen internatio-      Monster des Titels ist eine Metapher für den
 naler Wahrnehmung zwar einen erneuten Boost,       Geist des kreativen Teilens zwischen Dich­
 sorgte aber auch für lautstarke Kritik und anar-   ter*innen, Filmemacher*innen und Perfor­
 chische Happenings und motivierte die europä-      mer*in­nen, der hier in Ton und Bild in Szene
 ischen Filmszenen, eigene Wege zu gehen.           gesetzt wird.
 Miguel Fernández Labayen und John Sundholm         MODELLE: FILMGALERIE HANNOVER / KNOKKE
 haben aus den knapp 100 in Knokke gezeigten        1967 (14.11.) „Wozu hat der Mensch einen Kopf,
 Filmen eine Auswahl getroffen, die auf verschie-   wozu hat er Augen und Ohren, wozu hat er im
 dene europäische Experimentalfilm-Kontexte         Schädel ein Gehirn?“ Klaus Partzschs am Trick-
 verweist, darunter den Eiertanz MARKENEIER         tisch entstandenes parodistisches Manifesto für
 (BRD 1967) von Lutz Mommartz, der in Knokke        einen neuen Film trug den programmatischen
 für Selbstschüsse einen der Hauptpreise bekam,     Titel ANFANG (BRD 1965) und bezog sich direkt
 und Stephen Dwoskins SOLILOQUY (GB 1967), der      auf die Gründung der Filmgalerie Hannover, in-
 das Selbstgespräch der Molly Bloom aus Joyces      itiiert von ihm selbst und Peter Grobe. Die Film-
„Ulysses“ mit Nahaufnahmen eines weiblichen         galerie suchte ein neues Publikum mit wache-
 Gesichts verbindet. IL MOSTRO VERDE (Italien       ren Rezeptoren und verband das gemeinsame
 1967) von Tonino De Bernardi und Paolo Menzio      Filmesehen mit der Hoffnung auf die Entste-
 war in gewisser Weise Frucht und Fazit des zu-     hung neuer Filme. Von den zahlreichen Experi-
 rückliegenden Sommers der Begegnungen. Der         menten, die Partzsch und Grobe in dieser Zeit
 Film entstand aus einem Treffen mit einer Ikone    selber unternahmen, lief eines auch 1967 in
16 november 21 „the gatekeepers exist to be overthrown.“

                                                    SCHNITTE
                                                    (Peter Grobe, BRD 1965)

Knokke: der Kurzfilm SCHNITTE (BRD 1965), in
                                           schiedenste Formen der experimentellen Bild-
dem der praktizierende Architekt Peter Grobe
                                           gestaltung vorstellt (siehe S. 29). (th)
ein für Innenräume entwickeltes horizontales
                                           Die von Tobias Hering kuratierte Reihe wird im
Design auf den Filmstreifen überträgt. Mit Clau-
                                           Januar fortgesetzt. Besonderer Dank an die Ko-
dia von Alemanns EXPRMNTL 4 KNOKKE (BRD    Kurator*innen, an Steven und Loring Vogel,
                                           Scott MacDonald, Erika und Ulrich Gregor, Lite-
1968) schlägt das von Peter Hoffmann kuratierte
Programm noch einmal einen Bogen zu diesem rarisches Colloquium Berlin. Das Programm
Schlüsselmoment der Dekade. Mit sichtbarer wurde ermöglicht durch eine Förderung des
                                           Hauptstadtkulturfonds.
Begeisterung bewegt sich Claudia von Alemann
mit ihrer Kamera zwischen den verschiedenenA critical homage to the New York film curator
                                           Amos Vogel (1921–2012) pays tribute to a person-
Fronten, die sich im Festivalverlauf bildeten und
                                           ality for whom film culture was a collective,
wieder auflösten wie Flashmobs: um Yoko Ono,
                                           emancipatory adventure and who paved a path
Harun Farocki und den belgischen Kulturminis-
ter.                                       for cinema work that Arsenal took and continues
                                           to tread. The three-part program kicked off in
Wie schon im ersten Teil dieser kritischen Hom-
                                           September with a focus on the legendary Cine-
mage an Amos Vogel, sind am 14.11. um 18 Uhr
                                           ma 16, “a film society for the adult moviegoer”
alle Interessierten eingeladen zu einem Aus-
                                           founded by Vogel and his wife Marcia in 1947 that
tausch über die Filme der vorangehenden Tage.
                                           was the cradle of the New York experimental film
Die etwa einstündige REPLIK wird diesmal ein-
geleitet von dem Filmkurator Gary Vanisian.movement. From November 8 to 15, attention
LEARNING FROM CINEMA 16: EXPERIMENTAL-     will shift to the Sixties: the establishment of
FILME FÜR DIE OBERSTUFE (11.11.) Stefanie “New American Cinema,” as well as other up-
Schlüter hat aus Filmen dieser Hommage ein heavals and key moments of a decade in which
Schulprogramm zusammengestellt, das ver- the seventh art reinvented itself again.
künstlerinnenprogramm       november 21 17

                                            AL LARGO
                         (Anna Marziano, Italien 2020)

Künstlerinnenprogramm
Zum 11. Mal präsentiert das Arsenal vom 11. bis          gischen und tröstlichen Raum. In einer Kreisbe-
14. November Filmprojekte von Stipendiatinnen,           wegung begeben wir uns vom Privaten ins Poli-
die in den letzten zwei Jahren vom Künstlerin-           tische, von der Mythologie des Meeres zu den
nenprogramm der Senatsverwaltung für Kultur              Reflexionen über menschliches Leiden in den
und Europa gefördert wurden. In Werkstattge-             philosophischen Schriften Claire Marins, den
sprächen werden die meist noch im Prozess des            Collagen Dijana Zoradanas und Bildern
Werdens begriffenen Arbeiten diskutiert und              Francesco Nashs, zum gesellschaftlichen Um-
künstlerische Ansätze reflektiert.                       gang mit Menschen in Krisensituationen. Bilder
Die Hinterfragung des gegenwärtigen politi-              und Töne treten in Resonanz, die Zeit scheint
schen Selbstverständnisses, von Solidarität und          sich in alle Richtungen ins Unendliche auszuwei-
Diversität, die Annäherung an die persönliche            ten. Die Künstlerin nimmt uns mit auf einen Weg,
Familiengeschichte und das in ihr verortete Un-          auf dem wir in der Geste der Fürsorge eine mög-
ausgesprochene, die Auseinandersetzung mit               liche Auflösung der Polarität zwischen Egoismus
Rollenzuweisungen und die sich daraus entfal-            und Altruismus zu imaginieren vermögen. (ara)
tenden innerpsychischen Verletzungen, sowie              Weitere Projektpräsentationen von: Neda Ahma-
die Überschreitung tradierter Erzählformen sind          di, Gamma Bak, Judith Beuth, Francesca Cogni,
nur einige der sich abzeichnenden Themen. Wir            Britt Dunse, Anna Faroqhi, Juliane Henrich,
eröffnen das Künstlerinnenprogramm am 11.11.             Franzis Kabisch, Laura Laabs, Malve Lippmann,
mit Anna Marzianos Film AL LARGO (I 2020). Das           Julia Monika Müller, Nnenna Onuoha, Anne-­
Meer wird zum Ausgangspunkt einer Reflexion              Christin Plate, Stefanie Saghri, Dagmar Schei-
über die Erfahrung des Leidens. Im leisen Fluss          bert, Sabine Schöbel, Talin Seigmann, Nathalie
der Bilder erscheint die Welt wie ein Traum, er-         Steinbart und Justin Time.
füllt von Worten, Kunstwerken, fossilen Objekten,        Ein Programmheft gibt Einblick in diese und an-
Liedern, Menschen, und entfaltet einen fast ma-          dere geförderte Arbeiten.
18 november 21 afrikamera 2021: urban africa, urban movies – youth & youth culture

                                                                                           GRAVEDIGGER’S WIFE
                                                            (Khadar Ayderus Ahmed, Dschibuti/Finnland/D/F 2021)

                                                                                                       ZINDER
                                                                                   (Aicha Macky, Niger/D/F2021)

AFRIKAMERA 2021:
Urban Africa, Urban Movies – Youth & Youth Culture
Der Themenschwerpunkt Urban Africa, Urban              WIDO veröffentlicht wird. In WALABOK (Senegal
Movies stellt das urbane Afrika und seine filmi-       2021 | 16.11.) geht es um die talentierte Mossane,
sche Reflexion im aktuellen afrikanischen Kino         die trotz vieler Hindernisse eine Karriere als
ins Zentrum eines auf vier Jahre angelegten            Rapperin anstrebt. Nach der Vorführung von drei
Programms. In diesem Jahr stehen Produktio-            ausgewählten Episoden findet ein Gespräch mit
nen im Fokus, die sich mit aktuellen jugend- und       der Regisseurin Fatou Kandé Senghor statt.
popkulturellen Phänomenen in den Metropolen            DOWNSTREAM TO KINSHASA (DR Kongo/Bel­
Afrikas auseinandersetzen.                             gien/F 2020 | 18.11.) von Dieudo Hamadi schildert
GRAVEDIGGER’S WIFE (Dschibuti/Finnland/D/F             den Kampf um Gerechtigkeit der Opfer des
2021 | 15. & 17.11.) Das diesjährige Festival eröff-   Sechs-Tage-Krieges zwischen der ugandischen
net mit dem Film des finnisch-somalischen Re-          und ruandischen Armee in der kongolesischen
gisseurs Khadar Ayderus Ahmed. Guled und               Stadt Kisangani. 20 Jahre später begibt sich eine
Nasra leben gemeinsam mit ihrem Teenager-              Gruppe von neun Frauen und Männern auf eine
sohn Mahad in einem Außenbezirk von Dschibu-           mehrwöchige Reise in die Hauptstadt Kinshasa,
ti-Stadt. Als Nasra auf Grund einer chronischen        um endlich Wiedergutmachung zu erfahren. Im
Nierenerkrankung eine teure Operation benö-            Anschluss wird es ein Filmgespräch mit dem
tigt, steht die Familie vor der Herausforderung,       Regisseur Dieudo Hamadi geben.
das notwendige Geld aufzutreiben, ohne den             JUJU STORIES (Nigeria 2021 | 18.11.) Das nigeria-
Zusammenhalt zu verlieren. In Kooperation mit          nische Filmkollektiv Surreal 16 setzt sich in ei-
der Heinrich-Böll-Stiftung präsentiert AFRIKA-         nem dreiteiligen Anthologie-Film auf ironische
MERA ein Sonderprogramm zur Hip-Hop-Kultur             Art und Weise mit den übernatürlichen Kräften
im Senegal. Die Autorin und Regisseurin Fatou          von Juju auseinander – jenseits gängiger Hexen-
Kandé Senghor hat eine 30-teilige Serie kreiert,       doktorenklischees. Der Film läuft als Deutsch-
die aktuell auf der senegalesischen Plattform          landpremiere.
afrikamera 2021: urban africa, urban movies – youth & youth culture              november 21 19

 ZINDER (Niger/D/F 2021 | 18.11.) ist die zweitgröß-   und der Gesellschaft konservativ mit Schleier
 te Stadt des Niger und zugleich Schauplatz die-       auftritt, entwirft sie auf Facebook und Instagram
 ser eindrücklichen Dokumentation über die             ein völlig anderes Bild ihrer selbst. Allmählich
 gewalttätige Gang- und Jugendkultur. Regis-           dringt die Realität in ihre Wunschwelt ein – bis
 seurin Aicha Macky, selbst in Zinder geboren,         eine Serie kleiner Zwischenfälle zu einem tragi-
 begleitet in ihrem zweiten Langfilm Siniya, Bawo      schen Ereignis führt. Das Drama der ägypti-
 und Ramsess, Mitglieder der lokalen Gang „Hit-        schen Regisseurin Ayten Amin steht stellvertre-
 ler“, in ihrem Alltag im Stadtviertel „Kara Kara“.    tend für die Identitätssuche von Millionen von
 Im Programm AFRICAN SHORTS – AFRICAN POP              Jugendlichen im postrevolutionären Ägypten
 CULTURES (19.11.) stehen Formate im Fokus, die        zwischen Aufbruch und islamischem Konserva-
 sich mit aktuellen Trends afrikanischer Pop-          tismus.
 Kulturen auseinandersetzen, darunter ADIKORO          JUWAA (DR Kongo/Belgien 2021 | 19.11.) Amani
– WOMEN IN MUSIC: GHANA (Ghana/Deutschland             war zehn Jahre alt, als seine Mutter Riziki ihn in
 2021) der deutsch-ghanaischen Regisseurin             einer traumatischen Nacht in Kinshasa bei sei-
 Pamela-Owusu Brenyah, die sich mit weibli-            ner Großmutter zurückließ. Wiederum zehn
 chem Empowerment in der Popmusikszene von             Jahre später zieht er nach Belgien, um Kunst zu
 Ghana beschäftigt. Im Anschluss findet ein Po-        studieren und seine Mutter wiederzutreffen.
 diumsgespräch mit ihr und der Filmemacherin           Während seine Mutter über das Geschehene
 Fatou Kandé Senghor statt. Eine Veranstaltung         nicht sprechen möchte, verstrickt sich Amani
 in Kooperation mit dem Pop-Kultur Festival Ber-       immer tiefer in seine Vergangenheit. Mit JUWAA
 lin.                                                  hat der kongolesische Schauspieler und Regis-
 SOUAD (Ägypten/Tunesien/D 2021 | 19.11.) Die          seur Nganji Mutiri ein bewegendes psychologi-
 19-jährige Medizinstudentin Souad führt ein           sches Drama geschaffen. Der Film wird als
 Doppelleben. Während sie im Kreis ihrer Familie       Deutschlandpremiere gezeigt.
20   november 21 afrikamera 2021: urban africa, urban movies – youth & youth culture

BUDDHA IN AFRICA (Südafrika/Schweden 2019 |          in THE LETTER mit dem Phänomen Hexerei im
20.11.) Ennock ist eines von 300 Waisenkindern       heutigen Kenia auseinander. Der Film wird für
aus dem ländlichen Malawi, die in einem chine-       Jugendliche ab 14 Jahren empfohlen.
sischen Waisenhaus untergekommen sind. Die           LA NUIT DES ROIS (Night of the Kings, Elfen­
Kinder und Jugendlichen hier müssen Mandarin         beinküste/Senegal/F/Kanada 2020 | 20.11.) La
sprechen, buddhistische Traditionen pflegen und      Maca, das Gefängnis von Abidjan, am Rande der
werden auf die Beherrschung der schwierigen          Stadt mitten im Wald gelegen, ist eines der über-
Kunst des Shaolin Kung Fu getrimmt. Der Doku-        fülltesten in Westafrika. Einer der Insassen, der
mentarfilm der südafrikanischen Regisseurin          alternde und kranke Blackbeard, ist ein zuneh-
Nicole Schafer stellt im Zeichen des wachsen-        mend umstrittener „Dangoro“. Um seine Macht
den Einflusses Chinas auf dem Kontinent hoch-        zu erhalten, nimmt er die Tradition des „Romans“
aktuelle Fragen nach der Verhältnismäßigkeit         wieder auf, eines Rituals, das darin besteht, ei-
zwischen der Wahrnehmung von Bildungschan-           nen Gefangenen zu zwingen, die ganze Nacht
cen und der Preisgabe der eigenen Identität.         über Geschichten zu erzählen. Das bildgewalti-
THE LETTER (Kenia 2019 | 20.11.) Die fast 100 Jah-   ge Epos von Philippe Lacôte changiert auf faszi-
re alte Margaret Kamango ist eine sanfte, ironi-     nierende Art und Weise zwischen Griotgeschich-
sche Frau – und wird mit dem Tod bedroht. Als        te und Fantasymärchen.
ihrem Enkel Karisa, der in Mombasa lebt, eine        CAIRO JAZZMAN (Ägypten/D 2017 | 20.11.) Im Zen-
Facebook-Nachricht zugespielt wird, in der sei-      trum von Atef Ben Bouzids Dokumentarfilm
ne Großmutter der Hexerei beschuldigt wird,          steht der charismatische ägyptische Pianist Amr
beschließt er, in sein Heimatdorf zurückzukeh-       Salah. Mit wenigen Mitteln, aber umso mehr
ren, um der Sache auf den Grund zu gehen.            Hingabe organisiert er seit dem Jahr 2009 das
Ohne Vorverurteilung setzen sich die beiden          Cairo Jazz Festival. Der mit flirrenden Jazz-
Regisseure Maia Lekow und Christopher King           sounds unterlegte Film gewährt seltene Ein-
afrikamera 2021: urban africa, urban movies – youth & youth culture                   november 21 21

                                                     SOUAD
                                                     (Ayten Amin, Ägypten/Tunesien/D 2021)

                                                     BUDDHA IN AFRICA
                                                     (Nicole Schafer, Südafrika/Schweden 2019)

                                                     THE LETTER
                                                     (Maia Lekow, Christopher King, Kenia 2019)

 sichten hinter die Kulissen des Festivals und       FREDA (Benin/Haiti/F 2021 | 21.11.) Das Festival
 ermöglicht zugleich einen ungewohnten Blick         schließt mit einer Produktion aus der afrikani-
 auf die ägyptische Megacity Kairo und eine junge    schen Diaspora von Gessica Généus. Freda lebt
 Generation, die sich nach einem kulturellen und     mit ihrer Familie in einer populären Gegend im
 politischen Aufbruch sehnt.                         zunehmend unruhigen Port-au-Prince. Sie sorgt
 THE DISQUALIFIED (Tunesien/Katar/F 2020 |           sich um ihre Ausbildung und die Zukunft ihres
 21.11.) In seiner über einen Zeitraum von zwölf     zerfallenden Heimatlandes. Ihre Geschwister
Jahren entstandenen Langzeitdokumentation            und Freunde spielen mit dem Gedanken, Haiti zu
 begleitet der tunesische Regisseur Hamza Ouni       verlassen. Doch Freda will bleiben und kämpft
 den Exzentriker Mehrez in seiner Heimatstadt El     in der Schule gegen die fortschreitende Auslö-
 Mohammedia. Mehrez beschließt im Alter von          schung der haitianischen Kultur durch weiße
 25 Jahren, eine Gemeinschaft arbeitsloser, frus-    Einflüsse. Das beeindruckende Familiendrama
 trierter Jugendlicher mit den Mitteln des Thea-     feierte seine Premiere beim diesjährigen Film-
 ters aufzuklären und herauszufordern.               festival in Cannes in der Reihe „Un certain re-
 OLIVER BLACK (Marokko 2020 | 21.11.) Das Spiel-     gard“. Die Regisseurin Gessica Généus ist an-
 filmdebüt des marokkanischen Regisseurs             lässlich der Deutschlandpremiere ihres Films zu
­Tawfik Baba erzählt die Geschichte des jungen       Gast. (fw)
 Vendredi, der alleine die Wüste durchquert. In      URBAN AFRICA, URBAN MOVIES puts urban Afri-
 Marokko will er seinen Traum verwirklichen und      ca and its cinematic reflection in contemporary
 in einem Zirkus arbeiten. Unterwegs trifft er auf   African cinema at the center of a four-year pro-
 einen alten Mann namens „White Man“. Die bei-       gram. The 2021 edition will focus on productions
 den entwickeln eine besondere Beziehung zuei-       that explore modern youth and pop culture in
 nander. Vendredi ahnt nicht, dass er an einen       Africa’s cities.
 Menschenhändler geraten ist.
22   november 21 werkschau helma sanders-brahms

                                   SHIRINS HOCHZEIT
                                          (BRD 1976)

                                           HEINRICH
                                          (BRD 1977)

                       DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER
                                          (BRD 1980)

Werkschau
Helma Sanders-Brahms
Helma Sanders-Brahms war eine der bedeu-               stieg von harter Fabrikarbeit über Arbeitslosig-
tendsten deutschen Filmemacherinnen der                keit bis hin zur Prostitution, der mit ihrem Tod
Nach­kriegszeit. Eine Werkschau mit sieben aus-        endet. Mit SHIRINS HOCHZEIT setzte sich Helma
gewählten Filmen aus dem umfangreichen Schaf-          Sanders-Brahms als eine der ersten Frauen fil-
fen der Regisseurin würdigt überblickshaft ihr         misch mit den Lebensbedingungen von Migran-
Werk. Sie war sowohl im Spiel- wie im Dokumen-         tinnen auseinander. Die ausweglose Tragik, das
tarfilmgenre zuhause, drehte Historisches eben-        neorealistische Schwarzweiß sowie der diesen
so wie Gegenwartsthemen, unter die Haut gehen-         Passionsweg begleitende Kommentar der Auto-
de Dramen sowie politische Satiren. Eigenwillige       rin, der einen höchst subjektiven Gegenpol zu
Biografien über Künstlerpersönlichkeiten ziehen        den dokumentarisch anmutenden Bildern setzt,
sich ebenso durch das Werk wie fiktive Frauenpor-      provozieren in ihrer Radikalität bis heute.
träts, die wie im Brennglas gesellschaftliche und      HEINRICH (BRD 1977 | 23.11.) Das Porträt des von
politische Missstände sichtbar machen. So per-         der Regisseurin verehrten Dichters Heinrich von
sönlich motiviert viele ihrer Filme sind, so subjek-   Kleist zeigt eine zerrissene Persönlichkeit, ei-
tiv und emotionalisierend der Zugriff, so sind sie     nen einsam Verzweifelten, der zwischen roman-
doch allesamt genuin politisch. Nicht selten tra-      tischem Liebes- und Dichterideal, preußischer
fen sie geradezu schmerzhaft den Nerv der Zeit,        Lebensrealität sowie den kriegerischen und
was immer auch Ablehnung hervorrief.                   revolutionären Zeitläufen zerrieben wird. Nicht
SHIRINS HOCHZEIT (BRD 1976 | 22.11.) Shirin, eine      um eine historisch authentische Darstellung
junge Türkin aus Anatolien, flieht vor der arran-      geht es ihr, als vielmehr um ein Puzzle, das sich
gierten Hochzeit mit einem reichen Mann nach           aus unglücklichen Beziehungen, dichterischer
Köln, um dort Mahmud zu suchen, den sie liebt          Arbeit, Kriegserfahrung und Todessehnsucht
und den sie als ihren Verlobten betrachtet. Doch       zusammensetzt, und das Wesen eines Dichters
in Deutschland erwartet sie ein auswegloser Ab-        spiegelt, der sich selbst ein Rätsel geworden ist.
werkschau helma sanders-brahms            november 21 23

DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER (BRD 1980 |              kann Margoszata ihm nur eineinhalb Stunden
24.11.) erinnert an die vernachlässigte Geschich-    widmen. Die Situation zwischen Erwartung und
te der Frauen, die sich während des Zweiten          Enttäuschung erzeugt eine immer leidenschaft-
Weltkriegs an der „Heimatfront“ tatkräftig           lichere und immer aggressivere Atmosphäre.
durch­schlugen und ihre Familien durchbrach-         Erzählzeit und erzählte Zeit sind hier identisch:
ten: Hans und Lene heiraten im Sommer 1939.          Die Handlung umfasst die eineinhalb Stunden,
Als die gemeinsame Tochter Anna zur Welt             die Margoszata in Berlin ist. Das Geschehen
kommt, ist Hans bereits Soldat im besetzten          spielt sich überwiegend in einer Wohnung ab und
Frankreich und Deutschland das Ziel der alliier-     besteht fast ausschließlich aus den Gesprächen
ten Bombenangriffe. Lene bringt das Kind allei-      der beiden, den harten Auseinandersetzungen
ne durch den Krieg. Im Frieden aber, nach der        und den Versuchen, Nähe wiederherzustellen.
Rückkehr ihres Mannes, lähmt das Familienle-         MANÖVER (BRD 1988 | 26.11.) ist eine satirische
ben sie nicht allein im übertragenen Sinn. Nach      Komödie über das geteilte Deutschland der 50er
seiner Erstaufführung 1980 wurde der Film in         Jahre im Klima der Wiederbewaffnung und des
Reaktion auf teilweise sehr negative Bespre-         Kalten Krieges: In der DDR wird Max Klett, Leut-
chungen deutscher Kritiker für die Kinoauswer-       nant der NVA, im Tango-Tanzen ausgebildet, um
tung gekürzt. Die restaurierte Fassung enthält       als Romeo die Sekretärin des westdeutschen
die rund 30 fehlenden Minuten.                       Verteidigungsministeriums, Elly Wackernagel,
LAPUTA (BRD 1986 | 25.11.) Paul, ein französi-       zu verführen und so an eine Geheimwaffe des
scher Architekt, trifft sich in Berlin zwischen      Klassenfeindes zu gelangen. Obwohl oder gera-
zwei Flügen für eine Nacht oder einen Tag mit        de weil Elly ein Verhältnis mit ihrem verheirate-
seiner Geliebten, Margoszata, einer polnischen       ten Chef, dem Ministerialdirigenten Dinklage,
Fotografin. Für ihn ist Berlin ‚Laputa‘, die flie-   hat, ist sie bereit, dem attraktiven Ost-Spion bei
gende Insel aus Gullivers Reisen. Dieses Mal         einem Manöver behilflich zu sein. 50er-Jahre-
24   november 21 werkschau helma sanders-brahms

                                                     LAPUTA
                                                     (BRD 1986)

Flair, Wochenschau-Ausschnitte und die Schau- MEIN HERZ – NIEMANDEM! (D 1997 | 27.11.) ist
spielerriege um Alfred Edel und Adriana Altaras     eine weitere Künstlerbiografie bzw. -doppelbio-
transformieren die Spionagestory in eine skur- grafie. Die jüdische Lyrikerin Else Laske-Schüler
rile Kalte-Kriegs-Komödie.                          und der Schriftsteller Gottfried Benn, der den
HERMANN MEIN VATER (F/BRD 1987 | 26.11.) ist        Nazis anhing, waren sich in leidenschaftlicher
ein sehr persönlicher Dokumentarfilm: Helma         Liebe zugetan. Zahlreiche, als Dialog zu verste-
Sanders-Brahms unternimmt mit ihrem Vater           hende Gedichte legen davon ein beredtes Zeug-
eine Reise nach Frankreich, sucht mit ihm die       nis ab. Diese Liebeslyrik steht im Zentrum des
Stätten auf, wo er 1940 als deutscher Besatzer      collagehaften Films, der Spielszenen, Doku-
war, verfolgt die neuerliche Begegnung mit Men- mente und Musiksequenzen miteinander ver-
schen, die er damals kennengelernt hatte. Den       webt. (ah)
Aufnahmen wird Dokumentarmaterial gegen- Eine Veranstaltung der Deutschen Kinemathek
übergestellt, das die Grausamkeit und Wucht des – Museum für Film und Fernsehen. Weitere Filme
deutschen Überfalls auf Frankreich nachempfin- von Helma Sanders-Brahms sind zwischen dem
den lässt. Die Regisseurin möchte ihren Vater mit   21.11. und 13.12. im Bundesplatzkino zu sehen.
der historischen Wahrheit konfrontieren und ein     Helma Sanders-Brahms was one of the most
Schuldbekenntnis hören, dieser aber folgt eher      important German filmmakers of the post-war
seinen persönlichen Erinnerungen und entzieht       era. A selection of seven films from the director’s
sich der Konfrontation. Einerseits ist diese Vater- extensive oeuvre provides an overview. She was
Tochter-Reise als Gegenstück zu DEUTSCHLAND, comfortable both in fiction and documentary cin-
BLEICHE MUTTER gedacht, der Geschichte über         ema, making films about historical themes as
die Mutter der Regisseurin, andererseits ergänzt    well as about contemporary issues, and poign-
dieser Dokumentarfilm zusammen mit MANÖ- ant dramas as well as political satires.
VER die Nachkriegs-Trilogie.
werkschau leos carax november 21 25

                                   BOY MEETS GIRL
                                          (F 1983)

Werkschau Leos Carax
Leos Carax (1960 als Alexandre Oscar Dupont          glückliche Liebe, sein bevorzugter Schauplatz
geboren) kann mit Fug und Recht als Ausnah-          die Stadt Paris. Denis Lavant fungiert als sein
me-Filmemacher bezeichnet werden. Vom eins-          Alter Ego, die von ihm verkörperten Figuren tra-
tigen Regiewunderkind der frühen 80er Jahre          gen die Vornamen des Filmemachers: Alex und
hat er sich zu einem kontrovers diskutierten         Oscar.
Protagonisten des internationalen Autorenfilms       Anlässlich der Berlinpremiere von Annette, dem
entwickelt und bis heute eine Sonderstellung im      aktuellen Film von Leos Carax, zeigt das Arsenal
französischen Kino inne. Euphorisch gefeiert         im Rahmen der Französischen Filmwoche eine
oder entschieden abgelehnt umgeben den gro-          Werkschau seiner zwischen 1983 und 2012 ent-
ßen Einzelgänger viele Legenden, nicht zuletzt       standenen fünf Langfilme.
seit der aufsehenerregenden Produktionsge-           BOY MEETS GIRL (Leos Carax, F 1983 | 27.11.) Alex
schichte von LES AMANTS DU PONT-NEUF, wo er          (Denis Lavant) und Mireille (Mireille Perrier),
Budget und Zeitplan bei weitem überschritt. Nur      beide Anfang 20, treffen als Verlassene aufein-
sechs Langfilme hat Carax in knapp 40 Jahren         ander. Er hat seine Freundin an seinen besten
gedreht. Sein schmales Werk ist jedoch überaus       Freund verloren – und diesen deshalb fast er-
reich an Attraktionen und Obsessionen. Exzessiv      würgt –, sie wurde gerade von ihrem Liebhaber
in den Mitteln, radikal stilisiert und von großer    sitzen gelassen. Während Mireille lesend einen
Wucht lassen sich seine Filme auf kein Genre         Steptanz vollführt, streunt Alex im karierten Ja-
festlegen. Sie bersten vor visuellen und akusti-     ckett durch die Pariser Nacht und David Bowie
schen Einfällen und zeugen von einem außeror-        singt dazu „When I Live My Dream“. Bei einer
dentlichen Ideenreichtum, der die Überdosis          Party, deren Gäste einem Kuriositätenkabinett
nicht scheut und mit zahlreichen cinephilen          entstammen, kommen sie schließlich ins Ge-
Verweisen und filmgeschichtlichen Bezugnah-          spräch, der Welt entrückt. Aus der jungen Frau
men aufwartet. Carax’ großes Thema ist die un-       mit Kurzhaarfrisur und schwarzer Sonnenbrille
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