Grenzsituationen - eine Pandemie und ihre Folgen: Ausblick auf den Kongress - Internationaler Kongress der Ärztinnen

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Grenzsituationen - eine Pandemie und ihre Folgen: Ausblick auf den Kongress - Internationaler Kongress der Ärztinnen
68. Jahrgang . ISSN 0341-2458

                                                                     04 | 2021

                          Zeitschrift des
                          Deutschen Ärztinnenbundes e.V.

                   Internationaler Kongress
                   der Ärztinnen
                   Deutschland | Österreich | Schweiz

Grenzsituationen –
eine Pandemie und ihre Folgen:
Ausblick auf den Kongress
Grenzsituationen - eine Pandemie und ihre Folgen: Ausblick auf den Kongress - Internationaler Kongress der Ärztinnen
INHALT/IMPRESSUM

                 Inhalt                                                                   ärztin
                                                                                          Offizielles Organ
                                                                                          des Deutschen Ärztinnenbundes e. V.
                                                                                          ISSN 0341-2458

                                                                                          Herausgegeben vom
          03      Editorial                                                               Deutschen Ärztinnenbund e. V.
                  Junges Forum                                                            Präsidentin: Dr. med. Christiane Groß, M.A.
                                                                                          E-Mail: gsdaeb@aerztinnenbund.de

          04      Gastbeitrag                                                             Redaktion und V.i.S.d.P.:
                  Dr. phil. Anke-Christine Saß, Dr. rer. medic. Sabine Ludwig             Alexandra von Knobloch
                                                                                          Pressereferentin des Deutschen Ärztinnenbundes
                  Frauengesundheitsbericht: Positives, aber auch Herausforderungen
                                                                                          E-Mail: presse@aerztinnenbund.de

          05      Schwerpunkt: Kongressthema Grenzsituationen – ein Ausblick              Redaktionsausschuss:
                  Dr. med. Christiane Groß, M.A., Dr. med. Bettina von Gizycki-Nienhaus   Dr. med. Christiane Groß, M.A.
                                                                                          Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk
                  Dr. med. Adelheid Schneider-Gilg
                                                                                          Dr. med. Heike Raestrup
                  Junges Forum                                                            PD Dr. med. Barbara Puhahn-Schmeiser
                  Dr.in med. Mag.a phil. Edith Schratzberger-Vécsei
                  Im Interview: Prof. Dr. med. Ulrike Protzer                             Geschäftsstelle des DÄB
                                                                                          Rhinstraße 84, 12681 Berlin
                  Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. Sylvia Thun                                   Tel.: 030 54 70 86 35
                  Pfarrer Udo Hahn                                                        Fax: 030 54 70 86 36
                  Im Interview: Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle                            E-Mail: gsdaeb@aerztinnenbund.de

                                                                                          Wir bitten alle Mitglieder, uns ihre aktuelle
          12      Im Interview: Prof. Dr. Regine Graml, M.A.                              E-Mail-Adresse mitzuteilen
                  „Frauen haben nicht weniger beruflichen Ehrgeiz als Männer“
                                                                                          Grafikdesign:
                                                                                          d‘sign, Anne-Claire Martin
          13      Vincent-Immanuel Herr, Martin Speer
                                                                                          Mommsenstraße 70, 10629 Berlin
                  Sexismus: Wie Männer Teil der Lösung werden können                      Tel.: 030 883 94 95
                                                                                          E-Mail: anneclaire.martin@berlin.de
          14      Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk
                                                                                          Druck:
                  Genderwissen in der Lehre: Laut Gutachten unzureichend
                                                                                          Umweltdruck Berlin GmbH
                                                                                          Sportfliegerstr. 5, 12487 Berlin
          16      PD Dr. med. Barbara Puhahn-Schmeiser
                  Erstmals Umfrage zum Mutterschutzgesetz: Die Ergebnisse

          18      Aus dem Verband                                                         Die Zeitschrift erscheint dreimal pro Jahr.
                  Einladung zur Mitgliederversammlung                                     Heftpreis 5 Euro. Bestellungen werden von der
                                                                                          Geschäftsstelle entgegengenommen.
                                                                                          Für ordentliche Mitglieder des DÄB ist der Be-
          19      Dr. phil. Maria Linsmann-Dege                                           zugspreis durch den Mitgliedsbeitrag abgegolten.
                  Silberne Feder 2021 des DÄB für „Sommer ist trotzdem“                   Redaktionsschluss der Ausgabe 02/2021:
                                                                                          28. Juni 2021
          20      Aus den Regionalgruppen: Saarbrücken • Hannover • Nachruf
                                                                                          Fotos:
                                                                                          Titelseite: 123rf_dotshock, Seite 8: Pixabay, Seite 12:
          21      Neue Mitglieder                                                         123rf_ Volodymyr Tverdokhlib, Seite 14: 123rf_
                                                                                          Oleksandr Shpak, Andrii Hrytsenko, Seite 15: 123rf_
                                                                                          luckybusiness, Seite 16: Unsplash, Seite 17: Pixabay,
          22      Dr. med. Astrid Bühren                                                  Seite 24: 123rf_serezniy
                  Buchbesprechung: Mutmacherbuch für Chirurginnen
                  Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk                                     Haftungsbeschränkung
                                                                                          Der DÄB übernimmt weder die Verantwortung für den
                  Buchbesprechung: Wie das Fernsehen Frauen unsichtbar macht
                                                                                          Inhalt noch die geäußerte Meinung in den veröffent­
                                                                                          lichten Beiträgen. Für unverlangt eingesandte Manu­
          23      Dr. med. Katharina Graffmann-Weschke                                    s­kripte und Fotos übernehmen wir keine Haftung.
                  Zum 150. Geburtstag von Lydia Rabinowitsch-Kempner                      Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die
                                                                                          Meinung des jeweiligen Autors oder der jeweiligen
                                                                                          Autorin und nicht immer die Meinung der Redaktion
          24      Vorläufige Tagesordnung der Mitgliederversammlung 2021                  wieder. Wir behalten uns das Recht vor, Beiträge und
                                                                                          auch Anzeigen nicht zu veröffentlichen.

 2    ärztin 1 April 2021                                                                                                         68. Jahrgang
Grenzsituationen - eine Pandemie und ihre Folgen: Ausblick auf den Kongress - Internationaler Kongress der Ärztinnen
EDITORIAL

Liebe Kolleginnen,

auch wir sind so müde wie Sie, und                                      Mühlstein an das Bein der Pandemie­
trotzdem können wir den Blick von Co-                                   bekämpfung geheftet hat. Viele notwen­
rona (noch) nicht abwenden. Obwohl die                                  dige Erneuerungen werden immer noch
Impfstoffe nun da sind, scheint sich ab-                               ausgebremst, weswegen unsere Posi-
zuzeichnen, dass unser Leben und unsere                             tionierung zum Thema Digitalisierung als
Arbeitswelt weiterhin auf unbestimmte Zeit                       auch die aktive Beteiliung umso (ge)wichtiger
von dem Virus geprägt sein werden. Ebenso wird es          werden.
Jahre brauchen, bis die sozialen, ökonomischen und
psychologischen Veränderungen in ihrem vollen Aus-         Doch auch abseits der Praxis widmen sich unsere
maß sichtbar werden und in das Bewusstsein der             Autorinnen dem großen und fundamentalen Thema
Öffentlichkeit drängen.                                    der Freiheit. Dieses Virus würde noch mehr Menschen-
                                                           leben kosten, wenn man es einfach laufen ließe – und
Es ist nun auch lange kein Geheimnis mehr, dass diese      das wirft die Frage nach der Freiheit der Einzelnen in
Pandemie vulnerable Gruppen wie Frauen besonders           der Gesellschaft neu auf. Freiheit, die wir als Selbst-
trifft. Die Zunahme der häuslichen Gewalt gegenüber        verständlichkeit erachteten, hat sich in einer kaum vor-
Frauen und Kindern gehört zu den besorgniserregen-         stellbaren Art und Weise verändert. Wie steht es um
den Entwicklungen. Unter diesem Aspekt sind eine           dieses hohe Gut in Pandemiezeiten? Weiterhin sollte
globale Strategie und Vernetzung umso wichtiger und        vor allem die Ethik unser Handeln leiten, weswegen
essenziell. Daher widmen wir das Titelthema in die­        es ethischer Maßstäbe bedarf, die die Freiheit aller be-
ser ärztin dem kommenden Internationalen Kongress          denken.
der Ärztinnen als Online-Dreiländertagung unter Teil-
nahme der zentraleuropäischen Region des Weltärz-          Unser Kampf für die Rechte und Ansprüche aller
tinnenbundes, der das Thema „Grenzsituation – eine         Frauen ist wichtiger denn je, denn es geht um mehr
Pandemie und ihre Folgen“ in den Fokus setzt. Da           denn je. Und daher gilt immer noch (unter Einhaltung
männliche Verbündete bei diesem Thema unabding-            der Abstandsregeln natürlich): Gemeinsam sind wir
bar sind, möchten wir Ihnen die Solidaritätskampagne       mehr!
„HeForShe“ (Seite 13) der UN Women vorstellen. De-
ren erklärtes Ziel ist es, alle Formen von Gewalt und      Ihr Junges Forum des Deutschen Ärztinnenbundes
Diskriminierung gegenüber Frauen und Mädchen zu
beenden.

Diese Pandemie hat jedoch auch wie ein Brennglas
auf all die zuvor bestehenden gesellschaftlichen Pro­
bleme gewirkt und sie akut werden lassen: Sowohl der
                                                               Dr. med. Wajima Safi,         Dr. med. Linda Meyer,
Mangel an weiblichen Expertinnen und Wissenschaft-
                                                                    Vorsitzende                 Schatzmeisterin
lerinnen als auch die verschleppte Digitalisierung er-
fahren nun endlich die längst notwendige Aufmerk-
samkeit. Der zähe digitale Wandel hat uns schon seit
Jahren wertvolle Zeit geraubt, die wir der Fürsorge un-
serer Patientinnen und Patienten hätten widmen kön-
nen. Wir sehen auch hier, wie die deutsche Bürokratie          Dr. med. Dilan Sinem Sert,   Dr. med. Margarete Heibl,
und Regeltreue sich als träger und unbeweg­       licher            Schriftführerin                Beisitzerin

                                                                                                             ärztin 1 April 2021   3
Grenzsituationen - eine Pandemie und ihre Folgen: Ausblick auf den Kongress - Internationaler Kongress der Ärztinnen
GASTBEITRAG

                                                                             Frauengesundheitsbericht:
                                                                             Gesundheitschancen auch
                                                                             eine Frage der Gleichstellung

                                                              Foto: privat
                             Foto: privat

                                            DR. PHIL. ANKE-CHRISTINE SASS, DR. RER. MEDIC. SABINE LUDWIG MSC, MA

      Im Pandemiejahr 2020 hat ein kleines Team aus der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE) den
      neuen Bericht „Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland“ des Robert Koch-Instituts fertiggestellt.
      Er zeigt viel Positives, aber auch Leerstellen und Herausforderungen.

     A
              nfang Dezember 2020 lag er vor uns – viel dicker als ge-             Frauengesundheit und will dazu beitragen, die Sensibilisierung
              plant – der neue Bericht, abzurufen unter: www.rki.de/               in Politik, Wissenschaft und Praxis voranzutreiben. Es sind
              frauengesundheitsbericht. Etwa vier Jahre nach den                   neue Erkenntnisse der Geschlechterforschung in der Medizin
      ersten Konzepten war er fertig. Das waren Jahre des Ringens                  eingeflossen. Das soll das Bewusstsein schärfen für Ge-
      um die Themenwahl, die angemessene Tiefe, um Grafiken, tref-                 schlechterunterschiede bei der Prävention, Krankheitsent­
      fende Kernaussagen und praxisrelevante Schlussfolgerungen.                   stehung, Diagnose, Therapie und Erforschung von Krankheiten
      Über 70 Gutachten von Fachexpert:innen wurden eingeholt,                     sowie für die Notwendigkeit der Integration dieser Inhalte in
      rund 120 Beteiligte haben beigetragen. Am Ende entstanden                    die Lehre – um die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern.
      400 Seiten, mit großer Sorgfalt aufbereitet, aber sicher nicht
      aus der Kategorie „One Size Fits All“.                                       Daten für Taten

      Insgesamt präsentierte sich die Gesundheit und Gesund-                       Die Rezeption des Berichtes in Wissenschaft, Praxis und Po-
      heitsversorgung von Frauen in Deutschland auf einem hohen                    litik hat begonnen. Wir werden das Jahr 2021 für zahlreiche
      Niveau: Zwei Drittel der Frauen bewerten ihre Gesundheit als                 Tagungsbesuche und Vorträge nutzen, so dass die Inhalte
      gut oder sehr gut. Die Lebenserwartung steigt: Nie zuvor hat-                eine weite Verbreitung finden. Es ist uns ein Anliegen, sie zu
      ten neugeborene Mädchen in Deutschland die Chance auf im                     den Akteur:innen zu tragen, denn der Vergleich mit dem ers-
      Durchschnitt etwa 83 Jahre Lebenszeit.                                       ten Frauengesundheitsbericht von 2001 zeigt: Wir sind in den
                                                                                   letzten 20 Jahren bei der gerechten und gleichen Verteilung
      Hürden beim Zugang zur Versorgung                                            der Gesundheitschancen ein ganzes Stück weitergekom-
                                                                                   men – und es gibt noch immer viele Herausforderungen. Wir
      Doch es zeigte sich auch, dass in einigen Bereichen Daten                    freuen uns über Ihre Rückmeldungen zum Bericht und hoffen,
      fehlen, beispielsweise um die Gesundheit von Frauen mit                      dass er bei Ihrer täglichen Arbeit von Nutzen sein kann und wir
      Migrationshintergrund differenziert darzustellen oder auch zur               damit Aktivitäten und Projekte anstoßen. ƒ
      Verbreitung gutartiger gynäkologischer Erkrankungen wie En-
      dometriose.                                                                   Dr. phil. Anke-Christine Saß ist stellvertretende Leiterin der GBE
                                                                                    am Robert Koch-Institut und seit mehr als 15 Jahren als Wis-
      Bei Prävention und Versorgung fällt auf, dass nicht alle Frauen               senschaftlerin, Redakteurin und Projektleiterin in der GBE. Einer
      gleichermaßen Zugang zu den Angeboten finden. Hürden kön-                     ihrer Schwerpunkte ist das Thema Geschlecht und Gesundheit.
      nen durch mangelnde Barrierefreiheit entstehen – etwa bei der                 Sie hatte die Projektleitung für den Frauengesundheitsbericht.
      Erreichbarkeit von Arztpraxen – oder durch schwere Verständ-                  Dr. rer. medic. Sabine Ludwig hat eine Vertretungsprofessur für
      lichkeit von Informationsmaterial für Frauen mit Behinderun-                  Gesundheitswissenschaften/Public Health an der Hochschule
      gen. Der Bericht zeigt an vielen Stellen, dass Alter, Bildung, Ein-           für Gesundheit in Bochum und ist an der Charité/Universitäts­
      kommen, Erwerbsstatus, Familienform, Migrationshintergrund,                   medizin Berlin angebunden. Sie war im Team zur Erstellung des
      Behinderung, sexuelle Orientierung und weitere Faktoren die                   Berichts und ist Autorin sowie Redakteurin zahlreicher Kapitel.
      Gesundheitschancen in Deutschland stark beeinflussen. Über-                   Ihr Forschungsschwerpunkt liegt bei Geschlecht und Gesund-
      geordnet spielen dabei auch Gleichstellung und Geschlechter-                  heit sowie der geschlechtersensiblen Medizin.
      gerechtigkeit eine wichtige Rolle. Der neue Bericht liefert die
      empirischen Grundlagen zu vielen wichtigen Themen der                        E-Mail: SassA@rki.de / Sabine.Ludwig@hs-gesundheit.de

 4    ärztin 1 April 2021                                                                                                                 68. Jahrgang
Grenzsituationen - eine Pandemie und ihre Folgen: Ausblick auf den Kongress - Internationaler Kongress der Ärztinnen
KONGRESSTHEMA: GRENZSITUATIONEN

                                                                                  Grenzsituationen:
                                                                                  Ein Kongress für neue
                                                                                  Impulse

                                                             Foto: © M. Stepath
                      Foto: © J. Rolfes

                                          DR. MED. CHRISTIANE GROSS, M.A., DR. MED. BETTINA VON GIZYCKI-NIENHAUS

D
       as Auftauchen des Corona-Virus hat unseren gesam-                                Ausdrücklich möchten wir noch einmal auf den Tagungsort
       ten Berufsstand herausgefordert und Dynamiken ent-                               hinweisen, den wir diesmal nicht nutzen können. In der Abtei
       wickelt, mit denen wir seither Tag für Tag umgehen                               Frauenwörth auf der Fraueninsel im Chiemsee leben seit über
(müssen). Selbstverständlich schlägt sich das auch im Kon-                              1200 Jahren Frauen nach der Regel des Heiligen Benedikt. Es
gress der Ärztinnenverbände aus Österreich, der Schweiz und                             ist ein weithin bekannter Seminarort für Erwachsenenbildung
Deutschland nieder, zu dem wir die Region Zentraleuropa des                             mit einer einzigartigen Atmosphäre, die Kontemplation und
Weltärztinnenbundes eingeladen haben.                                                   Konzentration mit Weltoffenheit verbindet. So viele Ärztinnen
                                                                                        hatten sich sofort und spontan für den Kongress angemeldet.
Vernetzung über Ländergrenzen ist wichtiger als je zuvor. In-                           So groß war auch die Vorfreude für viele Kolleginnen gerade
sofern könnten wir mit unserem internationalen Kongress gar                             auch mit der Hoffnung auf etwas mehr Normalität nach der
nicht aktueller sein. Dass er nun ausschließlich online statt­                          Pandemie. Mit dem Bild der Vorfreude im Kopf oder im Herzen
findet, ist der Pandemiesituation geschuldet. Darin zeigt sich                          haben wir uns entschlossen, ein Wochenende im Herbst 2022
jedoch auch, wie zentral das Thema Digitalisierung für uns alle                         für einen Kongress des DÄB zu reservieren. Hoffentlich kön-
inzwischen geworden ist.                                                                nen wir dann neben der Schönheit dieser kleinen Insel auch
                                                                                        die Schönheit von gemeinsamen Gesprächen und Erleben wie-
Persönlich bedauern wir alle, dass die Pandemie die Begeg-                              der genießen. Merken Sie sich schon jetzt das Wochenende 7.
nung und den direkten Austausch von Mensch zu Mensch                                    bis 9. Oktober 2022 für die Fraueninsel vor. ƒ
verhindert. Hatten wir uns doch schon seit Jahren auf so eine
Begegnung der Ärztinnen aus den drei Ländern gefreut. Statt                              Dr. med. Christiane Groß, M.A. ist Präsidentin des DÄB, der
Gemeinsamkeit zu erleben, hat die Covid-Pandemie Hürden                                  den 1. Internationalen Kongress der Ärztinnen federführend
errichtet. Statt zusammenzusitzen, erfahren wir die Notwen-                              ausrichtet. Dr. med. Bettina von Gizycki-Nienhaus ist als Vor-
digkeit der Distanz. Menschliche Distanz ist ein Faktor, der zu                          sitzende des Forum 60 plus im DÄB an der Planung beteiligt.
der andauernden Verunsicherung beiträgt, die uns nun auch
seit mehr als einem Jahr begleitet. Das Thema spiegelt sich                             Kongress-Seite: https://aerztinnen-kongress.org
auch in den Referaten des Kongresses wider. Die Pandemie
verändert die Sicht der Gesellschaft, sei es auf die Ethik, die                              Gewinnbringender Blick über Ländergrenzen
Religion, die Soziologie und natürlich auch die Virologie.                               Wir sitzen bezüglich der Pandemie alle sozusagen im sel-
                                                                                         ben Boot: Dennoch ist anzunehmen, dass jedes Land mit
Eine Folge der Pandemie und ihrer verordneten Distanz ist                                dieser Jahrhundertproblematik etwas unterschiedlich um-
die Veränderung der Debattenkultur und die Verschiebung in                               geht. Der internationale Kongress ist in dieser Situation
den virtuellen Raum. Dem tragen wir Rechnung, indem wir                                  außer­ordentlich sinnvoll und gewinnbringend. Wie erleben
auch einige Workshops anbieten, die uns im Alltag jetzt und in                           die Nachbarn diese Zeit? Wie beschreiben sie diese bezüg-
der Zukunft praktisch helfen können. Der digitale Raum wird                              lich Krankheitsablauf, Gefahrensituation, therapeutischer
uns ermöglichen, Themen unter einem ganz besonderen As-                                  Optionen, Einschränkungen, Umgang mit wirtschaftlichen
pekt zu erleben. Der digitale Raum aber trennt uns genauso,                              Folgen und Veränderungen? Wir Ärztinnen aus der Schweiz
wie er uns verbindet. Auch wenn wir uns alle sehen, wird et-                             freuen uns auf sachliche Diskussionen und auch online auf
was fehlen: der verständnisvolle Blick, die gemeinsame Tasse                             menschliche und freundschaftliche Kontakte.
Kaffee, der Blick auf den See oder in den Klostergarten, der                             Dr. med. Adelheid Schneider-Gilg, Präsidentin der medical
Ideenaustausch beim Spazieren um die Insel. Der Kongress                                 women switzerland (mws), der Ärztinnen der Schweiz.
hätte so viel mehr geboten. Und doch zeigt die Virtualität
Neues auf: Vielleicht beteiligen sich mehr Kolleginnen am Kon-
gress, vielleicht schaffen wir Räume, die vorher nicht da waren.

                                                                                                                                      ärztin 1 April 2021   5
Grenzsituationen - eine Pandemie und ihre Folgen: Ausblick auf den Kongress - Internationaler Kongress der Ärztinnen
KONGRESSTHEMA: GRENZSITUATIONEN

      Junges Forum:                                                                                                    Gute Tradition:
      Kongress-Thema                                                                                                   Kongress-Themen
      Digitali­sierung ist zentral                                                                                     über die Medizin
      für uns Ärztinnen                                                                                                hinaus

                                                                                                        Foto: privat
     W
                    ir als Vorstand des Jungen Forums (JF) freuen uns
                    sehr über die vielen neuen, jungen Kolleginnen, die
                    im letzten Jahr Mitglied des DÄB geworden sind                  DR.IN MED. MAG.A PHIL. EDITH SCHRATZBERGER-VÉCSEI
      und gemeinsam mit uns die junge Stimme stärken. Wegen des
      hohen Anteils an Studentinnen bei den Neumitgliedern wer-

                                                                                 A
      den wir uns bei der kommenden Mitgliederversammlung für                             ls die Idee eines länderübergreifenden gemeinsamen
      eine studentische Vertretung im DÄB einsetzen. Ein weiteres                         Kongresses geboren wurde, war von Corona noch
                                 unserer Anliegen besteht darin, präsen-                  keine Rede, es gab noch keine Pandemie. Dann wurde
                                 ter in der digitalen Transformation des         unser aller Leben auf den Kopf gestellt, im Jasperschen Sinne
                                 Gesundheitswesens zu sein und auch in           waren wir alle plötzlich in einer „Grenzsituation“ – das meint, in
                                 den sozialen Medien. Bei der Neustruk-          einer Situation, in der wir an die Grenzen unseres Seins stoßen.
                                 turierung der Arbeitswelt, welche die Di-       Was der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers als „angstvol-
                                 gitalisierung mit sich bringt, drohen wir       les Erleben der Unzuverlässigkeit der Welt“ bezeichnete, drückt
                                 Ärztinnen zu verlieren, wenn wir diese          gut aus, was viele von uns im letzten Jahr erlebt haben.
                                 komplexen Themengebiete nicht noch
      Dr. med. Wajima Safi, M.A. stärker über den DÄB mitgestalten.              Grenzsituationen als Thema unserer Tagung bezieht sich da-
                                                                                 her auf das, was die Pandemie mit uns allen macht – und spielt
      Darum freuen wir uns, dass die Digitali­                                   andererseits auch auf das grenzüberschreitende gemeinsame
      sierung beim internationalen Kongress                                      Projekt einer Tagung der drei Länder an. Ein wesentliches An-
      der Ärztinnen im Mai ein Gewicht be-                                       liegen besteht darin, neben rein medizinischen Themen weite-
      kommt. Durch die Zuschriften an uns                                        re Aspekte der Pandemie anzusprechen.
      wissen wir von der Motivation und dem
      Engagement der neuen DÄB-Mitglieder                                        Gemeinsame Interessen, spannendes Programm
      und auch von vielen, die schon länger
      dabei sind. Diese Frauenpower möchten          Dr. med. Linda Meyer        Damit steht dieser internationale Kongress in der Tradition un-
      wir gerne in mehr Projekte, Ideen und ge-                                  serer nationalen Tagungen in Österreich. Die Kolleginnen aus
      gebenenfalls Arbeitsgruppen übertragen.                                    Deutschland haben für diese erste gemeinsame Tagung die
                                                                                 Mühen der Organisation geschultert. Vielen Dank dafür! Die
                               Als JF veranstalten wir auch halbjähr-            Pandemie erschwert die Organisation, Planungssicherheit
                               lich Seminare zu unterschiedlichen The-           kann es nicht geben. Ich freue mich, dass es trotzdem gelun-
                               men. Diese (virtuellen) Treffen bieten            gen ist, ein spannendes Programm zusammenzustellen und
                               zusätz­lich eine gute Gelegenheit zum             immer wieder in Kontakt zu sein – danke auch dafür. ƒ
                               Kennenlernen und Networking. In diesen
                               Seminaren wird oft nach persön­lichem              Dr.in med. Mag.a phil. Edith Schratzberger-Vécsei ist Ärztin
                               Coaching gefragt. Beim Kongress wer-               für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutische Medizin in
      Dr. med. Margarete Heibl den die Workshops zu Rhetorik oder                 Wien und Leiterin der Akademie für Psychotherapeutische
                               auch zum Konfliktmanagement sicher                 Medizin. Sie ist Präsidentin der Organisation der Ärztinnen
      interessant für Kolleginnen, die sich gerade ihre Karriere auf-             Österreichs. Website: aerztinnen-oesterreich.at
      bauen. ƒ
                                                                                 E-Mail: info@aerztinnen-oesterreich.at
       Dr. med. Wajima Safi, Dr. med. Dilan
       Sinem Sert, Dr. med. Margarete Heibl
       und Dr. med. Linda Meyer sind die der-
       zeit aktiven Mitglieder im Vorstand des
       Jungen Forums beim DÄB.

      E-Mail: jungesforum@aerztinnenbund.de          Dr. med. Dilan Sinem Sert

 6    ärztin 1 April 2021                                                                                                             68. Jahrgang
KONGRESSTHEMA: GRENZSITUATIONEN

                                     Weltärztinnenbund beim Kongress:
                                     Herausforderungen für Frauen
                                     während der Pandemie
                      Foto: privat

                                         DR.IN MED. MAG.A PHIL. EDITH SCHRATZBERGER-VÉCSEI

Nach einem Jahr Pandemie erscheint ein internationaler Kongress nicht mehr selbstverständlich. Umso
mehr freue ich mich, dass diese Online-Dreiländertagung zugleich auch der regionale, zentraleuropäische
Kongress der Medical Women's International Association (MWIA) ist. In der Corona-Pandemie ist der Kon-
takt zwischen Ärztinnen aus aller Welt wichtiger denn je.

I
   nnerhalb des Weltärztin-                                                                           gibt es regelmäßigen Aus-
   nenbundes gibt es seit Be-                                                                         tausch und Kontakt.
   ginn der Pandemie einen
regen virtuellen Austausch.                                                                           Möglichkeiten des
Von den ersten verzweifelten                                                                          Engagements
Berichten aus Italien zu Be-
ginn der Pandemie 2020                                                                                 Von Seiten der MWIA ist für
über die erschütternden Mel-                                                                           jedes Triennium, das sind
dungen über die Corona-Ent-                                                                            die drei Jahre zwischen den
wicklung aus den USA spra-                                                                             Weltkongressen, ein regiona­
chen wir einander Mut zu,                                                                              ler Kongress vorgesehen. Da-
wollten einander eine emotio-                                                                          her wird die DACH-Tagung
nale Stütze sein.                 Mai 2019: Regionalkongress der MWIA Zentraleuropa in Tiflis          auch als der zentraleuropäi­
                                  (Georgien) mit Teilnehmenden an einem Workshop                       sche Regionalkongress der
Das alles passiert im Rahmen                                                                           MWIA fungieren und es gibt
der Online-Vorstandstreffen und der Be- Auch bei der European Women’s Lobby, zwei Workshops in Englisch, obwohl die
sprechungen von Arbeitsgruppen, die in der die MWIA vertreten ist, wird immer Kongresssprache Deutsch ist. In einem
ebenfalls virtuell stattfinden. Allerdings wieder auf die Folgen der Pandemie für Workshop soll die Gelegenheit bestehen,
bremst die Corna-Krise die MWIA durch- Frauen hingewiesen. Die Mehrbelastun- ein Engagement innerhalb der MWIA
aus auch aus. Für viele Kolleginnen hat gen zeigen sich bei vielen Patientinnen, auszuloten, Arbeitsgruppen vorzustellen
die Mehrbelastung durch die Pandemie aber auch bei Ärztinnen als Erschöp- und auch von der European Women’s
es erschwert, Zeit für das Engagement fungszustände oder Depressionen. Lobby zu berichten. Die derzeitige Past-
in den jeweiligen nationalen oder inter- Angsterkrankungen nehmen ebenfalls Präsidentin der MWIA, Prof. Dr. med. Dr.
nationalen Organisationen zu finden.          zu. Zu den Belastungen der Pandemie rer. nat. Bettina Pfleiderer aus Münster,
                                              für Ärztinnen macht die MWIA gerade wird ihre Erfahrungen mitteilen und auch
Fokusthema häusliche Gewalt                   eine Studie.                                   von den Herausforderungen, die eine im
                                                                                             besten Sinne diverse, große Organisation
Einige wichtige Themen treiben wir je- Die Zentraleuropäische Region der mit sich bringt, berichten. ƒ
doch mit Nachdruck weiter voran: Bei- MWIA umfasst nicht nur Länder, die geo-
spielsweise hat die MWIA sehr früh graphisch hier angesiedelt sind, sondern                   Dr.in med. Mag.a phil. Edith Schratz­
thematisiert, dass die Corona-Pande- folgt der Aufteilung der Regionen der                    berger-Vécsei aus Wien ist Präsidentin
mie eine besondere Belastung für viele UNO. Damit sind auch Staaten wie Geor-                 der Organisation der Ärztinnen Öster-
Frauen bedeutet und dass die häusliche gien, Russland, Polen, Tschechien und                  reichs und als eine Vizepräsidentin der
Gewalt gegen Frauen zunimmt. Das war die Slowakei Teile dieser Region. Inner-                 MWIA zuständig für die Region Zentral­
auch ein Thema beim Treffen der Com- halb der Region sind die Beziehungen                     europa. Website der MWIA: mwia.net
mission on the Status of Women (CWS) der deutschsprachigen Länder beson-
im März in New York.                          ders eng. Zwischen den Präsidentinnen E-Mail: info@aerztinnen-oesterreich.at

                                                                                                                   ärztin 1 April 2021   7
KONGRESSTHEMA: GRENZSITUATIONEN

                                          IM INTERVIEW

                                          „Das öffentliche Interesse für
                                          Wissenschaft und gerade für
                                          Neuerungen ist deutlich gewachsen“
                            Foto: © TUM

                                                             PROF. DR. MED. ULRIKE PROTZER

      Die Corona-Pandemie hat Ihre Arbeit                treffen. Ich vertrete die Wissenschaft                                  auch mehr über Neuerungen in der For-
      und Sie selbst in den Fokus der Öffent-            und nichts anderes. Das hat Minister­                                   schung wissen. Das kannte ich bislang
      lichkeit gerückt. Was hat sich für Ihre            präsident Markus Söder akzeptiert.                                      vor allem aus den USA. Dieses Informa­
      Arbeitsgruppe verändert?                                                                                                   tionsbedürfnis zu stillen, ehrlich und se­
                                                         Mehrere Wissenschaftlerinnen, die jetzt                                 riös aufzuklären, erachte ich durchaus
      Wir haben für die Forschung zu SARS-               in den Medien präsent sind, erhalten                                    als Aufgabe von Wissenschaftler:innen.
      CoV-2 ein neues Gebiet aufgemacht.                 Drohungen von Leuten, die Corona leug-
      Dabei kam uns zugute, dass wir aus der             nen oder frauenfeindlich hetzen.                                        Für wie wichtig halten Sie es, dass ge-
      ersten SARS-Pandemie über die Geneh-                                                                                       rade Frauen in den Medien als Expertin-
      migungen zur Arbeit mit Risikomaterial             Da kommt es mir wohl zugute, dass ich                                   nen für Wissenschaft auftreten?
      verfügten. Zudem zählt die Virus-Dia­              selbst keine Social Media-Profile habe.
      gnostik für die beiden Universitätsklinika         So halte ich das wahre Ausmaß solcher                                   Ich glaube, dass es schon eine Vorbild-
      der Technischen Universität München,               Anfeindungen von mir fern. Aber natür-                                  funktion für Mädchen und junge Frauen
      dem Klinikum rechts der Isar und dem               lich bekomme auch ich einige unschöne                                   hat, wenn Wissenschaftlerinnen vor die
      Deutschen Herzzentrum zu unseren                   Mails. Bisher kam ich damit zurecht, sie                                Kamera treten. Doch damit ist es nicht
      Standard-Aufgaben. Anfangs hatten wir              einfach wegzuklicken.                                                   getan. Wir müssen die Frauen auch in
      mit Engpässen in der Infrastruktur zu                                                                                      der Wissenschaft halten. Dafür müssen
      kämpfen. Es fehlten Mitarbeitende, Räu-                                                                                    wir ihnen Wege aufzeigen, wie sich Fa-
      me und Geräte. Inzwischen haben wir                                                                                        milie und Beruf vereinbaren lassen. An
      das Personal bei den Wissenschaftler:in-                                                                                   meinem Institut ist mit aufgefallen, dass
      nen und technischen Assistent:innen um                                                                                     jetzt neben den Naturwissenschaftler:in-
      50 Prozent aufgestockt. In der Verwal-                                                                                     nen mehr Ärztinnen hier arbeiten möch-
      tung arbeiten wir noch viel mit Aushilfen.                                                                                 ten. Vielleicht entdecken diese Frauen
                                                                                                                                 gerade Chancen außerhalb der für sie
                                                                                                               Foto: © Pixabay

      Sie selbst beraten außerdem die baye-                                                                                      sonst gängigen Fachgebiete. ƒ
      rische Staatsregierung zu Corona und
      sind eine gefragte Expertin für die Me-            Schubkraft: Wissenschaftlerinnen brauchen Vorbilder                     Interview: Alexandra von Knobloch
      dien. Wie gehen Sie damit um?
                                                         Einige Forscher:innen äußern sich nicht                                  Prof. Dr. med. Ulrike Protzer hat den
      Ich äußere öffentlich keine persönliche            öffentlich. Sie fürchten, ihre Aussagen                                  Lehrstuhl für Virologie an der Techni-
      Meinung. Ich beantworte Fachfragen und             würden verkürzt und falsch dargestellt.                                  schen Universität München (TUM) inne
      gebe Einschätzungen, die sich wissen-              Das schade der Karriere.                                                 und ist Direktorin des Instituts für Viro-
      schaftlich gut begründen lassen. Außer-                                                                                     logie an der TUM und am Helmholtz
      dem gehe ich nicht in Talk-Runden. Die-            Im Lauf einer akademischen Karriere                                      Zentrum München. Eigentlich liegt ihr
      ses Fernsehformat ist aufgrund seines              sammelt man ja einiges an didaktischer                                   Schwerpunkt beim Hepatitis-B-Virus.
      Konzepts ungeeignet, um Wissenschaft               Erfahrung. Damit sollte es einem ge-                                     Seit Beginn der COVID-19-Krise beschäf-
      zu erklären. Was die Politikberatung an-           lingen, Wissenschaft verständlich und                                    tigt sie sich intensiv mit dem neuen
      belangt: Als ich gebeten wurde, das Ex-            knapp zu vermitteln, ohne die Komple-                                    SARS-Coronavirus und berät die baye-
      pertengremium zu leiten, habe ich klar-            xität zu unterschlagen. Das öffentliche                                  rische Landesregierung als Leiterin des
      gemacht, dass es zwangsläufig zu Mei-              Interesse an Wissenschaft ist durch die                                  Corona-Expertengremiums.
      nungsverschiedenheiten kommt, wenn                 Corona-Pandemie gewachsen. Erfreuli-
      verschiedene Blickwinkel aufeinander-              cherweise möchten die Menschen jetzt                                    E- Mail: protzer@tum.de

 8    ärztin 1 April 2021                                                                                                                                       68. Jahrgang
KONGRESSTHEMA: GRENZSITUATIONEN

                                                            Aufgabe für Frauen:
                       Foto: © Berlin Institute of Health
                                                            Digitalisierung mitgestalten
                                                            und erproben

                                                                   PROF. DR. MED. DIPL.-ING. SYLVIA THUN

Die Corona-Pandemie offenbart die Situation bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Die Öffent-
lichkeit diskutiert zum Beispiel, ob wir in Deutschland in der Pandemie-Bekämpfung besser dastünden,
würden wir in Gesundheitsämtern überall mit Nachverfolgungssoftware arbeiten. Weniger öffentlich,
doch für uns Ärzt:innen wichtig: Wo positionieren wir uns im digitale Wandel?

D
         ie Corona-Krise verlangt viel von uns Frauen, Ärztinnen                      erleichtern oder dazu führen, dass Ärzt:innen sich den Algorith-
         und Wissenschaftlerinnen. Hinzu kommt, dass die                              men anpassen? Auch die Datenströme sind ein Thema, etwa
         schleppende Digitalisierung effiziente Prozesse zur                          welche Informationen ein Praxissystem weitergibt.
Pandemiebekämpfung verhindert. Einige Beispiele: Wäre die
Datenlage zur Pandemie exakter, wenn die Laborschnittstelle                           Doch eine neue Generation von Ärzt:innen hat Freude, die
des Robert Koch-Instituts (RKI) die PCR-Befunde schneller an                          digitale Medizin zu nutzen und weiterzuentwickeln. Moderne
(Corona-Warn-)Apps, Patienten und Gesundheitsämter über-                              Universitäten integrieren schon die Medizininformatik und
mitteln würde? Oder: Warum wird die Zettelwirtschaft in Impf-                         Digitale Tools in ihre Vorlesungen und konzipieren Curricula,
zentren nicht mit einer digitalen Anwendung gelöst oder zumin-                        die in jedem Fach Innovation und Health-Data-Science zu-
dest entbürokratisiert? Fünf Unterschriften pro zu impfender                          lassen. Immer mehr interessieren sich für Digital Clinician
Person verlangsamen die Impfstraßen. Warum ist das Impf-                              Scientist Programme, die erstmals Gelegenheit bieten, die
zertifikat noch nicht da und wie weit ist der digitale Impfpass?                      Fachärztinnen-Anerkennung zu erhalten.

Angst vor Datenmissbrauch                                                             Pandemiebekämpfung profitiert

Woran liegt die zögerliche Digitalisierung? Unter anderem                             Doch es gibt viele Ärzt:innen, die schon immer gerne mit Daten
damit werde ich mich in meinem Vortrag beim Kongress                                  gearbeitet haben: Public Health, Bioinformatik und Epidemio-
beschäftigen. Eine Theorie lautet: Das Thema sei seit jeher                           logie sind Fächer, die gerade in der Pandemie wichtiger denn
vollumfänglich von Männern besetzt. Diese hätten meist eine                           je sind. Auf Basis von Daten aus klinischen Studien und Apps
rein technische Sicht auf das Gesundheitswesen. Gepaart mit                           können wir den Pandemieverlauf modellieren und neue Er-
deutscher Gründlichkeit und der „German Angst“ vor Daten-                             kenntnisse bei Therapie und Diagnostik weltweit austauschen.
missbrauch behindere das längst überfällige Entwicklungen.                            Global Health auf Basis FAIRer (findable, accessible, interope-
Tatsächlich gehört es zu den Aufgaben im digitalen Wandel,                            rable, reusable) und standardisierter Daten ist das Fach der
skeptische oder verunsicherte Menschen abzuholen. Auch vie-                           Stunde! Folglich hat jede Ärzt:in auch die Pflicht, präzise Daten
le Ärzt:innen treibt ja die Sorge, durch Digitalisierung ersetzt zu                   zu erheben und weiterzugeben. Wir Frauen sollten ohne Angst
werden – oder umgekehrt: noch mehr arbeiten zu müssen. Sie                            die Digitalisierung mitgestalten und erproben. ƒ
haben Bedenken, dass die Qualität der Medizin leiden könnte
oder haftungsrechtliche Probleme auf sie zukommen. Zudem                                Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. Sylvia Thun ist seit 2011 Professorin
müssen sich Ärzt:innen immer mehr auf digitale Anwendungen                              für Informations- und Kommunikationstechnologie im Gesund­
verlassen: digitale Gesundheitsanwendungen (DIGAS), medizi-                             heitswesen an der Hochschule Niederrhein und leitet dort das
nische Informationsobjekte (MIOS) und die elektronische Pa­                             eHealth Kompetenzzentrum. Seit 2018 ist sie Charité-Visiting-
tientenakte (EPA).                                                                      Professor. Zusätzlich leitet sie die Core-Unit eHealth & Inter­
                                                                                        operabilität am Berlin Institut of Health (BIH). Unter ande­rem
Hinzu kommen neue Diagnose- und Therapieanwendungen,                                    ist sie zudem Vorsitzende des Spitzenverbandes IT-Standards
die mit Algorithmen arbeiten, die wir gar nicht mehr kennen.                            im Gesundheitswesen (SITiG).
Dadurch erwachsen neue Fragen: Sind die Algorithmen gen-
derkonform und gerecht? Wird Künstliche Intelligenz die Arbeit                        E-Mail: sylvia.thun@bihealth.de

                                                                                                                                      ärztin 1 April 2021   9
KONGRESSTHEMA: GRENZSITUATIONEN

                                                        Freiheit heißt
                                                        Verantwortung
                             Foto: © Haist/eat archiv

                                                                            PFARRER UDO HAHN

      Der Staat hat die Aufgabe, die Freiheit aller zu schützen und zugleich den Schutz aller zu gewährleisten.
      Eine Gratwanderung während der Pandemie, doch es gibt ethische Maßstäbe für die Entscheidungsfindung.

      F
             reiheit – in der dritten Strophe der              hören deshalb zusammen, weil die Frei-                                  Beispiel Klimadebatte
             Deutschen Nationalhymne steht                     heit nie grenzenlos ist. „Die Freiheit des
             sie an dritter Stelle: Einigkeit und              Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des                               Auf ein anderes Konfliktthema – die Kli-
      Recht und Freiheit. Wenn es etwas gibt,                  Anderen beginnt“, hat der Philosoph Im-                                 madebatte – übertragen bedeutet dies:
      worin sich in den westlichen Gesellschaf­                manuel Kant (1724-1804) einmal gesagt.                                  Wenngleich Deutschland „nur“ mit zwei
      ten die meisten Menschen einig sein                      Der Dichter Matthias Claudius (1740-                                    Prozent am weltweiten CO2-Ausstoß be-
      dürften, so scheint das die Überzeugung,                 1815) formuliert es so: „Die Freiheit be-                               teiligt ist, so müssen wir uns dennoch
      dass Individualität, Freiheit und Selbst-                steht darin, dass man alles das tun kann,                               der Verantwortung stellen. Wer behaup-
      bestimmung zu den wichtigsten Werten                     was einem anderen nicht schadet.“                                       tet, unser Umweltverhalten sei im Lichte
      gehören. In allen anderen Staatsformen                                                                                           dieser zwei Prozent gleichgültig, handelt
      wird diese Überzeugung aufs Äußerste                                                                                             nicht verantwortlich und missbraucht
      gefürchtet, wie tagtäglich zu hören und                                                                                          seine Freiheit, indem er sie über die Frei-
      zu lesen ist.                                                                                                                    heit anderer stellt.

      Wie wichtig Freiheit ist, unterstreicht die                                                                                      Zur Freiheit gehört Vielfalt. Vielfalt ist
      Wortwahl, wenn das Grundgesetz der                                                                                               ein Kennzeichen von Demokratie. Sie ist
      Bundesrepublik Deutschland als freiheit-                                                                                         ihr Erfolgsgarant. Wenn Vielfalt einge-
      lich-demokratische Grundordnung ge-                                                                                              schränkt wird, ist auch die Demokratie
      nannt und von den Grund- und Freiheits-                                                                                          in Gefahr. Bundespräsident Frank-Walter
      rechten gesprochen wird. Freiheit gibt es                                                                                        Steinmeier hat 2018 davon gesprochen,
      nicht einfach so – sie ist nicht einfach                                                                                         dass eine „illiberale Demokratie“ ein Wi-
                                                                                                                    Foto: © Unsplash

      da. Sie muss erkämpft werden. Mehr als                                                                                           derspruch in sich sei. „Eine Demokratie
      30 Jahre ist es her, dass die friedliche Re-                                                                                     ist entweder liberal oder sie ist nicht.“
      volution auch den Menschen in der DDR                                                                                            Man könnte auch sagen: Freiheit und De-
      Freiheit brachte. Und vor mehr als 75                    Freiheit ist bunt: Sie muss aber verteidigt werden                      mokratie gibt es nur zusammen. Die Me-
      Jahren endete der Zweite Weltkrieg, der                                                                                          dien, die Justiz und auch die Zivilgesell-
      Deutschland von der Diktatur des Natio-                  Die Freiheit existiert also nie absolut.                                schaft – also wir alle – garantieren, dass
      nalsozialismus befreite. Im Lichte eines                 Das gilt auch in der Corona-Pandemie.                                   unsere Demokratie Freiheit gewährt:
      wieder erstarkenden Antisemitismus gilt:                 Dabei hat der Staat die Aufgabe, die                                    Dass dies auch in Zukunft so bleibt, da-
      Freiheit muss verteidigt werden – wenn                   Freiheit aller zu schützen und zugleich                                 für müssen wir gemeinsam eintreten! ƒ
      wir sie nicht verlieren wollen.                          den Schutz aller zu gewährleisten. Um
                                                               die Balance zu wahren, gilt es, folgende                                 Udo Hahn, Pfarrer und Publizist, ist Di-
      Die Grenzen der Freiheit                                 Maßstäbe bei der Entscheidungsfindung                                    rektor der Evangelischen Akademie Tut-
                                                               zu berücksichtigen: Nicht die Freiheit                                   zing. Beim Kongress widmet er sich der
      Zur Freiheit gehört Verantwortung. Der                   muss begründet werden, sondern ihre                                      Frage nach den Auswirkungen der Coro-
      Mensch ist per Definition ein Wesen, das                 Einschränkung. Das Wohl der Schwächs-                                    na-Pandemie auf den Zusammenhalt in
      Verantwortung übernimmt, sein Handeln                    ten zu sichern, ist ein Grundprinzip. Und:                               der Gesellschaft.
      reflektiert – und nachdenkt, bevor er et-                Konsens und Kompromiss stärken den
      was tut. Freiheit und Verantwortung ge-                  Zusammenhalt.                                                           E-Mail: hahn@ev-akademie-tutzing.de

 10   ärztin 1 April 2021                                                                                                                                            68. Jahrgang
KONGRESSTHEMA: GRENZSITUATIONEN

                                                        IM INTERVIEW

                                                        „Die Freiheitsrechte für Pflege-
                                                        bedürftige müssen gelten –
                        Foto: © Stiftung Dialog Ethik

                                                        auch während einer Pandemie“

                                                                       DR. THEOL. RUTH BAUMANN-HÖLZLE

Einsamkeit in der Corona-Pandemie: Mit anderen Schweizer                               der Persönlichkeit, respektive die Werte und Interessen der
Ethiker:innen haben Sie einen Appell für die Langzeitpflege                            Person. Darum sagen wir Medizinethiker:innen, dass es nicht
verfasst. Worauf basiert Ihre Argumentation?                                           angeht, Gruppen von Menschen abzuschotten und ihnen oft-
                                                                                       mals sogar den Zugang ihrer Nächsten oder Rechtsvertre-
Die Pandemie-Maßnahmen haben viele Menschen in Pflegehei-                              ter:innen vorzuenthalten.
men und vergleichbaren Einrichtungen zum Alleinsein gezwun-
gen. Alleinsein kann in Einsamkeit in der Isolation münden. In                         Was fordern Sie als Konsequenz?
der ersten Welle sind viele Menschen ohne direkte Berührung
und ohne Begleitung ihrer Angehörigen isoliert gestorben. Nie-                         Die verfassungsmäßigen Freiheitsrechte der Bewohner:innen
mand von außerhalb durfte zu ihnen. Doch gerade demenz-                                von Einrichtungen der Langzeitpflege müssen gewährleistet
kranke Menschen können damit nicht umgehen und brauchen                                sein – unter Einhaltung der Schutzstandards und unter Vor­
Berührungen. Alleinsein ist üblicherweise etwas, das man frei-                         lage entsprechender Schutzkonzepte. Engen Angehörigen und
willig wählt. Einsamkeit in der Isolation ist keine freiwillige Wahl.                  Bezugspersonen sowie gesetzlichen Vertretungspersonen und
Sie wurde hier vom Gesetzgeber auferlegt. Insgesamt steht                              Beiständen ist der Zugang zu urteilsunfähigen Personen zu ge-
ein tiefer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte zur Debatte, und                      währen unter Beachtung der allgemeinen Schutzstandards.
die Frage lautet: Ist er berechtigt?                                                   Jeder Mensch muss selbst entscheiden können, ob er das
                                                                                       Risiko, an Corona zu erkranken und eventuell daran zu sterben,
Wie ist Ihre Einschätzung?                                                             auf sich nimmt – sofern er entscheidungsfähig ist. Die Gesell-
                                                                                       schaft, hier besonders die Pflegeheime, müssen durch ihr
Menschen haben ein Recht auf eine individualisierte Abwä-                              Schutzkonzept die Voraussetzungen schaffen.
gung. Selbst in einer Ausnahmesituation hätte eine rechtstaat-
liche Gesellschaft Möglichkeiten, diese zu gewährleisten, denn                         Betrachtet man die Langsamkeit in der Pandemie, etwa bei
nach der Pandemie ist stets vor der Pandemie. Das Argument,                            den Schnelltests, scheint das nicht selbstverständlich.
jeder Tote ist ein Toter zu viel, ist problematisch. Wir Menschen
sind sterblich. Zudem priorisieren wir nicht das nackte Über-                          Darum enthält unser Appell auch Vorschläge, aus dem bisheri­
leben beim staatlichen Handeln. Das widerspricht dem Recht                             gen Verlauf der Pandemie zu lernen. Corona hat wie ein Brenn-
auf Selbstbestimmung. Jede urteilsfähige Person hat die Frei-                          glas die strukturellen Missstände in der Pflege ans Licht ge-
heit zur Selbstschädigung. Direkte Fremdschädigung ist ver-                            bracht. Diese müssen wir angehen. Es ist bezeichnend, dass
boten, beim Risiko der Fremdschädigung aber versuchen wir                              Palliative Care unterfinanziert ist und Sterbende oftmals fehl-
stets die Verhältnismäßigkeit zu wahren.                                               behandelt werden. Langzeiteinrichtungen geraten hier an ihre
                                                                                       Grenzen, weil ihnen oft die Mittel und ausgebildetes Personal
Können Sie das genauer erklären?                                                       fehlen. Würdiges Sterben braucht ausreichende Ressourcen. ƒ

Der Staat lässt zum Beispiel das Autofahren zu, Tabakwer-                              Interview: Alexandra von Knobloch
bung, Fehlernährung ... Demgegenüber haben wir ein Tötungs-
verbot, welches der Staat durchsetzt. Auch das Unterlassen                              Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle ist Leiterin des „Interdiszipli­
von lebenserhaltenden Maßnahmen kann „fahrlässige Tötung“                               nären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen“ der Stiftung
sein, etwa wenn wir das ertrinkende Kind in der Badewanne                               Dia­log Ethik in Zürich, Schweiz. In ihrem Vortrag wird sie das
nicht retten. Die Frage ist, ob die Schwere der Pandemie und                            Thema „Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität bei
das aktuelle Ansteckungsrisiko massive Eingriffe in die Grund-                          der Pandemiebekämpfung“ vertiefen.
rechte rechtfertigen. Das Gebot, Individuen vor Gesundheitsge-
fährdungen zu schützen, ist immer eingebettet in den Schutz                            E-Mail: rbaumann@dialog-ethik.ch

                                                                                                                                      ärztin 1 April 2021   11
KARRIERE

                                                    IM INTERVIEW

                                                    „Es ist ein Mythos, dass Frauen
                            Foto: © Frankfurt UAS   weniger beruflichen Ehrgeiz haben
                                                    als Männer“

                                                                         PROF. DR. REGINE GRAML, M.A.

      Frauen hätten weniger beruflichen Ehr­                       Frauen erfahren Unterschiede zwischen        dass die Führungskraft nicht ständig
      geiz als Männer: Diese Behauptung                            Männern und Frauen, aber auch zwi-           anwesend sein muss. So ein Ansatz
      taucht immer wieder auf, um den gerin-                       schen Müttern und Nicht-Müttern. So          lässt sich zum Beispiel mit Top-Sharing
      gen Anteil von Frauen in Führungspo­                         wird Müttern trotz guter Leistungen ein      verbinden. Auch in der Medizin wird
      sitionen zu rechtfertigen. Stimmt sie?                       geringes Karrierebewusstsein unter-          eine übergreifende Zusammenarbeit in
                                                                   stellt. Dabei stimmt das gar nicht. Hoch-    vielen Bereichen wichtiger – etwa bei
      Nein. Mehrere Studien belegen, dass die                      qualifizierte Frauen, etwa Ärztinnen, er-    der Betreuung von chronisch kranken
      Karriereambitionen zum Zeitpunkt des                         kaufen sich mit einem Teilzeitvertrag vor    Menschen. Solche Entwicklungen bieten
      Berufseinstiegs bei jungen Frauen ge-                        allem Flexibilität. Sie arbeiten genauso     Chancen für neue Karrieremodelle.
      nauso hoch sind wie bei jungen Män-                          viel oder nicht viel weniger als Männer –
      nern – oder sogar höher. In einer US-                        nur zu anderen Zeiten. Die Teilzeitrege-     Was müssten Arbeitgeber, etwa Klini-
      Studie von Bain & Company beispiels-                         lung ermöglicht es ihnen, zwischendurch      ken, leisten, um den Weg für Chancen-
      weise strebten 43 Prozent der Frauen in                      die Kinder abzuholen und ihre privaten       gleichheit bei der Karriere zu ebnen?
      den ersten zwei Jahren nach dem Hoch-                        Verpflichtungen zu organisieren.
      schulabschluss eine Position im Top­                                                                      Zunächst müssen sie die Ist-Situation
      management an, bei den Männern nur                                                                        analysieren und unter anderem ein Be-
      34 Prozent. Nach zwei oder mehr Ar-                                                                       wusstsein für unterschwellige Diskrimi­
      beitsjahren sank der Karriereanspruch                                                                     nierungen schaffen. Bei Letzterem hel­
      der Frauen jedoch drastisch. Nur noch                                                                     fen Schulungen. Viele Faktoren lassen
      16 Prozent der Frauen wollten eine Füh-                                                                   sich auch einfach gut messen und ob­
      rungsposition. Bei den Männern waren                                                                      jektivieren. Etwa, wie lange Frauen und
      es unverändert 34 Prozent.                                                                                Männer auf einzelnen Positionen verhar-
                                                                                                                ren, ehe sie aufsteigen. Oder wie hoch
      Was demotiviert die Frauen so?                                                                            der Frauenanteil bei Bewerbungen auf
                                                                                                                bestimmte Stellen liegt. Aus solchen
      Frauen treffen im Arbeitsleben auf ein                                                                    Daten lassen sich Maßnahmen ableiten,
      „Uneven Playing Field“. Zum Beispiel rü-                     Stereotyp: Glücklich zuhause                 um echte Gleichstellung zu erreichen. ƒ
      cken sie schwerer in den Kreis derer auf,
      die protegiert und gefördert werden. Sie                     Viele Arbeitgeber argumentieren, Füh-        Interview: Alexandra von Knobloch
      erhalten teilweise andere Aufgaben als                       rungskräfte müssten immer verfügbar
      Männer und weniger positive Rückmel-                         sein.                                         Prof. Dr. Regine Graml, M.A., ist Profes-
      dung auf ihre Arbeit. Diese Diskriminie-                                                                   sorin für Allgemeine Betriebswirtschafts-
      rung findet oft unbewusst statt, etwa                        Die meisten Führungskräfte sind häufig        lehre, insbesondere Personalmanage-
      weil Führungskräfte sich automatisch                         in Meetings oder auf Reisen und keines-       ment und Organisation am Fachbereich
      mit Menschen umgeben, die ihnen äh-                          falls immer erreichbar. Ich bin überzeugt,    Wirtschaft und Recht der Frankfurt Uni-
      neln. Für Männer sind das meist Männer.                      dass sich interessante Spitzenjobs auch       versity of Applied Sciences. Außerdem
      Die Frauen merken, dass es zweierlei                         anders bewältigen lassen als durch 70-        ist sie Mitglied im Direkto­rium des Insti-
      Maßstäbe gibt. Dadurch verlieren viele                       Stunden-Präsenz. Zeitgemäße Manage-           tuts für Mixed Leader­ship. Sie forscht zu
      das Zutrauen und die Zuversicht, ihre be-                    mentmodelle setzen verstärkt auf parti-       den Themen Frauen, Führung, Diversität
      ruflichen Ziele erreichen zu können.                         zipative Führung. Mitarbeiter:innen sind      und Diskriminierung in der Arbeitswelt.
                                                                   dabei in Entscheidungsprozesse einbe-
      Gibt es weitere Diskriminierungen?                           zogen und arbeiten so selbstständig,         E-Mail: graml@fb3.fra-uas.de

 12   ärztin 1 April 2021                                                                                                                       68. Jahrgang
FRAUENRECHTE UND GLEICHSTELLUNG

                                                                            Sexismus:
                                                                            Wie Männer Teil der Lösung

                                           Foto: © Herr & Speer/Phil Dera
                                                                            werden können
                     Foto: privat

                                          VINCENT-IMMANUEL HERR, MARTIN SPEER

In der Solidaritätskampagne HeForShe von UN Women unterstützen Männer das Ziel der Vereinten
Nationen, alle Formen von Gewalt und Diskriminierung gegenüber Frauen und Mädchen zu beenden. Wir,
Herr & Speer, sind zwei von sechs ehrenamtlichen Botschaftern für UN Women Deutschland.

B
         ei HeForShe geht es nicht darum, dass Frauen von                          der Rolle von männlichem Privileg bewusst zu machen. Erst so
         Männern gerettet werden. Der Plan ist es, gemeinsam                       können sexistische Verhaltensweisen abgelegt und überwun-
         etwas zu verändern. Dafür hat UN Women, eine Organi-                      den werden.
sation der Vereinten Nationen, diese weltweite Bewegung ini­
tiiert. UN Women Deutschland sensibilisiert über verschiedene                      Frauen nach Sexismus fragen
Kanäle: mit einer Website, mit Veranstaltungen, Vorträgen und
Workshops sowie über Social Media und Newsletter. Die Be-                          Wir plädieren dafür, dass Männer gezielt Gespräche mit Frauen
wegung wird unter anderem unterstützt von Aktivist:innen und                       in ihrem nahen Umfeld führen und fragen, welche Erfahrungen
Prominenten und verbreitet durch öffentlichkeitswirksame                           diese mit Sexismus machen. Wichtig ist es, vorurteilsfrei zu-
Aktionen.                                                                          zuhören und sich auf die Erfahrung einzulassen. Die Ge­spräche
                                                                                   werden Männern zeigen, wie alltäglich, massiv und des­truktiv
Auf lokalpolitischer und Minister:innen-Ebene erzeugt UN Wo-                       Sexismus wirkt und strukturell verankert ist. Ein erster Schritt
men Deutschland politisches Engagement für HeForShe. Ein                           hin zum Perspektivwechsel.
Ziel ist es, den Austausch zu Gerechtigkeitsthemen voranzu-
bringen, etwa zur ungleichen Verteilung der Sorgearbeit wäh-                       Diese Gespräche haben auch uns beide weitergebracht und
rend der Corona-Pandemie. Die Botschafter bringen unter-                           wir haben verstanden, dass Geschlechtergerechtigkeit nur
schiedliche Blickwinkel und Zugänge ein und können so eine                         funktionieren wird, wenn sie Frauen, Männer und alle anderen
breitere Zahl von Männern und Frauen ansprechen.                                   als gemeinsame Mission verstehen. Wir wollen Unternehmen,
                                                                                   Institutionen und Individuen anregen, solchen Gesprächen
Mehr Männer aktivieren                                                             Gelegenheit zu geben. Entscheidend ist, dass Männer sie als
                                                                                   ersten Schritt verstehen und sich selbst weiter informieren. Es
Wir, Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer, engagieren uns                        ist nicht die Aufgabe von Frauen, Männern schon wieder erklä-
dafür, mehr Männer für das Thema Geschlechtergerechtigkeit                         ren zu müssen, wo das Problem liegt. Es liegt an den Männern,
zu sensibilisieren und sie für einen aktiven Einsatz gegen                         aktiv zu werden und ihr Verhalten zu prüfen. Geschlechter­
Sexismus, Ungleichheit und Diskriminierung zu aktivieren. Wir                      gerechtigkeit bringt alle voran. Auch Männer leben gesünder,
tun dies mit Vorträgen, Workshops, Zeitungsartikeln und Be-                        balancierter und glücklicher, wenn sie sich in einem geschlech-
ratung. Nach einem Zeitungsartikel, den wir in der „Zeit“ dazu                     tergerechten Umfeld bewegen. Unternehmen sind kreativer,
veröffentlicht hatten, sind UN Women Deutschland und wir in                        wettbewerbsfähiger und resilienter, wenn sie die Potenziale
Kontakt gekommen.                                                                  aller Geschlechter und ihre Perspektiven einbeziehen. ƒ

Nach unseren Erfahrungen ist sich die Mehrzahl der Männer                           Herr & Speer sind Aktivisten und Autoren aus Berlin und be-
der eigenen sexistischen Verhaltensmuster nicht wirklich be-                        zeichnen sich selbst als Feministen und Europäer. Sie geben
wusst. Das eigene Verhalten wird zu selten reflektiert und zu                       Workshops, moderieren und arbeiten als Berater. Tipps, wie
oft als normaler Teil des Männlichseins angesehen. Hier ein                         sich jede:r für die Ziele von HeForShe engagieren kann, bietet
sexistischer Witz, dort ein Zwischenruf im Meeting oder die                         folgende Webseite: https://www.unwomen.de/informieren/
Erwartung, dass andere auf der Straße Platz machen. Männer                          heforshebewegung/aktiv-werden-fuer-heforshe.html
müssen sich auf einen Perspektivwechsel einlassen, um die
Konsequenzen ihres Verhaltens besser zu verstehen und sich                         Kontakt: www.herrundspeer.eu

                                                                                                                                 ärztin 1 April 2021   13
GENDERMEDIZIN UND LEHRE

                                           Gutachten:
                                           Vermittlung von geschlechtersensiblem
                                           Wissen an den Universitäten
                                           ist absolut unzureichend
                            Foto: privat

                                                 PROF. DR. MED. GABRIELE KACZMARCZYK

      „Studiert wird nur der Mann“: So lautete eine Schlagzeile als Reaktion auf eine aktuelle Erhebung für das
      Bundesgesundheitsministerium, an der auch der DÄB beteiligt ist. „Gender in der Lehre“ ist das Thema.
      Das Ergebnis: Geschlechtersensible Aspekte kommen im Medizinstudium an den meisten Fakultäten im-
      mer noch viel zu kurz. Doch immerhin erhält das Problem jetzt mehr Aufmerksamkeit.

      D
              er Name ist neutral: „Aktueller    Uns Autorinnen hat das Ergebnis der Er­      ren. Das internationale Schrifttum gibt
              Stand der Integration von Aspek-   hebung nicht überrascht. Schon 2016          inzwischen einiges an Lehrmaterial her.
              ten der Geschlechtersensibilität   hatte der DÄB zu dem Thema eine              Doch es ist unklar, was bei den Studie-
      und des Geschlechterwissens in Rah-        orientierende Umfrage gemacht. Das           renden ankommt.
      menlehr- und Ausbildungsrahmenpläne,       Deutsche Ärzteblatt hatte daraufhin ge-
      Ausbildungskonzepte, -curricula und        titelt, die genderspezifische Lehre stecke
      Lernzielkataloge für Beschäftigte im Ge-   „noch in den Kinderschuhen“. In den fol-
      sundheitswesen.“ Im Mai 2020 haben wir,    genden Jahren haben wir die Entwick-
      eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen       lung verfolgt und ahnten bereits, dass
      der Berliner Charité, dem Bundesgesund­    es nur langsam vorangeht.
      heitsministerium dieses Gutachten vor-
      gelegt.                                    Forderungen jetzt gestellt                   Welche Dosis für Frauen? Welche für Männer?

      Die Ergebnisse der Erhebung sind alles     Jetzt aber ist das Ergebnis amtlich. Die     Ministerium erkennt Bedarf
      andere als neutral. Sie bestätigten ek­    Forderungen zur strukturellen Veranke-
      latante Defizite bei der geschlechts­      rung in den Curricula sind gestellt und      Wie es zu dem Gutachten kam? Als Cha-
      spezifischen Lehre in den deutschen        müssen auch im Laufe der Zeit durch          rité-Wissenschaftlerinnen haben wir (Dr.
      medizinischen Fakultäten und anderen       ministerielle Unterstützung erfüllt wer-     med. Ute Seeland, Dr. rer. Medic. Sabine
      Institutionen der Lehre für Kranken­       den. Es scheint sich herumzusprechen,        Ludwig, Dr. phil. Susanne Dettmer und
      pflege und Physiotherapie. Erfreulicher-   dass Gendermedizin keine Geschmack-          ich) uns auf die Ausschreibung des Bun-
      weise ist es gelungen, diese Befunde       sache ist, sondern ein sich erweiternder     desgesundheitsministeriums beworben
      öffentlich wahrnehmbar zu machen.          Wissenschaftsbereich mit klaren Verbin-      und den Zuschlag erhalten. Die einzel-
      Die Medien­   reaktionen haben uns be­     dungen zur medizinischen Versorgungs-        nen Abschnitte haben wir zur Bearbei-
      stätigt: Die unzureichende Verankerung     qualität für die gesamte Bevölkerung,        tung kollegial verteilt, die Arbeitsschritte
      von Gender­aspekten im Medizinstudium      also für Männer und Frauen.                  gemeinsam besprochen und diskutiert.
      trifft inzwischen einen Nerv.                                                           Eine Menge Arbeit, die man im Endeffekt
                                                 Interessanterweise gehen offensichtlich      dem Gutachten nicht ansieht! Nach fast
      Erste DÄB-Daten von 2016                   der strukturellen Verankerung – die an-      einem Jahr, vielen Nachfragen und Kon-
                                                 gemahnt wurde – individuelle Lehrange-       ferenzen wurden die Ergebnisse ver-
      Presse, Funk und Fernsehen haben breit     bote zu den wichtigsten genderspezifi-       schriftlicht. Das Ministerium akzeptierte
      berichtet, auch über die Fachmedien        schen Themen voraus. Für Kardiologie         den Handlungsbedarf.
      hinaus. „Zeit Campus“ konstatierte bei-    und Klinische Pharmakologie wurde das
      spielsweise: „Nur wenige Medizinstudie-    evaluiert. Gut wäre es nun, weitere wich-    Inzwischen geht es andernorts positiv
      rende lernen, dass Frauen anders krank     tige klinische Fächer zu evaluieren und      weiter: Zum einen sind jetzt auch in den
      sind als Männer. Das kann schwerwie-       darauf hinzuwirken, Genderaspekte in         Prüfungsfragen des IMPP (Institut für
      gende Folgen für ihre zukünftigen Pa­      Zusammenarbeit mit den verantwortli-         medizinische und pharmazeutische Prü-
      tientinnen und Patienten haben.“           chen Lehrkräften direkt zu implementie-      fungsfragen) Formate für Genderwissen

 14   ärztin 1 April 2021                                                                                                       68. Jahrgang
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