Irrelevant trotz Systemrelevanz? - Frauen- und Gleichstellungs-politik in der Krise - DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO, DIGITAL ...
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Irrelevant trotz Systemrelevanz? – Frauen- und Gleichstellungs- politik in der Krise DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO, DIGITAL DURCHGEFÜHRT AM 08.12.2020
Impressum AWO Bundesverband e. V. Blücherstr. 62/63 10961 Berlin Telefon: (+49) 30 – 263 09 – 0 Telefax: (+49) 30 – 263 09 – 325 99 E-Mail: info@awo.org Internet: awo.org Verantwortlich: apl. Prof. Dr. jur. habil. Jens M. Schubert, Vorsitzender des Vorstands Redaktion: Sarah Clasen, Sina Küster, Dr. Andrea Lassalle Layout/Satz: Linda Kutzki – textsalz.de © AWO Bundesverband e. V., Berlin. Das Copyright für Texte und Bilder liegt, soweit nicht anders vermerkt, beim AWO Bundesverband e. V. Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher vorheriger Zustimmung des AWO Bundesverband e. V. Alle Rechte vorbehalten. Juni 2021
Vorwort Mit unserer 10. Sozialkonferenz „Irrelevant Hintergrund aktueller gesellschaftspolitischer trotz Systemrelevanz? – Frauen- und Gleich- Entwicklungen haben wir klare Positionen erar- stellungspolitik in der Krise“ lenkten wir im beitet, Forderungen aufgestellt und unter dem Dezember 2020 wie schon bei der 6. Sozial- Titel „Geschlechtergerechtigkeit als AWO konferenz 2015 in Hamburg den Blick auf die Grundwert“ ausformuliert. An dieser Stelle Frauen- und Gleichstellungspolitik. Diesmal wollen wir noch einmal ausdrücklich unserem mitten in einer Pandemie, die weltweit ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Wolfgang grassiert. Bereits im Frühjahr 2020 wurde Stadler und der Vorsitzenden des Fachaus- deutlich, dass die Krise uns zwar alle betrifft, schusses Kinder, Jugend, Familie, Frauen und aber eben in sehr unterschiedlicher Weise. Bildung des Präsidiums, Christiane Reckmann, Gesellschaftliche Ungerechtigkeiten verschärf- danken. Durch sie Beide hat Frauen- und ten sich insbesondere auch im Bereich Frauen Gleichstellungspolitik wieder eine stärkere und Gleichstellung. Es wurde sichtbar, dass vor Stellung in unserem Verband bekommen. allem Frauen die Hauptlast der systemrelevan- ten Arbeit tragen, aber eine angemessene Auf der 10. Sozialkonferenz galt es nun, unsere gesellschaftliche und ökonomische Anerken- Positionen und Forderungen abzugleichen mit nung hierfür fehlt. Dies gilt sowohl für den Lehren, die wir aus der Krise ziehen. Erwerbsarbeit, etwa in der Pflege, als auch für Deutlich wurde die Breite der frauen- und familiäre Care-Arbeit wie Kinderbetreuung im gleichstellungspolitisch relevanten Themen, die Homeoffice. Auch in zentralen frauen- und wir schwerpunktmäßig in der AWO bearbeiten. gleichstellungspolitischen Arbeitsfeldern der Wir bedanken uns für das große Interesse aus AWO wirkte sich die Krise stark aus, z. B. durch den AWO-Gliederungen, das Engagement der die Zunahme häuslicher Gewalt gegenüber über 150 ehren- und hauptamtlichen Delegier- Frauen und ihren Kindern und erschwerte ten, die teilgenommen und eindrückliche Zugänge zu Angeboten der reproduktiven Impulse für die Weiterarbeit an diesen Themen Gesundheit von Frauen. gegeben haben. Der Handlungsbedarf, so wurde klar, hat sich durch die krisenbedingte Geschlechtergerechtigkeit ist seit unserer Gefahr einer Retraditionalisierung der Gründung ein zentraler Leitwert der AWO. In Geschlechterrollen weiter verstärkt. Es zeigte den letzten Jahren haben wir viel unternom- sich aber auch deutlich, dass es eine Vielzahl men, um dieses Thema voranzubringen und von Handlungsansätzen gibt. In der AWO sind dabei auch eigene Strukturen selbstkritisch wir jetzt erst recht gefragt, uns gesamtgesell- überprüft. 2018 veröffentlichten wir unseren schaftlich dafür einzusetzen, dass unseren 1. Gleichstellungsbericht und initiierten Positionen entsprechende Maßnahmen umge- ausgehend von seinen Handlungsempfehlun- setzt werden. Gleichzeitig gilt es, den Leitwert gen 2019 das ESF-Gleichstellungsprojekt Geschlechtergerechtigkeit innerverbandlich mit „Vielfaltsbewusst in Führung“. Vor dem Leben zu füllen. Helga Kühn-Mengel Gleichstellungsbeauftragte des Präsidiums Jens M. Schubert Vorstandsvorsitzender AWO Bundesverband e. V. 3
IRRELEVANT TROTZ SYSTEMRELEVANZ? ��� FRAUEN- UND GLEICHSTELLUNGSPOLITIK IN DER KRISE Inhalt Vorwort 3 1 Einleitung 6 2 Für mich bedeutet Geschlechtergerechtigkeit … Ergebnisse einer Vorab-Umfrage im Dezember 2020 unter den Teilnehmer*innen der Sozialkonferenz 7 3 Retraditionalisierung durch Corona – Lehren aus der Krise Zusammenfassung des Grundsatzreferats von Prof. Jutta Allmendinger, Präsidentin Wissenschaftszentrum Berlin 10 4 Workshops 14 4.1 Workshop 1 Gewaltschutz für Frauen und ihre mitbetroffenen Kinder 14 4.2 Workshop 2 Atmende Lebensläufe. Über ein neues Verhältnis von Sorgearbeit und Erwerbsarbeit 22 4.3 Workshop 3 Innerverbandliche Gleichstellung: Geschlechtergerechtigkeit in der AWO erreichen und Vielfalt leben! 30 4.4 Workshop 4 Close the Gender Gaps − Was tun für Frauen und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit? 35 4.5 Workshop 5 Aufwertung systemrelevanter Berufe: Wie erhöhen wir die Anerkennung für soziale Arbeit? 48 4.6 Workshop 6 Sexuelle und reproduktive Rechte: Wie verbessern wir die Versorgungslage von ungewollt schwangeren Frauen? 58 4
DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO ��� DIGITAL DURCHGEFÜHRT AM 08.12.2020 5 Abschlusspodium mit Staffelstabsübergabe unter der Leitfrage: „Was tun wir in der AWO für eine geschlechtergerechte Gesellschaft?“ 63 6 Fazit 67 5
IRRELEVANT TROTZ SYSTEMRELEVANZ? ��� FRAUEN- UND GLEICHSTELLUNGSPOLITIK IN DER KRISE 1 Einleitung Die gleichstellungspolitische Schieflage in dem Titel „Irrelevant trotz Systemrelevanz? – unserer Gesellschaft trat in der Pandemie Frauen und Gleichstellungspolitik in der Krise“ überdeutlich und verschärft zutage. Frauen setzten sich rund 150 ehren- und hauptamtli- stellen den Hauptanteil der Beschäftigten in che Delegierte aus den AWO-Gliederungen mit den systemrelevanten Berufen der ersten den Auswirkungen der Coronakrise auf Frauen- Stunde − in der Pflege, Erziehung und Betreu- und Gleichstellungspolitik auseinander. Den ung sind es sogar 90 Prozent. Sie sind unver- Ausgangspunkt bildete das Grundsatzreferat zichtbar und der Widerspruch zu ihrer gesell- von Jutta Allmendinger, in dem sie ihre Sorge schaftlichen und finanziellen Anerkennung ist um eine „Retraditionalisierung der Geschlech- massiv. Mit dem Wegbrechen der Infrastruktur ter“ darlegte. Daran anschließend vertieften die insbesondere im Bereich Kita, Schule und Konferenzteilnehmer*innen mit Expert*innen teilweise in der Pflege durch die Maßnahmen in sechs parallelen Workshops die Themen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus Gewaltschutz, Care-Arbeit, innerverbandliche wurden gleichzeitig gesamtgesellschaftliche Gleichstellung, Gender-Pay-Gap, Aufwertung Aufgaben in die Familien verlagert. Frauen systemrelevanter Berufe sowie sexuelle und leisteten bereits vor der Pandemie den Löw*in- reproduktive Rechte. Bei der abschließenden nenanteil der privaten Sorgearbeit. Ausgehend Podiumsdiskussion ging es um die Frage, was von einem bereits hohen Niveau an Teilzeitbe- wir in der AWO für eine geschlechtergerechte schäftigung reduzierten Frauen stärker als Gesellschaft tun. Sie war zugleich eine Staffelst- Männer ihre Erwerbsarbeitsstunden, um das absübergabe vom bisherigen Vorstandsvorsit- Mehr an unbezahlter Fürsorgearbeit aufzufan- zenden Wolfgang Stadler an seinen Nachfolger gen. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf Jens M. Schubert sowie der bisherigen Vorsit- die geschlechtsspezifische Lohn- und Rentenlü- zenden des Zukunftsforums Familie (ZFF) cke und verstärkt Ungleichheiten zwischen den Christiane Reckmann an ihre Nachfolgerin Britta Geschlechtern weiter. Hinzu kommen weitere Altenkamp. verschärfte Problemlagen wie z. B. der Anstieg häuslicher Gewalt und erschwerte Zugänge zu Die Konferenzergebnisse werden im Folgenden Angeboten der reproduktiven Gesundheit von dokumentiert. Der Dokumentation vorangestellt Frauen. Umso befremdlicher und dramatisch sind Stimmen von Teilnehmer*innen, die erscheint, dass vor allem zu Beginn der Krise eingeladen waren, in einer Vorab-Abfrage zu und beim Schnüren der Hilfspakete die Situa- formulieren, was für sie Geschlechtergerechtig- tion von Frauen politisch kaum adressiert keit bedeutet. Die Konferenz und ihre Ergeb- wurde. nisse zeigen die thematische Breite innerhalb der AWO und wie komplex und vielfältig Diese besorgniserregenden Entwicklungen Frauen- und Gleichstellungspolitik ist. Eine veranlassten die AWO, ihre 10. erstmals digital Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten wurde durchgeführte Sozialkonferenz am 8. Dezember deutlich. Sie weisen einmal mehr darauf hin, 2020 mit einem frauen- und gleichstellungs- dass es kein Erkenntnis- sondern ein Umset- politischen Schwerpunkt durchzuführen. Unter zungsproblem gibt. 6
DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO ��� DIGITAL DURCHGEFÜHRT AM 08.12.2020 2 Für mich bedeutet Geschlechtergerechtig keit … Ergebnisse einer Vorab-Umfrage im Dezember 2020 unter den Teilnehmer*innen der Sozialkonferenz — die Freiheit, mein Leben zu leben, die — die gleichberechtigte Verteilung von Bil- Gestaltung eines sozialen Miteinanders und dungsmöglichkeiten, Hausarbeit und eine gerechte Verteilung von Ressourcen. Kinderbetreuung und den gleichen wirt- schaftlichen Status. — dass im Beruf Wissen und Können zählen und nicht die alten Regeln (Männer rücken — in meinem Leben, dass meine Tochter die nach und bleiben in der Führungsebene gleichen Bildungs- und Berufschancen hat unter sich) gelten. wie meine Söhne und auf dem Weg in ihre Selbständigkeit nicht aufgrund ihres — dass Frauen nicht abqualifiziert werden, wenn Geschlechts diskriminiert wird. sie keine Kinder und Familie haben (Männer bekommen das eher nicht zu hören). — einen Wert, für den ich mich in allen Bereichen meines Lebens voller Überzeugung — dass ich nicht aufgrund meines Geschlechts einsetze. Jeder Mensch soll – unabhängig zu einem bestimmten Verhalten genötigt von seinem Geschlecht − die gleichen werde. Chancen bekommen. Privat ist mir das wichtig als Mutter zweier Töchter, beruflich — in unseren ehrenamtlich geführten als Führungskraft von gemischten Teams und AWO-Ortsvereinen die Schaffung von gesamtgesellschaftlich, da ich der Meinung stabilen, vertrauensvollen und verbindlichen bin, dass die Gesellschaft davon profitiert, Arbeitsstrukturen für die Ehrenamtler. Damit wenn alle Mitglieder die gleichen Chancen Geschlechtergerechtigkeit hier funktionieren bekommen. Eine gut funktionierende kann, benötigen wir Handlungsempfehlun- Gesellschaft braucht Gerechtigkeit. gen mit konkreten durchführbaren Maßnah- men. Diese müssen mit den Ehrenamtlern — dass die ganze Thematik „Geschlecht“ erörtert werden, damit sie verstehen, wie nebensächlicher wird und Menschen Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt in der beispielsweise irgendwann nicht mehr AWO gelebt werden sollen. Sie müssen aufgrund einer Quote eingestellt werden, entsprechend geschult werden, damit sie sondern aufgrund ihrer Qualifikation und das notwendige Feingefühl für ihre ehren- ihres Könnens. Konkret würde das bedeuten, amtliche Arbeit erlangen und umsetzen dass die Kinder und Jugendlichen, mit denen können. Es muss einen ständigen Austausch ich arbeite, ihre späteren Berufe genau zwischen Ehrenamt und Hauptamt geben. danach auswählen und nicht, weil sie Dieses in unseren Ortsvereinen zu imple- vermeintlich zu ihrem Geschlecht passen. mentieren, sehe ich als eine meiner Aufga- Auch die ganze Problematik „Jungs gegen ben in unserem rein ehrenamtlich tätigen Mädchen – Mädchen gegen Jungs“, welche AWO-Kreisverband. von manchen Kinderfilmen verherrlicht wird, würde keine Rolle mehr spielen, da sich die — die Akzeptanz des Umfelds und der Gesell- Kinder überhaupt nicht mehr auf diese schaft dafür, dass Frauen Familie und Beruf beziehen. Das ist eine große Wunschvorstel- leben können, statt als berufstätige Mutter lung, die sicher nicht innerhalb eines Jahres oft mit Vorwürfen konfrontiert zu sein und umsetzbar ist. Aber ich würde mich freuen, mit dem schlechten Gewissen zu kämpfen. wenn wir dran arbeiten. Frauen vereinbaren Familie und Beruf keineswegs schlechter als Männer, trotz der meist höheren Belastung für die Frauen in diesem Modell. 7
IRRELEVANT TROTZ SYSTEMRELEVANZ? ��� FRAUEN- UND GLEICHSTELLUNGSPOLITIK IN DER KRISE — in der praktischen Arbeit vor Ort daran — dass mein Mann und ich uns den Haushalt mitzuwirken, dass eines der zentralen Ziele und die Kindererziehung teilen. Schön wäre unserer Verbandsgründerin Marie Juchacz es, wenn wir beide die gleiche Stundenan- auch und gerade in der heutigen Zeit nicht zahl arbeiten könnten, ohne finanzielle aus dem Blickfeld verloren wird, sondern mit Einbußen zu haben. Leider verdient er mehr zumeist kleinen Schritten und viel Geduld als ich, daher arbeitet er Vollzeit und ich auf der gesellschaftlichen Agenda bleibt. habe reduziert auf 30 Stunden, um dem „Rest“ gerecht zu werden. — in meinem Leben beispielsweise, dass sich der Plenarsaal in einem beliebigen Landtag — im Alltag nicht das Pochen auf Genderstern- nicht schlagartig leert, wenn es um Themen chen und korrekte Anrede, sondern das wie Frauenhäuser, Frauen und Entgelt oder Respektieren der Gleichstellung des jeweils Gleichberechtigung geht. anderen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Geschlechtergerechtigkeit versuchen wir in — die Vorstellung, dass alle Menschen unab- der Familie vorzuleben, damit meine Kinder hängig von ihrem Geschlecht so leben dies als Normalzustand wahrnehmen. dürfen, wie sie es für richtig halten, und Aufgabenteilung in der Familie. dass niemand aufgrund seines Geschlechts diskriminiert wird. Darüber hinaus gehören — gleiches Einkommen für gleiche Arbeit. für mich zur Geschlechtergerechtigkeit gerechte Bezahlung (gleicher Lohn für — gegenseitigen Respekt der Geschlechter. gleiche Arbeit) sowie die Möglichkeit, Familie und Beruf miteinander vereinbaren zu — in meiner Verantwortung als Geschäftsfüh- können. Das impliziert eine grundsätzliche rerin eines AWO-Kreisverbandes eine Frage Veränderung in der Aufteilung von Familien- der Haltung. Wie lebe ich dieses Thema? Wie arbeit. Männer und Frauen sollten sich solidarisieren wir uns? In unserem Verband gleichermaßen für die Aufgaben in Familie sind die Führungspositionen mehrheitlich und Haushalt zuständig fühlen und diese mit Frauen besetzt einschließlich der gerecht aufteilen. Davon sind wir nach Geschäftsführung und ihrer Stellvertretung. meiner Ansicht derzeit allerdings noch weit Mir ist es wichtig, in allen Strukturen und entfernt. auf allen Ebenen für dieses Thema zu sensibilisieren, so z. B. auch die Väter — dass mein Sohn mit Puppen spielt und seine gleichberechtigt anzusprechen in Bezug auf rosa Brotzeitbox liebt, dass meine Tochter Care-Arbeit im Familienkontext. Warum mit klugen Worten und Beharrlichkeit ihren sollte nicht auch eine Funktion als Väterver- Willen durchsetzt, dass mein Mann mit den antwortlicher im Kita-Bereich geschaffen Kindern Plätzchen backt und ich einen werden? Meine Erfahrung zeigt mir, dass es Leitungsjob bei der AWO in Teilzeit habe. erfreulicherweise immer mehr Väter gibt, die Erziehungszeit in Anspruch nehmen, aber — aufgrund meines Geschlechts nicht schlech- wenn dann der Alltag in der Kita losgeht, ter behandelt zu werden. Im Beruf, in der ziehen sie sich wieder zurück. Oder im Familie oder im Alltag sollte eine möglichst Pflegebereich in der Angehörigenarbeit große Gleichbehandlung zwischen den darauf zu achten, nicht automatisch die Geschlechtern stattfinden. Jedoch sollte mit weiblichen Familienmitglieder als erste natürlichen Ungleichheiten (z. B. Reproduk- Ansprechpartnerinnen gewinnen zu wollen, tion) so umgegangen werden, dass daraus sondern auch die Männer (gleichberechtigt) kein Nachteil für die Betroffenen entsteht. hinzuzuziehen, beginnend mit dem ersten Ich möchte mich nicht sorgen, aufgrund Beratungsgespräch. meines Geschlechts Nachteile oder Ein- schränkungen in meiner konkreten Lebens- — dieses Thema weiterhin zu kultivieren. Es gestaltung und meinem Lebenskonzept zu steht bei mir auf der Agenda sowohl struk- erfahren. turell als auch in den einzelnen Prozessen meines Wirkens. 8
DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO ��� DIGITAL DURCHGEFÜHRT AM 08.12.2020 — für mein Leben: • gleichberechtigte Teilhabe an Bildung und das gleiche Recht auf eine gute Ausbil- dung und Chancen im Beruf, auch finanziell; • In über 40 Jahren in der Arbeitsverwal- tung habe ich hautnah erlebt, wie gerade Frauen hart kämpfen mussten und müssen, um gleiche Chancen im Arbeits- leben zu haben. Typische Frauenberufe, von denen Mädchen schon in der Schule träumen, sind leider auch die schlecht bezahlten Berufe. Frauen, die dann noch eine Familienphase einlegen müssen, haben kaum Chancen, in ihrem berufli- chen Leben so viel zu verdienen, dass sie im Rentenalter ausgesorgt haben. Das ist nicht gerecht! • das Recht, nach einer familienbedingten Teilzeitarbeitsphase wieder in Vollzeit zu arbeiten. Dies ist in vielen Firmen noch nicht durchgesetzt. Auch das schmälert das Haushalts- und Rentenkonto. • zwei Plakate, die mich mein langes Berufsleben begleitet haben, auch später in Führungspositionen: „Eine Frau ohne Beruf macht halt ihr Leben lang Männ- chen und das ist schlimm.“ Drum: „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.“ Sie haben den ein oder anderen, oft männli- chen Kollegen zum Nachdenken angeregt. — gleiche Entwicklungschancen in der Ausbil- dung (Schule, Lehre oder Studium), gleiche berufliche Chancen im gesellschaftlichen Leben. — dass in der Familie von Anfang an die gleichen Rechte, aber auch Pflichten für Kinder beiderlei Geschlechts selbstverständ- lich sind. Leider sind wir heute noch weit davon entfernt, denn die Ziele, für die Frauen seit langem kämpfen, sind noch immer nicht erreicht. 9
IRRELEVANT TROTZ SYSTEMRELEVANZ? ��� FRAUEN- UND GLEICHSTELLUNGSPOLITIK IN DER KRISE 3 Retraditionalisierung durch Corona – Lehren aus der Krise Zusammenfassung des Grundsatzreferats von Prof. Jutta Allmendinger, Präsidentin Wissenschafts- zentrum Berlin Die Rede von der Retraditionaliserung geht zurück auf den Mai 2020, als mir in der Talkshow Anne Will die Frage gestellt wurde, was in der Coronakrise „eigentlich mit den Frauen“ sei. Das erinnerte in symptomatischer Weise an Fragen, die bereits in den 1980er Jahren gestellt wurden. Daher war für mich der Hinweis unvermeidlich, dass die Gefahr besteht, durch Corona 30 oder sogar noch mehr Jahre des Rückschritts bei der Gleichstellung zu erleben. Traditionalisierung und wissenschaftlichen Diskussion. Das zeigte die Retraditionalisierung erste Stellungnahme der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, Um zu verstehen, was Retraditionalisierung deutlich. Sie riet, die Schulen geschlossen zu bedeutet, ist es nötig zu erklären, was mit lassen, ohne empirische Belege für den Nutzen Traditionalisierung gemeint ist. Eine Tradition, dieser Maßnahme. In anderen Ländern wurden die in Deutschland viel stärker institutionalisiert Schulschließungen mit wesentlich größerem ist als in anderen Ländern ist der Einverdiener- gesellschaftlichem Diskurs, nur sehr zögerlich haushalt mit einer sehr traditionellen Arbeitstei- und oft nur teilweise durchgeführt. Ein Grund lung. Um ihn ist das gesamte soziale Sicherungs- für die Ausblendung dieser Themen lag, so ist system nach wie vor gestrickt, beispielsweise das anzunehmen, in der Zusammensetzung der Ehegattensplitting und die Mitversicherung. Dies Leopoldina-Runde – vorwiegend Männer und erklärt auch, warum es in Deutschland im mit einem Altersdurchschnitt von über 60 Jah- Gegensatz zu anderen Ländern noch Halbtags- ren. Das heißt, keine der beteiligten Personen schulen gibt, warum es so lange gedauert hat, war mit der Situation konfrontiert, Erwerbstä- eine längere Kindergartenzeit und Betreuungs- tigkeit mit Kindern, die zu Hause sind, verbin- angebote für Kinder unter drei Jahren zu den zu müssen. etablieren. Noch immer ist die Ansicht weit verbreitet, junge Kinder gehören nach Hause. Entwicklung von Erwerbs- und Care-Arbeit im Lockdown Auswirkungen in der Coronakrise Untersuchungen der Böckler-Stiftung, des WZB, Für die Coronakrise waren dies schlechte die große Mannheimer Corona-Studie sowie Voraussetzungen: Es existieren ein sehr großer Untersuchungen auf Grundlage des Sozio-Öko- Gender-Care-Gap, ein großer Gender-Wage- nomischen Panels zeigen, dass sich der Lock- Gap, ein Gender-Pension-Gap, d. h. unter- down geschlechtsspezifisch auswirkte, vor allem schiedliche Stundenlöhne, unterschiedliche in Bezug auf Care-Arbeit. Hier spielten Kurzar- Lebenseinkommen, unterschiedliche Renten- beit, Homeoffice, die ungleiche Verteilung von zahlungen. Zudem arbeiten viele, wenn nicht systemrelevanten Tätigkeiten zwischen Männern die meisten Mütter in Teilzeit, während bei und Frauen eine Rolle. Es entstand ein Mehr an Männern, die Väter werden, die Stundenzahlen unbezahlter Arbeit, wobei Frauen stärker als nach oben gehen. Daraus resultiert eine sehr Männer die Stunden, in denen sie bezahlter ungleiche Verteilung von bezahlter und unbe- Arbeit nachgingen, reduzierten – und zwar in zahlter Arbeit. einer Ausgangssituation, in der Frauen ohnehin schon stärker teilzeiterwerbstätig waren. In Zu Beginn von Corona spielten Familien, Frauen dieser Situation würden endlich – so lautete und Kinder über viele Wochen überhaupt keine eine These – auch jüngere Männer ihren Anteil Rolle, weder in der politischen noch in der an unbezahlter Arbeit erhöhen. Dies berück- 10
DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO ��� DIGITAL DURCHGEFÜHRT AM 08.12.2020 sichtigt aber nicht, dass Frauen von einem viel Entwicklung nach dem Sommer höheren Niveau an unbezahlter Arbeit starteten, d. h. den Unterschied zwischen absoluter und Was ist nach dem Lockdown der ersten Coro- proportionaler Veränderung. na-Welle im August/Anfang September passiert? Breit angelegte empirische Studien zeigen hier Hierzu ein Beispiel aus einem anderen Bereich: folgendes, erwartbares, Bild: Wenn ein Orchestermusiker viel übt, wird er sich prozentual nur wenig verbessern, weil er — Männer kommen viel schneller wieder auf von einem sehr hohen Niveau ausgeht. Wenn ihre ursprünglichen Stunden zurück; dagegen eine Person neu mit dem Trompeten- unterricht beginnt, ist sie wahrscheinlich in — Frauen erreichen das ursprüngliche Niveau einem Monat proportional wesentlich mehr in ihrer Erwerbstätigkeit nur langsam. ihren Fähigkeiten vorangeschritten als der Profimusiker. Dies stimmt überein mit dem Befund von Untersuchungen von Mareike Bünning u. a.: Übertragen auf den Bereich der Care-Arbeit Väter, die unfreiwillig in Teilzeitbeschäftigun- bedeutet dies: Wenn Männer sich überproporti- gen sind, kümmern sich mehr um Kinder; onal mehr der Care-Arbeit gewidmet haben, wie dieses Mehr entfällt aber in dem Moment, wo Erhebungen ergeben haben täglich 1,5 Stunden sie wieder auf Vollzeit gehen, sofort wieder. mehr, muss dies ins Verhältnis zur absoluten Die Veränderung ist also nicht nachhaltig. vorherigen Stundenzahl gesetzt werden. Frauen sind dagegen vielfach, da sie schon vorher mehr Andere Studien nutzen das Instrument des Care-Arbeit geleistet haben, an ihre Grenzen Gender-Budgetings. Damit lassen sich bspw. gekommen. Da der Tag nur 24 Stunden hat, die während Corona aufgesetzten Konjunktur- gingen ihre zusätzlichen Care-Arbeitsstunden programme in ihren einzelnen Bausteinen manchmal sogar auf Kosten des Schlafs. daraufhin analysieren, ob sie hauptsächlich Frauen oder hauptsächlich Männern zugute- Wichtig ist zudem das Thema Cognitive Load, kommen. Es zeigt sich eindeutig, dass über Mental Load. Hier ist die Frage, wer eigentlich die 65 Prozent der Maßnahmen hauptsächlich Verantwortung dafür hat, dass die ganze Familie Männern zugutekamen, d. h. Bereichen, in „klappt“, dass alles im Blick behalten wird, die denen überwiegend Männer und nicht Frauen Aktivitäten der Kinder usw. Diese Verantwortung tätig sind. Außerdem, so eine ganz neue Studie lässt sich nicht in Stunden oder in Minuten der Bertelsmann-Stiftung, waren bei Frauen in rechnen. Diese kognitive, emotionale, mentale den systemrelevanten Berufen während dieser Überforderung und der maximale Verlust an Monate keine Tarifsteigerungen und kaum freier Zeit haben vor allem Frauen getroffen. Verbesserungen ihrer Löhne zu verzeichnen, während es in den typischen Männerberufen Die Wissenschaft hat aber, das ist ein selbstkri- ein deutliches Plus gab. tischer Punkt, keine guten Maße zur Verfügung, um dies auszudrücken. Folgen der Veränderungen in der Coronakrise für die Arbeit von Nur in wenigen Familienkonstellationen, haben Frauen (und Männern) weitere Untersuchungen gezeigt, wurde der Gender-Care-Gap tatsächlich etwas geschlos- Festzustellen waren in Folge der Krise: sen. Nämlich da, wo die Frau in systemrelevan- ten Tätigkeiten außerhalb des eigenen Haus- 1. der Rückzug des Staates aus der öffentlichen halts tätig war – beispielsweise in Pflege, Infrastruktur für Kinder, geschlossene Kitas Einzelhandel oder Behörden –, der Mann aber und Schulen und das Unvorbereitetsein für durch Kurzarbeit zu Hause. Hier mussten die einen guten digitalen Unterricht; Männer Care-Arbeit leisten, weil sonst die Kinder unbetreut gewesen wären. Manche 2. eine erzwungene partnerschaftliche Organi- Studien umschreiben dies als Hoffnungspoten- sation der Care-Arbeit nur in Familienkons- zial. Es liegt allerdings nur bei 9–10 Prozent tellationen, wo der Mann sich um die Kinder aller Haushalte. kümmern musste, weil die Frau in systemre- levanten Bereichen außerhalb der Familie tätig war; 11
IRRELEVANT TROTZ SYSTEMRELEVANZ? ��� FRAUEN- UND GLEICHSTELLUNGSPOLITIK IN DER KRISE 3. der Verlust von freien Zeiten für Frauen, die Fenster der Gelegenheit an den 24-Stunden-Deckel gestoßen sind. Ich sehe ein Fenster der Gelegenheit, das sich mit Zwei weitere Punkte fallen auf: ein paar kursorischen Linien so umreißen lässt: — Es irritiert, dass die Heimarbeit im Lock- — Zum ersten Mal seit meiner ersten Professur down als Beispiel für die Vereinbarkeit von 1992 sind die jungen Frauen nicht mehr der Beruf und Kinderbetreuung gilt. Hier Ansicht, in ihrer Generation würde in Punkto werden zwei kritische Punkte übersehen: Gleichstellung alles besser werden; dass einerseits, dass Heimarbeit mit Kindern zu Frauen gute Leistungen erbringen, hervorra- Hause nur schwer zu leisten ist. Anderer- gende Schul- und Studienabschlüsse seits findet etwas statt, das als „Verheimli- erreichen, die Mehrheit der Studierenden chung“ von Frauen beschrieben werden stellen, bedeutet nicht automatisch, dass kann. Damit ist gemeint, dass Heimarbeit sich ihr Weg von dem ihrer Eltern- oder Frauen aus der Öffentlichkeit herausnimmt Großelterngeneration unterscheiden wird. zu einem Zeitpunkt, wo sie überhaupt noch Junge Frauen sehen Gleichstellung heute nicht richtig dort angekommen sind. Dies vielmehr in Gefahr – dies zeigte sich verhindert, dass sie ihre Sichtbarkeit beispielsweise, als es um das FüPoG II ging. erhöhen, sich für weitere Karriereschritte Junge Bloggerinnen, junge Influencerinnen, oder gar Spitzenpositionen anbieten. (Dies die uns Alte überhaupt nicht kannten, ist auch der Grund, warum die Quote und wollten zusammen etwas erreichen. Da gab das Führungspositionsgesetz II wichtig sind.) es nicht nur etwas Sektorenübergreifendes, sondern etwas Altersübergreifendes. Das — Ein weiterer Effekt kann mit „Die Demütigun- macht Hoffnung auf eine kleine Frauenre- gen der Klassengesellschaft“ überschrieben volte oder zumindest das Gefühl, dass wir werden: die Rolle von Frauen im Homeschoo- Frauen, wenn wir zusammenhalten, etwas ling. Bei vielen Befragungen sagten Frauen, verändern können. Veränderung hängt es gebe kaum etwas Demütigenderes, als zusammen mit Sichtbarkeit, daher ist die ihren Kindern zu sagen, „ich kann dir da Quotierung wichtig. nicht helfen bei den Sprachen oder bei der Mathe“. Das trifft insbesondere Eltern, die — Der Hauptansatzpunkt muss aber sein, dass selbst keine höhere Schulbildung haben oder die unbezahlte Arbeit zwischen Männern geringe Deutschkenntnisse, die also in Bezug und Frauen anders, nämlich gerechter auf den Zugang zu Bildung mehrfach verteilt wird. Dafür müssen jetzt die Wei- benachteiligt sind. Sie haben dies als chen gestellt werden. Solche Gerechtigkeits- Bloßstellung empfunden, da Eltern ja ihren diskurse brauchen ein Zielfenster: Wohin Kindern ein Vorbild sein wollen. Hier konnten wollen wir denn eigentlich kommen? Wird sie aber die neue Anforderung, die fehlende Vollzeitbeschäftigung für alle gefordert? Im Schule zu kompensieren, nicht erfüllen. Moment heißt es, der Gender-Wage-Gap, der G ender-Income-Gap oder der Gender- Der Status quo vom Beginn der Coronakrise, wo Pension-Gap lassen sich nur dadurch die Gesellschaft schlecht aufgestellt war, ist reduzieren, dass Frauen dem Normallebens- also nicht nur perpetuiert worden. Die Situation verlauf von Männern hinterherrennen. Aber von Frauen hat sich weiter verschlechtert. Es wäre es nach 120 Jahren, in denen Frauen stellt sich die Frage, wie dies in der nächsten sich den Männerwelten adaptiert haben, Zeit weitergeht: nicht Zeit, dass Männer sich auf Frauen zubewegen? Dann wäre der Zielkorridor — Wird sich dieser Unterschied, diese Retraditi- keine 39-Stunden-Woche, sondern eher onalisierung halten? eine 34-Stunden-Woche oder ein anderes Arbeitszeitmodell. Das würde die Vereinbar- — Wie lange wird es dauern, bis wir zum Status keit, ein ganzes Leben, Engagement usw. quo ante zurückgekehrt sind? wesentlich einfacher machen. — Oder können wir dieses Fenster der Corona- — Wenn diese Zielkorridore durch eine breite zeit, diese miserable Situation, in der wir gesellschaftliche Diskussion definiert sind, uns alle befinden, vielleicht doch dafür muss geklärt werden, wie die bessere, nutzen, uns für die Zeit nach Corona anders gleichere Verteilung der unbezahlten Arbeit aufzustellen? erreicht werden kann. 12
DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO ��� DIGITAL DURCHGEFÜHRT AM 08.12.2020 Zum ersten ist eine relativ einfache Maß- Bei ähnlicheren Arbeitszeiten gleichen sich nahme, die es in vielen Ländern schon gibt, auch die Altersrenten und Jahreseinkommen eine Umgestaltung der Elternzeit: Man an. Das wird auch durch die Ergebnisse einer könnte die zwei Monate, die ein Elternteil Bertelsmann-Studie von Mitte 2020 unter- nehmen kann, ohne dass das andere stützt, die zeigt, dass die jüngeren Jahr- Elternteil sie in Anspruch nehmen kann (die gänge, ab 1981, eigentlich noch größere sog. Vätermonate), auf vier Monate verlän- Rentenlücken haben als die Jahrgänge seit gern und den anderen Teil von 12 auf 1971 durch die Erhöhung der einseitigen 10 Monate verkürzen. Das hätte zur Folge, Teilzeitarbeit für Frauen. dass Väter vielleicht zwei Monate allein Verantwortung für die Kinder hätten, die sie Diese Punkte sollten ergänzt werden durch eine dann im Leben weiterführen können. Das klare strategische Ausrichtung, die vor allem könnte enormen Einfluss haben, genauso besonders vulnerable Gruppen berücksichtigt: wie zuvor die Einführung der zwei Vätermo- die Alleinerziehenden, die es besonders schwer nate, bei der man aber nicht stehenbleiben hatten während der Coronakrise, und Perso- muss. Derzeit nehmen Väter im Schnitt drei nen, die aufgrund dessen, was oben „Verheim- Monate Elternzeit, wobei aber der Durch- lichung“ genannt wurde, massive, besonders schnitt oft einen falschen Eindruck vermit- Gewalterfahrungen gemacht haben. Diese zwei telt: Die meisten nehmen zwei Monate Gruppen sollten durch eigene politische zeitgleich mit ihrer Partnerin, nur sehr Maßnahmen in unterschiedlicher Art und Weise wenige Väter nehmen längere Elternzeit adressiert werden. (und erhöhen damit den Durchschnittswert). Mein Impuls wäre also, dass die Retraditionali- Sinnvoll wäre zum zweiten, statt der bloßen sierung diskutiert und vor allem angegangen Kritik am Ehegattensplitting die Diskussion werden muss. Nur so kann nach der Krise darüber, welche Art von Familiensplitting anders, geschlossener und auch in einem wir wollen. Wie genau soll das aussehen? Miteinander von Männern und Frauen, der Wie groß sollen die Abschreibungen, die Abbau der Geschlechterungleichheit vorange- Steuererleichterungen für Kinder sein? Dazu bracht werden kann. gibt es viele Untersuchungen. M. E. bestehen hier Handlungsprobleme. Zu diesem Thema muss das nächste Koalitionsprogramm deutlich Stellung nehmen – dadurch wären viele Probleme automatisch, wenn nicht gelöst, doch reduziert. — Der letzte Punkt wurde anfangs schon genannt: Wir arbeiten im Moment mit Kennzahlen, die m. E. absolut kritisch zu diskutieren sind. Die Maßzahl des Gen- der-Wage-Gaps bezieht sich auf den Stun- denlohn. Auf dieser Basis kann man statis- tisch berechnen, dass der Unterschied 5 Prozent oder in anderen Berechnungen 2 Prozent beträgt, was schon enorm ist. Es ist aber zu vernachlässigen im Vergleich mit dem Multiplikator – also dem Unterschied, der sich zeigt, wenn die Zahl mit 20 (Stunden einer Teilzeitstelle) oder 39 (für eine Vollzeit- beschäftigung) multipliziert wird. Daher sollte der Gender-Pay-Gap nicht auf Stun- denbasis ermittelt werden, sondern zumin- dest ergänzt durch die Monats- oder Jahres- löhne. Diese Unterschiede können nur durch gleiche Arbeitszeiten reduziert werden, und zwar durch eine Vereinheitlichung nach oben – das ist nicht meine Option – oder nach unten. 13
IRRELEVANT TROTZ SYSTEMRELEVANZ? ��� FRAUEN- UND GLEICHSTELLUNGSPOLITIK IN DER KRISE 4 Workshops 4.1 Workshop 1 Die Teilnehmer*innen des Workshops forderten Gewaltschutz für Frauen und Strukturveränderungsprozesse für einen wirksamen Gewaltschutz. Eine Sensibilisierung ihre mitbetroffenen Kinder der Justiz, insbesondere in Umgangs- und — Expertin: Prof. Dr. Angelika Henschel, Sorgerechtsverfahren, sei wichtig, um Frauen Leuphana Universität Lüneburg und Kinder besser zu schützen. Da die Infra- struktur bundesweit noch immer nicht ausrei- Der Impulsvortrag von Angelika Henschel chend sichergestellt ist, kämpft die AWO beleuchtete die Situation von Frauen und weiterhin auf allen Ebenen für den bedarfsge- Kindern im Kontext häuslicher Gewalt. Mehr rechten Ausbau von Frauenhäusern und als 80 Prozent der von häuslicher Gewalt Fachberatungsstellen. Die Finanzierung der Betroffenen sind nach wie vor Frauen. Im Jahr Antigewaltarbeit muss dabei durch eine 2019 wurde in Deutschland nahezu jeden bundesgesetzliche Regelung im Rahmen der dritten Tag eine Frau von ihrem Partner bzw. Daseinsvorsorge abgesichert werden. Die AWO Ex-Partner getötet. Kinder sind in vielen Fällen bekräftigt ihre Forderung nach einem Rechts- Zeug*innen der Partnerschaftsgewalt oder anspruch auf Schutz und Hilfe, der auch geraten selbst in die Auseinandersetzung. Das Beratung umfassen muss. Miterleben von Gewalt hat auf Kinder gravie- rende psycho-soziale Auswirkungen. Seit Präventionsarbeit und Angebote zur 01.02.2018 ist die völkerrechtlich verbindliche geschlechtsspezifischen Antigewaltarbeit sogenannte Istanbul-Konvention („Überein- müssen ausgeweitet werden. Die Bekämpfung kommen des Europarats zur Verhütung und von Gewalt ist eine Querschnittsaufgabe, die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und durch arbeitsfeldübergreifende Zusammenarbeit häuslicher Gewalt“) in Deutschland geltendes gestärkt werden muss. Hierzu sind Ressourcen Recht. Ihr Ziel ist die Bekämpfung von Gewalt notwendig, damit beispielsweise Antigewaltar- gegen Frauen und Mädchen, indem sie staatli- beit und Jugendhilfe inklusiv und vernetzt che Stellen zu Maßnahmen in den Bereichen zusammenarbeiten können. Dies ist die Voraus- Prävention, Intervention, Schutz und Sanktion setzung, um Angebote zu gestalten, die den verpflichtet. Hinsichtlich der Umsetzung gewaltbetroffenen Frauen und ihren Kindern besteht jedoch noch umfangreicher Diskussi- gute Unterstützung leisten können. Sie brau- ons- und Handlungsbedarf. chen die Perspektive auf ein gewaltfreies Leben. 14
DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO ��� DIGITAL DURCHGEFÜHRT AM 08.12.2020 Gewaltschutz für Frauen und ihre Mitbetroffenen Kinder Prof. Dr. Angelika Henschel Leuphana Universität Lüneburg Inhalt — Häusliche Gewalt – Gewalt im Sozialen Nahraum • Definition • Partnerschaftsgewalt in Deutschland • Häusliche Gewalt und die Kinder — Kindliches Miterleben häuslicher Gewalt — Die Istanbul-Konvention • Ziele der Istanbul Konvention • Forderungen hinsichtlich zu ergreifender Maßnahmen — Was tun?! – Diskussion — Literatur und Bildnachweise 15
IRRELEVANT TROTZ SYSTEMRELEVANZ? ��� FRAUEN- UND GLEICHSTELLUNGSPOLITIK IN DER KRISE Häusliche Gewalt – Gewalt im Sozialen Nahraum Definition „Häusliche Gewalt bezeichnet Gewaltstraftaten zwischen Personen in einer partnerschaftlichen Beziehung, die derzeit besteht, sich in Auflösung befindet oder aufgelöst ist (unabhängig vom Tatort, auch ohne gemeinsamen Wohnsitz) oder die (mit gemeinsamen Wohnsitz) in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, soweit es sich nicht um Straftaten ausschließlich zum Nachteil von Kindern handelt.“ Ministerium für Inneres, Familie, Frauen und Sport/Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt beim Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 2005 Partnerschaftsgewalt in Deutschland — Insgesamt registrierte das Bundeskriminalamt 141.792 Fälle von Partnerschaftsgewalt im Jahr 2019 (Gegenüber 2018 mit 140.775 = Anstieg von 0,74 Prozent), davon waren 81 Prozent (114.903 Fälle; gegenüber 114.393 Fällen in 2018) der Betroffenen Frauen (vgl. BKA 2020, S. 3-5). — Sowohl Opfer (77,6 %) wie Täter (66,1 %) sind überwiegend Deutsche StaatsbürgerInnen (vgl. ebd., S. 7, 12). — Insgesamt wurden 117 Frauen (und 35 Männer) getötet (vgl. BKA 2020, S. 5). 16
DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO ��� DIGITAL DURCHGEFÜHRT AM 08.12.2020 Häusliche Gewalt und die Kinder — In der repräsentativen Prävalenzstudie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ (BMFSFJ 2004, S. 277) gab über die Hälfte der von Partnergewalt betroffenen Frauen an, • dass Kinder in ihrem Haushalt lebten und dass ihre Kinder die Gewaltsituation gehört (57 %) • oder gesehen (50 %) hätten. • Kinder seien dabei selbst in die Auseinandersetzungen mit hineingeraten oder hätten versucht, die Befragten zu verteidigen (21–25 %). — Jedes zehnte Kind wurde dabei selbst körperlich angegriffen (vgl. BMFSFJ 2011, S. 7). Kindliches Miterleben häuslicher Gewalt — Diese direkten oder indirekten Gewalterfahrungen können für Kinder bedeuten: • An dem Ort, wo man sich geborgen und geschützt fühlen sollte, eine Atmosphäre von Wut / Hass bzw. Angst / Verzweiflung zu spüren und • sich oft hilflos, traurig, ohnmächtig oder sogar schuldig zu fühlen, da die Mädchen und Jungen der Gewalt nicht Einhalt gebieten können oder sich gar selbst als Auslöser für die Gewalt verstehen. — können sich nicht an Vater und Mutter wenden, fühlen sich mit ihren verwirrenden Gefühlen allein gelassen, — sind der Abwertung der eigenen Mutter durch Vater / Partner und den mittelbar bzw. unmittel- bar erlebten körperlichen, seelischen oder sexuellen Misshandlungen schutzlos ausgeliefert und haben Angst um die Mutter (die Geschwister, sich selbst). 17
IRRELEVANT TROTZ SYSTEMRELEVANZ? ��� FRAUEN- UND GLEICHSTELLUNGSPOLITIK IN DER KRISE — „Kinder sind deshalb nicht nur Zeugen häuslicher Gewalt, sondern immer auch Opfer. Das Miterleben von häuslicher Gewalt stellt in der Regel deshalb auch eine Gefahr für das Wohl und die Entwicklung der Kinder dar“ (BMFSFJ 2011, S. 7). — Seit den neunziger Jahren werden zunehmend die von häuslicher Gewalt mit betroffenen Mädchen und Jungen in den (forschenden) Blick genommen (z. B. Henschel 1993, Henschel 2019). — Aufklärung, Bildungs- und Informationsveranstaltungen für Mitarbeiterinnen von Frauen häusern, MitarbeiterInnen der Polizei, der Jugendämter, des Kindesschutzes, der Schulen, etc. gehen damit einher. Die Istanbul-Konvention — „Die Istanbul-Konvention ist das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“. — Das Übereinkommen ist das erste völkerrechtlich verbindliche Instrument im europäischen Raum zum Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen. — Am 1. Februar 2018 ist die Istanbul-Konvention in Deutschland in Kraft getreten. — Die Konvention ist damit geltendes Recht“ (Frauen gegen Gewalt e. V. 2018). — Mittlerweile haben 34 Staaten (Stand 15. Oktober 2019) die Konvention ratifiziert (vgl. Council of Europe 2019). 18
DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO ��� DIGITAL DURCHGEFÜHRT AM 08.12.2020 Ziele — „Die Istanbul-Konvention stellt deutliche Anforderungen an die Gleichstellung und Nichtdiskriminierung von Frauen. — Ziel ist die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. — Der Istanbul-Konvention liegt ein umfassender Begriff von Gewalt zugrunde. — Gewalt wird als eine Form der Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung definiert. — Die Konvention umfasst alle Formen geschlechtsspezifischer Gewalt und legt zugleich einen Schwerpunkt auf häusliche Gewalt“ (Frauen gegen Gewalt e. V. 2018). — „In der Istanbul-Konvention sind auch Artikel zur Prävention, Intervention und Unterstützung bei Gewalt gegen Frauen und Mädchen enthalten. Außerdem legt die Konvention fest, dass Hilfsdienste (darunter Fachberatungsstellen) und Schutzeinrichtungen vorhanden sein müssen. — Die Konvention besteht aus insgesamt 81 Artikeln, die sehr detailliert und teilweise richtlinien- artig sind“ (Frauen gegen Gewalt e. V. 2018). — „Diese betreffen die Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, den Schutz der Opfer und die Bestrafung der Personen, die gewalttätig werden. Zugleich werden die Gleichstellung von Mann und Frau und das Recht von Frauen auf ein gewaltfreies Leben gestärkt“ (BMFSFJ 2018). 19
IRRELEVANT TROTZ SYSTEMRELEVANZ? ��� FRAUEN- UND GLEICHSTELLUNGSPOLITIK IN DER KRISE Forderungen hinsichtlich zu ergreifender Maßnahmen — Verbesserung des Zugangs zum Unterstützungssystem — Versorgung für bislang unzureichend erreichte Zielgruppen — Bedarfsgerechter Ausbau der Angebote der Frauenhäuser — Bedarfsgerechter Ausbau der ambulanten Fachberatungsstellen — Anpassung der Gesetzeslage — Einrichtung einer Monitoringstelle, einer Koordinierungsstelle sowie eines Runden Tisches von Bund, Ländern und Kommunen — Erarbeitung von Aktionsplänen — Partizipation der Zivilgesellschaft — Verbesserung der Datenerhebung und Evaluation Was tun?! – Diskussion 1. Wo habe ich diskussionsbedarf? 2. Was braucht es, damit sich Gewaltschutz als Querschnittsthema in der Gesellschaft und der AWO etablieren ließe? 3. Wie lässt sich erreichen, dass Frauen und deren Kindern ein verbesserter Schutz vor Gewalt ermöglicht wird und welche Rolle kann die AWO dabei übernehmen? 4. Wie lassen sich inklusive Hilfekonzepte angesichts „versäulter“ Rechts-, Organisations- und Strukturbedingungen entwickeln? 5. Wie lassen sich Präventions-, Interventionsangebote und Nachsorge auf- bzw. ausbauen? 6. Welche Notwendigkeiten und Konsequenzen ergeben sich für die AWO als Dienstleister und Arbeitgeber? 7. Welchen Beitrag kann und will die AWO zur Umsetzung der Istanbul Konvention leisten? 20
DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO ��� DIGITAL DURCHGEFÜHRT AM 08.12.2020 Literaturnachweise — BKA – Bundeskriminalamt (2020): Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung – Berichtsjahr 2019, Wiesbaden, [online] https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/ Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Partnerschaftsgewalt/Partnerschaftsgewalt_2019. pdf?__blob=publicationFile&v=2 [12.11.2020]. — BMFSFJ - Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen, und Jugend (2018): Konvention zum besseren Schutz von Frauen vor Gewalt in Kraft getreten, [online] https://www.bmfsfj.de/ bmfsfj/konvention-zum-besseren-schutz-von-frauen-vor-gewalt-in-kraft-getreten/121718 [15.10.2019]. — BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2011): FamFG. Arbeits- hilfe zum neu gestalteten Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) bei Vorliegen häuslicher Gewalt, Berlin. — BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland, Berlin. — Council of Europe (2019): Unterschriften und Ratifikationen des Vertrags 210, [online] https:// www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/210/signatures [15.10.2019]. — Frauen gegen Gewalt e. V. (2018): Istanbul-Konvention, [online] https://www.frauen-gegen- gewalt.de/de/aktionen-themen/istanbul-konvention.html [15.10.2019]. — Henschel, Angelika (1993): Geschlechtsspezifische Sozialisation. Zur Bedeutung von Angst und Aggression in der Entwicklung der Geschlechtsidentität. Eine Studie im Frauenhaus, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. — Henschel, Angelika (2019): Frauenhauskinder und ihr Weg ins Leben. Das Frauenhaus als entwicklungsunterstützende Sozialisationsinstanz, Opladen: Barbara Budrich. — Landespräventionsrat Niedersachsen (2006): „Kinder misshandelter Mütter – Handlungsorien- tierung für die Praxis“, Hannover. — Ministerium für Inneres, Familie, Frauen und Sport / Koordinationsstelle gegen häusliche Gewalt beim Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes (2005): Handlungsrichtli- nien für die polizeiliche Arbeit in Fällen häuslicher Gewalt. 21
IRRELEVANT TROTZ SYSTEMRELEVANZ? ��� FRAUEN- UND GLEICHSTELLUNGSPOLITIK IN DER KRISE 4.2 Workshop 2 sozialpolitische und gesellschaftliche Modelle Atmende Lebensläufe. Über ein für eine gerechtere Verteilung der Sorgearbeit, um die Erwerbsarbeit sorgegerechter gestalten neues Verhältnis von Sorgearbeit zu können. Im Gegenteil ist bis heute Sorge und Erwerbsarbeit eine im dominanten industriell-kapitalistischen ökonomischen Diskurs und im wirtschaftlichen — Expertin: Dr. Karin Jurczyk, Vorstandsmitglied Handeln vernachlässigte Dimension. der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) sowie aktiv bei Care.Macht.Mehr; Die Verantwortung für Familie und Sorgearbeit bis Mai 2019 Leiterin der Abteilung Familie muss jedoch endlich als gesellschaftliche und Familienpolitik am Deutschen Jugend Aufgabe anerkannt werden. Ein Vorschlag institut (DJI) hierfür ist das „Optionszeitenmodell“, das im Rahmen des Workshops vorgestellt und disku- Die Probleme der Vereinbarkeit von Familie, tiert wurde. In ihm wird jedem Menschen ein Pflege und Beruf sind, so zeigte die Präsenta- Recht auf eine selbstbestimmte Erwerbsbiogra- tion von Karin Jurczyk mit dem Titel „Das fie einräumt, in der Sorgearbeit hinreichend Optionszeitenmodell: ein Vorschlag zur Neuge- Platz bekommen und geschlechtergerechter staltung von privater Sorge und Erwerbsarbeit“ verteilt werden soll. zunächst auf, nach wie vor ungelöst. Diese Care-Lücken zeigen sich in der aktuellen Die Teilnehmer*innen thematisierten diverse Coronakrise besonders drastisch im privaten Facetten des vorgestellten Modells, z. B. seinen wie im professionellen Bereich: Eltern und pfle- Beitrag zur Gleichstellung, und offene Fragen gende Angehörige leiden unter Erschöpfung, wie z. B. Umsetzungsmöglichkeiten und Betreuungs- und Pflegepersonal fehlt und ist Finanzierung. Sie sprachen sich dafür aus, dass häufig überlastet, nicht zuletzt aufgrund von sich die AWO an der Weiterentwicklung des schwierigen Arbeitsbedingungen, Unterbezah- Optionszeitenmodells für atmende Lebensläufe lung und Arbeitsdruck. Die während der letzten beteiligt. Gleichzeitig wurde hervorgehoben, Jahrzehnte gestiegenen Erwerbsquoten von dass über die Bedeutung und die noch unglei- Frauen und Müttern wurden nicht kompensiert; che Verteilung von Care-Arbeit sowie mögliche d. h., ungeachtet des Werts und der gesell- Lösungen wie die des Optionszeitenmodells schaftlichen Relevanz der Care-Tätigkeiten weitreichend informiert und diskutiert werden wurde vorrangig auf die Beschäftigungsfähig- muss. Dies gilt sowohl für die Diskussion keit aller Erwachsenen – nun auch der innerhalb der AWO als auch mit anderen Frauen – fokussiert. Gleichzeitig fehlen neue Verbänden und politischen Akteur*innen. 22
DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO ��� DIGITAL DURCHGEFÜHRT AM 08.12.2020 Das Optionszeitenmodell: ein Vorschlag zur Neugestaltung von privater Sorge und Erwerbsarbeit Dr. Karin Jurczyk Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik e. V. Vortrag beim Workshop „Atmende Lebensläufe: Über ein neues Verhältnis von Sorgearbeit und Erwerbsarbeit“ 10. Sozialkonferenz der AWO „Irrelevant trotz Systemrelevanz? - Frauen- und Gleichstellungspolitik in der Krise“ Digitale Veranstaltung, Dienstag, 8.12.2020 Inhalt 1. Die fundamentale Bedeutung von Care 2. Krisendiagnose: Care-Krise heute heißt Verstärkung von Ungleichheiten 3. Das Geschlechterproblem im normierten Erwerbsverlauf 4. Das Optionszeitenmodell: Atmende Lebensläufe mit Carezeit-Budgets — Die Zweckbindung des Optionszeitenmodells — Zwecke — Das Optionszeitmodell — Entwicklung des Modells: zeit- und geldpolitische Parameter, Umsetzungsschritte — Zu 4. Anreize für Geschlechtergerechtigkeit — Perspektiven, Ansätze 23
IRRELEVANT TROTZ SYSTEMRELEVANZ? ��� FRAUEN- UND GLEICHSTELLUNGSPOLITIK IN DER KRISE 1. Die fundamentale Bedeutung von Care — Care (privat, beruflich und zivilgesellschaftlich) ist mehr als systemrelevant: ermöglicht Leben und Überleben, individuelle Entwicklung, soziale Bindungen, gemeinschaftlichen Zusammen- halt, intakte Umwelt und eine nächste Generation — … und das ein Leben lang und für alle, aber besonders am Anfang, bei Krankheit und am Ende des Lebens (Brückner 2011). — Das Fundament von Wirtschaft und Gesellschaft — Care braucht Zeit – Voraussetzung für Beziehungen, Für- und Selbstsorge — Gemeinsames Ziel: Gestaltung von Arbeits- und Lebenszeit im Sinne einer geschlechtergerechten „sorgenden Gesellschaft“ (caring society), vgl. Grundsatzprogramm der AWO 2. Krisendiagnose: Care-Krise heute heißt Verstärkung von Ungleichheiten — Die Organisation von (entgrenzter) Erwerbsarbeit – nach wie vor zugeschnitten auf den „freigestellten“ männlichen Ernährer — Delegation von Sorgearbeit an Frauen – Care ist historisch weiblich! — Gleichzeitig: Frauen sollen, wollen und müssen erwerbstätig sein — Gesellschaftliche Institutionen antworten nicht angemessen auf neue Herausforderungen der „doppelten Entgrenzung“ — Missverhältnis im Volumen von Angebot und Nachfrage nach Care — Care-Krise heißt Zeit-Krise: Zeitnot und Sorgelücken als Folgen — Individuell, familial und beruflich — Neue alte Achsen von Ungleichheit: Gender (Frauen besonders betroffen), Ethnie, Schicht 24
DOKUMENTATION DER 10. SOZIALKONFERENZ DER AWO ��� DIGITAL DURCHGEFÜHRT AM 08.12.2020 3. Das Geschlechterproblem im normierten Erwerbsverlauf — Die Organisation von Erwerbsarbeit – nach wie vor zugeschnitten auf den „freigestellten“ männlichen Ernährer • Fortbestehende rechtliche Orientierung am Normalarbeitsverhältnis • Recht orientiert Erwachsenenleben auf Erwerbsarbeit • ‚Bestrafung‘ von Erwerbsunterbrechungen • Vorhandene gesetzliche Regelungen (Elternzeit, Pflegezeit) antworten nicht angemessen auf Bedarfe, v. a. fragmentiert 4. Das Optionszeitenmodell: Atmende Lebensläufe mit Carezeit-Budgets Notwendigkeit von Zeitpolitik – „Zeitwohlstand“ als ergänzende Wohlstandsdimension, „Zeitsouveränität“ als Freiheitsdimension Fokus auf private Sorgearbeit und Lebensverlauf Umrisse des Modells — Xy Anteil an Lebensarbeitszeit = Optionszeitbudget — Entnahmen im Lebensverlauf = System individueller Ziehungsrechte — Monetäre und soziale Absicherung von Optionszeiten 25
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