LAG - MAGAZIN JÜDISCHE MUSEEN INTERNATIONAL 23. JUNI 2021 - LERNEN AUS DER ...
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Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Zur Diskussion Vorwort seitens der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ..............................4 Zwischen Selbstverständnis und Erwartungshaltung: Jüdische Museen in Deutschland......5 Interview mit Hanno Loewy „Das Jüdische Museum Hohenems“........................................10 Das Museum POLIN – Jüdische Geschichte als (geschichts-) politischer Streitpunkt........16 Interview mit Miriam Bistrovic über das Shared History Project – 1700 Jahre jüdisches Le- ben in Deutschland..................................................................................................................21 Empfehlung Fachbuch Gedächtnis aus den Quellen. Zur jüdischen Geschichte Berlins.............................................26 Empfehlung Bildungsträger ANOHA – Die Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin...................................................29 Empfehlung Unterrichtsmaterialien „Nathan und seine Kinder“. Impulse für den Unterricht. .....................................................31 Empfehlung Web 2021 - Jüdisches Leben in Deutschland. ................................................................................34 Magazin vom 23.06.2021 2
Einleitung Liebe Leser*innen, des dortigen Jüdischen Museums vor. wir begrüßen Sie zum neuen Magazin von Das Jüdische Museum POLIN stand in den „Lernen aus der Geschichte“. Der Titel der letzten Jahren weniger aufgrund seiner Ausgabe lautet Jüdische Museen internatio- fachlichen Arbeit im öffentlichen Interesse. nal. Ursprünglich geplant waren neben den Vielmehr war es der (geschichts-) politische Texten über das Selbstverständnis von Jü- Zugriff der regierenden PiS, der internatio- dischen Museen, die Sie im Magazin vorfin- nal Aufsehen erregte. Ingolf Seidel zeichnet den, Beiträge aus Polen, Ungarn und Grie- diesen Prozess nach. chenland. Nun kommt es hin und wieder Ein zentrales Anliegen des Projekts Shared vor, dass Textbeiträge kurzfristig abgesagt History liegt darin, die Darstellung von werden. Das war in diesem Monat der Fall Juden*Jüdinnen von der Reduzierung auf bei einem vereinbarten Artikel aus Grie- den Opferstatus zu befreien und sie als chenland. Nachdenklicher stimmt jedoch, handelnde Subjekte im historischen Kon- dass es nicht möglich war, eine*n Autor*in text dazustellen. Im Gespräch mit Thomas für einen Text über das jüdische Museum Hirschlein aus der LaG-Redaktion berichtet POLIN in Warschau zu gewinnen. Ob sich Miriam Bistrovic über das Onlineprojekt angefragte Autor*innen vor einer Positio- des Leo Baeck Instituts New York / Berlin. nierung angesichts des politischen Zugriffs Wir bedanken uns herzlich bei den der nationalkonservativen Partei Recht und Autor*innen, die für diese Ausgabe Texte Gerechtigkeit (PiS) scheuen, bleibt eine beigesteuert haben. Mutmaßung, zu der jedoch Anlass besteht. Mit dem Vorwort führt Andrea Despot, Vor- standsvorsitzende der Stiftung „Erinnerung, In eigener Sache Verantwortung und Zukunft“, in das Maga- Mit dieser Ausgabe verlässt Tanja Kleeh mit zin ein. dem Ende ihres Studiums die Redaktion. Jüdische Museen befinden sich in einer Wir wünschen der Kollegin alles Gute für Zwickmühle zwischen Selbstverständnis die Zukunft. und politischer Erwartungshaltung, so Bar- Die Redaktion verabschiedet sich mit die- bara Staudinger. Sie geht auf die vielzähli- sem Magazin in die jährliche Sommerpau- gen Zuschreibungen ein, die mit dem Aus- se. Wir wünschen unseren Leser*innen eine stellen der Geschichte von Jüdinnen*Juden entspannende Zeit. verbunden werden. Die nächste Ausgabe des LaG-Magazins er- Hanno Loewy geht im Gespräch auf die Ge- scheint am 22. September 2021. schichte von Juden*Jüdinnen im heute zu Österreich gehörenden Hohenems ein und stellt die Arbeit sowie das Selbstverständnis Ihre LaG-Redaktion Magazin vom 23.06.2021 3
Einleitung Vorwort seitens der Stiftung Innenperspektive(n), oder eine Außenan- „Erinnerung, Verantwortung sicht auf das Judentum? Welche Bedeutung und Zukunft“ kommt Jüdischen Museen zu, in Gesell- schaften, die einen besorgniserregenden Von Andrea Despot Zuwachs des Antisemitismus verzeichnen? Das Verständnis von Museen als Orten der Welche Haltung sollten sie einnehmen in Wissensbewahrung- und vermittlung ist politisch hoch umstrittenen Debatten, wie im intensiven Wandel begriffen. Museen etwa dem Nahost-Konflikt, und wer legt dies sehen sich zunehmend auch als Orte der fest? Begegnung und gesellschaftlichen, auch Diesen und weiteren Fragen gehen die Bei- politischen, Aushandlung, in denen Reso- träge im vorliegenden Band zum „Selbst- nanzräume für unterschiedliche Gruppen verständnis Jüdischer Museen in Europa“ und Akteure entstehen. Gleichzeitig birgt nach. Für die Stiftung „Erinnerung, Ver- der Prozess der Digitalisierung enorme Po- antwortung und Zukunft“ (EVZ) ist es ein tentiale und Chancen für einen ortsunab- Anliegen, die fachliche und plurale Ausei- hängigen Zugang zu ihren Artefakten und nandersetzung mit diesen Fragen zu för- Beständen. Dies führt dazu, dass Museen dern – aus der Perspektive der Museen und ihr Wirken und ihr Selbstverständnis neu Fachexpert*innen selbst. Jüdische Muse- vermessen. Durch die aktuellen – zum Teil en als zentrale Akteure der historisch-po- kontrovers geführten - Debatten zur Resti- litischen Bildung und tragende Säulen der tution von Kulturgütern durch europäische Erinnerungskultur(en) sind für uns wichtige und nordamerikanische Museen oder über Partner, mit denen wir Bildungsprojekte zur die Richtung gesellschaftlicher Entwicklun- Jüdischen Geschichte und Judentum heute, gen erhalten Museen wichtige Impulse zu sowie zu historischen und gegenwärtigen Themen wie Repräsentation, Vielfalt von Formen des Antisemitismus durchführen. Perspektiven, internationaler Austausch Mit dieser Publikation möchte die Stiftung und Beteiligung – von Zeitzeug*innen, jun- EVZ einen Beitrag zu den gegenwärtigen gen Menschen und diversen Communities. Debattenleisten und die vorhandene Stim- In diesen Debatten kommt Jüdischen Muse- menvielfalt in der Museumslandschaft hör- en eine zentrale Rolle zu. Dies gilt internati- bar machen. onal, wie auch in Deutschland. Die Diskussi- on um das Jüdische Museum Berlin in 2019, Über die Autorin die zu personellen Konsequenzen führte, illustrierte dies in besonderer Weise. Die Politologin und Osteuropahistorikerin Dr. Andrea Wie sollten sich Jüdische Museen aus- Despot ist Vorstandsvorsitzende der richten? Welchen Fokus können und sol- Stiftung „Erinnerung,Verantwortung und Zukunft“. len diese Museen haben - (eine) jüdische Magazin vom 23.06.2021 4
Zur Diskussion Zwischen Selbstverständnis und Antisemitismus und Israel – eine Erwartungshaltung: Jüdische Zustandsbeschreibung in Jüdischen Museen in Deutschland Museen Von Barbara Staudinger Gab es noch vor 20 Jahren das stillschwei- gende Einverständnis, Jüdische Muse- In den letzten Jahren sind Jüdische Museen en hätten sich nicht mit Antisemitismus immer wieder ins Interesse der Öffentlich- zu beschäftigen, da dies mehr über die keit gerückt. Sei es aufgrund des Rücktritts Antisemit*innen erzählen würde als über Peter Schäfers als Direktor des Jüdischen Jüdinnen*Juden, ist dies schon lange nicht Museums Berlin und der nachfolgenden mehr der Fall. Nicht nur aufgrund eines ge- Diskussion um Aufgaben und Zielsetzungen stiegenen politischen und gesellschaftlichen dieser Institution, sei es angesichts des an- Interesses an der Bekämpfung von Antise- steigenden Antisemitismus in Deutschland mitismus, sondern auch aufgrund der Aus- und in Folge des Anschlags in Halle: Jüdi- wirkungen desselben auf den Alltag von sche Museen wurden plötzlich nach ihrer Jüdinnen*Juden in Deutschland, haben Jü- (gesellschafts-)politischen Haltung befragt dische Museen längst erkannt, dass Antise- und politische Ansprüche wurden auf sie mitismus auch für sie ein Thema sein muss. projiziert. Trotz einiger Ausstellungen (z.B. „Die Stadt Jüdische Museen sollten gemeinsam mit ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlin- den Gedenkstätten in die Pflicht genommen ge“, Jüdisches Museum Augsburg Schwa- werden, präventiv gegen Antisemitismus ben 2019/20) bleibt bis heute das Thema zu wirken, gesellschaftliche Grundwerte Antisemitismus jedoch im Wesentlichen zu vermitteln und (insbesondere muslimi- auf die Bildungsprogramme der Museen be- sche Kinder und Jugendliche) zu deradika- schränkt. lisieren. Sie sollten politisch werden, aber Im Gegenzug wurde und wird das Thema nicht zu politisch. Damit brachte man Jüdi- Israel wegen politischer Interventionen und sche Museen in eine Zwickmühle zwischen Angst um das Ansehen der eigenen Institu- Selbstverständnis und politischer Erwar- tion zunehmend ausgespart. Als 2008 die tungshaltung, aus der herauszukommen Ausstellung „Imaginary Coordinates“ des kaum möglich schien. Nun hat sich, nicht Spertus Museum in Chicago, die die Grenz- zuletzt durch die Corona-Krise und deren ziehungen im Nahen Osten mittels histori- gesellschaftlicher Auswirkung, das Selbst- scher Karten und künstlerischer Arbeiten verständnis Jüdischer Museen gewandelt. hinterfragte, aufgrund massiver Proteste Sie stehen heute für Vielstimmigkeit und jüdischer Organisationen schließen musste, Öffnung gegenüber der Stadtgesellschaft wurde dies in Deutschland kaum diskutiert. und streben nach Relevanz. Anders sah dies dann 2019 aus, als rund um die Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ Magazin vom 23.06.2021 5
Zur Diskussion des Jüdischen Museums Berlin eine heftige über ein Zusammenleben mit der christli- medial geführte Debatte darüber entbrann- chen Mehrheitsbevölkerung in ländlichen te, wie politisch ein Jüdisches Museum sein Gemeinden in der Frühen Neuzeit ab der dürfe – und vor allem wie „jüdisch“ es sein Aufklärung zur Erfolgsgeschichte wird. Ab müsse. Grund des Anstoßes war nicht nur 1900 werden zur „erfolgreichen Integrati- die Gegenüberstellung von christlichen, on“ kritische Stimmen gegen Assimilation muslimischen und jüdischen Perspektiven und Bedeutungsverlust religiöser Traditio- auf die Stadt und damit die Entscheidung, nen gemischt, bevor im Nationalsozialismus nicht ausschließlich jüdische Perspektiven Jüdinnen*Juden quasi „schicksalhaft“ zu zu thematisieren, sondern auch, darunter Opfern werden. Der Neubeginn nach 1945 liegend, ein Argwohn gegenüber einer Dar- geschieht „auf gepackten Koffern“ und ein stellung pluralistischer jüdischer Sichtwei- mehr oder weniger ausführlicher Ausblick sen. Folge des Disputs um das Jüdische Mu- auf die jüdische Gegenwart rundet schließ- seum Berlin ist heute, dass mit Ausnahme lich den historischen Rundgang, der sich des Jüdischen Museum Hohenems Ausstel- mit der jüdischen Geschichte der Stadt oder lungen, die sich kritisch oder mehrstimmig der Region befasst, ab. mit der israelischen Gesellschaft oder der Dieses Narrativ, das jüdische Geschichte im- Siedlungspolitik auseinandersetzen, in Jü- mer in Beziehung zur nichtjüdischen Mehr- dischen Museen fehlen. heitsbevölkerung setzt und jüdische Identi- Die Darstellung jüdischer Geschichte täten nicht hinterfragt, hat kaum Platz für Mittlerweile bemühen sich die meisten Jüdi- Differenzierungen, für Gegengeschichten schen Museen, Judentum, jüdisches Leben und widerständige Perspektiven. oder jüdische Geschichte zumindest ansatz- weise aus verschiedenen Perspektiven zu er- Der Kampf um Relevanz zählen, gewünscht scheint dies nicht immer Diese Darstellung jüdischer Geschichte zu sein. Jüdische Museen in Deutschland steht in direktem Widerspruch zur Selbst- wenden sich vor allem an ein nichtjüdisches darstellung Jüdischer Museen, die heute Publikum, das, als Teil der Mehrheitsgesell- mehr oder weniger unisono jüdische Ge- schaft, es gewohnt ist, die Geschichte der schichte aus unterschiedlichen jüdischen jüdischen Minderheit als homogene Einheit Perspektiven erzählen, vielfältige jüdische zu betrachten. Stimmen vorstellen und sich in gesell- Betritt man heute ein Jüdisches Museum, schaftspolitische Debatten einbringen wol- erwartet einen in der Dauerausstellung len. Die Erwartungshaltung gegenüber Jü- mehr oder weniger dieselbe Erzählung, dischen Museen, so scheint es, ist stärker als die, kurz zusammengefasst, von den Ver- jede Absichtserklärung. Der Anspruch Jüdi- treibungen und Pogromen des Mittelalters scher Museen auf gesellschaftliche Relevanz Magazin vom 23.06.2021 6
Zur Diskussion spiegelt sich zwar in den Wechselausstellun- len für den Religions- oder Ethikunterricht gen sowie im Veranstaltungs- und Bildungs- eine komprimierte und auf den Lehrinhalt programm wider, nicht jedoch im „Herz- angepasste Zusammenfassung bekommen, stück“ des Museums, der Dauerausstellung. Besucher*innen wollen sich über „das Ju- Da gerade diese Dauerausstellungen jedoch dentum“ informieren, die jüdische Gemein- meist von Schulklassen besucht werden, die de will sich repräsentiert sehen. Welches dort etwas zum Judentum und zu jüdischer Judentum wird nun vorgestellt, welche Tra- Geschichte lernen sollen, gegen Antisemitis- ditionen besprochen? Was ist mit all jenen mus „geimpft“ (so eine noch immer gängige Jüdinnen*Juden, die keine Traditionen le- politische Vorstellung) oder überhaupt zu ben? Bleiben sie hier ausgeschlossen? Und: besseren Menschen erzogen werden sollen, Können Jüdische Museen es angesichts die- ist dies doppelt schade. ser ganz unterschiedlichen Wünsche über- Letztes Jahr ist hier etwas in Bewegung haupt richtig machen? beraten: Die Jüdischen Museen Frankfurt Besonders in diesem Bereich haben Jüdi- und Berlin haben ihre Dauerausstellung sche Museen in den letzten Jahren viel da- neugestaltet. Neben einem Fokus auf eine zugelernt. Genauso wenig wie das Judentum vielstimmige jüdische Gegenwart ist da- hier als Einheit dargestellt werden kann, so bei angekommen, dass die Relevanz eines vielfältig ist auch das Museumspublikum Museums, also das Aufgreifen gegenwär- geworden. Ein Vergleich zu christlichen tig wichtiger gesellschaftlicher Fragen, sich Festen oder überhaupt anderen religiösen auch in der Dauerausstellung widerspiegeln Traditionen, wie dies in älteren Ausstellun- muss. So fragt das Jüdische Museum Frank- gen vorausgesetzt wurde, kann von Vielen furt danach, was uns heute noch heilig ist nicht oder nicht mehr gezogen werden. Eine und das Jüdische Museum Berlin setzt auf junge Generation säkularer Jüdinnen* Ju- Themen wie Migration und Antisemitismus. den drängt auf Repräsentanz auch in den Wenn sich dies fortsetzt, könnten sich die Jüdischen Museen. Die zunehmend diver- Dauerausstellungen Jüdischer Museen zu se Gesellschaft, in der wir leben, hat die relevanten Ausstellungen entwickeln, die Ansprüche an Jüdische Museen verändert. politische Vereinnahmung des Religiösen, Jüdische Museen werden daher andere Fra- Leitkulturdebatten oder Integrationspara- gestellungen benötigen als etwa „Wie feiern digma hinterfragen. Juden Schabbat?“. Neben der Dauerausstellung bieten alle Vielmehr muss vermittelt werden, dass ver- Jüdischen Museen einen Überblick über meintlich althergebrachte Traditionen sich jüdische Feste und Traditionen. Und immer gewandelt haben, dass sie nicht nur wahrscheinlich ist nirgends die Erwartungs- von Außen, sondern auch innerhalb einer haltung größer als in dieser Abteilung eines Gemeinschaft hinterfragt wurden, und dass Jüdischen Museums. Lehrer*innen wol- jedes Verhältnis von Mensch zu Tradition Magazin vom 23.06.2021 7
Zur Diskussion ein individuelles ist. 2021 feiert Deutschland das sogenann- Was bleibt – was kommt? te Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ und der politische Druck Gegründet als Gedenkorte an eine in der auf Jüdische Museen, sich in dieses Fest- Schoa vernichtete jüdische Kultur, für jahr einzureihen, ist groß. Dabei zeigen Nichtjuden*Nichtjüdinnen an Orten, an de- viele kritische jüdische Stimmen, dass die nen kein jüdisches Leben mehr existierte, meisten Veranstaltungen dabei wiederum stehen Jüdische Museen heute einer neuen nur eine recht einseitige Geschichte von jüdischen Gegenwart in Europa gegenüber. Jüdinnen*Juden erinnern und andere Per- Diese in ihrer Vielfältigkeit sowie als Teil ei- spektiven vergessen. Die Aufgabe Jüdischer ner diversen Gesellschaft anzusprechen, ist Museen ist, diesen Klischees entgegenzu- die Aufgabe Jüdischer Museen im 21. Jahr- wirken und anderen Stimmen einen Raum hundert. Wollen Jüdische Museen relevant zu geben. sein, wollen sie die Gesellschaft mitgestal- ten, müssen sie auch aktuelle Themen und Ausstellungen entwickeln, die gesellschafts- Literatur politische Fragen diskutieren. Erwartungs- Max Czollek, Desintegriert Euch!, München haltungen von politischen oder gesellschaft- 2018. lichen Gruppen sollten Themen anregen, Das Jüdische Quartett „1700 Jahre jüdisches sollten sie aber weder bestimmen noch be- Leben in Deutschland – wer feiert was?“. schneiden. Das Museum als politischer Ort Online-Veranstaltungsreihe der Amadeo steht heute, in einer Zeit des zunehmenden Antonio Stiftung: https://www.youtube. politischen Populismus und der Bereitschaft com/watch?v=ZVFHO9ZiI2I (08.06.2021). auf Kulturinstitutionen einzuwirken (sie- he auch die Entlassung von Dariusz Stola, „Jüdische Museen sind keine Holocaust-Mu- des Direktors des Museums der Geschich- seen“. Interview der taz mit Mirjam Wenzel te der polnischen Juden – Polín), auf dem und Cilli Kugelmann, 21.03.2020, online: Prüfstand. Jüdische Museen haben heute, https://taz.de/!5669205/ (08.06.2021) insbesondere im deutschsprachigen Raum, Hanno Loewy, Sind Jüdische Museen „jü- Relevanz erlangt: Sie sind laute Stimmen disch“? (11.05.2021), online unter: https:// geworden, wenn es um Minderheitenpers- www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/ pektiven geht, sie diskutieren Antisemitis- juedischesleben/328958/juedische-museen mus und Rassismus und reflektieren Ent- (08.06.2021) wicklungen unserer Gesellschaft. Und es ist Museumsbund Österreich (Hg.): „Das Mu- zu hoffen, dass diese Relevanz nicht durch seum als Teil seines politischen Umfelds“, Furcht vor Kritik oder Angriffen geschmä- in: neues museum. Die österreichische Mu- lert wird. seumszeitschrift 1-2 (2018), S. 8–53. Magazin vom 23.06.2021 8
Zur Diskussion Barbara Staudinger, Jüdische Museen als gesellschaftspolitischer Diskursraum. Neue Herausforderungen durch Antisemitismus, Fremdenhass und die Renaissance des Re- ligiösen, in: Liliana Radonic, Heidemarie Uhl (Hg.), Das umkämpfte Museum. Zeitge- schichte ausstellen zwischen Dekonstrukti- on und Sinnstiftung, Bielefeld 2020 (Erin- nerungskulturen / Memory Cultures 8), S. 201-211. Über die Autorin Dr. Barbara Staudinger ist Direkto- rin des Jüdischen Museums Augs- burg Schwaben. Sie hat Geschichte, Theaterwissenschaft und Judaistik an der Universität Wien studiert. 2001 promovierte sie mit einer Studie zu „Rechtsstellung und Judenfeindschaft am Reichshofrat 1559-1670“. Magazin vom 23.06.2021 9
Zur Diskussion Interview mit Hanno Loewy Zu dieser Zeit gab es in Österreich selbst „Das Jüdische Museum noch keine als Verband anerkannte jüdische Hohenems“ Gemeinde, nur in Habsburger Herrschafts- gebieten wie Böhmen, Ungarn oder in Polen. Das Interview wurde in Schriftform von In- golf Seidel geführt. Viele Hohenemser Juden*Jüdinnen lebten lange Zeit wie andere Landjudengemeinden vom Viehhandel und ähnlichen mit der loka- IS: Du leitest seit 2004 das Jüdische Mu- len Wirtschaft verbundenen Gewerben. Doch seum Hohenems, das im österreichischen schon früh waren die Hohenemser*innen Vorarlberg gelegen ist. Kannst du kurz etwas auch im internationalen Handel mit Texti- zur Geschichte des Ortes erzählen? Welche lien, Gewürzen, Silberwaren oder Wein tä- Bedeutung hat die Stadt für die Geschichte tig. Ende des 18. Jahrhunderts wurden ei- von Juden*Jüdinnen? nige von ihnen zu Hoffaktoren ernannt und HL: Hohenems hat lange Zeit nicht zu Ös- konnten aufgrund ihrer Handelstätigkeit für terreich gehört, sondern war bis 1758 eine den Habsburger Hof – oder für die Habs- eigene Reichsgrafschaft. Das heißt, die Gra- burger Armeen in den „Franzosenkriegen“ fen von Hohenems genossen eine gewisse – ökonomisch aufsteigen. Souveränität, die sie 1617 auch politisch de- Die Zahl der Familien, also der männlichen monstrierten, indem sie mit einem Schutz- Familienvorstände, in Hohenems blieb li- brief die Ansiedlung von zwölf jüdischen mitiert. Nach 1813 – unter bayrisch-napo- Familien erlaubten. Hätte Hohenems zu leonischer Herrschaft – wurde sie auf 90 diesem Zeitpunkt unter Habsburger Herr- festgesetzt. Doch nach wie vor hieß das, schaft gestanden, wäre das nicht möglich ge- dass zumeist nur der erstgeborene Sohn den wesen. In den 1630er Jahren bestand schon Ansiedlungstitel des Vaters erben konnte. eine Gemeinde mit Friedhof und Rabbiner. Ihre zu dieser Zeit noch zahlreichen Kinder Auch wenn es im 17. Jahrhundert zweimal mussten die Hohenemser*innen zumeist zur Vertreibung der Jüdinnen*Juden in be- im Ausland verheiraten. Die damit einher- nachbarte Herrschaftsgebiete kam, wuchs gehende Heiratsmigration trug wie auch die jüdische Gemeinde stetig an, auch nach- andernorts zur Ausbildung von transnati- dem Hohenems an Österreich fiel und die onalen Familiennetzwerken bei. Wobei die Hohenemser Juden*Jüdinnen Glück hatten, vielen Armen der Gemeinde, die ihren Le- dass Maria Theresia trotz ihrer manifesten bensunterhalt vor allem durch das Hausier- Judenfeindschaft einen neuen Schutzbrief gewerbe in Deutschland oder der Schweiz für Hohenems ausstellte. Mitte des 19. Jahr- verdienen mussten oder als Knechte und hunderts erreichte die Mitgliederzahl der Mägde bei jüdischen Familien ihr Auskom- jüdischen Gemeinde ihren Höchststand mit men fanden, häufig gar nicht die Mittel auf- ca. 550 Menschen. brachten, um heiraten zu können. Ab 1830 Magazin vom 23.06.2021 10
Zur Diskussion führte das zu einer ersten Auswanderungs- schon ihr Geschichtswerk, ihre Genealogie welle in die USA. und ein Archiv zwischen zwei Buchdeckeln Der Mittelstand heiratete in die süddeut- hinterlassen. Sein Wälzer Die Geschichte schen Landgemeinden oder in die zwei Ju- der Juden von Hohenems trug dazu bei, den dendörfer im schweizerischen Aargau. Die Familien ein Zusammengehörigkeitsgefühl wohlhabenden Hoffaktorenfamilien und zu vermitteln, das auch die Vernichtung jene Kaufleute, denen es gelang, mit „Schwei- der winzig gewordenen Gemeinde zwischen zerware“, Textilien aus der aufstrebenden 1938 und 1945 überlebte. 1953 gründeten Ostschweizer Stickereiindustrie erfolgreich Nachkommen in der Schweiz den Hohenem- zu handeln, schickten ihre Kinder hingegen ser Friedhofsverein und kauften der Tiroler in die europäischen Metropolen, nach Pa- Kultusgemeinde den rückerstatteten jüdi- ris, London, Frankfurt oder in das aufstre- schen Friedhof in Hohenems ab. So besteht bende Triest, in italienische Hafenstädte heute in unmittelbarer Nachbarschaft quasi oder gar nach Konstantinopel und Smyrna. ein Rechtsnachfolger der alten Gemeinde. Erst nach 1848 wurden die Niederlassungs- Und als 1986 der Museumsverein gegründet beschränkungen sukzessive aufgehoben. wurde und 1991 das Museum seine Pforten Gleichberechtigt waren die Hohenemser öffnete, begann eine rege Kommunikation Jüdinnen*Juden freilich noch immer nicht. mit den Nachkommen, die in vieler Hin- Sie „durften“ weiterhin eine „politische Ju- sicht dem Museum seinen besonderen Cha- dengemeinde“ bilden und mussten dafür rakter verliehen hat, als treuhänderisches höhere Steuern zahlen. Erst 1878, elf Jah- Archiv, als genealogische Forschungsstelle, re nach dem Staatsgrundgesetz, wurden in als Drehscheibe von Familiennetzwerken, Hohenems die Christen- und die Juden- die sich alle zehn Jahre in internationalen gemeinde vereinigt. Zu dieser Zeit war die Nachkommentreffen manifestiert, und als Gemeinde schon am Dahinschmelzen. Wer Mittelpunkt einer kosmopolitischen Mu- konnte, zog in die Großstädte und natürlich seumscommunity. Die schätzt es, dass das in die nahe Schweiz, zu der Hohenems als Museum als heiß geltende Themen ohne Grenzort zu St. Gallen schon lange intensive Berührungsängste und ohne Scheuklappen Beziehungen hatte. anfasst und kritische Impulse in die Land- schaft der „Erinnerungskultur“ sendet ge- Was blieb, war die Verbundenheit der mitt- nauso wie in zeitgenössische Debatten um lerweile in alle Welt zerstreuten Familien mit das Verhältnis von Diaspora und Israel oder dem kleinen Ort, dessen beide Hauptstraßen in die multikulturellen Konfliktlagen der eu- bis 1909 noch offiziell „Israelitengasse“ und ropäischen Einwanderungsgesellschaft. „Christengasse“ hießen. Zu dieser Zeit hatte der letzte bedeutende Rabbiner von Hohe- IS: Was zeichnet die Museumsarbeit vor nems, Aron Tänzer, den Hohenemser*innen Ort besonders aus? Gibt es in Hohenems so vor seinem Weggang nach Württemberg etwas wie eine Agenda bei der Vermittlung Magazin vom 23.06.2021 11
Zur Diskussion jüdischer Geschichte? zugleich galt es, die schiere Tatsache eines HL: Als das Museum gegründet wurde, öff- jüdischen Lebens und damit die lange Dau- nete sich Österreich gerade – mit ein wenig er einer nicht-christlichen Einwanderung Verspätung zu Deutschland – einer kriti- im Land mit den Mitteln einer betont sach- schen Auseinandersetzung mit der eigenen lichen und demonstrativ wissenschaftlichen Geschichte und der Erbschaft des National- Ausstellung, aber auch mit „populären“ sozialismus. So stand die Gründungsphase Projekten wie der Projektion auf „belichte- des Museums noch im Zeichen geschichts- te Häuser“ und irritierende „Blickstationen“ politischer Debatten in einer Vorarlberger niederschwellig und zugleich spektakulär Gesellschaft, die insgesamt von kulturel- ins allgemeine Bewusstsein zu bringen. len Aufbrüchen geprägt war. Das Museum, Parallel dazu entwickelte sich der Kontakt hervorgegangen aus einer zivilgesellschaft- mit den in alle Welt zerstreuten Nachkom- lichen Bewegung von lokalen und regiona- men, deren Bewusstsein weniger von der len Aktivist*innen, wurde rasch zu einem Shoah, der deutschen Vernichtungspolitik intellektuellen Brennpunkt des Landes und geprägt war, die nur kleinere Teile der Fa- nahm eine dezidiert politische Funktion der milien in Deutschland und Wien unmittel- Herstellung von kritischer Öffentlichkeit bar getroffen hatte, als vielmehr von einer wahr. Großes Streitthema war zu dieser Zeit weltbürgerlichen Einstellung, die sich in die „Wiederentdeckung“ des Vorarlberger einer diasporisch orientierten Haltung des Alltagsantisemitismus in der Landesge- Museums widerspiegelte. schichte. Und die Auseinandersetzung mit Grundsätzlich hat das Haus eine „Philoso- den Geschichtsmythen einer heilen Welt phie“ des Ausstellungsmachens entwickelt, von christlich-jüdischem Zusammenleben. die der grundlegenden Ambivalenz des Ge- Doch schon mit der Eröffnung 1991 bekann- genstandsfeldes geschuldet ist. Natürlich ist ten sich das Museum und die Politik, die Mehrdeutigkeit im Grunde jedem Museum es nun trug, dazu, auch ein Austragungs- konstitutiv eingeschrieben. Peter Sloterdijk ort für Debatten rund um die Entwicklung spricht von einer „Schule des Befremdens“ der Vorarlberger Einwanderungsgesell- – und meint damit natürlich insbesondere schaft zu sein. In den Entwürfen für die kulturhistorische Museen, die das Vertrau- erste Dauerausstellung blitzte, damals noch te verfremden und das Fremde vertraut ohne Folgen, das Thema der „türkischen“ erscheinen lassen. Aber für jüdische Ge- Migrant*innen hervor, die inzwischen nicht schichte in der Welt gilt dies im besonderen zuletzt das ehemalige „jüdische Viertel“ be- Maße. Alle Kategorien, alle Fiktionen von wohnten. In den folgenden Jahren begann „Zugehörigkeit“ und „Unzugehörigkeit“, von das Museum in seinen Vermittlungsprojek- „Fremdem“ und „Eigenem“ geraten im Blick ten freilich Fragen nach dem Zusammenle- auf „Jüdisches“ in Bewegung und werden ben der Gegenwart offensiv zu stellen. Und herausgefordert. Das Judentum, genauer Magazin vom 23.06.2021 12
Zur Diskussion jüdisches Leben in Europa war lange Zeit Ausstellung über das Branding und die My- als das exemplarische „Andere“ der christ- then von Tel Aviv und Jaffa universelle Fra- lichen Kultur begriffen worden. Exemp- gen nach den Auswirkungen von Gentrifi- larisch und vor allem untrennbar mit dem cation gestellt. Eine Ausstellung lud einfach Anspruch des Christentums verbunden. dazu ein, ein „gewisses jüdisches etwas“ für Das Christentum war undenkbar ohne seine eine Ausstellung ins Haus zu bringen und zu Verbindung zum Judentum, zur jüdischen, erklären, was es damit auf sich habe. Heraus biblischen Geschichte, die als „Vorgeschich- kamen 100 Antworten auf die Frage, was te“, als „Prophetie“ des Christentums wahr- Menschen für „jüdisch“ halten. genommen wurde. Und untrennbar zu einer IS: Etwas grundsätzlicher zu den Aufga- jüdischen Gegenwart, die im Interesse der ben eines jüdischen Museums. Sollte es As- christlichen Mehrheitsgesellschaft interpre- pekte von jüdischer Religion und Kultur in tiert wurde. Jüdisches Leiden machte aus den Mittelpunkt stellen? Es gibt berechtigte der Sicht des Christentums symbolischen, Kritik daran, das Judentum auf eine Verfol- ja metaphysischen Sinn. Und die Rolle von gungsgeschichte und die Rolle von Opfern in Juden*Jüdinnen als Agenten des Kultur- der Shoah zu reduzieren. Gleichzeitig lässt transfers und der transnationalen Bezie- sich die Geschichte von Juden*Jüdinnen hungen machte auch politisch, ökonomisch kaum ohne diese beiden Aspekte erzählen. und kulturell Sinn – in den Augen und in Gibt es einen Ausweg aus diesem Span- den Grenzen der Mehrheitsgesellschaft. nungsfeld? Also haben wir in unseren Ausstellungen HL: Ich glaube, dieses Spannungsfeld ist immer wieder Räume geöffnet für die Wahr- konstitutiv. Auch wenn ich seine Pole an- nehmung von zweideutigen Gegenständen, ders benennen würde. Als das Museum ge- die so etwas wie Beziehungsräume öffnen. gründet wurde, gab es erbitterte Auseinan- Ob das eine Ausstellung über die unter- dersetzungen. Getragen freilich auch von schiedlichen symbolischen und ganz realen der eminenten Bedeutung, die alle Seiten „Besetzungen“ Jerusalems war oder eine dem Thema zumaßen. Sollte das Museum Ausstellung über „Was Sie schon immer ein Heimatmuseum der friedlichen Koexis- über Juden wissen wollten… aber nicht zu tenz von Juden*Jüdinnen und Christ*innen fragen wagten“, die sich mit den Fantasi- sein, sozusagen eine lokale Erfolgsgeschich- en über Juden*Jüdinnen beschäftigte, die te erzählen? Oder sollte es vor allem ein kri- Besucher*innen hier ins Haus tragen und tischer Stachel im Fleisch der Mehrheitsge- die sich in ihren Fragen „verstecken“. Oder sellschaft sein und dokumentieren, wie sehr wir haben nach der Rolle von jüdischen Mu- das Leben der jüdischen Minderheit von der sikern, Komponisten und Produzenten in Willkür der Herrschaft, vom Verhalten der der Entstehung der globalen Musikkultur Mehrheitsgesellschaft, von Einschränkun- des 20. Jahrhunderts gefragt. Und in einer gen und Ressentiments geprägt war? Es war Magazin vom 23.06.2021 13
Zur Diskussion die eher affirmative Sicht auf das Judentum, Traditionsbestände und ihr Wandel vor dem auf die Jüdinnen*Juden, die stärker deren Hintergrund von krisenhaften Erfahrungen Fremdheit, symbolisiert durch Gegenstände und zyklisch wiederkehrenden Lebensereig- der religiösen Praxis, betonen wollte. Und nissen quer durch die Geschichte betrachtet die kritische Perspektive wollte die Ausgren- werden. Und durch Objekte in ihrer ganzen zung als Praxis der Mehrheitsgesellschaft Zweideutigkeit zwischen säkularem Alltag thematisieren. und Tradition, konkreter Familienerinne- In der konkreten Arbeit des Museums, rung und „kollektiver“ longue durée reprä- schon in den Auseinandersetzungen um die sentiert werden. Dauerausstellung, löste sich diese Polari- Dabei spielt der Aspekt der familiengestütz- sierung nicht auf, aber sie veränderte sich. ten Gemeinschaftsbildung jenseits tradi- Es ging nun nicht mehr nur um Antisemi- tioneller Religiosität und nationaler Iden- tismus vs. Religion, sondern um sich assi- titäten eine entscheidende Rolle – für die milierende Lebenspraxis vs. dissoziierende auch die genealogische Arbeit des Museums Ausgrenzungspraxis. Schon 1991 gelang es, gleichsam symbolisch einsteht. den Blickwinkel zu verändern, der bis dahin IS: Die Mehrzahl der westeuropäischen vielerorts herrschenden Praxis, „Jüdisches“ Gesellschaften sind durch Einwanderung über quasi ethnografisch wahrgenommenes geprägt und werden als divers, als Migra- „Kultgerät“ zu präsentieren, einen eher kul- tionsgesellschaft oder als postmigrantisch tursoziologischen und zuweilen auch rechts- bezeichnet. Siehst du die Aufgabe eines jü- historischen Ansatz entgegenzusetzen. Was dischen Museums darin, Aspekte der Mig- fehlte, war das „Fleisch“ einer eigenen ration von Juden*Jüdinnen darzustellen? Sammlung und Ego-Dokumente, die stärker Und sollten diese in Bezug zu anderen Mi- den Einblick auch in eine Binnenperspekti- grationsbewegungen gestellt werden? Funk- ve ermöglicht hätten. tioniert beides in einer rein nationalen Per- Als wir 2007 die Dauerausstellung vollkom- spektive? men neu konzipierten, konnte das Museum HL: Jüdische Geschichte ist Migrationsge- auf eine solche Sammlung zurückgreifen, schichte. Und diese Migrationsgeschichte die aus dem gewachsenen Vertrauen der bedeutet spezifische Erfahrungen, die das Nachkommen, aber auch mancher „ein- Bewusstsein jüdischer Familien und die Le- heimischer“ Sammler gewachsen war. Nun bensentwürfe einzelner Juden*Jüdinnen ging es darum, das Spannungsfeld von prägen. Häufig sehr viel mehr als traditio- Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, nelle Formen religiöser Observanz. von Identitätsbedürfnissen und Projektio- Freilich, jüdische Migrationsgeschichte nen von außen auszuloten. Und dabei konn- ist nicht einfach identisch mit Migrations- ten nun auch die „metaphysische“ Dimen- erfahrungen wie wir sie in der Gegenwart sion, die Rolle religiöser Sinnstiftungen, Magazin vom 23.06.2021 14
Zur Diskussion immer stärker als entscheidende Heraus- Buber geschrieben hat, „eine tragische Ent- forderungen der Gesellschaft wahrnehmen. täuschung wie jede Wiederholung“. Man könnte sagen, in jüdischen Migrations- Und dies zu einem Zeitpunkt, wo erfahrungen verdichten sich Aspekte sol- Migrant*innen der Gegenwart neue diaspo- cher Erfahrungen zugleich in einer longue rische Netzwerke ausbilden, freilich zumeist durée und in symbolischen Deutungen, die mit einem staatlich verfassten Mittelpunkt auch jüdische Religiosität bzw. jüdische – aber auch mit Zentren, die in Auflösung Identitätserzählungen prägen. Kurz gesagt: begriffen sind, die sich selbst zerstören. Jüdische Migrationserfahrung ist so wie an- Jüdische Migrationsgeschichte ist, wie al- dere Migrationserfahrung auch, aber sehr les was mit dem Judentum zu tun hat, auch viel mehr so. in dieser Gegenwart der Migrationen ein Jüdische Familiengeschichte ist eine Ge- manchmal trügerischer, manchmal irritie- schichte von mehrfacher Migration, von render und verwirrender, manchmal auch fortwährender Prekarität, wenn auch paradoxe Erkenntnisse stiftendender Spie- manchmal auf ökonomisch allerhöchstem gel. Immer aber ein Anlass für Selbstbefra- Niveau. Jüdische Geschichte ist eine Folge gungen und Debatten. von Wanderungen und von Netzwerken, die schließlich eine polyzentrische Diaspora ausgebildet haben, mit bedeutenden Kno- tenpunkten, die selbst symbolische „Heima- Über den Interviewten ten“ wurden, aber freilich auf Zeit. Auch die Hohenemser Nachkomm*innen sprechen von einer „Hohenemser Diaspora“. Der Literatur- und Medienwissen- Und die Gründungserzählungen des Juden- schaftler Hanno Loewy arbeitet als tums sind Erzählungen von Migration, Exil, Direktor des Jüdischen Museums Ho- Flucht und Befreiung und haben die religi- henems und ist zudem publizistisch öse Praxis eingefärbt, sozusagen den jüdi- tätig. Er war 1995 Gründungsdirektor schen Traum. Die Realität der „Rückkehr“ des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt an den vermeintlichen Ursprung hingegen am Main, war zuvor an dessen Aufbau ist in vielerlei Hinsicht eine Geschichte von beteiligt und blieb bis 2000 dessen Enttäuschungen. Auch wenn sie uns als Er- Direktor. folgsgeschichte verkauft wird. Die Geschich- te der „Rückkehr“ nach Israel ist in Wirk- lichkeit eine Geschichte der Resignation. Eine Implosion, „eine Rückkehr des Kreises in sich selbst, das Ende einer Bewegung“, wie es Stefan Zweig in einem Brief an Martin Magazin vom 23.06.2021 15
Zur Diskussion Das Museum POLIN – Jüdische Gerechtigkeit) auswirkt. National-konser- Geschichte als (geschichts-) vativ, klerikal, trans- und homo- sowie frau- politischer Streitpunkt enfeindlich sind Attribute, die der Partei nicht ohne Gründe zugeschrieben werden. Die seit 2015 allein regierende PiS verändert Von Ingolf Seidel das Land und das nicht zum Guten. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin kein Der politische Zugriff auf das POLIN ist Experte für das POLIN, das Museum für die schwieriger als in anderen Fällen, da sich Geschichte der polnischen Juden (Muze- das Museum in gemischter, öffentlicher und um Historii Żydów Polskich) in Warschau, privater Trägerschaft befindet. Die Zustän- wenn ich auch das Haus mehrfach besucht digkeit der öffentlichen Seite ist geteilt. Zum und in Gesprächen mit Mitarbeiter*innen einen liegt sie beim Ministerium für Kultur kennengelernt habe. Dieser Text maßt sich und nationales Erbe (Ministerstwo Kultury daher nicht an, die kuratorische und mu- i Dziedzictwa Narodowego), seit 2015 ge- seumsdidaktische Seite auszuleuchten. führt durch den PiS-Politiker Piotr Gliński, Der Beitrag wurde notwendig, weil es nicht und bei der Stadtregierung von Warschau. gelungen ist, eine*n Autor*in zu finden, Die private Seite ist durch das renommierte die*der sich bereitgefunden hätte, einen Jüdische Historische Institut (Stowarzys- Beitrag über das POLIN zu schreiben, der zenie Żydowski Instytut Historyczny) im neben anderen Aspekten notwendigerweise Dreigespann vertreten. Eröffnet wurde das auch die Auswirkungen der polnischen Re- noch nicht vollständig fertiggestellte Mu- gierungs- und Geschichtspolitikpolitik auf seum am 19. April 2013 zum 70. Jahrestag das Museum thematisiert hätte. Es ist zu- des jüdischen Aufstands im Warschauer gegeben ein wenig spekulativ anzunehmen, Ghetto. Die Lage des Museums im Stadt- die Absagen auf Textanfragen würden auf zentrum hat einen hohen Symbolwert. Vor dem Klima von Einschüchterung beruhen, dem Zweiten Weltkrieg wurde das Stadt- von dem Kolleg*innen aus Polen berichten, viertel, in dem das Museum situiert ist, vor- das neben anderen gesellschaftlichen Berei- wiegend von Jüdinnen*Juden bewohnt. Die chen auch den Wissenschafts- und Muse- deutschen Besatzer errichteten hier das von umsbetrieb nicht auslässt. Anzeichen für ein ihnen als Jüdischer Wohnbezirk in War- Klima, in dem die Freiheit der Wissenschaft schau bezeichnete Ghetto, das Teil der an- nicht gewährleistet ist, gibt es einige, ebenso tisemitischen Vernichtungspolitik war. Vor wie für eine Polonisierung von historischen dem Museum befindet sich das bekannte Narrativen. Denkmal der Helden des Ghettos (Pomnik Das POLIN ist nicht die einzige Einrich- Bohaterów Getta) von Nathan Rapaport aus tung, auf die sich die Politik der regieren- dem Jahr 1948. Die Kernausstellung wurde den PiS (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und im Jahr 2014 eröffnet. Sie hatte zum Ziel, Magazin vom 23.06.2021 16
Zur Diskussion 1000 Jahre jüdisch-polnische Geschich- Unter dem Ersten Sekretär der Staatspartei te vom Mittelalter bis in die Gegenwart in Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (Polska acht Abteilungen zu zeigen. Über die von Zjednoczona Partia Robotnicza) Władysław Rainer Mahlamäki stammende Bauform Gomułka wurde 1968 eine Kampagne insze- schrieb Richard Herzinger aus Anlass der niert, deren antisemitischer Charakter dürf- Eröffnung unter der nahezu euphorisch wir- tig als antizionistisch kaschiert wurde. Auch kenden Überschrift „Polen trägt sein neues diese Kampagne hatte eine große Auswan- Selbstbild nach Europa“: „Nach außen ist derungswelle unter den ca. 40.000 noch in die Architektur aus Glas, Kupfer und Beton Polen lebenden Jüdinnen*Juden zur Folge. quadratisch-minimalistisch, innen ist sie Der von 2014 bis 2019 amtierende Direktor dramatisch bewegt. Die gewölbten Wende des Museums POLIN, Dariusz Stola, geriet (sic) am Eingang assoziieren das sich teilen- ins Visier der rechten Regierung. Eine Rolle de Rote Meer, und deuten so einen Weg aus spielte dabei der konstruiert wirkende Vor- dem Schrecken in eine bessere Zukunft an.“ wurf, Stola solle eine Konferenz zum Anden- (Herzinger: 2014) Nun lässt sich die pol- ken an den 2010 verstorbenen Staatspräsi- nisch-jüdische Geschichte nicht ohne Be- denten und PiS-Politiker Lech Kaczyński zugnahme auf Antijudaismus und Antisemi- sabotiert haben. Kaczyński hatte sich sei- tismus erzählen, die jenseits der deutschen nerzeit für die Gründung des Museums ein- Besatzung prägend für das wechselseitige gesetzt. Vonseiten des Museums wurde der Verhältnis waren. Vorwurf zurückgewiesen. Folgenreicher war Dazu gehören der auch heute noch prä- der Streit um die Sonderausstellung Obcy sente katholisch-christlich grundierte Ju- w domu. Wokół Marca ’68 (Fremd daheim. denhass und Serien von Pogromen im 19. Über den März ’68). Die Schau wurde von und 20. Jahrhundert, zu denen auch das März bis September 2018 im POLIN ge- in der Kleinstadt Jedwabne von polnischen zeigt und widmete sich der antisemitischen Einwohner*innen im Juli 1941 verübte Po- Kampagne des Jahres 1968. Sie wurde mit grom gehört oder das Pogrom von Kielce, 116.000 Besucher*innen die erfolgreichste verübt am 4. Juli 1946. Bei letzterem bil- Sonderausstellung des Museums (Heine- deten christliche Ritualmordlegenden das mann 2020b: 257). Die Ausstellung pola- ideologische Fundament zur Ermordung risierte die polnische Öffentlichkeit. Dem- von 80 Jüdinnen*Juden, welche die deut- entsprechend breit berichtete die Presse, sche Vernichtungspolitik überlebt hatten. was zu der hohen Zahl der Besucher*innen In der Folge wanderten zehntausende pol- beitrug. Die Kontroverse um die Ausstellung nische Juden*Jüdinnen aus. Auch die am wurde entfacht durch eine Sektion, „in der autoritären sogenannten real existieren- jüngste öffentliche antisemitische Äußerun- den Sozialismus orientierte Volksrepublik gen parallelen Aussagen aus dem Jahr 1968 Polen war nicht frei von Antisemitismus. gegenübergestellt wurden.“ (Heinemann Magazin vom 23.06.2021 17
Zur Diskussion 2020b: 257). wie etwa Jan Thomasz Gross, Jan Grabow- Während die Ausstellung in liberalen Medi- ski, Anna Bikont oder Anna Engelking, die en positiv rezipiert wurde, tobte die rechte auf den polnischen Antisemitismus und Presse. Es lohnt sich, dazu ein ausführliches daraus folgende Pogrome hinweisen (Stein Zitat von Jan Fiedorczuk in Do Rzeczy zur / Zimmermann 2018). Der Novellierung im Kenntnis zu nehmen: „Die polternde Aus- Januar 2018 folgten internationale Protes- stellung ‚Obcy w domu. Wokół Marca ’68‘ te und eine diplomatische Krise in den Be- ist in gewisser Weise das ideologische Ma- ziehungen Polens zu Israel und darauf eine nifest der neuen Linken. Den Ausstellungs- leichte Abschwächung, indem u.a. die vor- machern zufolge waren die Verursacher der gesehenen bis zu dreijährigen Haftstrafen Ereignisse vor einem halben Jahrhundert gestrichen wurden. gar nicht die Kommunisten, sondern Feinde Für den Direktor des POLIN hatten die An- der Toleranz, Feinde des ‚Fremden‘. Früher griffe seitens der PiS Folgen. Zwar konnte verfolgten sie Juden und heute diffamieren er aufgrund der geteilten Trägerschaft we- sie Schwule, Flüchtlinge oder Deutsche. Die niger leicht entlassen werden, wie es zu- heutigen Rechten sind die Erben des Has- vor dem Gründungsdirektor des Museums ses und die ideologischen Verwandten der des Zweiten Weltkriegs (Muzeum II Wojny damaligen Antisemiten – das suggeriert die Światowej) in Gdańsk Paweł Machcewicz Ausstellung.“ (zit. nach Koszarska-Szulc / ergangen war, aber Kulturminister Gliński Romik 2018: 102) lehnte die Verlängerung des 2019 endenden Die Angelegenheit überschnitt sich mit der Vertrages von Stola ab. Der Leitungsposten Kritik von Dariusz Stola an einer gesetzli- für das Museum wurde neu ausgeschrieben. chen Regelung, die unter dem irritierenden Stola gewann die Ausschreibung aufgrund Namen „Holocaust-Gesetz“ bekannt wurde. des Votums der Auswahlkommission. Er- Korrekterweise handelt es sich um die No- neut verweigerte Minister Gliński die Be- vellierung des Gesetzes über das Institut für rufung von Stola, nachdem er zuvor erklärt Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Na- hatte, eine*n Gewinner*in der Ausschrei- rodowej – IPN). Der Vorwurf an Stola war bung zu akzeptieren. Dies war für das PO- in diesem Fall der einer angeblich zu großen LIN jenseits der Personalie eine der Arbeit politischen Aktivität aufgrund seiner kri- abträgliche und unhaltbare Situation. tischen Haltung (vgl. Heinemann 2020a). Letztlich war es Dariusz Stola, der die Mu- Vordergründig geht es in der Novelle darum, seumsarbeit vor seine Interessen setzte falsche Bezeichnungen wie „polnische To- und auf den Posten des Direktors verzich- deslager“ oder „polnische Konzentrationsla- tete, obwohl er ihm juristisch zugestanden ger“ mit hohen Geld- und Gefängnisstrafen hätte. Statt Stola wurde dessen vormali- unter Strafe zu stellen. Es richtete sich je- ger Stellvertreter Zygmunt Stępiński neuer doch in der Praxis gegen Historiker*innen, Museumsdirektor. Magazin vom 23.06.2021 18
Zur Diskussion Der Umgang mit dem POLIN ist kein Ein- Hintergrund stellt sich die Frage, ob und zu zelfall, wie der kurze Hinweis auf Paweł welchen Bedingungen Bildungs- und Begeg- Machcewicz zeigt. Auch das Europäische nungsprojekte noch sinnvoll möglich sind. Solidarność-Zentrum (Europejskie Cent- Hier sind Stiftungen, Jugendwerke und Bil- rum Solidarności, ECS) geriet durch die PiS- dungsträger, die regelmäßig deutsch-polni- Regierung unter Druck. Auch hier weigerte sche Projekte durchführen oder finanzieren, sich der Kulturminister, die Ernennungsur- gefordert, sich immer wieder aufs Neue öf- kunde des Direktors zu unterzeichnen. Zu- fentlich zu positionieren und sich zudem mit dem wurde dem ECS für das Jahr 2019 die polnischen Kolleg*innen und Einrichtungen finanzielle Zuwendung seitens des Ministe- zu solidarisieren, die durch die autoritäre riums von sieben auf vier Millionen Złoty, polnische Regierungspolitik eingeschüch- also von rund 1.547. 000 € auf ca. 884.000 tert oder gemaßregelt werden sollen. €, gekürzt. Die erneute Aufstockung der Mittel machte Gliński „davon abhängig, die Literatur Besetzung wesentlicher Stellen im ECS di- rekt vorzunehmen, wodurch er Einfluss auf Monika Heinemann: Politik im Muse- die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit dieser um– der Kampf um Deutungshoheiten im Institution erhielte.“ (Heinemann 2020b: polnischen Museumsboom, Dossier Polen 258f) der Bundeszentrale für politische Bildung, 10.07.2020 (2020a), https://www.bpb. Auch die Gedenkstätte Auschwitz bleibt von de/internationales/europa/polen/312642/ der neuen Gesetzgebung nicht unberührt. analyse-politik-im-museum-der-kampf- Mit der Berufung von Beata Szydło, eben- um-deutungshoheiten-im-polnischen-mu- falls Mitglied der PiS und von 2015 ¬bis seumsboom. 2017 polnische Regierungspräsidentin, lös- te Gliński in diesem Jahr einen Eklat aus. Monika Heinemann: Der Kampf um das Mehrere Beiratsmitglieder der Gedenkstät- „moderne“ Museum – Zeitgeschichte im te traten aus Protest aus dem Gremium aus. polnischen Museumsboom, in: Ljiljana Es ist offensichtlich, dass die rechtsgerich- Radonic, Heidemarie Uhl: Das umkämpf- tete polnische Regierung bestrebt ist, ge- te Museum. Zeitgeschichte ausstellen zwi- schichtspolitisch auf die Museen im Land schen Dekonstruktion und Sinnstiftung, Einfluss zu nehmen, um ein nationalisti- 2020 (2020b) Bielefeld. S. 241 – 261. sches polnisches Narrativ durchzusetzen. Richard Herzinger: Polen trägt sein neu- Dazu gehört die Auseinandersetzung um es Selbstbild nach Europa, Die Welt, den originär in Polen vorhandenen Antise- 23.10.2014, https://www.welt.de/politik/ mitismus in Geschichte und Gegenwart zu ausland/article133559405/Polen-traegt- unterbinden oder mindestens in politisch sein-neues-Selbstbild-nach-Europa.html. genehme Bahnen zu lenken. Vor diesem Magazin vom 23.06.2021 19
Zur Diskussion Florian Kellermann: Jüdisches Museum ohne Direktor, 03.10.2019, https://www. deutschlandfunkkultur.de/polnische-kul- turpolitik-juedisches-museum-ohne-direk- tor.1013.de.html?dram:article_id=460268. Justyna Koszarska-Szulc/ Natalia Romik: Die Sonderausstellung Obcy w Domu. Wokó Marca ’68 (Fremd daheim. Über den März ’68) im Museum POLIN in Warschau, in: Daniel Mahla/Evita Wiecki (Hrsg.): März ´68 in Polen – Eine antisemitische Kam- pagne und ihre Folgen. Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur. Jg. 12 Heft 2, 2018, S. 86 ¬ 104, https://www.jgk. geschichte.uni-muenchen.de/muenchner- beitraege/2018_2/2018_2.pdf. Marin Sander/ Sigrid Brinkmann: Streit um Polin-Museum in Warschau, 19.07.2019, https://www.deutschlandfunk- kultur.de/kulturkampf-in-polen-streit- um-polin-museum-in-warschau.1013. de.html?dram:article_id=454351. Shimon Stein/ Moshe Zimmermann: Mehr Politik als Wahrheit, ZEIT ONLINE, 22.02.2018, https://www.zeit.de/gesell- schaft/zeitgeschehen/2018-02/holocaust- gesetz-polen-justizreform-israel. Magazin vom 23.06.2021 20
Zur Diskussion Interview mit Miriam Bistrovic grundlegende Wissen über die 1700-jährige über das Shared History Project gemeinsame Geschichte fehlt und jüdisches – 1700 Jahre jüdisches Leben in Leben in Deutschland jenseits der Berichte Deutschland über Verfolgungen und Diskriminierung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Das Interview wurde in Schriftform von in den Lehrplänen bisher kaum eine Rolle Thomas Hirschlein geführt. spielt. LaG: Liebe Miriam Bistrovic, als Leiterin Wir hoffen, dass sich dies im Rahmen des der Berliner Büros des Leo Baeck Instituts aktuellen Festjahrs zum jüdischen Leben in New York / Berlin begleiten Sie das Shared Deutschland ändern wird und das Shared History Project von Anfang an. Um was geht History Projekt ist unser Beitrag zu diesem es im Projekt und warum haben Sie den Titel deutschlandweiten Netz aus Projekten und Geteilte Geschichte für das Projekt gewählt? Veranstaltungen, der sogar über die Lan- MB: 2021 jährt sich zum 1700. Mal die erste desgrenzen hinausreicht und den deutsch- dokumentierte Erwähnung einer jüdischen sprachigen Raum abdeckt. Im Shared His- Gemeinde nördlich der Alpen. Ein Dekret tory Projekt wollen wir Juden*Jüdinnen des römischen Kaisers Konstantin aus dem nicht als Opfer oder passive Objekte der ge- Jahre 321 erlaubte es den Kölner Stadtrats- schichtlichen Entwicklung, sondern als han- abgeordneten erstmalig auch Juden zur delnde und aktive Subjekte im historischen Übernahme öffentlicher Ämter zu verpflich- Kontext vorstellen. ten. Das Leo Baeck Institut New York | Ber- Die Mehrdeutigkeit des Titels war dabei lin (LBI) hat das Shared History Project: eine bewusste Entscheidung. Je nach Lesart 1700 Jahre jüdisches Leben im deutschspra- kann sowohl das Verbindende, der gemein- chigen Raum ins Leben gerufen, um diese same Austausch im Vordergrund stehen - facettenreiche und vielstimmige Geschichte oder das Trennende, der gesellschaftliche zu erzählen und zu zeigen, wie eng jüdische Ausschluss. Dieses Wechselspiel einer zwi- Geschichte und der Alltag der jüdischen Ge- schen zwei Extremen pendelnden Lebens- meinschaft in dieser Region mit den Erfah- welt und deren zahlreiche dazwischenlie- rungen der Mehrheitsbevölkerung verfloch- gende, ambivalente Erfahrungen spiegelt ten sind. Denn wenn selbst Massenmedien zugleich die Erfahrungen und den Alltag in Bezug auf das Judentum in Deutschland von Juden*Jüdinnen in den letzten 1700 von einer „unbekannten Welt nebenan“ Jahren wider. Schließich lösten sich Zeiten sprechen und im öffentlichen Diskurs im- der Anerkennung und des gemeinsamen mer wieder von „den Deutschen“ und „den kulturellen und wirtschaftlichen Miteinan- Juden“ geredet wird, als handele es sich da- ders immer wieder mit Phasen der Ausgren- bei um zwei komplett getrennte, monolithi- zung und Verfolgung ab. sche Entitäten, ist offensichtlich, dass das Magazin vom 23.06.2021 21
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