LAG - MAGAZIN JÜDISCHE MUSEEN INTERNATIONAL 23. JUNI 2021 - LERNEN AUS DER ...

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LAG - MAGAZIN JÜDISCHE MUSEEN INTERNATIONAL 23. JUNI 2021 - LERNEN AUS DER ...
LaG - Magazin

    Jüdische
     Museen
  International
  23. Juni 2021
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Zur Diskussion
Vorwort seitens der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ..............................4
Zwischen Selbstverständnis und Erwartungshaltung: Jüdische Museen in Deutschland......5
Interview mit Hanno Loewy „Das Jüdische Museum Hohenems“........................................10
Das Museum POLIN – Jüdische Geschichte als (geschichts-) politischer Streitpunkt........16
Interview mit Miriam Bistrovic über das Shared History Project – 1700 Jahre jüdisches Le-
ben in Deutschland..................................................................................................................21

Empfehlung Fachbuch
Gedächtnis aus den Quellen. Zur jüdischen Geschichte Berlins.............................................26

Empfehlung Bildungsträger
ANOHA – Die Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin...................................................29

Empfehlung Unterrichtsmaterialien
„Nathan und seine Kinder“. Impulse für den Unterricht. .....................................................31

Empfehlung Web
2021 - Jüdisches Leben in Deutschland. ................................................................................34

                                                                                   Magazin vom 23.06.2021 2
Einleitung

Liebe Leser*innen,                              des dortigen Jüdischen Museums vor.
wir begrüßen Sie zum neuen Magazin von          Das Jüdische Museum POLIN stand in den
„Lernen aus der Geschichte“. Der Titel der      letzten Jahren weniger aufgrund seiner
Ausgabe lautet Jüdische Museen internatio-      fachlichen Arbeit im öffentlichen Interesse.
nal. Ursprünglich geplant waren neben den       Vielmehr war es der (geschichts-) politische
Texten über das Selbstverständnis von Jü-       Zugriff der regierenden PiS, der internatio-
dischen Museen, die Sie im Magazin vorfin-      nal Aufsehen erregte. Ingolf Seidel zeichnet
den, Beiträge aus Polen, Ungarn und Grie-       diesen Prozess nach.
chenland. Nun kommt es hin und wieder           Ein zentrales Anliegen des Projekts Shared
vor, dass Textbeiträge kurzfristig abgesagt     History liegt darin, die Darstellung von
werden. Das war in diesem Monat der Fall        Juden*Jüdinnen von der Reduzierung auf
bei einem vereinbarten Artikel aus Grie-        den Opferstatus zu befreien und sie als
chenland. Nachdenklicher stimmt jedoch,         handelnde Subjekte im historischen Kon-
dass es nicht möglich war, eine*n Autor*in      text dazustellen. Im Gespräch mit Thomas
für einen Text über das jüdische Museum         Hirschlein aus der LaG-Redaktion berichtet
POLIN in Warschau zu gewinnen. Ob sich          Miriam Bistrovic über das Onlineprojekt
angefragte Autor*innen vor einer Positio-       des Leo Baeck Instituts New York / Berlin.
nierung angesichts des politischen Zugriffs
                                                Wir bedanken uns herzlich bei den
der nationalkonservativen Partei Recht und
                                                Autor*innen, die für diese Ausgabe Texte
Gerechtigkeit (PiS) scheuen, bleibt eine
                                                beigesteuert haben.
Mutmaßung, zu der jedoch Anlass besteht.
Mit dem Vorwort führt Andrea Despot, Vor-
standsvorsitzende der Stiftung „Erinnerung,                             In eigener Sache
Verantwortung und Zukunft“, in das Maga-        Mit dieser Ausgabe verlässt Tanja Kleeh mit
zin ein.                                        dem Ende ihres Studiums die Redaktion.
Jüdische Museen befinden sich in einer          Wir wünschen der Kollegin alles Gute für
Zwickmühle zwischen Selbstverständnis           die Zukunft.
und politischer Erwartungshaltung, so Bar-      Die Redaktion verabschiedet sich mit die-
bara Staudinger. Sie geht auf die vielzähli-    sem Magazin in die jährliche Sommerpau-
gen Zuschreibungen ein, die mit dem Aus-        se. Wir wünschen unseren Leser*innen eine
stellen der Geschichte von Jüdinnen*Juden       entspannende Zeit.
verbunden werden.
                                                Die nächste Ausgabe des LaG-Magazins er-
Hanno Loewy geht im Gespräch auf die Ge-        scheint am 22. September 2021.
schichte von Juden*Jüdinnen im heute zu
Österreich gehörenden Hohenems ein und
stellt die Arbeit sowie das Selbstverständnis   Ihre LaG-Redaktion

                                                         Magazin vom 23.06.2021 3
Einleitung

Vorwort seitens der Stiftung                      Innenperspektive(n), oder eine Außenan-
„Erinnerung, Verantwortung                        sicht auf das Judentum? Welche Bedeutung
und Zukunft“                                      kommt Jüdischen Museen zu, in Gesell-
                                                  schaften, die einen besorgniserregenden
Von Andrea Despot
                                                  Zuwachs des Antisemitismus verzeichnen?
Das Verständnis von Museen als Orten der          Welche Haltung sollten sie einnehmen in
Wissensbewahrung- und vermittlung ist             politisch hoch umstrittenen Debatten, wie
im intensiven Wandel begriffen. Museen            etwa dem Nahost-Konflikt, und wer legt dies
sehen sich zunehmend auch als Orte der            fest?
Begegnung und gesellschaftlichen, auch
                                                  Diesen und weiteren Fragen gehen die Bei-
politischen, Aushandlung, in denen Reso-
                                                  träge im vorliegenden Band zum „Selbst-
nanzräume für unterschiedliche Gruppen
                                                  verständnis Jüdischer Museen in Europa“
und Akteure entstehen. Gleichzeitig birgt
                                                  nach. Für die Stiftung „Erinnerung, Ver-
der Prozess der Digitalisierung enorme Po-
                                                  antwortung und Zukunft“ (EVZ) ist es ein
tentiale und Chancen für einen ortsunab-
                                                  Anliegen, die fachliche und plurale Ausei-
hängigen Zugang zu ihren Artefakten und
                                                  nandersetzung mit diesen Fragen zu för-
Beständen. Dies führt dazu, dass Museen
                                                  dern – aus der Perspektive der Museen und
ihr Wirken und ihr Selbstverständnis neu
                                                  Fachexpert*innen selbst. Jüdische Muse-
vermessen. Durch die aktuellen – zum Teil
                                                  en als zentrale Akteure der historisch-po-
kontrovers geführten - Debatten zur Resti-
                                                  litischen Bildung und tragende Säulen der
tution von Kulturgütern durch europäische
                                                  Erinnerungskultur(en) sind für uns wichtige
und nordamerikanische Museen oder über
                                                  Partner, mit denen wir Bildungsprojekte zur
die Richtung gesellschaftlicher Entwicklun-
                                                  Jüdischen Geschichte und Judentum heute,
gen erhalten Museen wichtige Impulse zu
                                                  sowie zu historischen und gegenwärtigen
Themen wie Repräsentation, Vielfalt von
                                                  Formen des Antisemitismus durchführen.
Perspektiven, internationaler Austausch
                                                  Mit dieser Publikation möchte die Stiftung
und Beteiligung – von Zeitzeug*innen, jun-
                                                  EVZ einen Beitrag zu den gegenwärtigen
gen Menschen und diversen Communities.
                                                  Debattenleisten und die vorhandene Stim-
In diesen Debatten kommt Jüdischen Muse-          menvielfalt in der Museumslandschaft hör-
en eine zentrale Rolle zu. Dies gilt internati-   bar machen.
onal, wie auch in Deutschland. Die Diskussi-
on um das Jüdische Museum Berlin in 2019,                              Über die Autorin
die zu personellen Konsequenzen führte,
illustrierte dies in besonderer Weise.              		               Die Politologin und
                                                      Osteuropahistorikerin Dr. Andrea
Wie sollten sich Jüdische Museen aus-               Despot ist Vorstandsvorsitzende der
richten? Welchen Fokus können und sol-             Stiftung „Erinnerung,Verantwortung
                                                                          und Zukunft“.
len diese Museen haben - (eine) jüdische

                                                           Magazin vom 23.06.2021 4
Zur Diskussion

Zwischen Selbstverständnis und                     Antisemitismus und Israel – eine
Erwartungshaltung: Jüdische                      Zustandsbeschreibung in Jüdischen
Museen in Deutschland                                                      Museen

Von Barbara Staudinger                          Gab es noch vor 20 Jahren das stillschwei-
                                                gende Einverständnis, Jüdische Muse-
In den letzten Jahren sind Jüdische Museen
                                                en hätten sich nicht mit Antisemitismus
immer wieder ins Interesse der Öffentlich-
                                                zu beschäftigen, da dies mehr über die
keit gerückt. Sei es aufgrund des Rücktritts
                                                Antisemit*innen erzählen würde als über
Peter Schäfers als Direktor des Jüdischen
                                                Jüdinnen*Juden, ist dies schon lange nicht
Museums Berlin und der nachfolgenden
                                                mehr der Fall. Nicht nur aufgrund eines ge-
Diskussion um Aufgaben und Zielsetzungen
                                                stiegenen politischen und gesellschaftlichen
dieser Institution, sei es angesichts des an-
                                                Interesses an der Bekämpfung von Antise-
steigenden Antisemitismus in Deutschland
                                                mitismus, sondern auch aufgrund der Aus-
und in Folge des Anschlags in Halle: Jüdi-
                                                wirkungen desselben auf den Alltag von
sche Museen wurden plötzlich nach ihrer
                                                Jüdinnen*Juden in Deutschland, haben Jü-
(gesellschafts-)politischen Haltung befragt
                                                dische Museen längst erkannt, dass Antise-
und politische Ansprüche wurden auf sie
                                                mitismus auch für sie ein Thema sein muss.
projiziert.
                                                Trotz einiger Ausstellungen (z.B. „Die Stadt
Jüdische Museen sollten gemeinsam mit           ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlin-
den Gedenkstätten in die Pflicht genommen       ge“, Jüdisches Museum Augsburg Schwa-
werden, präventiv gegen Antisemitismus          ben 2019/20) bleibt bis heute das Thema
zu wirken, gesellschaftliche Grundwerte         Antisemitismus jedoch im Wesentlichen
zu vermitteln und (insbesondere muslimi-        auf die Bildungsprogramme der Museen be-
sche Kinder und Jugendliche) zu deradika-       schränkt.
lisieren. Sie sollten politisch werden, aber
                                                Im Gegenzug wurde und wird das Thema
nicht zu politisch. Damit brachte man Jüdi-
                                                Israel wegen politischer Interventionen und
sche Museen in eine Zwickmühle zwischen
                                                Angst um das Ansehen der eigenen Institu-
Selbstverständnis und politischer Erwar-
                                                tion zunehmend ausgespart. Als 2008 die
tungshaltung, aus der herauszukommen
                                                Ausstellung „Imaginary Coordinates“ des
kaum möglich schien. Nun hat sich, nicht
                                                Spertus Museum in Chicago, die die Grenz-
zuletzt durch die Corona-Krise und deren
                                                ziehungen im Nahen Osten mittels histori-
gesellschaftlicher Auswirkung, das Selbst-
                                                scher Karten und künstlerischer Arbeiten
verständnis Jüdischer Museen gewandelt.
                                                hinterfragte, aufgrund massiver Proteste
Sie stehen heute für Vielstimmigkeit und
                                                jüdischer Organisationen schließen musste,
Öffnung gegenüber der Stadtgesellschaft
                                                wurde dies in Deutschland kaum diskutiert.
und streben nach Relevanz.
                                                Anders sah dies dann 2019 aus, als rund um
                                                die Ausstellung „Welcome to Jerusalem“

                                                         Magazin vom 23.06.2021 5
Zur Diskussion

des Jüdischen Museums Berlin eine heftige      über ein Zusammenleben mit der christli-
medial geführte Debatte darüber entbrann-      chen Mehrheitsbevölkerung in ländlichen
te, wie politisch ein Jüdisches Museum sein    Gemeinden in der Frühen Neuzeit ab der
dürfe – und vor allem wie „jüdisch“ es sein    Aufklärung zur Erfolgsgeschichte wird. Ab
müsse. Grund des Anstoßes war nicht nur        1900 werden zur „erfolgreichen Integrati-
die Gegenüberstellung von christlichen,        on“ kritische Stimmen gegen Assimilation
muslimischen und jüdischen Perspektiven        und Bedeutungsverlust religiöser Traditio-
auf die Stadt und damit die Entscheidung,      nen gemischt, bevor im Nationalsozialismus
nicht ausschließlich jüdische Perspektiven     Jüdinnen*Juden quasi „schicksalhaft“ zu
zu thematisieren, sondern auch, darunter       Opfern werden. Der Neubeginn nach 1945
liegend, ein Argwohn gegenüber einer Dar-      geschieht „auf gepackten Koffern“ und ein
stellung pluralistischer jüdischer Sichtwei-   mehr oder weniger ausführlicher Ausblick
sen. Folge des Disputs um das Jüdische Mu-     auf die jüdische Gegenwart rundet schließ-
seum Berlin ist heute, dass mit Ausnahme       lich den historischen Rundgang, der sich
des Jüdischen Museum Hohenems Ausstel-         mit der jüdischen Geschichte der Stadt oder
lungen, die sich kritisch oder mehrstimmig     der Region befasst, ab.
mit der israelischen Gesellschaft oder der     Dieses Narrativ, das jüdische Geschichte im-
Siedlungspolitik auseinandersetzen, in Jü-     mer in Beziehung zur nichtjüdischen Mehr-
dischen Museen fehlen.                         heitsbevölkerung setzt und jüdische Identi-
Die Darstellung jüdischer Geschichte           täten nicht hinterfragt, hat kaum Platz für
Mittlerweile bemühen sich die meisten Jüdi-    Differenzierungen, für Gegengeschichten
schen Museen, Judentum, jüdisches Leben        und widerständige Perspektiven.
oder jüdische Geschichte zumindest ansatz-
weise aus verschiedenen Perspektiven zu er-                    Der Kampf um Relevanz
zählen, gewünscht scheint dies nicht immer
                                               Diese Darstellung jüdischer Geschichte
zu sein. Jüdische Museen in Deutschland
                                               steht in direktem Widerspruch zur Selbst-
wenden sich vor allem an ein nichtjüdisches
                                               darstellung Jüdischer Museen, die heute
Publikum, das, als Teil der Mehrheitsgesell-
                                               mehr oder weniger unisono jüdische Ge-
schaft, es gewohnt ist, die Geschichte der
                                               schichte aus unterschiedlichen jüdischen
jüdischen Minderheit als homogene Einheit
                                               Perspektiven erzählen, vielfältige jüdische
zu betrachten.
                                               Stimmen vorstellen und sich in gesell-
Betritt man heute ein Jüdisches Museum,        schaftspolitische Debatten einbringen wol-
erwartet einen in der Dauerausstellung         len. Die Erwartungshaltung gegenüber Jü-
mehr oder weniger dieselbe Erzählung,          dischen Museen, so scheint es, ist stärker als
die, kurz zusammengefasst, von den Ver-        jede Absichtserklärung. Der Anspruch Jüdi-
treibungen und Pogromen des Mittelalters       scher Museen auf gesellschaftliche Relevanz

                                                         Magazin vom 23.06.2021 6
Zur Diskussion

spiegelt sich zwar in den Wechselausstellun-    len für den Religions- oder Ethikunterricht
gen sowie im Veranstaltungs- und Bildungs-      eine komprimierte und auf den Lehrinhalt
programm wider, nicht jedoch im „Herz-          angepasste Zusammenfassung bekommen,
stück“ des Museums, der Dauerausstellung.       Besucher*innen wollen sich über „das Ju-
Da gerade diese Dauerausstellungen jedoch       dentum“ informieren, die jüdische Gemein-
meist von Schulklassen besucht werden, die      de will sich repräsentiert sehen. Welches
dort etwas zum Judentum und zu jüdischer        Judentum wird nun vorgestellt, welche Tra-
Geschichte lernen sollen, gegen Antisemitis-    ditionen besprochen? Was ist mit all jenen
mus „geimpft“ (so eine noch immer gängige       Jüdinnen*Juden, die keine Traditionen le-
politische Vorstellung) oder überhaupt zu       ben? Bleiben sie hier ausgeschlossen? Und:
besseren Menschen erzogen werden sollen,        Können Jüdische Museen es angesichts die-
ist dies doppelt schade.                        ser ganz unterschiedlichen Wünsche über-
Letztes Jahr ist hier etwas in Bewegung         haupt richtig machen?
beraten: Die Jüdischen Museen Frankfurt         Besonders in diesem Bereich haben Jüdi-
und Berlin haben ihre Dauerausstellung          sche Museen in den letzten Jahren viel da-
neugestaltet. Neben einem Fokus auf eine        zugelernt. Genauso wenig wie das Judentum
vielstimmige jüdische Gegenwart ist da-         hier als Einheit dargestellt werden kann, so
bei angekommen, dass die Relevanz eines         vielfältig ist auch das Museumspublikum
Museums, also das Aufgreifen gegenwär-          geworden. Ein Vergleich zu christlichen
tig wichtiger gesellschaftlicher Fragen, sich   Festen oder überhaupt anderen religiösen
auch in der Dauerausstellung widerspiegeln      Traditionen, wie dies in älteren Ausstellun-
muss. So fragt das Jüdische Museum Frank-       gen vorausgesetzt wurde, kann von Vielen
furt danach, was uns heute noch heilig ist      nicht oder nicht mehr gezogen werden. Eine
und das Jüdische Museum Berlin setzt auf        junge Generation säkularer Jüdinnen* Ju-
Themen wie Migration und Antisemitismus.        den drängt auf Repräsentanz auch in den
Wenn sich dies fortsetzt, könnten sich die      Jüdischen Museen. Die zunehmend diver-
Dauerausstellungen Jüdischer Museen zu          se Gesellschaft, in der wir leben, hat die
relevanten Ausstellungen entwickeln, die        Ansprüche an Jüdische Museen verändert.
politische Vereinnahmung des Religiösen,        Jüdische Museen werden daher andere Fra-
Leitkulturdebatten oder Integrationspara-       gestellungen benötigen als etwa „Wie feiern
digma hinterfragen.                             Juden Schabbat?“.
Neben der Dauerausstellung bieten alle          Vielmehr muss vermittelt werden, dass ver-
Jüdischen Museen einen Überblick über           meintlich althergebrachte Traditionen sich
jüdische Feste und Traditionen. Und             immer gewandelt haben, dass sie nicht nur
wahrscheinlich ist nirgends die Erwartungs-     von Außen, sondern auch innerhalb einer
haltung größer als in dieser Abteilung eines    Gemeinschaft hinterfragt wurden, und dass
Jüdischen Museums. Lehrer*innen wol-            jedes Verhältnis von Mensch zu Tradition

                                                         Magazin vom 23.06.2021 7
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ein individuelles ist.                             2021 feiert Deutschland das sogenann-
               Was bleibt – was kommt?             te Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben
                                                   in Deutschland“ und der politische Druck
Gegründet als Gedenkorte an eine in der
                                                   auf Jüdische Museen, sich in dieses Fest-
Schoa vernichtete jüdische Kultur, für
                                                   jahr einzureihen, ist groß. Dabei zeigen
Nichtjuden*Nichtjüdinnen an Orten, an de-
                                                   viele kritische jüdische Stimmen, dass die
nen kein jüdisches Leben mehr existierte,
                                                   meisten Veranstaltungen dabei wiederum
stehen Jüdische Museen heute einer neuen
                                                   nur eine recht einseitige Geschichte von
jüdischen Gegenwart in Europa gegenüber.
                                                   Jüdinnen*Juden erinnern und andere Per-
Diese in ihrer Vielfältigkeit sowie als Teil ei-
                                                   spektiven vergessen. Die Aufgabe Jüdischer
ner diversen Gesellschaft anzusprechen, ist
                                                   Museen ist, diesen Klischees entgegenzu-
die Aufgabe Jüdischer Museen im 21. Jahr-
                                                   wirken und anderen Stimmen einen Raum
hundert. Wollen Jüdische Museen relevant
                                                   zu geben.
sein, wollen sie die Gesellschaft mitgestal-
ten, müssen sie auch aktuelle Themen und
Ausstellungen entwickeln, die gesellschafts-                                        Literatur
politische Fragen diskutieren. Erwartungs-         Max Czollek, Desintegriert Euch!, München
haltungen von politischen oder gesellschaft-       2018.
lichen Gruppen sollten Themen anregen,
                                                   Das Jüdische Quartett „1700 Jahre jüdisches
sollten sie aber weder bestimmen noch be-
                                                   Leben in Deutschland – wer feiert was?“.
schneiden. Das Museum als politischer Ort
                                                   Online-Veranstaltungsreihe der Amadeo
steht heute, in einer Zeit des zunehmenden
                                                   Antonio Stiftung: https://www.youtube.
politischen Populismus und der Bereitschaft
                                                   com/watch?v=ZVFHO9ZiI2I (08.06.2021).
auf Kulturinstitutionen einzuwirken (sie-
he auch die Entlassung von Dariusz Stola,          „Jüdische Museen sind keine Holocaust-Mu-
des Direktors des Museums der Geschich-            seen“. Interview der taz mit Mirjam Wenzel
te der polnischen Juden – Polín), auf dem          und Cilli Kugelmann, 21.03.2020, online:
Prüfstand. Jüdische Museen haben heute,            https://taz.de/!5669205/ (08.06.2021)
insbesondere im deutschsprachigen Raum,            Hanno Loewy, Sind Jüdische Museen „jü-
Relevanz erlangt: Sie sind laute Stimmen           disch“? (11.05.2021), online unter: https://
geworden, wenn es um Minderheitenpers-             www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/
pektiven geht, sie diskutieren Antisemitis-        juedischesleben/328958/juedische-museen
mus und Rassismus und reflektieren Ent-            (08.06.2021)
wicklungen unserer Gesellschaft. Und es ist
                                                   Museumsbund Österreich (Hg.): „Das Mu-
zu hoffen, dass diese Relevanz nicht durch
                                                   seum als Teil seines politischen Umfelds“,
Furcht vor Kritik oder Angriffen geschmä-
                                                   in: neues museum. Die österreichische Mu-
lert wird.
                                                   seumszeitschrift 1-2 (2018), S. 8–53.

                                                            Magazin vom 23.06.2021 8
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Barbara Staudinger, Jüdische Museen als
gesellschaftspolitischer Diskursraum. Neue
Herausforderungen durch Antisemitismus,
Fremdenhass und die Renaissance des Re-
ligiösen, in: Liliana Radonic, Heidemarie
Uhl (Hg.), Das umkämpfte Museum. Zeitge-
schichte ausstellen zwischen Dekonstrukti-
on und Sinnstiftung, Bielefeld 2020 (Erin-
nerungskulturen / Memory Cultures 8), S.
201-211.

  Über die Autorin
  Dr. Barbara Staudinger ist Direkto-
  rin des Jüdischen Museums Augs-
  burg Schwaben. Sie hat Geschichte,
  Theaterwissenschaft und Judaistik an
  der Universität Wien studiert. 2001
  promovierte sie mit einer Studie zu
  „Rechtsstellung und Judenfeindschaft
  am Reichshofrat 1559-1670“.

                                             Magazin vom 23.06.2021 9
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Interview mit Hanno Loewy                       Zu dieser Zeit gab es in Österreich selbst
„Das Jüdische Museum 		                         noch keine als Verband anerkannte jüdische
Hohenems“                                       Gemeinde, nur in Habsburger Herrschafts-
                                                gebieten wie Böhmen, Ungarn oder in Polen.
Das Interview wurde in Schriftform von In-
golf Seidel geführt.                            Viele Hohenemser Juden*Jüdinnen lebten
                                                lange Zeit wie andere Landjudengemeinden
                                                vom Viehhandel und ähnlichen mit der loka-
IS: Du leitest seit 2004 das Jüdische Mu-       len Wirtschaft verbundenen Gewerben. Doch
seum Hohenems, das im österreichischen          schon früh waren die Hohenemser*innen
Vorarlberg gelegen ist. Kannst du kurz etwas    auch im internationalen Handel mit Texti-
zur Geschichte des Ortes erzählen? Welche       lien, Gewürzen, Silberwaren oder Wein tä-
Bedeutung hat die Stadt für die Geschichte      tig. Ende des 18. Jahrhunderts wurden ei-
von Juden*Jüdinnen?                             nige von ihnen zu Hoffaktoren ernannt und
HL: Hohenems hat lange Zeit nicht zu Ös-        konnten aufgrund ihrer Handelstätigkeit für
terreich gehört, sondern war bis 1758 eine      den Habsburger Hof – oder für die Habs-
eigene Reichsgrafschaft. Das heißt, die Gra-    burger Armeen in den „Franzosenkriegen“
fen von Hohenems genossen eine gewisse          – ökonomisch aufsteigen.
Souveränität, die sie 1617 auch politisch de-   Die Zahl der Familien, also der männlichen
monstrierten, indem sie mit einem Schutz-       Familienvorstände, in Hohenems blieb li-
brief die Ansiedlung von zwölf jüdischen        mitiert. Nach 1813 – unter bayrisch-napo-
Familien erlaubten. Hätte Hohenems zu           leonischer Herrschaft – wurde sie auf 90
diesem Zeitpunkt unter Habsburger Herr-         festgesetzt. Doch nach wie vor hieß das,
schaft gestanden, wäre das nicht möglich ge-    dass zumeist nur der erstgeborene Sohn den
wesen. In den 1630er Jahren bestand schon       Ansiedlungstitel des Vaters erben konnte.
eine Gemeinde mit Friedhof und Rabbiner.        Ihre zu dieser Zeit noch zahlreichen Kinder
Auch wenn es im 17. Jahrhundert zweimal         mussten die Hohenemser*innen zumeist
zur Vertreibung der Jüdinnen*Juden in be-       im Ausland verheiraten. Die damit einher-
nachbarte Herrschaftsgebiete kam, wuchs         gehende Heiratsmigration trug wie auch
die jüdische Gemeinde stetig an, auch nach-     andernorts zur Ausbildung von transnati-
dem Hohenems an Österreich fiel und die         onalen Familiennetzwerken bei. Wobei die
Hohenemser Juden*Jüdinnen Glück hatten,         vielen Armen der Gemeinde, die ihren Le-
dass Maria Theresia trotz ihrer manifesten      bensunterhalt vor allem durch das Hausier-
Judenfeindschaft einen neuen Schutzbrief        gewerbe in Deutschland oder der Schweiz
für Hohenems ausstellte. Mitte des 19. Jahr-    verdienen mussten oder als Knechte und
hunderts erreichte die Mitgliederzahl der       Mägde bei jüdischen Familien ihr Auskom-
jüdischen Gemeinde ihren Höchststand mit        men fanden, häufig gar nicht die Mittel auf-
ca. 550 Menschen.                               brachten, um heiraten zu können. Ab 1830

                                                         Magazin vom 23.06.2021 10
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führte das zu einer ersten Auswanderungs-        schon ihr Geschichtswerk, ihre Genealogie
welle in die USA.                                und ein Archiv zwischen zwei Buchdeckeln
Der Mittelstand heiratete in die süddeut-        hinterlassen. Sein Wälzer Die Geschichte
schen Landgemeinden oder in die zwei Ju-         der Juden von Hohenems trug dazu bei, den
dendörfer im schweizerischen Aargau. Die         Familien ein Zusammengehörigkeitsgefühl
wohlhabenden Hoffaktorenfamilien und             zu vermitteln, das auch die Vernichtung
jene Kaufleute, denen es gelang, mit „Schwei-    der winzig gewordenen Gemeinde zwischen
zerware“, Textilien aus der aufstrebenden        1938 und 1945 überlebte. 1953 gründeten
Ostschweizer Stickereiindustrie erfolgreich      Nachkommen in der Schweiz den Hohenem-
zu handeln, schickten ihre Kinder hingegen       ser Friedhofsverein und kauften der Tiroler
in die europäischen Metropolen, nach Pa-         Kultusgemeinde den rückerstatteten jüdi-
ris, London, Frankfurt oder in das aufstre-      schen Friedhof in Hohenems ab. So besteht
bende Triest, in italienische Hafenstädte        heute in unmittelbarer Nachbarschaft quasi
oder gar nach Konstantinopel und Smyrna.         ein Rechtsnachfolger der alten Gemeinde.
Erst nach 1848 wurden die Niederlassungs-        Und als 1986 der Museumsverein gegründet
beschränkungen sukzessive aufgehoben.            wurde und 1991 das Museum seine Pforten
Gleichberechtigt waren die Hohenemser            öffnete, begann eine rege Kommunikation
Jüdinnen*Juden freilich noch immer nicht.        mit den Nachkommen, die in vieler Hin-
Sie „durften“ weiterhin eine „politische Ju-     sicht dem Museum seinen besonderen Cha-
dengemeinde“ bilden und mussten dafür            rakter verliehen hat, als treuhänderisches
höhere Steuern zahlen. Erst 1878, elf Jah-       Archiv, als genealogische Forschungsstelle,
re nach dem Staatsgrundgesetz, wurden in         als Drehscheibe von Familiennetzwerken,
Hohenems die Christen- und die Juden-            die sich alle zehn Jahre in internationalen
gemeinde vereinigt. Zu dieser Zeit war die       Nachkommentreffen manifestiert, und als
Gemeinde schon am Dahinschmelzen. Wer            Mittelpunkt einer kosmopolitischen Mu-
konnte, zog in die Großstädte und natürlich      seumscommunity. Die schätzt es, dass das
in die nahe Schweiz, zu der Hohenems als         Museum als heiß geltende Themen ohne
Grenzort zu St. Gallen schon lange intensive     Berührungsängste und ohne Scheuklappen
Beziehungen hatte.                               anfasst und kritische Impulse in die Land-
                                                 schaft der „Erinnerungskultur“ sendet ge-
Was blieb, war die Verbundenheit der mitt-
                                                 nauso wie in zeitgenössische Debatten um
lerweile in alle Welt zerstreuten Familien mit
                                                 das Verhältnis von Diaspora und Israel oder
dem kleinen Ort, dessen beide Hauptstraßen
                                                 in die multikulturellen Konfliktlagen der eu-
bis 1909 noch offiziell „Israelitengasse“ und
                                                 ropäischen Einwanderungsgesellschaft.
„Christengasse“ hießen. Zu dieser Zeit hatte
der letzte bedeutende Rabbiner von Hohe-         IS: Was zeichnet die Museumsarbeit vor
nems, Aron Tänzer, den Hohenemser*innen          Ort besonders aus? Gibt es in Hohenems so
vor seinem Weggang nach Württemberg              etwas wie eine Agenda bei der Vermittlung

                                                          Magazin vom 23.06.2021 11
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jüdischer Geschichte?                          zugleich galt es, die schiere Tatsache eines
HL: Als das Museum gegründet wurde, öff-       jüdischen Lebens und damit die lange Dau-
nete sich Österreich gerade – mit ein wenig    er einer nicht-christlichen Einwanderung
Verspätung zu Deutschland – einer kriti-       im Land mit den Mitteln einer betont sach-
schen Auseinandersetzung mit der eigenen       lichen und demonstrativ wissenschaftlichen
Geschichte und der Erbschaft des National-     Ausstellung, aber auch mit „populären“
sozialismus. So stand die Gründungsphase       Projekten wie der Projektion auf „belichte-
des Museums noch im Zeichen geschichts-        te Häuser“ und irritierende „Blickstationen“
politischer Debatten in einer Vorarlberger     niederschwellig und zugleich spektakulär
Gesellschaft, die insgesamt von kulturel-      ins allgemeine Bewusstsein zu bringen.
len Aufbrüchen geprägt war. Das Museum,        Parallel dazu entwickelte sich der Kontakt
hervorgegangen aus einer zivilgesellschaft-    mit den in alle Welt zerstreuten Nachkom-
lichen Bewegung von lokalen und regiona-       men, deren Bewusstsein weniger von der
len Aktivist*innen, wurde rasch zu einem       Shoah, der deutschen Vernichtungspolitik
intellektuellen Brennpunkt des Landes und      geprägt war, die nur kleinere Teile der Fa-
nahm eine dezidiert politische Funktion der    milien in Deutschland und Wien unmittel-
Herstellung von kritischer Öffentlichkeit      bar getroffen hatte, als vielmehr von einer
wahr. Großes Streitthema war zu dieser Zeit    weltbürgerlichen Einstellung, die sich in
die „Wiederentdeckung“ des Vorarlberger        einer diasporisch orientierten Haltung des
Alltagsantisemitismus in der Landesge-         Museums widerspiegelte.
schichte. Und die Auseinandersetzung mit       Grundsätzlich hat das Haus eine „Philoso-
den Geschichtsmythen einer heilen Welt         phie“ des Ausstellungsmachens entwickelt,
von christlich-jüdischem Zusammenleben.        die der grundlegenden Ambivalenz des Ge-
Doch schon mit der Eröffnung 1991 bekann-      genstandsfeldes geschuldet ist. Natürlich ist
ten sich das Museum und die Politik, die       Mehrdeutigkeit im Grunde jedem Museum
es nun trug, dazu, auch ein Austragungs-       konstitutiv eingeschrieben. Peter Sloterdijk
ort für Debatten rund um die Entwicklung       spricht von einer „Schule des Befremdens“
der Vorarlberger Einwanderungsgesell-          – und meint damit natürlich insbesondere
schaft zu sein. In den Entwürfen für die       kulturhistorische Museen, die das Vertrau-
erste Dauerausstellung blitzte, damals noch    te verfremden und das Fremde vertraut
ohne Folgen, das Thema der „türkischen“        erscheinen lassen. Aber für jüdische Ge-
Migrant*innen hervor, die inzwischen nicht     schichte in der Welt gilt dies im besonderen
zuletzt das ehemalige „jüdische Viertel“ be-   Maße. Alle Kategorien, alle Fiktionen von
wohnten. In den folgenden Jahren begann        „Zugehörigkeit“ und „Unzugehörigkeit“, von
das Museum in seinen Vermittlungsprojek-       „Fremdem“ und „Eigenem“ geraten im Blick
ten freilich Fragen nach dem Zusammenle-       auf „Jüdisches“ in Bewegung und werden
ben der Gegenwart offensiv zu stellen. Und     herausgefordert. Das Judentum, genauer

                                                        Magazin vom 23.06.2021 12
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jüdisches Leben in Europa war lange Zeit       Ausstellung über das Branding und die My-
als das exemplarische „Andere“ der christ-     then von Tel Aviv und Jaffa universelle Fra-
lichen Kultur begriffen worden. Exemp-         gen nach den Auswirkungen von Gentrifi-
larisch und vor allem untrennbar mit dem       cation gestellt. Eine Ausstellung lud einfach
Anspruch des Christentums verbunden.           dazu ein, ein „gewisses jüdisches etwas“ für
Das Christentum war undenkbar ohne seine       eine Ausstellung ins Haus zu bringen und zu
Verbindung zum Judentum, zur jüdischen,        erklären, was es damit auf sich habe. Heraus
biblischen Geschichte, die als „Vorgeschich-   kamen 100 Antworten auf die Frage, was
te“, als „Prophetie“ des Christentums wahr-    Menschen für „jüdisch“ halten.
genommen wurde. Und untrennbar zu einer        IS: Etwas grundsätzlicher zu den Aufga-
jüdischen Gegenwart, die im Interesse der      ben eines jüdischen Museums. Sollte es As-
christlichen Mehrheitsgesellschaft interpre-   pekte von jüdischer Religion und Kultur in
tiert wurde. Jüdisches Leiden machte aus       den Mittelpunkt stellen? Es gibt berechtigte
der Sicht des Christentums symbolischen,       Kritik daran, das Judentum auf eine Verfol-
ja metaphysischen Sinn. Und die Rolle von      gungsgeschichte und die Rolle von Opfern in
Juden*Jüdinnen als Agenten des Kultur-         der Shoah zu reduzieren. Gleichzeitig lässt
transfers und der transnationalen Bezie-       sich die Geschichte von Juden*Jüdinnen
hungen machte auch politisch, ökonomisch       kaum ohne diese beiden Aspekte erzählen.
und kulturell Sinn – in den Augen und in       Gibt es einen Ausweg aus diesem Span-
den Grenzen der Mehrheitsgesellschaft.         nungsfeld?
Also haben wir in unseren Ausstellungen
                                               HL: Ich glaube, dieses Spannungsfeld ist
immer wieder Räume geöffnet für die Wahr-
                                               konstitutiv. Auch wenn ich seine Pole an-
nehmung von zweideutigen Gegenständen,
                                               ders benennen würde. Als das Museum ge-
die so etwas wie Beziehungsräume öffnen.
                                               gründet wurde, gab es erbitterte Auseinan-
Ob das eine Ausstellung über die unter-
                                               dersetzungen. Getragen freilich auch von
schiedlichen symbolischen und ganz realen
                                               der eminenten Bedeutung, die alle Seiten
„Besetzungen“ Jerusalems war oder eine
                                               dem Thema zumaßen. Sollte das Museum
Ausstellung über „Was Sie schon immer
                                               ein Heimatmuseum der friedlichen Koexis-
über Juden wissen wollten… aber nicht zu
                                               tenz von Juden*Jüdinnen und Christ*innen
fragen wagten“, die sich mit den Fantasi-
                                               sein, sozusagen eine lokale Erfolgsgeschich-
en über Juden*Jüdinnen beschäftigte, die
                                               te erzählen? Oder sollte es vor allem ein kri-
Besucher*innen hier ins Haus tragen und
                                               tischer Stachel im Fleisch der Mehrheitsge-
die sich in ihren Fragen „verstecken“. Oder
                                               sellschaft sein und dokumentieren, wie sehr
wir haben nach der Rolle von jüdischen Mu-
                                               das Leben der jüdischen Minderheit von der
sikern, Komponisten und Produzenten in
                                               Willkür der Herrschaft, vom Verhalten der
der Entstehung der globalen Musikkultur
                                               Mehrheitsgesellschaft, von Einschränkun-
des 20. Jahrhunderts gefragt. Und in einer
                                               gen und Ressentiments geprägt war? Es war

                                                         Magazin vom 23.06.2021 13
Zur Diskussion

die eher affirmative Sicht auf das Judentum,    Traditionsbestände und ihr Wandel vor dem
auf die Jüdinnen*Juden, die stärker deren       Hintergrund von krisenhaften Erfahrungen
Fremdheit, symbolisiert durch Gegenstände       und zyklisch wiederkehrenden Lebensereig-
der religiösen Praxis, betonen wollte. Und      nissen quer durch die Geschichte betrachtet
die kritische Perspektive wollte die Ausgren-   werden. Und durch Objekte in ihrer ganzen
zung als Praxis der Mehrheitsgesellschaft       Zweideutigkeit zwischen säkularem Alltag
thematisieren.                                  und Tradition, konkreter Familienerinne-
In der konkreten Arbeit des Museums,            rung und „kollektiver“ longue durée reprä-
schon in den Auseinandersetzungen um die        sentiert werden.
Dauerausstellung, löste sich diese Polari-      Dabei spielt der Aspekt der familiengestütz-
sierung nicht auf, aber sie veränderte sich.    ten Gemeinschaftsbildung jenseits tradi-
Es ging nun nicht mehr nur um Antisemi-         tioneller Religiosität und nationaler Iden-
tismus vs. Religion, sondern um sich assi-      titäten eine entscheidende Rolle – für die
milierende Lebenspraxis vs. dissoziierende      auch die genealogische Arbeit des Museums
Ausgrenzungspraxis. Schon 1991 gelang es,       gleichsam symbolisch einsteht.
den Blickwinkel zu verändern, der bis dahin     IS: Die Mehrzahl der westeuropäischen
vielerorts herrschenden Praxis, „Jüdisches“     Gesellschaften sind durch Einwanderung
über quasi ethnografisch wahrgenommenes         geprägt und werden als divers, als Migra-
„Kultgerät“ zu präsentieren, einen eher kul-    tionsgesellschaft oder als postmigrantisch
tursoziologischen und zuweilen auch rechts-     bezeichnet. Siehst du die Aufgabe eines jü-
historischen Ansatz entgegenzusetzen. Was       dischen Museums darin, Aspekte der Mig-
fehlte, war das „Fleisch“ einer eigenen         ration von Juden*Jüdinnen darzustellen?
Sammlung und Ego-Dokumente, die stärker         Und sollten diese in Bezug zu anderen Mi-
den Einblick auch in eine Binnenperspekti-      grationsbewegungen gestellt werden? Funk-
ve ermöglicht hätten.                           tioniert beides in einer rein nationalen Per-
Als wir 2007 die Dauerausstellung vollkom-      spektive?
men neu konzipierten, konnte das Museum         HL: Jüdische Geschichte ist Migrationsge-
auf eine solche Sammlung zurückgreifen,         schichte. Und diese Migrationsgeschichte
die aus dem gewachsenen Vertrauen der           bedeutet spezifische Erfahrungen, die das
Nachkommen, aber auch mancher „ein-             Bewusstsein jüdischer Familien und die Le-
heimischer“ Sammler gewachsen war. Nun          bensentwürfe einzelner Juden*Jüdinnen
ging es darum, das Spannungsfeld von            prägen. Häufig sehr viel mehr als traditio-
Selbstbestimmung und Fremdbestimmung,           nelle Formen religiöser Observanz.
von Identitätsbedürfnissen und Projektio-
                                                Freilich, jüdische Migrationsgeschichte
nen von außen auszuloten. Und dabei konn-
                                                ist nicht einfach identisch mit Migrations-
ten nun auch die „metaphysische“ Dimen-
                                                erfahrungen wie wir sie in der Gegenwart
sion, die Rolle religiöser Sinnstiftungen,

                                                         Magazin vom 23.06.2021 14
Zur Diskussion

immer stärker als entscheidende Heraus-         Buber geschrieben hat, „eine tragische Ent-
forderungen der Gesellschaft wahrnehmen.        täuschung wie jede Wiederholung“.
Man könnte sagen, in jüdischen Migrations-      Und dies zu einem Zeitpunkt, wo
erfahrungen verdichten sich Aspekte sol-        Migrant*innen der Gegenwart neue diaspo-
cher Erfahrungen zugleich in einer longue       rische Netzwerke ausbilden, freilich zumeist
durée und in symbolischen Deutungen, die        mit einem staatlich verfassten Mittelpunkt
auch jüdische Religiosität bzw. jüdische        – aber auch mit Zentren, die in Auflösung
Identitätserzählungen prägen. Kurz gesagt:      begriffen sind, die sich selbst zerstören.
Jüdische Migrationserfahrung ist so wie an-
                                                Jüdische Migrationsgeschichte ist, wie al-
dere Migrationserfahrung auch, aber sehr
                                                les was mit dem Judentum zu tun hat, auch
viel mehr so.
                                                in dieser Gegenwart der Migrationen ein
Jüdische Familiengeschichte ist eine Ge-        manchmal trügerischer, manchmal irritie-
schichte von mehrfacher Migration, von          render und verwirrender, manchmal auch
fortwährender Prekarität, wenn auch             paradoxe Erkenntnisse stiftendender Spie-
manchmal auf ökonomisch allerhöchstem           gel. Immer aber ein Anlass für Selbstbefra-
Niveau. Jüdische Geschichte ist eine Folge      gungen und Debatten.
von Wanderungen und von Netzwerken,
die schließlich eine polyzentrische Diaspora
ausgebildet haben, mit bedeutenden Kno-
tenpunkten, die selbst symbolische „Heima-
                                                Über den Interviewten
ten“ wurden, aber freilich auf Zeit. Auch die
Hohenemser Nachkomm*innen sprechen
von einer „Hohenemser Diaspora“.                Der Literatur- und Medienwissen-
Und die Gründungserzählungen des Juden-         schaftler Hanno Loewy arbeitet als
tums sind Erzählungen von Migration, Exil,      Direktor des Jüdischen Museums Ho-
Flucht und Befreiung und haben die religi-      henems und ist zudem publizistisch
öse Praxis eingefärbt, sozusagen den jüdi-      tätig. Er war 1995 Gründungsdirektor
schen Traum. Die Realität der „Rückkehr“        des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt
an den vermeintlichen Ursprung hingegen         am Main, war zuvor an dessen Aufbau
ist in vielerlei Hinsicht eine Geschichte von   beteiligt und blieb bis 2000 dessen
Enttäuschungen. Auch wenn sie uns als Er-       Direktor.
folgsgeschichte verkauft wird. Die Geschich-
te der „Rückkehr“ nach Israel ist in Wirk-
lichkeit eine Geschichte der Resignation.
Eine Implosion, „eine Rückkehr des Kreises
in sich selbst, das Ende einer Bewegung“,
wie es Stefan Zweig in einem Brief an Martin

                                                         Magazin vom 23.06.2021 15
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Das Museum POLIN – Jüdische                       Gerechtigkeit) auswirkt. National-konser-
Geschichte als (geschichts-)                      vativ, klerikal, trans- und homo- sowie frau-
politischer Streitpunkt                           enfeindlich sind Attribute, die der Partei
                                                  nicht ohne Gründe zugeschrieben werden.
                                                  Die seit 2015 allein regierende PiS verändert
Von Ingolf Seidel
                                                  das Land und das nicht zum Guten.
Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin kein         Der politische Zugriff auf das POLIN ist
Experte für das POLIN, das Museum für die         schwieriger als in anderen Fällen, da sich
Geschichte der polnischen Juden (Muze-            das Museum in gemischter, öffentlicher und
um Historii Żydów Polskich) in Warschau,          privater Trägerschaft befindet. Die Zustän-
wenn ich auch das Haus mehrfach besucht           digkeit der öffentlichen Seite ist geteilt. Zum
und in Gesprächen mit Mitarbeiter*innen           einen liegt sie beim Ministerium für Kultur
kennengelernt habe. Dieser Text maßt sich         und nationales Erbe (Ministerstwo Kultury
daher nicht an, die kuratorische und mu-          i Dziedzictwa Narodowego), seit 2015 ge-
seumsdidaktische Seite auszuleuchten.             führt durch den PiS-Politiker Piotr Gliński,
Der Beitrag wurde notwendig, weil es nicht        und bei der Stadtregierung von Warschau.
gelungen ist, eine*n Autor*in zu finden,          Die private Seite ist durch das renommierte
die*der sich bereitgefunden hätte, einen          Jüdische Historische Institut (Stowarzys-
Beitrag über das POLIN zu schreiben, der          zenie Żydowski Instytut Historyczny) im
neben anderen Aspekten notwendigerweise           Dreigespann vertreten. Eröffnet wurde das
auch die Auswirkungen der polnischen Re-          noch nicht vollständig fertiggestellte Mu-
gierungs- und Geschichtspolitikpolitik auf        seum am 19. April 2013 zum 70. Jahrestag
das Museum thematisiert hätte. Es ist zu-         des jüdischen Aufstands im Warschauer
gegeben ein wenig spekulativ anzunehmen,          Ghetto. Die Lage des Museums im Stadt-
die Absagen auf Textanfragen würden auf           zentrum hat einen hohen Symbolwert. Vor
dem Klima von Einschüchterung beruhen,            dem Zweiten Weltkrieg wurde das Stadt-
von dem Kolleg*innen aus Polen berichten,         viertel, in dem das Museum situiert ist, vor-
das neben anderen gesellschaftlichen Berei-       wiegend von Jüdinnen*Juden bewohnt. Die
chen auch den Wissenschafts- und Muse-            deutschen Besatzer errichteten hier das von
umsbetrieb nicht auslässt. Anzeichen für ein      ihnen als Jüdischer Wohnbezirk in War-
Klima, in dem die Freiheit der Wissenschaft       schau bezeichnete Ghetto, das Teil der an-
nicht gewährleistet ist, gibt es einige, ebenso   tisemitischen Vernichtungspolitik war. Vor
wie für eine Polonisierung von historischen       dem Museum befindet sich das bekannte
Narrativen.                                       Denkmal der Helden des Ghettos (Pomnik
Das POLIN ist nicht die einzige Einrich-          Bohaterów Getta) von Nathan Rapaport aus
tung, auf die sich die Politik der regieren-      dem Jahr 1948. Die Kernausstellung wurde
den PiS (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und        im Jahr 2014 eröffnet. Sie hatte zum Ziel,

                                                            Magazin vom 23.06.2021 16
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1000 Jahre jüdisch-polnische Geschich-          Unter dem Ersten Sekretär der Staatspartei
te vom Mittelalter bis in die Gegenwart in      Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (Polska
acht Abteilungen zu zeigen. Über die von        Zjednoczona Partia Robotnicza) Władysław
Rainer Mahlamäki stammende Bauform              Gomułka wurde 1968 eine Kampagne insze-
schrieb Richard Herzinger aus Anlass der        niert, deren antisemitischer Charakter dürf-
Eröffnung unter der nahezu euphorisch wir-      tig als antizionistisch kaschiert wurde. Auch
kenden Überschrift „Polen trägt sein neues      diese Kampagne hatte eine große Auswan-
Selbstbild nach Europa“: „Nach außen ist        derungswelle unter den ca. 40.000 noch in
die Architektur aus Glas, Kupfer und Beton      Polen lebenden Jüdinnen*Juden zur Folge.
quadratisch-minimalistisch, innen ist sie       Der von 2014 bis 2019 amtierende Direktor
dramatisch bewegt. Die gewölbten Wende          des Museums POLIN, Dariusz Stola, geriet
(sic) am Eingang assoziieren das sich teilen-   ins Visier der rechten Regierung. Eine Rolle
de Rote Meer, und deuten so einen Weg aus       spielte dabei der konstruiert wirkende Vor-
dem Schrecken in eine bessere Zukunft an.“      wurf, Stola solle eine Konferenz zum Anden-
(Herzinger: 2014) Nun lässt sich die pol-       ken an den 2010 verstorbenen Staatspräsi-
nisch-jüdische Geschichte nicht ohne Be-        denten und PiS-Politiker Lech Kaczyński
zugnahme auf Antijudaismus und Antisemi-        sabotiert haben. Kaczyński hatte sich sei-
tismus erzählen, die jenseits der deutschen     nerzeit für die Gründung des Museums ein-
Besatzung prägend für das wechselseitige        gesetzt. Vonseiten des Museums wurde der
Verhältnis waren.                               Vorwurf zurückgewiesen. Folgenreicher war
Dazu gehören der auch heute noch prä-           der Streit um die Sonderausstellung Obcy
sente katholisch-christlich grundierte Ju-      w domu. Wokół Marca ’68 (Fremd daheim.
denhass und Serien von Pogromen im 19.          Über den März ’68). Die Schau wurde von
und 20. Jahrhundert, zu denen auch das          März bis September 2018 im POLIN ge-
in der Kleinstadt Jedwabne von polnischen       zeigt und widmete sich der antisemitischen
Einwohner*innen im Juli 1941 verübte Po-        Kampagne des Jahres 1968. Sie wurde mit
grom gehört oder das Pogrom von Kielce,         116.000 Besucher*innen die erfolgreichste
verübt am 4. Juli 1946. Bei letzterem bil-      Sonderausstellung des Museums (Heine-
deten christliche Ritualmordlegenden das        mann 2020b: 257). Die Ausstellung pola-
ideologische Fundament zur Ermordung            risierte die polnische Öffentlichkeit. Dem-
von 80 Jüdinnen*Juden, welche die deut-         entsprechend breit berichtete die Presse,
sche Vernichtungspolitik überlebt hatten.       was zu der hohen Zahl der Besucher*innen
In der Folge wanderten zehntausende pol-        beitrug. Die Kontroverse um die Ausstellung
nische Juden*Jüdinnen aus. Auch die am          wurde entfacht durch eine Sektion, „in der
autoritären sogenannten real existieren-        jüngste öffentliche antisemitische Äußerun-
den Sozialismus orientierte Volksrepublik       gen parallelen Aussagen aus dem Jahr 1968
Polen war nicht frei von Antisemitismus.        gegenübergestellt wurden.“ (Heinemann

                                                         Magazin vom 23.06.2021 17
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2020b: 257).                                    wie etwa Jan Thomasz Gross, Jan Grabow-
Während die Ausstellung in liberalen Medi-      ski, Anna Bikont oder Anna Engelking, die
en positiv rezipiert wurde, tobte die rechte    auf den polnischen Antisemitismus und
Presse. Es lohnt sich, dazu ein ausführliches   daraus folgende Pogrome hinweisen (Stein
Zitat von Jan Fiedorczuk in Do Rzeczy zur       / Zimmermann 2018). Der Novellierung im
Kenntnis zu nehmen: „Die polternde Aus-         Januar 2018 folgten internationale Protes-
stellung ‚Obcy w domu. Wokół Marca ’68‘        te und eine diplomatische Krise in den Be-
ist in gewisser Weise das ideologische Ma-      ziehungen Polens zu Israel und darauf eine
nifest der neuen Linken. Den Ausstellungs-      leichte Abschwächung, indem u.a. die vor-
machern zufolge waren die Verursacher der       gesehenen bis zu dreijährigen Haftstrafen
Ereignisse vor einem halben Jahrhundert         gestrichen wurden.
gar nicht die Kommunisten, sondern Feinde       Für den Direktor des POLIN hatten die An-
der Toleranz, Feinde des ‚Fremden‘. Früher      griffe seitens der PiS Folgen. Zwar konnte
verfolgten sie Juden und heute diffamieren      er aufgrund der geteilten Trägerschaft we-
sie Schwule, Flüchtlinge oder Deutsche. Die     niger leicht entlassen werden, wie es zu-
heutigen Rechten sind die Erben des Has-        vor dem Gründungsdirektor des Museums
ses und die ideologischen Verwandten der        des Zweiten Weltkriegs (Muzeum II Wojny
damaligen Antisemiten – das suggeriert die      Światowej) in Gdańsk Paweł Machcewicz
Ausstellung.“ (zit. nach Koszarska-Szulc /      ergangen war, aber Kulturminister Gliński
Romik 2018: 102)                                lehnte die Verlängerung des 2019 endenden
Die Angelegenheit überschnitt sich mit der      Vertrages von Stola ab. Der Leitungsposten
Kritik von Dariusz Stola an einer gesetzli-     für das Museum wurde neu ausgeschrieben.
chen Regelung, die unter dem irritierenden      Stola gewann die Ausschreibung aufgrund
Namen „Holocaust-Gesetz“ bekannt wurde.         des Votums der Auswahlkommission. Er-
Korrekterweise handelt es sich um die No-       neut verweigerte Minister Gliński die Be-
vellierung des Gesetzes über das Institut für   rufung von Stola, nachdem er zuvor erklärt
Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Na-       hatte, eine*n Gewinner*in der Ausschrei-
rodowej – IPN). Der Vorwurf an Stola war        bung zu akzeptieren. Dies war für das PO-
in diesem Fall der einer angeblich zu großen    LIN jenseits der Personalie eine der Arbeit
politischen Aktivität aufgrund seiner kri-      abträgliche und unhaltbare Situation.
tischen Haltung (vgl. Heinemann 2020a).         Letztlich war es Dariusz Stola, der die Mu-
Vordergründig geht es in der Novelle darum,     seumsarbeit vor seine Interessen setzte
falsche Bezeichnungen wie „polnische To-        und auf den Posten des Direktors verzich-
deslager“ oder „polnische Konzentrationsla-     tete, obwohl er ihm juristisch zugestanden
ger“ mit hohen Geld- und Gefängnisstrafen       hätte. Statt Stola wurde dessen vormali-
unter Strafe zu stellen. Es richtete sich je-   ger Stellvertreter Zygmunt Stępiński neuer
doch in der Praxis gegen Historiker*innen,      Museumsdirektor.

                                                         Magazin vom 23.06.2021 18
Zur Diskussion

Der Umgang mit dem POLIN ist kein Ein-          Hintergrund stellt sich die Frage, ob und zu
zelfall, wie der kurze Hinweis auf Paweł        welchen Bedingungen Bildungs- und Begeg-
Machcewicz zeigt. Auch das Europäische          nungsprojekte noch sinnvoll möglich sind.
Solidarność-Zentrum (Europejskie Cent-          Hier sind Stiftungen, Jugendwerke und Bil-
rum Solidarności, ECS) geriet durch die PiS-    dungsträger, die regelmäßig deutsch-polni-
Regierung unter Druck. Auch hier weigerte       sche Projekte durchführen oder finanzieren,
sich der Kulturminister, die Ernennungsur-      gefordert, sich immer wieder aufs Neue öf-
kunde des Direktors zu unterzeichnen. Zu-       fentlich zu positionieren und sich zudem mit
dem wurde dem ECS für das Jahr 2019 die         polnischen Kolleg*innen und Einrichtungen
finanzielle Zuwendung seitens des Ministe-      zu solidarisieren, die durch die autoritäre
riums von sieben auf vier Millionen Złoty,      polnische Regierungspolitik eingeschüch-
also von rund 1.547. 000 € auf ca. 884.000      tert oder gemaßregelt werden sollen.
€, gekürzt. Die erneute Aufstockung der
Mittel machte Gliński „davon abhängig, die
                                                                                 Literatur
Besetzung wesentlicher Stellen im ECS di-
rekt vorzunehmen, wodurch er Einfluss auf       Monika Heinemann: Politik im Muse-
die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit dieser   um– der Kampf um Deutungshoheiten im
Institution erhielte.“ (Heinemann 2020b:        polnischen Museumsboom, Dossier Polen
258f)                                           der Bundeszentrale für politische Bildung,
                                                10.07.2020 (2020a), https://www.bpb.
Auch die Gedenkstätte Auschwitz bleibt von
                                                de/internationales/europa/polen/312642/
der neuen Gesetzgebung nicht unberührt.
                                                analyse-politik-im-museum-der-kampf-
Mit der Berufung von Beata Szydło, eben-
                                                um-deutungshoheiten-im-polnischen-mu-
falls Mitglied der PiS und von 2015 ¬bis
                                                seumsboom.
2017 polnische Regierungspräsidentin, lös-
te Gliński in diesem Jahr einen Eklat aus.      Monika Heinemann: Der Kampf um das
Mehrere Beiratsmitglieder der Gedenkstät-       „moderne“ Museum – Zeitgeschichte im
te traten aus Protest aus dem Gremium aus.      polnischen Museumsboom, in: Ljiljana
Es ist offensichtlich, dass die rechtsgerich-   Radonic, Heidemarie Uhl: Das umkämpf-
tete polnische Regierung bestrebt ist, ge-      te Museum. Zeitgeschichte ausstellen zwi-
schichtspolitisch auf die Museen im Land        schen Dekonstruktion und Sinnstiftung,
Einfluss zu nehmen, um ein nationalisti-        2020 (2020b) Bielefeld. S. 241 – 261.
sches polnisches Narrativ durchzusetzen.        Richard Herzinger: Polen trägt sein neu-
Dazu gehört die Auseinandersetzung um           es Selbstbild nach Europa, Die Welt,
den originär in Polen vorhandenen Antise-       23.10.2014, https://www.welt.de/politik/
mitismus in Geschichte und Gegenwart zu         ausland/article133559405/Polen-traegt-
unterbinden oder mindestens in politisch        sein-neues-Selbstbild-nach-Europa.html.
genehme Bahnen zu lenken. Vor diesem

                                                         Magazin vom 23.06.2021 19
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Florian Kellermann: Jüdisches Museum
ohne Direktor, 03.10.2019, https://www.
deutschlandfunkkultur.de/polnische-kul-
turpolitik-juedisches-museum-ohne-direk-
tor.1013.de.html?dram:article_id=460268.
Justyna Koszarska-Szulc/ Natalia Romik:
Die Sonderausstellung Obcy w Domu. Wokó
Marca ’68 (Fremd daheim. Über den März
’68) im Museum POLIN in Warschau, in:
Daniel Mahla/Evita Wiecki (Hrsg.): März
´68 in Polen – Eine antisemitische Kam-
pagne und ihre Folgen. Münchner Beiträge
zur jüdischen Geschichte und Kultur. Jg. 12
Heft 2, 2018, S. 86 ¬ 104, https://www.jgk.
geschichte.uni-muenchen.de/muenchner-
beitraege/2018_2/2018_2.pdf.
Marin    Sander/     Sigrid  Brinkmann:
Streit um Polin-Museum in Warschau,
19.07.2019, https://www.deutschlandfunk-
kultur.de/kulturkampf-in-polen-streit-
um-polin-museum-in-warschau.1013.
de.html?dram:article_id=454351.
Shimon Stein/ Moshe Zimmermann:
Mehr Politik als Wahrheit, ZEIT ONLINE,
22.02.2018,     https://www.zeit.de/gesell-
schaft/zeitgeschehen/2018-02/holocaust-
gesetz-polen-justizreform-israel.

                                              Magazin vom 23.06.2021 20
Zur Diskussion

Interview mit Miriam Bistrovic                 grundlegende Wissen über die 1700-jährige
über das Shared History Project                gemeinsame Geschichte fehlt und jüdisches
– 1700 Jahre jüdisches Leben in                Leben in Deutschland jenseits der Berichte
Deutschland                                    über Verfolgungen und Diskriminierung in
                                               der gesellschaftlichen Wahrnehmung und
Das Interview wurde in Schriftform von
                                               in den Lehrplänen bisher kaum eine Rolle
Thomas Hirschlein geführt.
                                               spielt.
LaG: Liebe Miriam Bistrovic, als Leiterin
                                               Wir hoffen, dass sich dies im Rahmen des
der Berliner Büros des Leo Baeck Instituts
                                               aktuellen Festjahrs zum jüdischen Leben in
New York / Berlin begleiten Sie das Shared
                                               Deutschland ändern wird und das Shared
History Project von Anfang an. Um was geht
                                               History Projekt ist unser Beitrag zu diesem
es im Projekt und warum haben Sie den Titel
                                               deutschlandweiten Netz aus Projekten und
Geteilte Geschichte für das Projekt gewählt?
                                               Veranstaltungen, der sogar über die Lan-
MB: 2021 jährt sich zum 1700. Mal die erste    desgrenzen hinausreicht und den deutsch-
dokumentierte Erwähnung einer jüdischen        sprachigen Raum abdeckt. Im Shared His-
Gemeinde nördlich der Alpen. Ein Dekret        tory Projekt wollen wir Juden*Jüdinnen
des römischen Kaisers Konstantin aus dem       nicht als Opfer oder passive Objekte der ge-
Jahre 321 erlaubte es den Kölner Stadtrats-    schichtlichen Entwicklung, sondern als han-
abgeordneten erstmalig auch Juden zur          delnde und aktive Subjekte im historischen
Übernahme öffentlicher Ämter zu verpflich-     Kontext vorstellen.
ten. Das Leo Baeck Institut New York | Ber-
                                               Die Mehrdeutigkeit des Titels war dabei
lin (LBI) hat das Shared History Project:
                                               eine bewusste Entscheidung. Je nach Lesart
1700 Jahre jüdisches Leben im deutschspra-
                                               kann sowohl das Verbindende, der gemein-
chigen Raum ins Leben gerufen, um diese
                                               same Austausch im Vordergrund stehen -
facettenreiche und vielstimmige Geschichte
                                               oder das Trennende, der gesellschaftliche
zu erzählen und zu zeigen, wie eng jüdische
                                               Ausschluss. Dieses Wechselspiel einer zwi-
Geschichte und der Alltag der jüdischen Ge-
                                               schen zwei Extremen pendelnden Lebens-
meinschaft in dieser Region mit den Erfah-
                                               welt und deren zahlreiche dazwischenlie-
rungen der Mehrheitsbevölkerung verfloch-
                                               gende, ambivalente Erfahrungen spiegelt
ten sind. Denn wenn selbst Massenmedien
                                               zugleich die Erfahrungen und den Alltag
in Bezug auf das Judentum in Deutschland
                                               von Juden*Jüdinnen in den letzten 1700
von einer „unbekannten Welt nebenan“
                                               Jahren wider. Schließich lösten sich Zeiten
sprechen und im öffentlichen Diskurs im-
                                               der Anerkennung und des gemeinsamen
mer wieder von „den Deutschen“ und „den
                                               kulturellen und wirtschaftlichen Miteinan-
Juden“ geredet wird, als handele es sich da-
                                               ders immer wieder mit Phasen der Ausgren-
bei um zwei komplett getrennte, monolithi-
                                               zung und Verfolgung ab.
sche Entitäten, ist offensichtlich, dass das

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