Juan de la Cosas Weltkarte: Finden - Erfinden - Erleben

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Juan de la Cosas Weltkarte:
Finden – Erfinden – Erleben

Kommen wir aber nun endlich zu jener Weltkarte, die im Hintergrund unserer bishe-
rigen Betrachtungen stand und so etwas wie der stumme Dialogpartner für die Kar-
ten Martin Waldseemüllers und Bordones blieb, die wir bereits in unserer Vorlesung
besprochen haben. In seiner faszinierenden, heute im Museo Naval zu Madrid auf-
bewahrten Weltkarte des Jahres 1500 hat Juan de la Cosa diese beeindruckende Ver-
räumlichung und ebenso gewaltige wie gewaltsame Vektorisierung des Wissens
seiner Zeit von der Welt kartographisch wie in einer Momentaufnahme festgehalten.
Es ist und bleibt, da lege ich mich fest, die eigentliche Verräumlichung und Veran-
schaulichung der europäischen Expansion und damit der ersten Phase beschleunig-
ter Globalisierung, die von den iberischen Mächten getragen wurde.
     Die Weltkarte ist eine Schöpfung von Juan de la Cosa. Der spanische Seemann
und Kartograph, der als piloto und später piloto mayor an der Expansion Spaniens
in den karibischen Raum und entlang der Küstenlinien Südamerikas aktiven Anteil
hatte und sich als der wohl versierteste Navigator der spanischen Flotte bei den Ex-
peditionen des Columbus, aber auch des Amerigo Vespucci auszeichnete, darf mit
seinem kartographischen Meisterwerk wohl als einer der maßgeblichen Schöpfer
eines frühneuzeitlich europäischen Welt-Bildes verstanden werden, dessen Konzep-
tion bis in unsere heutigen Kartendarstellungen des Planeten Erde fortwirkt. Die Be-
deutung von Juan de la Cosa einerseits und von seiner Weltkarte andererseits kann
gar nicht überschätzt werden – auch wenn sein Bild der Erde letztlich eine Geheim-
karte war, die nur wenigen offenstand. Aber ihre Wirkung war indirekt.
     Es ist ein für die Entwicklung der Weltgeschichte, für die Entfaltung Europas
und die Expansion des europäischen Kolonialismus entscheidender Zeitpunkt –
und ganz gewiss eine Zeitenwende. Mit dieser Karte des Juan de la Cosa tauchen
wir ein in die Frühe Neuzeit und in die Entstehungsgeschichte unserer eigenen
Welt, die wir noch immer bewohnen und aus der wir noch nicht herausgetreten
sind. Eine neue Welt und eine neue Welt-Ordnung waren in Entstehung begrif-
fen: Die erste von bislang vier Phasen beschleunigter Globalisierung wirkte welt-
weit mit einer Wucht, die man – um den von Goethe geprägten Begriff zu
verwenden – sehr wohl als velociferisch, als teuflisch schnell bezeichnen könnte.1

1 Vgl. zu der bei Goethe insbesondere zwischen 1825 und 1827 wiederholt auftauchenden Rede
von einem ‘velociferischen Zeitalter’ im Zusammenhang mit Goethes Konzept einer Weltliteratur
Bohnenkamp, Anne: ‘Den Wechseltausch zu befördern’. Goethes Entwurf einer Weltliteratur. In:
Goethe, Johann Wolfgang: Ästhetische Schriften 1824–1832. Über Kunst und Altertum V – VI.
Hg. v. Anne Bohnenkamp. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 937–964.

  Open Access. © 2020 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter.             Dieses Werk ist lizenziert
unter der Creative Commons Attribution-NonCommericial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110650686-004
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                                                               Abb. 15: Mapamundi des Juan de la Cosa, circa 1500.
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Und teuflisch schnell war auch diese Karte, die den Reyes Católicos ihre weiten
Besitzungen vor Augen führen sollte, entstanden. Juan de la Cosa war ein Meister
der kartographischen Visualisierung.
     Die besondere Relevanz und Bedeutung der kartographischen Leistung des
spanischen Seefahrers wird deutlich, wenn wir seine Weltkarte mit jener des
Hylacomylus alias Martin Waldseemüller vergleichen, die – im Jahre 1507 ent-
standen – zwar erstmals den Namen Amerika auf die von den Europäern neu
‘aufgefundenen’ Gebiete jenseits des Atlantik heftete, aber keineswegs die erste
kartographische Darstellung des frühneuzeitlichen Weltbildes repräsentiert.2
Die Geheimarchive Spaniens enthielten weit mehr als das, was wir ein Jahrsiebt
später auf Waldsdeemüllers Amerikakarte vorfinden können. Waldseemüllers
zweifellos epochemachender Entwurf ist durch eine stark die Kontinente und
das Kontinentale hervorhebende Darstellungsweise geprägt, die seinem karto-
graphischen Weltbild trotz aller historischen Beschleunigung der Entdeckungs-
fahrten seiner Zeit etwas sehr Statisches vermittelt, auch wenn seine ‘Neue
Welt’ sich erst am äußersten Rand der zuvor den Europäern bekannten Welt he-
rausschält. Doch die Karte des Juan de la Cosa war etwas ganz anderes.
     Juan de la Cosa ist ohne jeden Zweifel ein unmittelbarer Augenzeuge der
spanischen Expansion und des Ausgreifens Spaniens auf seine transatlanti-
schen Besitzungen. Er ist der vielleicht wichtigste Augenzeuge der ersten Phase
beschleunigter Globalisierung und begriff von der Neuen Welt weit mehr als
Christoph Columbus, der sich noch in seinem Todesjahr in Asien angekommen
wähnte. So enthält Juan de la Cosas Karte eine Vielzahl von Eintragungen, die
allein auf seine unmittelbaren Erfahrungen und Befahrungen der weiten Seege-
biete, die er bereiste, zurückgehen. Wir haben es hier mit der Funktion des Fin-
dens oder Vorfindens zu tun, die uns ein faszinierend ausagekräftiges Bild von
der damaligen Kenntnis der karibischen Inselwelt in all ihrer Diversität liefert.
Aber seine Karte beschränkt sich keineswegs auf das von ihm vor Ort Vorgefun-
dene und empirisch Nachgewiesene.
     Einen ebenso wichtigen Teil seiner Kartenwelt nimmt das Erfundene ein: die
Welt der Fiktionen, Mythen und Legenden. Dabei handelt es sich um Projektio-
nen, die Juan de la Cosa etwa auf jenen Teil der Erde richtete, den wir heute als
den Fernen Osten bezeichnen. Viele der damals vorhandenen Mythen und Le-
genden richteten sich auf diesen Teil der Erde oder wurden dorthin projiziert: an

2 Vgl. die Darstellung in dem ansonsten sehr nützlichen Band von Reichardt, Ulfried: Globali-
sierung. Literaturen und Kulturen des Globalen. Berlin: Akademie Verlag 2010., S. 117. Der karto-
graphische Entwurf des Hylacomylus ist keineswegs die „erste Weltkarte“ (S. 117); und Martin
Behaims berühmter Globus in Form eines Erdapfels entstand ein halbes Jahrhundert vor den
hier für den „erste[n] Globus“ angegebenen vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts (S. 24).
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die Ränder der damals (für Europa) bekannten Welt. So finden wir hier etwa Gog
und Magog und die von ihnen ausgehende Bedrohung der Fundamente der
christlich-abendländischen Welt. Oder auch, um im Nahen Osten zu bleiben, die
Heiligen Drei Könige, die aus dem Morgenland in Richtung Bethlehem unterwegs
sind, um das Christuskind anzubeten. Oder auch die Königin von Saba, die wir
in all ihrer Pracht auf dem afrikanischen Kontinent verortet sehen. Hier aber han-
delt es sich nicht um ein Vorgefundenes und von Juan de la Cosa Überprüftes,
sondern um ein Erfundenes, das der spanische piloto mayor in seine Kartenwelt
mit derselben Beharrlichkeit und Selbstverständlichkeit einzeichnete, als wäre es
eine von ihm festgehaltene Position einer in ihren Umrissen genau erfassten
Insel. Diese Mythen und Legenden waren ihm ebenso vertraut wie die von ihm
eingezeichneten Küstenstriche.
     Das von dem spanischen Kartographen Vorgefundene wie das Erfundene
ist freilich in einem Erlebten fundiert, das uns im Kartenbild entgegentritt.
Denn für Juan de la Cosa war nicht nur das von ihm Gefundene und Vorgefun-
dene eine gelebte Realität, sondern auch das Erfundene, das er in seinen Karten
getreulich verzeichnete. Wie wäre an der Existenz der Heiligen Drei Könige zu
zweifeln gewesen? Finden und Erfinden verbinden sich bei ihm zu einem Erle-
ben, das den dritten Term seiner Vorgehensweise ausmacht.
     Denn im Lebenswissen des Juan de la Cosa existiert nicht nur das empirisch
Gefundene, sondern auch das Erfundene in all seiner Macht und Wirksamkeit.
Die Wirklichkeit reduziert sich nicht nur auf das Empirische, sondern schließt die
unterschiedlichsten Erlebensformen mit ein. Der Priesterkönig Johannes ist dabei
ebenso gegenwärtig und ‘real’ wie die Existenz der Insel Cuba, die Juan de la Cosa
mit großer Detailfreude ausmalte. Es ist folglich nicht nur die (experimentelle) Er-
Fahrung, sondern im eigentlichen Sinne das Erleben, in dem sich Finden und Er-
finden miteinander verbinden und jene dreigestaltige Einheit bilden, welche die
Karte des Juan de la Cosa so sehr auszeichnet. Seine Verortung des Christophorus,
der das Christuskind an das andere Ufer trägt, ist für ihn ebenso gelebte Realität
wie die von ihm befahrenen und erfahrenen Küstensäume, die er sorgfältig in
seine Karten einzeichnete. Und daran, dass die Mission des Christophorus Colum-
bus, des Cristóbal Colón, nicht nur die der Kolonisierung einer ‘Neuen’ Welt, son-
dern auch deren christliche Missionierung war, zweifelte er nicht.
     Zugleich zeichnet sich die Weltkarte des Juan de la Cosa durch ihren hohen
Bewegungskoeffizienten, durch ihre ausgeprägte Vektorizität aus. Seine Karte aus
dem Jahre 1500 enthält nicht nur das erste kartographische Bild Amerikas, das auf
uns gekommen ist, sie entwirft nicht nur das avancierteste, mit ungeheurer Präzi-
sion das damalige kartographische, nautische und geographische Wissen integrie-
rende Kartenbild der Neuen Welt als Teil einer in Aufbau befindlichen neuen Welt-
Ordnung, sondern verschränkt dieses Wissen auch mit den seit der Antike
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tradierten abendländischen Bildvorstellungen von den außereuropäischen Weltre-
gionen.3 Mit einer beeindruckenden Genauigkeit ist bis heute abzulesen, wie in
diesem Weltentwurf des spanischen Steuermanns nicht nur ein detailreiches Kar-
tenbild der Antillen und einiger zirkumkaribischer Festlandsäume skizziert, nicht
nur die geostrategische Bedeutung dieser Region im Zentrum des sich abzeichnen-
den amerikanischen Kontinents vor Augen4 geführt wurde, sondern all jene okzi-
dentalen Projektionen wieder auftauchten, die nun auf eine den Europäern noch
‘unbekannte’ Welt gerichtet werden konnten. Juan de la Cosa lässt all diese Ele-
mente für uns, für die BetrachterInnen seiner Weltkarte, lebendig werden.
     Das Ergebnis ist eine hochkomplexe Verschränkung von Bild und Schrift,
von Kartenbild, Bilderschrift und Schriftbild in einer handgemalten Weltkarte.
Wir finden in dieser Weltkarte daher nicht nur eine außerordentlich scharfe Mo-
mentaufnahme jener Kartennetze, die von verschiedenen ‘Nullpunkten’, verschie-
denen ‘Greenwichs’ aus von Europa über die außereuropäische Welt geworfen
wurden, stoßen nicht nur auf das Wissen und die Konfigurationen jener Portu-
lane, welche die Schifffahrtslinien im Mittelmeer seit Ende des 13. Jahrhunderts
so viel sicherer gemacht hatten, sondern auch auf das Land von Gog und Magog,
die Ungeheuer und die Menschen ohne Kopf, die uns mit ihren Augen auf der
Brust genauso ‘getreu’ anblicken wie die Küstenlinien dessen, was man künftig
als Greater Caribbean bezeichnen sollte. Vieles von dem, was die mittelalterlichen
Vorstellungen ausgezeichnet hatte, findet sich nun hier als Projektion in eine
frühneuzeitliche Welt, die ihre Fiktionen buchstäblich lebt. Und die nicht zögern
wird, viele der einst ins entfernte Asien projizierten Legenden nun in der Neuen
Welt zu verorten, wo es dann künftig auch Menschen ohne Kopf beziehungsweise
mit dem Kopf auf der Brust geben sollte.
     So navigieren wir hinsichtlich Amerikas durch einen neuen und zugleich selt-
sam vertrauten Raum, der von den Flotten der großen Seemächte Europas ausge-
messen und von den Mythen Europas bevölkert wurde. Alles ist vertraut und im
Freud’schen Sinne unheimlich zugleich. Gleichzeitig bewegen wir uns durch das
im Verlauf vieler Jahrhunderte in großen Sammlungen zusammengeführte und
immer wieder veränderte technologische und mythologische Wissen, das – von
vielen Weltgegenden herkommend – in Europa angehäuft und gesammelt worden
war. Erst auf der Grundlage dieses Wissens, dieses über den Planeten geworfenen
Netzes, macht die Karte Welt. Amerika ist uns vertraut und heterotopisch zugleich:

3 Zu diesen Bilderwelten vgl. u. a. die zahlreichen Abbildungen in Rojas Mix, Miguel: América
imaginaria. Barcelona: Editorial Lumen – Quinto Centenario 1992.
4 Vgl. hierzu auch Cerezo Martínez, Ricardo: La Cartografía Náutica Española de los Siglos
XIV, XV y XVI. Madrid: Centro Superior de Investigaciones Científicas 1994, S. 82–83 sowie die
dazugehörigen Kommentare.
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bald schon bevölkert von den Bewohnern Indiens, den Indianern, aber auch von
Amazonen und Meerjungfrauen, welche die europäischen Männer mit ihren Rei-
zen locken. Amerika wird zu einer europäischen Anderwelt.
    Die Lektüre des auf diese Weise Gesammelten – und damit ist im etymologi-
schen Sinne eine Verdoppelung gemeint, insofern sich ‘Sammeln’ und ‘Lesen’
aus derselben Quelle speisen5 – erzeugt in Juan de la Cosas historischer Moment-
aufnahme eine fast schwindelerregende Tiefenschärfe, die nicht nur durch ihre
geographisch-historiographische Ausleuchtung, sondern mehr noch durch ihre
bewegungsgeschichtliche Dynamik beeindruckt. es wäre unnütz, Finden und Er-
finden bei ihm scharf voneinander trennen zu wollen: Beides ist im eigenen Erle-
ben verankert.
    Wie aber passen technologisches und mythologisches Wissen, geographi-
sche und literarische Kenntnisse, Navigations- und Glaubensvorstellungen
zusammen? Es wäre mithin gänzlich unbefriedigend und irreführend, wollte
man die beiden Traditionslinien abendländischen Wissens künstlich vonein-
ander trennen und die eine anachronistisch dem Bereich der Faktizität, die
andere jenem der Fiktionalität zuordnen. Bei Juan de la Cosa ist auf eine für
seine Zeit gänzlich selbstverständliche Weise das Vorgefundene mit dem Er-
fundenen verwoben, so dass man sehr wohl formulieren könnte, dass Ame-
rika im Grunde von Europa aus erfunden worden ist, bevor es von denselben
Europäern aufgefunden und in die eigenen Kartennetze eingetragen werden
konnte.6 Auf die faktenschaffende Wirkkraft des Erfundenen, der Mythen, Le-
genden und Glaubensüberzeugungen ebenso der Seefahrer wie der Theoreti-
ker, ebenso der Reisenden wie der Daheimgebliebenen, hat wie kaum ein
anderer schon früh Alexander von Humboldt als der erste Globalisierungs-
theoretiker im eigentlichen Sinne aufmerksam gemacht.7 Er begriff auf beein-
druckende Weise die Gemengelage von Wissen und Wissenschaft, die nicht
voneinander zu trennen waren, verstand die Mischung aus Gesehenem und
Erlesenem, das auch und gerade die frühneuzeitlichen Reiseberichte durch-
zog. Aber hat sich daran seit der Frühen Neuzeit wirklich etwas geändert?
Blenden wir nicht schon immer das Vorgewusste in unsere Betrachtungen mit

5 Vgl. hierzu Sánchez, Yvette: Coleccionismo y literatura. Madrid: Ediciones Cátedra 1999.
6 Vgl. hierzu das Standardwerk von O’Gorman, Edmundo: La invención de América. México:
Fondo de Cultura Económica 1958.
7 Vgl. Humboldt, Alexander von: Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geo-
graphischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im
15. und 16. Jahrhundert. Vgl. zu dieser Dimension des Humboldt‘schen Schaffens Ette, Ottmar:
Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des Wissens. Frankfurt am Main –
Leipzig: Insel Verlag 2009.
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ein und lenken diese vorgefassten Einstellungen nicht auch unseren Blick auf
die europäischen wie die außereuropäischen Gebiete?
     Wir werden uns im weiteren Verlauf der Vorlesung mit der für den Reisebe-
richt charakteristischen Mischung aus facts und fictions ausführlicher beschäftigen
und dabei den Reisebericht als eine friktionale Gattung bestimmen, in der sich Dik-
tion und Fiktion (im Sinne von Gérard Genette) miteinander vermengen. Denn es
wäre naiv, würden wir diese Gattung der Literatur allein dem Pol der Wahrhaftig-
keit, der Information und Dokumentation überantworten. Besonders deutlich
scheint mir all dies auf der Weltkarte des Juan de la Cosa am Beispiel nicht nur der
karibischen Inselwelt, sondern jenes Teiles der Amerikas zu werden, den wir heute
als Mexico bezeichnen. Denn noch vor seiner geographischen Auffindung und Er-
oberung ist Mexico – wie sich bei einer genaueren Lektüre der entsprechenden
Kartensegmente erschließt – bereits Teil eines weltweiten geschichtlichen Prozes-
ses de longue durée. Mexico ist noch vor seiner geographischen Auffindung Teil
einer Weltgeschichte oder Globalgeschichte aus europäischer Perspektive.
     Denn Mexico beziehungsweise das vizekönigliche Neuspanien existiert an
der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert noch nicht auf den Kartenwerken der Eu-
ropäer; und doch ist es auf diesen bereits global vernetzt und eingebunden. Jahr-
zehnte vor dem Erscheinen von Hernán Cortés im Hochtal von Anáhuac zeichnen
die Kartenwelten der Spanier ein erstes Bild dessen, was das künftige Mexico erst
noch werden wird: ein Teil jener gewaltigen und gewalttätigen Empresa de In-
dias,8 jener ersten Phase beschleunigter Globalisierung, die in den Capitulaciones
de Santa Fe zwischen den Katholischen Königen und Christoph Columbus sowie
im Vertrag von Tordesillas zwischen Spaniern und Portugiesen unmittelbar vor
und nach der ersten Landung der drei spanischen Schiffe an jenen Küsten, die
erst Amerigo Vespucci als Mundus Novus bezeichnen wird, die Verteilung von
Macht und Gewalt über die Erdoberfläche für lange Jahrhunderte festlegte.
     Es ist ein entscheidender Augenblick der europäischen Expansionsgeschichte:
einer mit Langzeitwirkung für die Macht- und Kräfteverhältnisse auf unserem Pla-
neten. Auch wir leben heute noch in einer Welt, die von diesen Entwicklungen
ganz wesentlich gesteuert ist und Asymmetrien kennt, die zum damaligen Zeit-
punkt entstanden. So ist die erste Sichtbarmachung Mexicos auf europäischen
Karten, von der wir wissen, die Visualisierung dessen, was es noch nicht gibt, das
aber in seinem Noch-Nicht-Sein oder Noch-Nicht-So-Sein längst zu existieren be-
gonnen und konkrete Gestalt angenommen hat. Die Erfindung geht der Findung
mithin voraus und bestimmt sie in weiten Zügen.

8 Zur Aktualität dieses Themas vgl. den Roman von Orsenna, Erik: L’Entreprise des Indes.
Roman. Paris: Stock – Fayard 2010.
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     Die einfache Scheidung zwischen Faktizität und Fiktionalität, gleichsam
zwischen Wahrheit und Lüge, scheint mir bei weitem zu schlicht zu sein, um
der Komplexität jener Wahrheit der Lügen – und der Lügen der Wahrheit – ge-
recht werden zu können, von der die jahrtausendealte Wissenszirkulation des-
sen, was wir heute als Literatur bezeichnen, im Spannungsfeld von Dichtung
und Wahrheit zu berichten weiß.9 Jenseits einer seit geraumer Zeit um sich
greifenden Verarmung des Vokabulars, die sich zunehmend auch über die
Grenzen des englischsprachigen Raumes hinaus der Unterscheidung zwischen
fiction und non-fiction bedient, scheint es mir aus heutiger Sicht entscheidend
zu sein, dass sich das vor Ort Vorgefundene und das Erfundene miteinander in
einem Erleben und Erlebten verbinden oder – mit anderen Worten – im Zusam-
menhang eines Erlebenswissens stehen, das auch die Rezeptionsvorgänge bei
der ‘Auffindung’ (oder ‘Entdeckung’) neuer Länder durch die Europäer prägt.
Denn es ist im selben Maße möglich, nicht nur das in Amerika ‘Gefundene’,
sondern auch das auf Amerika Projizierte und damit ‘Erfundene’ zu leben und
zu durchleben. Gelebte Findungen und Erfindungen also, wie die Literatur seit
ihren Anfängen weiß und welche die Kraft, die Stärke der Literatur ausmachen.
     Dies zeigt sich auch bei der Weltkarte, bei der wir dieses Phänomen zum ers-
ten Mal studieren können. Der kostbare Kartenentwurf von Juan de la Cosas
Mappamundi wird damit zum vielgestaltigen, Bild-Schrift und Schrift-Bild mitein-
ander transversal verbindenden Medium des Wissens, das die wechselseitigen
Verschränkungen von Vorgefundenem, Erfundenem und Erlebtem, welches der
Seefahrer, Steuermann und Kartograph festhielt, auf eindrucksvolle Weise sicht-
bar macht und uns vor Augen führt. Dabei bilden Finden, Erfinden und Erleben
zwar keine Dimensionen, die in diesem kartographischen Meisterwerk scharf
und eindeutig voneinander abgrenzbar wären, wohl aber einen wechselseitigen
Verweisungszusammenhang, der noch heute auf faszinierende Weise in seiner
Relationalität erlebbar und nacherlebbar ist. Würde sich Columbus je auf den
Weg gemacht haben, hätte er seine Lügen nicht intensiv gelebt?10 Wäre er zu
jenem Entdecker Amerikas geworden, dessen kontinentale Eigenständigkeit er
noch nicht einmal begriff? Wäre er zu seinen Entdeckungsfahrten abgesegelt,
hätte er den Umfang der Weltkugel wirklich berechnet und die Ausdehnung der
Weltmeere nicht erheblich unterschätzt?

9 Ich spiele hier selbstverständlich nicht nur auf Goethes berühmte Titelfindung an, sondern
auch auf Vargas Llosa, Mario: La verdad de las mentiras. Barcelona: Seix Barral 1990.
10 Bei Orsenna klingt dies in der letzten Frage seines Erzählers an den Genuesen ähnlich an:
„Hättest Du nicht gelogen und zuallererst Dich selbst belogen, würdest Du den Mut gehabt
haben, dich so weit gen Westen einzuschiffen?“ Orsenna, L’Entreprise des Indes, S. 372.
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     Dies sind gewiss rhetorische Fragen. Doch das ‘Unternehmen Indien’ ist
kein bloßes Gedankenspiel. Vergessen wir daher nicht: Juan de la Cosas Karte
ordnet die Welt nicht nur anders an, sie ordnet sie in Teilen auch bereits unter.
Sie eröffnet eine Perspektive, in der Europa zentral ist. Die Erfindung der Zent-
ralperspektive zwischen Bagdad und Florenz ist ein für die europäische Expan-
sion einschneidendes Ereignis von ungeheurer Signifikanz.11 Man könnte so
weit gehen zu behaupten, dass es eine von Europa aus globalisierte Welt ohne
die Zentralperspektive niemals gegeben hätte.
     In die Findung der karibischen Inselwelt wird die geostrategische Erfindung
dieses Raumes im globalen Maßstab teilweise kryptographisch, teilweise aber
auch mit aller wünschenswerten Deutlichkeit eingeschrieben. Die Weltkarte wird
so zu einer Anordnungsform des Wissens und der Macht, die in der transmedialen
Verschränkung von Bild und Schrift die grundlegenden Konfigurationen des Wis-
sens von der Welt – und der Beherrschung der Welt – am Übergang vom 15. zum
16. Jahrhundert machtvoll und globalisierend vor Augen führt. Juan de la Cosas
Karten- und Schriftbild der damals bekannten und zum Teil vermuteten Welt re-
flektiert nicht nur das Bild einer gegenwärtigen Welt, die sich ihrer Vergangenhei-
ten auf verschiedensten Ebenen bewusst ist: Es modelliert auch in einem
prospektiven Sinne ein künftiges Weltbild, das in der Tat das Antlitz unserer Erde
seit der frühen Neuzeit entscheidend prägen sollte. Europa steht im Zentrum die-
ses Weltbildes und befindet sich auf unseren genordeten Karten obenauf.
     In die komplexe Relationalität zwischen dem Aufgefundenen und Vorgefun-
denen, dem Erfundenen und Imaginierten sowie dem Erlebten und Gelebten
schreibt sich die Existenz des Noch-Nicht-Existierenden, die Präsenz des für die
Europäer noch unzugänglichen Mexico prospektiv ein. Es ist eine dunkle Fläche
am äußersten westlichen Rand des gewaltigen Kartenausschnitts, fast schon in
Reichweite jener durch Fähnchen markierten europäischen Besitzungen im kari-
bischen Raum, welche die Karte mit präzisen Umrissen stolz verzeichnet, eine
Terra incognita im Zeichen jenes Christophorus, der in deutlicher Anspielung auf
jenen Genuesen, der den Christusträger, die Taube und den Kolonisten gleicher-
maßen in seinem Namen führt, zur nicht nur kartographischen Legitimationsfigur
einer die Weltgeschichte fundamental verändernden Expansionsbewegung wird.
Christophorus und der Missionsgedanke: Sie werden zu einer die Karte beherrsch-
enden Botschaft und legitimieren die europäische Herrschaft über die Welt.
     Sehen wir uns die Karte genauer an, wo sie die Landmasse Mexicos angibt, dann
machen wir eine erstaunliche Entdeckung. Wir haben es mit einer Visualisierung,

11 Vgl. hierzu Belting, Hans: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blilcks. Mün-
chen: Beck 2008.
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einer Sichtbarmachung Neuspaniens beziehungsweise Mexicos noch vor dessen ‘Ent-
deckung’ und Findung, nicht aber – auch im Sinne Ernst Blochs –12 vor dessen ei-
gentlicher Erfindung zu tun. Und verbirgt auf Juan de la Cosas Weltkarte die
Christophorusfigur mit dem Christuskind nicht auch noch das mögliche Versprechen
einer Meerenge, einer Teilung der sich abzeichnenden Landmassen, die den Europä-
ern die Durchfahrt zu jenem anderen Meer gestatten könnte, das sich im äußersten
Osten des Mappamundi ausbreitet? Zu jenem Meer, von dem den Europäern erstmals
Marco Polo ausführlich berichtete, jenem Meer, aus dem sich die Umrisse des sagen-
umwobenen Cipango erheben, das Columbus so sehr in seinen Bann schlug?
     Auf welch fundamentale Weise dieses Wissen mit der Macht verbunden ist,
braucht gewiss nicht eigens ausgeführt zu werden: Zu deutlich sind die Flaggen
europäischer Mächte etwa auf die Inseln der Antillen aufgepflanzt. Rasch fan-
den die Europäer juristische Lösungen dafür, sich einfach das Land nehmen zu
können, das sie begehrten und ‘entdeckt’ hatten. Die in die Weltkarte des piloto
mayor eingetragenen Zeichen, Flaggen und Insignien geostrategischen Kalküls
machen es überdeutlich: Die Karibik wurde für die Spanier sehr rasch zum mili-
tärischen Ausgangspunkt ihrer erfolgreichen Eroberungszüge in den Norden, in
die Mitte und in den Süden dessen, was man erst Jahrzehnte später – auf einer
Weltkarte Mercators13 aus dem Jahre 1538 – als den amerikanischen Doppelkon-
tinent begreifen sollte. Die Inseln der Karibik: sie waren gleichsam die Flug-
zeugträger der spanischen Truppen.
     Die amerikanische Hemisphäre entstand folglich aus ihrer asymmetrischen
Beziehung zu Europa. Die Vektorizität dieser Karte des Juan de la Cosa beleuch-
tet aus zeitgenössischer Perspektive die Asymmetrie dieses Machtgefüges mit
scharfem, fixierendem Licht. Und zugleich macht sie deutlich: Wenn es eine
Area auf unserem Planeten gibt, die in höchst verdichteter Form keine eigent-
liche Raumgeschichte, sondern eine Bewegungsgeschichte repräsentiert, dann
ist es die sich hier erstmals abzeichnende Welt des transozeanisch wie binnen-
amerikanisch verknüpften Archipels der Karibik. Nichts in dieser Geschichte
war statisch, nichts allein raumgeschichtlich bestimmt: Die Geschichte der Ka-
ribik ist eine Bewegungsgeschichte.
     Diese Bewegungsgeschichte ist freilich nur vorstellbar, wenn wir sie mit dem
globalisierenden Bewegungsmittel par excellence aus dieser Zeit verbinden: den
kleinen Schiffchen der Eroberer, den Karavellen. So entsteht auf dieser Bewegungs-

12 Vgl. hierzu Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. 2 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973,
S. 874.
13 Vgl. hierzu Zweig, Stefan: Amerigo. Die Geschichte eines historischen Irrtums. In (ders.):
Zeiten und Schicksale. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1902–1942. Frankfurt am Main:
S. Fischer Verlag 1990, S. 423.
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Karte ein Bild der Erde, innerhalb dessen den Inseln und Archipelen eine wichtige,
weltweite transareale Verbindungsfunktionen übernehmende Bedeutung zukommt.
Mit ihren Umrissen zeichnen sie nicht nur die militärischen Insel-Strategien einer
iberischen Eroberung der Welt nach, sondern verwandeln die gesamte Welt in eine
Inselwelt, die über die Meere miteinander verbunden ist und eine sich abzeich-
nende Relationalität aufweist, welche von Europa, von der Iberischen Halbinsel
aus, transkontinental gebündelt wird. Europa zieht die Fäden und erzählt die Be-
wegungen, an welchen sich die Geschichten dieses Raumes ausrichten.
     Auf keiner anderen Karte wird die Dynamik des europäischen Expansions-
prozesses, wird die Geschwindigkeit und historisch-mythologische Tiefen-
schärfe der ersten Phase beschleunigter Globalisierung mit solcher Kraft, ja mit
solcher Gewalt vor Augen geführt wie auf diesem anspruchsvollen, sich aus un-
terschiedlichsten Teilen zusammensetzenden Weltentwurf nicht einer Raum-,
sondern einer Bewegungs-Geschichte der iberischen Expansion. Sie dokumen-
tiert und imaginiert die Macht einer Expansion, die alles in den von ihr ausgel-
östen Wirbel zu ziehen suchte. All ihre Geschichten werden durchpulst von
einer Vektorizität, die transarealen Zuschnitt besitzt und zunächst den Atlantik,
später aber auch zunehmend den Indischen Ozean und den Pazifik in das euro-
päisch zentrierte Machtgefüge integrierte.
     Die angesichts des Verlaufs der Conquista unbestreitbare militärische Über-
macht der spanischen Eroberer gründete sich nicht allein auf ihren gleichsam
wissenschaftlich (oder protowissenschaftlich) verankerten Umgang mit dem Vor-
gefundenen, sondern auch auf ihre Projektionen und die Formen des Gelebten
und Erlebten, die dem Eroberten sogleich einen Platz im eigenen Wissen und Erle-
ben – gleichsam in den Koordinaten vorab existierender Gittersysteme – zuwiesen.
Von der Karibik aus – jener Weltregion, an deren Rändern Christoph Columbus
den Ort des irdischen Paradieses vermutete, den er dann vor der Mündung des Ori-
noco eindeutig lokalisiert zu haben glaubte – erfolgte die bewegungsgeschichtli-
che Übersetzung der spanischen beziehungsweise europäischen Entdeckungs-
und Eroberungsgeschichte. In ihrem Verlauf ging es nicht zuletzt darum, die Ord-
nungen, Anordnungen und Unterordnungen, aber auch die Verschränkungen
ihres Wissens wenn nicht durchzusetzen, so doch weltweit beherrschend zu positi-
onieren. wie selbstverständlich bemächtigte sich Europa der atlantischen Welt und
stieg zu einem Kontinent auf, der die anderen Weltteile beherrschte.
     In diesem Sinne kann man vom Gitternetz in der Tat als von einem modus
vivendi sprechen: Es perspektiviert das bereits Erlebte wie das noch zu Erle-
bende auf eine zugleich verortende und an ein Zentrum des Sinns rückgebun-
dene Weise. Es konfiguriert dergestalt ein Lebenswissen, das in der Verortung
der je eingenommenen eigenen Position ein (nautisches, technologisches, ideo-
logisches oder religiöses) Überlebenswissen, zugleich aber auch ein
68        Juan de la Cosas Weltkarte: Finden – Erfinden – Erleben

Erlebenswissen programmiert, das alles neu Erlebte räumlich anordnet, zuord-
net und einem zentrierenden, globalisierenden Sinnmittelpunkt – sei er weltli-
cher oder transzendenter Natur – unterordnet. Ohne diese Sinngebung ist der
europäische Reisebericht in außereuropäische Gebiete nicht zu verstehen.
     Juan de la Cosas Weltkarte ist dabei – dies mag auf den ersten Blick überra-
schen – von einer doppelten Zentrierung geprägt. Denn zum einen rückt er ganz
selbstverständlich in west-östlicher Beziehung jenes Iberien und damit jenes Eu-
ropa in den Mittelpunkt, von dem aus die Gebiete im Osten (Indias Orientales) wie
im Westen (Indias Occidentales), aber auch das von den Portugiesen längst umrun-
dete und mit Befestigungen aller Art versehene Afrika in einen in Entstehung be-
griffenen weltweiten Kolonisierungs- und Handelsverkehr unter europäischer
Führung einbezogen werden konnten. Europa definierte sich im Zentrum der Welt.
     Die wohl im südspanischen Puerto de Santa María angefertigte Karte des
Jahres 1500 zeigt, wie sehr hier ein geographisch kleiner, aber hochdynami-
scher Teil der Erde als Machtzentrum der Globalisierung jenen um ein Vielfa-
ches größeren Teilen des Planeten gegenübertritt: Weite Gebiete der Erdkugel
werden von den Globalisierern in erstaunlich kurzer Zeit in Objekte ihrer
Machtausdehnung verwandelt. In der genordeten Kartographie liegt Europa
selbstverständlich ‘oben’, thront räumlich ‘über’ den von ihm ins Fadenkreuz
genommenen Gebieten: Die kleine, stark untergliederte westliche Erweiterung
Asiens zeichnet sich durch ihre im mehrfachen Sinne überlegene Position aus.
     Das Wissen wird fast unmittelbar in Macht umgemünzt. Ein an den Interes-
sen Europas ausgerichtetes Wissen von der Welt beginnt sich immer stärker in
den rasch wachsenden europäischen Machtzentren zu bündeln. Wie schnell
sich dieses Wissen erfassen und in die Gitternetze eintragen lässt, zeigt Juan de
la Cosas Meisterwerk, wurde es doch kaum sieben Jahre nach der Rückkehr des
Columbus aus der ‘Neuen Welt’ abgeschlossen. So ist es eine frühe Momentauf-
nahme – und zugleich sehr viel mehr.
     Doch dieser ersten ist noch eine zweite Form der (ebenfalls nicht allein) kar-
tographischen Zentrierung beigegeben. Denn es dürfte schwerfallen, die Bedeu-
tung jener bereits mit Blick auf die Künste wie die Kartographie erwähnten
Tatsache zu überschätzen, dass die Weltkarte des Juan de la Cosa eine Entwick-
lung und mentalitätsgeschichtliche Konstellation repräsentiert, die – zugleich
auf arabischen und europäischen Impulsen fußend – im Florenz des 15. Jahrhun-
derts die Einführung der Zentralperspektive in Malerei und Kunst, in Architektur
und Städtebau auf so folgenreiche Weise vorantrieb. Im kreativen Schnittpunkt
all dieser Entwicklungen: Portugal, Spanien und die großen Städte Italiens.
     Kehren wir nochmals zur Erfindung der Zentralperspektive zurück und versu-
chen wir zu verstehen, auf welche Weise sie in die Kartographie der Zeit übersetzt
werden konnte. Mit guten Gründen darf man wohl behaupten, dass neben die
Juan de la Cosas Weltkarte: Finden – Erfinden – Erleben       69

Erfindung der kunstgeschichtlich so epochemachenden Zentralperspektive insbe-
sondere durch Brunelleschi und Alberti14 eine nicht weniger kunstvolle (und eben-
falls arabische Einflüsse weiterführende) Erfindung trat: die Zentrierung der Welt
entlang und mit Hilfe der Äquatoriallinie, flankiert von den Wendekreisen des
Krebses und des Steinbocks. Sie begleitet uns auf ebenso ‘natürliche’ Weise wie
die Nordung unserer Karten und eröffnet jenen vektorisierten Raum der Tropen,
deren Begrifflichkeit sie stets als Bewegungs-Raum weltumspannenden Ausmaßes
ausweist. So ist die Welt zentriert von einem transtropischen Bewegungsraum, der
unseren gesamten Planeten umspannt. Die Tropen bilden so auf dieser Weltkarte
Mittelpunkt und Übergangsraum, Zentrum des Erdballs (oder Erdapfels wie bei
Martin Behaim) und Schwelle zum Anderen einer den Europäern vertrauten Welt
zugleich: eine Kippfigur, die in der abendländischen Bildtradition immer wieder
neu gestaltet und ebenso künstlerisch wie kartographisch ausgemalt wurde.
     Auf diese Weise entstand das für uns noch immer gegenwärtige und alle an-
deren Projektionen beherrschende abendländische Bild von unserer Erde, ein
Welt-Bild, das mit seiner Verknüpfung von Wissen und Macht, aber auch von
Vorgefundenem, Erfundenem und schon Erlebtem oder noch zu Erlebenden die
bewegungsgeschichtliche Epistemologie jedweder (europäisch geprägten) Globa-
lisierung bildet, kurz: die Grundlagen unseres Verstehens und Denkens. Daran
hat sich bis heute wenig geändert. Was weltweit ist und wie weltweit gedacht wer-
den kann, so ließe sich sagen, wird bis heute in einer von Europa kulturell mar-
kierten Welt noch immer von jenen Grundlagen des Denkens, Verstehens und
Erlebens geregelt, die als Epistemologie in der doppelten Zentrierung jener Welt-
karte des Jahres 1500 auf so beeindruckende Weise sichtbar gemacht wurden.
Wir haben es mit der Visualisierung einer transarealen Epistemologie zu tun,
welche die Totalität der Welt nur aus der Zentrierung denken kann.
     An dieser Stelle ließe sich erstmals eine Vermutung wagen. Wenn Auer-
bach zurecht eine doppelte Tradition in der abendländischen Literatur sieht,
wie und auf welche Weise Totalität dargestellt und hergestellt werden kann,
und wenn diese Zweiteilung sich auch in der Geschichte der Kartographie im
Sinne einer Privilegierung des Kontinentalen oder des Insularen, des Konti-
nuierlichen oder des vielfach Gebrochenen zeigt, dann wäre es vielleicht
durchaus möglich, diesem doppelten Traditionsstrang vielleicht noch einen
dritten hinzuzufügen. Ich meine damit den itinerarischen Traditionsstrang,
folglich das Itinerarium als ein Grundmuster der Reisebewegung. wie können
wir dies theoretisch genauer fassen?

14 Vgl. hierzu aus kunstgeschichtlichem Blickwinkel Belting, Florenz und Bagdad. Eine west-
östliche Geschichte des Blicks, S. 180–228.
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