Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid - ALENA SCHRÖDER - Ullstein

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ALENA SCHRÖDER

   Junge Frau,
am Fenster stehend,
   Abendlicht,
   blaues Kleid

       Roman

        _
       Ullstein
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 unsere Autorinnen und Autoren und ihre Bücher
          finden Sie unter www.dtv.de

                 Originalausgabe 2021
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
                 © 2021 Alena Schröder
          Satz: Fotosatz Amann, Memmingen
      nach einer Vorlage von LVD GmbH, Berlin
     Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
    Printed in Germany · ISBN 978-3-423-28273-4
2.

                                    Warnemünde 1922

Ein Septembernachmittag von brutaler Schönheit, der
Himmel blau, das Meer ölig wogend und die Möwen ein
höhnischer Chor.
   »Ablandiger Wind«, dachte Senta. »Geschieht mir
recht.«
   Gerade hatte sie sich zum zweiten Mal in eine kleine
Sandkuhle im Schatten ihres Strandkorbes erbrochen, und
solange der Wind nicht drehte, würde ihr bis auf Weiteres
statt salzig-algiger Meeresluft der säuerliche Geruch ihres
Elends in die Nase steigen.
   Ulrich hatte es natürlich einfach nur gut mit ihr gemeint,
als er für sie an der Strandpromenade von Warnemünde
eines dieser grauenhaften Korbmöbel gemietet hatte, in
denen kein Mensch bequem sitzen konnte. Sie hatte matt
protestiert, aber er hatte das auf seine ritterliche Art abge-
tan, so als habe sie nicht etwa einen Wunsch geäußert,
sondern nur bescheiden sein großzügiges Angebot ableh-
nen wollen. Eine Dame, dazu eine schwangere, noch dazu
seine Verlobte, hatte nicht auf dem Boden zu sitzen oder
gar zu liegen, sondern sich aufrecht zu halten, das bauch-
kaschierende Spätsommerkleid ordentlich um sich zu dra-
pieren und die gute Seeluft zu genießen. Im Strandkorb. So

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ein guter Mann war er nämlich, umsichtig und edelmütig.
Ein ganz großer Fang.
   Was für ein Glück sie hatte, dachte Senta matt.
   Und wie unglücklich sie war.
   Einfach liegen, das wäre das Schönste. Weit weg vom
Strandkorb und viel näher am Wasser, ohne Decke, flach
auf dem Bauch. Ein Ohr in den Wind und eins auf den
warmen Sand gedrückt, dem Rieseln der Körner lauschen,
die Zehen eingraben bis zu dem Punkt, an dem die Sonne
den Sand nicht mehr wärmte. So wie früher mit Lotte. Als
es noch keinen Tag und erst recht keinen Strandausflug
ohne ihre beste Freundin gegeben hatte. Als ihre Leben und
ihre Gedanken noch so verwoben waren, dass sie sich kei-
nen Tag ohne einander vorstellen konnten. In der unbefes-
tigten Straße ihrer Kindheit am Rand von Rostock, nicht
weit von den Werften, da, wo die Klinkermietskasernen
aufhörten und die geduckten Vorstadthäuser anfingen,
waren sie die beiden Kinder ohne Väter gewesen, Sentas
Vater war an der Grippe gestorben, Lottes beim Fischen
ertrunken. Und sie waren die beiden einzigen Mädchen mit
schwarzen Haaren gewesen, die beiden »Schwatten« in
einer Kindermeute aus nordisch-blonden Wollköpfen.
   »Das war doch derselbe Zigeuner bei euch!«, hatte der
alte Strihlow ihnen einmal hinterhergebrüllt, als er sie
dabei erwischt hatte, wie sie in seinem Garten Johannis-
beeren klauten. Und mehr noch als Wut oder Scham emp-
fanden sie nach diesem Ausbruch eine kribbelnde Freude
bei der Vorstellung, der alte Strihlow könnte recht haben
und sie wären tatsächlich Schwestern.
   Und nun hatte Lotte am Morgen den Zug nach Berlin
genommen. Allein. Hatte eine kleine Reisetasche, ihren
Schreibmaschinenkoffer und ihr Erspartes dabei und im

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Kopf die Adresse einer älteren Dame, die irgendwo in der
Nähe des Halleschen Tors ein Zimmer vermietete.
   Als Erstes würde sie sich die Haare kurz schneiden las-
sen, hatte sie Senta zum Abschied gesagt. Und versprochen,
ganz oft zu schreiben. Und spätestens zur Hochzeit in ein
paar Wochen würde sie wieder da sein, falls sie bis dahin
genug Geld für die Zugfahrkarte verdient hatte.
   Senta war nicht mit zum Bahnhof gekommen, zu elend
fühlte sie sich und zu furchtbar war ihr die Vorstellung,
Lotte in dem Zug davonfahren zu sehen, in dem sie eigent-
lich mit ihr zusammen hatte sitzen wollen. Stattdessen
hatte Ulrich sie in seinem offenen Adler mit nach Warne-
münde genommen, wo er sich mit einem alten Jagdflieger-
Kameraden am Strand treffen wollte. Die Fahrt und die
frische Luft würden ihr guttun, hatte er gesagt, und vor
allem seinem Sohn. Denn dass das Kind in Sentas Bauch
ein Sohn werden würde, daran bestand für ihn kein Zwei-
fel. Einer wie er, ein Fliegerass und Kriegsheld, Träger des
Eisernen Kreuzes und Mitglied im Orden Pour le Mérite,
ein Patriot und Abkomme eines stolzen preußischen Jun-
kergeschlechts, einer wie er zeugte Söhne. Und dass Senta
nun schon seit Wochen speiübel war, sei ein eindeutiges
Zeichen dafür, dass in ihrem achtzehnjährigen Körper ein
kräftiger Knabe heranwachse. So hatte seine Schwester es
ihm erklärt, und die musste es wissen.
   Schon die Fahrt über die holprige Straße in Richtung
Küste war für Senta eine Tortur gewesen. Das Geschaukel
und der eigentümliche Benzingeruch, den sie immer so ge-
liebt hatte, verschlimmerten jetzt ihre Übelkeit, sie mussten
zweimal anhalten, damit sich ihr Magen beruhigen konnte.
Ulrich, der sonst so sicher fuhr, schien nervös und aufge-
kratzt und krachte die Gänge ins Getriebe, als wolle er den

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Motor für die angespannte Stimmung bestrafen, die zwi-
schen ihnen herrschte. Dabei waren diese Autofahrten vor
Kurzem noch ihr größtes gemeinsames Vergnügen gewe-
sen. Senta hatte die Geschwindigkeit genossen, den Fahrt-
wind, die lang ausgefahrenen Kurven, den Blick auf den
blonden, selbstsicheren Mann an ihrer Seite. »Hättest mich
mal fliegen sehen sollen, Kleene!«, hatte er zu ihr gesagt,
wenn er ihren Blick bemerkte.
   Und das hatte ihr gefallen.
   Kleene.
   Wo sie doch noch nie klein gewesen war, sondern immer
die Große. Die älteste von fünf Schwestern, immer einen
Kopf größer als ihre Schulkameraden, das »lange Elend«
mit den hohen Wangenknochen, die »schwatte Köhler«.
   Nichts an Senta war klein und puppig oder besonders
mädchenhaft und sie hatte sich angewöhnt, sich immer ein
bisschen krumm zu machen, die Schultern hängen zu lassen
und den Kopf einzuziehen, damit es nicht so auffiel. »Halt
dich gerade!« war ein Satz, den ihre Mutter ihr täglich zum
Abschied hinterherrief. Manchmal gelang es ihr auch.
Dann, wenn sie sich das Leben ausmalte, das sie einmal
führen wollte. Wenn sie mit der Schule fertig sein und mit
Lotte nach Berlin gehen würde. Um Geld zu verdienen,
nicht mehr heimlich hinterm Hühnerstall rauchen zu müs-
sen, damit ihre jüngeren Schwestern sie nicht dabei sahen.
Nein, in der großen Stadt würden sie mit ausladender Ges-
tik rauchen, und jeder sollte es sehen. Sie stellte sich vor,
wie Lotte und sie mit kurzen schwarzen Haaren und einem
dieser Hosenanzüge, die sie in der Zeitung gesehen hatte,
in Cafés und Salons sitzen würden. Sie würden Shimmy
tanzen lernen und all die Dinge tun, über die man in
Rostock die Nase rümpfte. In Berlin wären sie nicht mehr

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»die Schwatten«, sondern zwei junge Frauen mit geheimnis-
voll düsterer Aura, sie würden sich über Kunst und Politik
unterhalten und an sonnigen Tagen auf dem Kurfürsten-
damm flanieren oder ein Pferderennen besuchen. Eine
Weile würden sie als Bürofräulein arbeiten, ihre Mütter
hatten lange gespart, um ihnen je eine Schreibmaschine zu
kaufen, auf denen sie sich selbst das Tippen beigebracht
hatten. Aber irgendwann würden sie Schriftstellerinnen
sein. Oder Schauspielerinnen. Oder beides. Und während
sich Senta in ihr zukünftiges Ich träumte, streckte sich ihr
Körper, hob sich ihr Kinn und manchmal nahm sie, ohne
es zu merken, einen Zug aus einer imaginären Zigarette,
den Arm genau im richtigen Winkel, die Finger leicht ge-
spreizt, den Blick theatralisch in die Ferne gerichtet. Wie
auf einer Fotografie.
   Ungefähr so musste es gewesen sein, als Ulrich Senta das
erste Mal sah, in einem Moment der Selbstvergessenheit
nach zwei oder drei Eierlikör, auf der Silvesterfeier im Ma-
rinefestsaal. Zwei Schulkameraden mit familiären Verbin-
dungen zur Marine hatten Senta und Lotte mitgenommen,
und ihre Mütter hatten nur schwach protestiert, mehr aus
Prinzip als aus Überzeugung, denn es war ja nun Silvester
und warum sollten sich zwei Mädchen nicht amüsieren,
zumal in guter Gesellschaft. Sie hatten sich rausgeputzt,
sich gegenseitig die Haare hochgesteckt und zu viel Rouge
aufgetragen, hatten ihre beiden Begleiter schnell abgeschüt-
telt, die sich ohnehin lieber betrinken wollten, und lausch-
ten nun der Kapelle, die Schlager spielte und von der es
hieß, sie spiele auch Jazz, später vielleicht.
   Eine ganze Weile schon hatten sie die dürftigen Balzver-
suche eines betrunkenen Jungen in Matrosenuniform igno-
riert, als Ulrich auf sie zumarschierte, auf diese etwas ge-

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stelzte, soldatische Männerart, Brust breit, Kinn oben, und
fragte, »ob die Damen belästigt« würden. Er wartete die
Antwort gar nicht ab, sondern schob den Kerl einfach bei-
seite, der Lotte und Senta mit erfundenen Abenteuer-
geschichten aus dem Krieg gelangweilt hatte, für den er
noch viel zu jung war. Ulrich dagegen, das war schnell klar,
kannte den Krieg. Und nicht nur das. Er war einer seiner
Helden, einer von denen, deren Dienst am Vaterland heller
strahlte, als die Niederlage schmerzen konnte. Schnell
schob sich die Gruppe aus jungen Männern und Frauen,
die sich schon zuvor um ihn geschart hatte, hinter ihm her
durch den Raum, nahm Senta und Lotte mit auf in ihren
Kreis und forderte Ulrich lautstark auf, doch bitte noch
mal zu erzählen, wie es denn nun gewesen sei, damals bei
der Fliegertruppe, beim Richthofen-Geschwader, bei den
großen Luftkämpfen über Flandern. Nur einmal winkte er
kurz bescheiden ab, er wolle »die Damen nicht langwei-
len«, heiteres Gelächter, zu komisch, wen könnte es lang-
weilen, wenn ein Fliegerheld, ein Kampfgefährte des »roten
Teufels« Richthofen, von seinen Luftsiegen berichtete, von
seinen mehr als dreißig Abschüssen und wie er noch als
einer der Letzten aus der Hand des Kaisers den »Pulämme-
ritt« bekommen habe.
   Und so erzählte Ulrich vom Fliegen, vom eisigen Wind
im Gesicht, vom Trudeln und Abfangen der Maschine, von
der Anspannung, wenn im Luftkampf das knarzende Rat-
tern des gegnerischen MG-Feuers hinter einem erklang, und
von der Euphorie des Abschusses, wenn man den elenden
Engländer oder Franzosen endlich vor der Flinte hatte, eine
Hand am Steuerknüppel, die andere am Maschinengewehr
seiner Fokker, das Dröhnen des Motors, wenn die gegneri-
sche Maschine abschmierte, Feuer fing, unter ihm im Nichts

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verschwand, die Erleichterung, wenn er als Staffelführer
alle seine Männer wieder heil auf den Boden gebracht hatte.
»Ein Hoch auf unsere tapferen deutschen Soldaten«, rief
einer der Zuhörer, und alle erhoben ihr Glas.
   Lotte rollte ein paarmal dezent mit den Augen und ver-
suchte Senta wegzuziehen, sie hatte keine Lust auf Solda-
tengeschichten. Doch Senta ignorierte sie, hatte sich
berauscht am Likör und an Ulrichs kitschigen Flieger-
geschichten vom Sonnenuntergang über den Wolken und
den Sternen und den Lichtern der Städte beim nächtlichen
Überflug, und dann tanzten sie und Senta genoss die Blicke
der anderen Mädchen. Wieso die? Wieso durfte gerade die
mit dem Fliegerhelden tanzen? Senta hatte sich gerade ge-
macht, wie ihre Mutter es ihr eingetrichtert hatte, hatte die
Schultern nach hinten gedrückt und den Kopf gehoben,
während sie sich von Ulrich etwas steif übers Parkett schie-
ben ließ.
   Erst als kurz vor Mitternacht alle vor die Tür gingen,
um das Feuerwerk anzuschauen, bemerkte Senta, dass
Lotte verschwunden war. Und im Rückblick schämte sie
sich, wie egal ihr das gewesen war. Sie stand schließlich
neben dem begehrtesten Mann des Abends, sie, die
»schwatte Köhler«, und er legte den Arm um sie und be-
grüßte mit ihr das Jahr 1922 und bot dann an, sie im Auto
nach Hause zu fahren.
   »Können wir doch öfter machen, Kleene«, sagte er zum
Abschied, und sie sagte »Gern«, und so war es dann ge-
kommen.
   Ulrich holte sie dann häufiger mit seinem Adler ab, grün,
mit roten Ledersitzen, todschick und immer auf Hochglanz
poliert, er war nach dem Krieg bei einem Rostocker Au-
tohändler mit eingestiegen, denn klar, als Flieger kam nur

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die Marke Adler infrage und als Kaufmann musste man
sich identifizieren mit seiner Ware.
   Sie unternahmen lange Autofahrten ans Meer und küss-
ten sich in den Dünen, und Senta vergaß Berlin und Lotte
und ihren Plan und fand Gefallen an der Vorstellung, für
jemanden wie Ulrich die »Kleene« zu sein. Zuerst fragte
Lotte noch nach, wenn sie sich trafen, wie es denn so laufe
mit dem »Fliegerhelden«, aber Senta missfiel ihr spötti-
scher Unterton und sie warf Lotte vor, sie sei ja nur nei-
disch, und danach ging Lotte ihr aus dem Weg. Das war
ihr ganz recht, Senta hatte keine Lust auf Erklärungen und
ein schlechtes Gewissen, sie wollte es genießen, wie alle
große Augen machten, jedes Mal, wenn Ulrich mit seinem
Auto vor ihrem Haus hielt und die Nachbarsfrauen die
Köpfe zusammensteckten und sich bestimmt fragten, was
der Herr Fliegerleutnant denn wohl an dem langen dürren
Elend fand.
   Und sie machten wieder einen Ausflug ans Meer, an
einem der ersten wirklich warmen Frühlingstage, und sie
fragte ihn, warum er sich ausgerechnet für die Fliegerei
gemeldet habe, damals im Krieg. Da veränderte sich Ul-
richs Blick, er räusperte sich ein paarmal, so als klammer-
ten sich die Worte in seiner Brust fest und wollten nicht ins
Freie. Aber dann erzählte er doch, von seinen ersten Mo-
naten an der Front. Wie sie ihn erst nicht gewollt hatten
beim Heer, weil er mit sechzehn eigentlich noch zu jung
war, um fürs Vaterland zu kämpfen. Wie sein Vater inter-
veniert hatte an oberster Stelle, damit sie ihn doch nahmen.
Wie er als Feldartillerist im Schlamm gelegen hatte,
durchnässt und die Füße offen und entzündet vom Mar-
schieren. Wie überall die Ratten an den Toten genagt hat-
ten, die unbegraben im Feld lagen, und wie er nachts beim

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Wacheschieben einmal einen verwilderten Hund beobach-
tet hatte, der einen Arm im Maul trug, da steckte noch ein
Siegelring am Finger. Und wie er so bei sich dachte, hof-
fentlich verschluckt der sich nicht an dem Ring, der arme
Hund. Und wie um ihn herum die jungen Männer im
MG-Feuer nach ihren Müttern schrien und ungläubig auf
ihre aufgeplatzten Bäuche schauten und ihre Gedärme fest-
hielten und wie er nichts anderes wollte als endlich weg aus
dem ganzen Dreck und der Nässe und dem Gemetzel, am
besten nach oben, in die Luft, so weit weg von dem ganzen
schlammigen, blutigen, stinkenden Chaos wie nur möglich.
   Und dann bot sich die Gelegenheit: Ein wohlmeinender
Offizier, der seinen Vater kannte, empfahl ihn zur Flieger-
truppe, und so sei er schließlich zum hochdekorierten Flie-
gerhelden geworden, dabei fühle er sich wie ein Feigling.
   »Die, die unten im Dreck verrecken, das sind Helden,
Kleene. Ich flieg da einfach drüber, und wenn es mich er-
wischt hätte, dann wär es schnell vorbei gewesen, und sie
hätten mich mit militärischen Ehren begraben und nicht
einfach nur irgendwo verscharrt.« Und dann war ihm die
Stimme gebrochen, und er hatte ein Schluchzen durch die
Kehle gewürgt, und Senta hatte sich ihm in die Arme ge-
worfen und ihn festgehalten. Oh, wie sie sich im Nach-
hinein verachtete für diesen Impuls, für die klebrige, fal-
sche Rührung, die sie ergriffen hatte, weil dieser scheinbar
so starke Mann sich ihr geöffnet und Männertränen an
ihrem Hals geweint hatte, von ihr getröstet werden wollte
und schließlich seine Hände mit Bestimmtheit unter ihr
Sommerkleid schob. Sie waren in den Dünensand gefallen,
hatten umständlich an ihrer Kleidung herumgezogen, alles
wurde warm und weich und dann eng, heiß und drängend,
Senta fixierte die Halme des Strandhafers über sich, um

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nicht in Ulrichs verheultes, angestrengtes Gesicht schauen
zu müssen, und fragte sich, ob es das nun also sei, diese
Sache, um die alle so ein Aufhebens machten und die sich
wenig überwältigend anfühlte, dafür, dass sie so ungeheu-
erlich und verboten war.
   Als sie an diesem Abend die Haustür öffnete, bekam
Senta von ihrer Mutter die allererste Ohrfeige ihres Lebens.
Die schepperte so, dass kleine Ostseesandkörner aus ihrem
zerzausten Haarknoten auf den Dielenboden rieselten, und
Senta fragte sich, warum ihre Mutter ihr Gesicht lesen
konnte wie ein schriftliches Geständnis.
   Als Sentas Regel nicht kam und ihr langsam schwante,
was das bedeutete, heulte sie zusammen mit Lotte hinterm
Komposthaufen. Dumm, dumm, dumm war sie gewesen,
und jetzt war es zu spät. Lotte hatte von Tränken gehört,
die man sich brauen konnte, damit das Kind wegging,
Rizinusöl, Scheuerpulver und Minze, aber in der richtigen
Mischung, das war wichtig, sonst vergiftete man sich. Sie
wusste auch von einer Engelmacherin, aber die verlangte
viel Geld und am Ende verblutete man noch. Das war es
nicht wert. Sie würde es Ulrich sagen müssen und wer weiß,
vielleicht heiratete er sie ja. Nur aus Berlin, da würde eben
nichts draus. Nach Berlin würde Lotte dann wohl allein
gehen.
   Als Senta Ulrich sagte, dass sie schwanger sei, drehte er
sich wortlos um und ging. Er ließ sie stehen, mitten auf
dem Doberaner Platz, über den sie zusammen spaziert
waren, und das hatte sie nicht weiter überrascht. Sie würde
eben doch nicht seine »Kleene« sein, und obwohl ein grö-
ßeres Maß an Verzweiflung angemessen gewesen wäre,
empfand sie nicht viel. Sie fühlte auch keine Erleichterung,
als drei Tage später der grüne Adler mit den roten Leder-

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sitzen vor ihrer Tür hielt und Ulrich ausstieg, ganz seriös,
im Anzug, um Sentas Mutter seine Aufwartung zu machen
und um Sentas Hand zu bitten.
   »Na, wenn meine Tochter das will,« sagte Sentas Mut-
ter. Ulrich antwortete: »Sie will!«, und Senta nickte stumm.
Natürlich wollte sie, sie hatte ja kaum eine Wahl, jetzt, mit
dem Kind in ihrem Bauch, von dem sie ihrer Mutter gar
nicht hatte zu erzählen brauchen. Die hatte den Braten
ohnehin gerochen und es unbewegt hingenommen. Sie
hatte fünf Töchter allein großgezogen, mit ihrer schmalen
Witwenrente, diversen Aushilfsarbeiten, und hatte mit
einem Talent für Börsenspekulation noch alle einigermaßen
satt durch die Jahre der Inflation bekommen, da käme es
zur Not auf ein vaterloses Kind mehr oder weniger auch
nicht an.
   »Mein armes, dummes Mädchen«, nannte sie Senta
abends beim Gute-Nacht-Sagen und streichelte dabei ihre
Wange. »Biste denn wenigstens richtig verliebt?«
   Aber das wusste Senta schon nicht mehr so genau. Sie
war verliebt in Ulrichs Blick auf sie. Dass er sie gesehen
hatte, so wie ein Teil von ihr sein wollte und sie doch
eigentlich gar nicht war. Dass er in ihr kurz das Gefühl
geweckt hatte, sie könne sich entscheiden zwischen zwei
Leben. Einem mit Lotte in Berlin, frei und nur für sich
selbst verantwortlich. Und einem Leben, in dem sie nur die
Beifahrerin sein musste, weil sich um all die komplizierten
und schwierigen Dinge der Mann an ihrer Seite kümmern
würde. Jetzt hatte sie keine Wahl mehr und, schlimmer
noch, sie würde ihm dankbar sein müssen. Für immer. Er
hätte es besser treffen können, stattdessen verhielt er sich
anständig und mannhaft, er übernahm die Verantwortung
für sein Handeln, fügte sich in sein Schicksal. Was für ein

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Glück sie hatte. Mehr als sie verdiente. Und alle konnten
es sehen. Sie, die »schwatte Köhler«, hatte sich einen
Kriegshelden geangelt. Einen, der noch alle Gliedmaßen
besaß und keine schlimmen Kriegswunden davongetragen
hatte und der sie hier dekorativ in einen Strandkorb plat-
ziert hatte, sodass sie die freie Sicht auf ihn und seinen
Kameraden genießen konnte. Zwei Männer, die vorn am
Wasser Steine nach den Möwen warfen und herumalberten
wie zwei Kinder.
   Endlich drehte der Wind und kam von vorn. Senta
schloss die Augen, schmeckte das milde Salz der Ostsee
und dachte an Lotte, deren Zug längst in Berlin eingefah-
ren sein musste. Lotte, die bald im Gewimmel der großen
Stadt verschwinden und sich auflösen würde in dieser ge-
heimnisvollen neuen Welt. Die sich in die Arbeit stürzen
konnte und sicher nicht zu ihrer Hochzeit kommen würde,
die schon in drei Wochen stattfinden sollte, schnell, bevor
ihr Bauch nicht mehr zu kaschieren wäre. Lotte würde sie
bald vergessen haben, und sie würden zwei unterschiedli-
che Leben leben, und niemand würde verstehen, wie sehr
Senta Lotte um ihres beneidete.
   Das Kind in ihrem Bauch fühlte sich an wie ein kleiner
Goldfisch, der rechts und links an sein Glas stupste. Senta
zog die Seeluft tief in ihre Lungen und kämpfte gegen eine
weitere Welle aus Übelkeit und Trauer.
   »Was machst du für ein Gesicht, Kleene?«, hörte sie
Ulrich fragen, der fröhlich und außer Atem auf sie zuge-
laufen kam, barfuß, die Hose bis zu den Knien hochge-
krempelt. »Es ist wegen dem Kleid, oder? Machst dir Sor-
gen um dein Hochzeitskleid, was? Wird schon alles
rechtzeitig fertig, zerbrich dir nicht deinen kleinen Kopf.
Und jetzt komm, wir fahren nach Hause.«

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3.

Hannah hatte den Brief noch im Fahrstuhl aus dem auf-
gerissenen Umschlag genommen und war versehentlich
bis runter in die Tiefgarage des Seniorenpalais’ gefahren.
Erst der scharfe Geruch nach Gummi und Benzin, der
durch die geöffnete Fahrstuhltür drang, ließ sie von dem
Brief aufsehen, den sie eilig überflogen hatte und nun ver-
ständnislos anstarrte. Es war das Schreiben einer israeli-
schen Anwaltskanzlei mit Sitz in Tel Aviv, das sich in
gewähltem Englisch an Mrs. Evelyn Borowski richtete
und in dem die Kanzlei ihre Dienste in einer Restitutions-
sache anbot. Sie seien bei Recherchen zu enteigneten jü-
dischen Kunsthändlern in Berlin auf den Kunsthandel
Goldmann gestoßen, dessen Inhaber Itzig Goldmann
1942 von den Nationalsozialisten deportiert und ermor-
det worden sei. Sie, Dr. Evelyn Borowski, sei die einzige
lebende Erbin des konfiszierten und nunmehr verscholle-
nen Kunstvermögens. Sofern sie – Dr. Evelyn Borowksi –
den beigefügten Vertrag unterschreibe und die Kanzlei
damit offiziell mit der Abwicklung des Restitutionsver-
fahrens beauftrage, würde man mit den Recherchen fort-
fahren. Die Kanzlei arbeite auf eigenes finanzielles Risiko,
eine Provision würde nur dann fällig, wenn ein Kunst-

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werk tatsächlich gefunden und zurückgegeben werden
könne.

  With best regards,
   Aaron Cohen.

Die Fahrstuhltür vor Hannah schloss sich, und sie drückte
auf den Knopf, der sie ins Erdgeschoss befördern sollte.
Kurz überlegte sie, mit dem Brief schnurstracks zurück zu
ihrer Großmutter zu marschieren und sie zu fragen, ob das
alles ein schlechter Witz sei. Jüdische Kunsthändler?
Evelyn, Erbin von Naziraubkunst? Das alles konnte nur
ein Scherz oder eine Verwechslung sein, andererseits: Hätte
Evelyn den Brief dann nicht mit Sicherheit weggeworfen?
Niemand nahm Evelyn auf den Arm, sie ließ sich nichts
andrehen und für dumm verkaufen ließ sie sich erst recht
nicht. Hannah war als Kind einmal mit ihrer Mutter und
ihrer Großmutter in Marokko gewesen, eine Versöhnungs-
reise sollte es werden, Hannahs Mutter hatte sich ausbe-
dungen, das Reiseziel auszusuchen, Evelyn hatte alles be-
zahlt. Und während Silvia und Hannah in den Souks von
Marrakesch umlagert wurden von Händlern, die ihnen
Tücher, Teppiche, Schmuck, Taschen und Gewürzmischun-
gen andrehen wollten, schritt Evelyn vollkommen unbe-
helligt durch den engen Markt, mit der Aura einer Königin,
die jedem persönlich den Kopf abbeißen würde, der es
wagte, sie anzusprechen.
   Wenn Evelyn diesen Brief aus Israel aufbewahrt und ihn
Hannah nur widerwillig gezeigt hatte, dann, weil das, was
darin stand, möglicherweise wahr war.
   Im Bus Richtung Theodor-Heuss-Platz zog Hannah das
Handy aus der Tasche, um nach Andreas zu sehen. Sie

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öffnete WhatsApp und tippte auf sein Profilbild, das nur
einen abfotografierten Buchstaben zeigte, ein großes, mit
der Schreibmaschine getipptes A. Ein bisschen ärgerte es
Hannah, dass Andreas Sonthausen, ihr Doktorvater, eine
Literaturtheorie-Koryphäe und einer der bekanntesten
Germanisten des Landes, ein so affiges WhatsApp-Profil-
bild gewählt hatte.
   A wie Andreas. A wie Anfang, wie Alphatier, wie »An
mir kommt keiner vorbei!«.
   Vor allem aber hätte Hannah gern ein Foto von Andreas
gehabt, das sie unverfänglich betrachten konnte, während
sie im Bus auf ihr Handydisplay starrte. Es wäre leichter
gewesen, sich an sein Gesicht über ihrem zu erinnern, an
das dünne grau-braune Haar, durch das sie mit den Fin-
gern gefahren war und das er etwas zu lang trug, dafür
dass es schon recht licht war. An ihre Verblüffung über die
Jungenhaftigkeit seines Gesichts, das sie zuvor nie ohne die
schwarz eingefasste Brille gesehen hatte, und über die Tat-
sache, dass sie wirklich mit ihrem Professor in dessen Ho-
telbett gestolpert war. Und dass es ihr gefallen hatte. Dass
er ihr gefallen hatte, obwohl er optisch wirklich nicht ihr
Typ war und mit Ende vierzig sowieso weit außerhalb
ihres Altersspektrums. Kein Vergleich mit den Bar- und
Club-Jungs, die sie sich manchmal mit in ihre aufgeräumte
Wohnung nahm, um ein bisschen Körperchaos in die asep-
tische Atmosphäre zu bringen. Diese namenlosen, aber
wohlriechenden Start-up-Boys mit ihren Projekten und
Illusionen und fein abgezirkelten Bärten, für die Sex eine
Cardio-Einheit war und die hinterher noch ein paarmal
Nachrichten schickten, bevor sie weiter an ihren Plänen
arbeiteten, sich von Google kaufen zu lassen und sehr
reich zu werden.

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Andreas hatte genau eine Nachricht geschickt nach der
Sache in Marbach vor zwei Monaten und die klebte nun
wie eine kryptische Inschrift unter dem blöden »A«:
   »na sowas«
   Er hatte sie am nächsten Morgen geschickt, als Hannah
längst wieder in ihrem eigenen Bett lag, und den Rest der
Exkursion hatte er so getan, als wäre nichts passiert.
   »Leck mich doch!«, dachte Hannah jedes Mal, wenn sie
auf die »na sowas«-Sprechblase schaute. »na sowas«. Was
sollte das denn heißen?
   Huch, ich schlafe sonst ja nicht mit meinen Studen-
tinnen, weiß auch nicht, wie das passieren konnte? (Wer’s
glaubt …)
   Hey, das war toll, lass uns das bei Gelegenheit wieder
machen? (Hätte er dann ja aber auch genau so schreiben
können.)
   Haha, interessanter kleiner Zwischenfall gestern, aber
auch nicht der Rede wert, bitte mach mir keine Szene?
(Hätte sie ohnehin nicht, sie hatte ja nicht einmal geant-
wortet.)
   Du, ich bin vollkommen überwältigt und muss das jetzt
alles erst mal einordnen? (Ach, leck mich doch.)
   Vom ersten Semester an hatte Hannah Andreas Sont-
hausen bewundert, ohne jeden Hintergedanken. Sie be-
wunderte ihn für seinen melancholischen Witz, die Art
und Weise, wie er sich im Hörsaal in Rage reden konnte,
überhaupt dafür, dass er ein Thema hatte, das ihn so bren-
nend interessierte, und dass er in der Lage war, seine Zu-
hörer ebenso dafür zu interessieren. Sie bewunderte die
amüsierte Herablassung, mit der er die üblichen Schleimer
und Schwätzer in seinen Seminaren auflaufen ließ, sie
mochte, wie er sich beim Nachdenken mit Mittel- und

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Ringfinger die Augenbrauen glatt strich. Und sie mochte
sein freundliches Interesse an ihr. Sie hatte keine Ahnung,
was sie nach ihrem Abschluss tun sollte, und hatte eher
halbherzig über eine Promotion nachgedacht – und er
hatte sie ermutigt. Dabei war Halbherzigkeit wirklich Gift
für jedes Promotionsvorhaben, das wusste Hannah. Und
Andreas, ihr Doktorvater, wusste es erst recht, hatte ihr
aber trotzdem ein besonders freundliches Gutachten für
ein Promotionsstipendium geschrieben. Sie hatte sich
kaum Chancen auf die Mitarbeiterstelle bei ihm ausge-
rechnet, denn sie war nicht gerade eine seiner präsentesten
oder besten Doktorandinnen – und sie hatte die Stelle
trotzdem bekommen.
   Nie war Andreas Sonthausen auch nur eine Spur zwei-
deutig gewesen, nie hatte er Hannah in einer Weise ange-
sehen, die ihr merkwürdig vorgekommen wäre, nie hatte
sie sich zweideutige Gedanken über ihn gemacht. Alles war
gut und vollkommen normal gewesen. Bis sie Andreas auf
diese Reise nach Marbach begleitet hatte, wo er Archivma-
terial sichten und einen Vortrag halten sollte und Hannah
gefragt hatte, ob sie nicht mitkommen wolle, ein Kollege
aus dem Fachbereich habe abgesagt und das zweite Hotel-
zimmer sei nicht zu stornieren und schließlich müsse sie für
ihre Diss ja sicher auch ins Archiv.
   Und dann hatten sie an der kleinen Hotelbar noch etwas
getrunken, nachdem Andreas den ganzen Tag schweigsam
und abwesend gewirkt hatte. Er hatte ein bisschen was er-
zählt von seinem neuesten Buch, mit dem er nicht so recht
vorankam, von Förderanträgen für Forschungsprojekte,
die viel zu viel Zeit beanspruchten, und wie sehr er manch-
mal seine Frau beneidete, die eine Galerie in der August-
straße hatte und dort junge, angesagte Künstler ausstellte,

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sich also mit dem Leben und den Lebenden beschäftigte
und nicht mit Theorie.
   Hannah hatte ihm nach drei Gin Tonic noch geholfen,
Unterlagen auf sein Hotelzimmer zu bringen, und dann
hatte Andreas Sonthausen sie eben doch so angesehen. An-
ders angesehen. Mit einem Blick, der bodenlos und traurig
war und den sie viel zu lang erwidert hatte. Und als er einen
Schritt auf sie zugemacht hatte – oder vielleicht auch nur
einen Schritt vage in ihre Richtung, um ihr die Zimmertür
aufzuhalten, so ganz sicher war sie sich hinterher nicht
mehr, hatte sie ihn geküsst. Oder er sie. So genau war das
nicht mehr zu sagen, sie waren irgendwie ineinander ge-
stolpert, und es hatte sich gut genug angefühlt, um kurz zu
vergessen, dass das alles keine gute Idee war.
   Sie hatten eine Weile knutschend im Hotelzimmerflur
gestanden, und dann hatte Hannah begonnen, ihm das
schwarze Hemd aufzuknöpfen, und er hatte ihr den Pul-
lover über den Kopf gezogen, und dann mussten sie lachen,
weil Hannah vergessen hatte, sich ihre Chucks auszuzie-
hen, bevor sie versucht hatte, aus ihrer Hose zu schlüpfen,
und nun hing sie fest, ein Hosenbein auf links gedreht, und
Andreas kniete sich vor sie und knüpfte ihr die Schnürsen-
kel auf. Sehr fürsorglich.
   Warum das mit dem spontanen Sex in Hotelzimmern
nicht so laufen konnte wie im Film, fragte sich Hannah,
wo sich beide Schauspieler auf dem Weg vom Fahrstuhl bis
ins Hotelbett so locker und selbstvergessen ihrer Kleidung
entledigten und nie an Schuhen hängen blieben oder sich
die Fingernägel an Gürtelschnallen abbrachen. Aber nun
war auch alles egal, sie hatten es beide halbwegs nackt aufs
Bett geschafft, im Badezimmer rauschte die Belüftung und
im Fernsehen lief ein Bildschirmschoner mit Fotos von der

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Hotellobby und dem Frühstücksbuffet. Hannah lag auf
dem Rücken, der Gin machte alles angenehm luftig in
ihrem Kopf, und Andreas tat irgendwas rund um ihren
Bauchnabel, was sich gut anfühlte.
   In den Wochen nach der Nacht in Marbach hatte Andreas
Sonthausen sie mit dem gleichen freundlich-distanzierten
Interesse bedacht wie zuvor. Als wäre überhaupt nichts ge-
schehen. Kein wissender Blick, keine Andeutung, er hatte
sie noch nicht einmal gemieden. Diese verfluchte »na so-
was«-Nachricht in ihrem Handy war der einzige Beleg
dafür, dass sich Hannah die Sache mit Andreas nicht kom-
plett eingebildet hatte, und das machte sie wahnsinnig. Sie
hatte angefangen, ihn heimlich zu stalken, nicht physisch,
eher im Verborgenen. Sie checkte, wann er bei WhatsApp
online ging, sie googelte seinen Namen auf der Suche nach
Spuren, mied dabei die Berichte über Ausstellungseröffnun-
gen in der Galerie seiner Frau. Sie besorgte sich längst ver-
griffene Texte aus der Frühphase seiner akademischen Lauf-
bahn, sie blieb länger als notwendig in ihrem kleinen Büro
in der germanistischen Fakultät, in der Hoffnung, er könnte
noch einmal den Kopf zur Tür reinstecken, was er nie tat.
Sie gab sich doppelte Mühe bei ihren Colloquiumsvorträ-
gen und versuchte, in Andreas’ Kommentaren irgendeine
Anspielung oder eine Botschaft herauszuhören – vergeblich.
   Hannah hasste sich für die zunehmend obsessive Art,
mit der sie an ihn dachte. Abends beim Einschlafen, in der
U-Bahn, in der Bibliothek, zu Hause, wo sie am Küchen-
tisch vor ihrem leeren Word-Dokument saß und nicht an-
fangen konnte zu schreiben. Sogar samstagnachts, wenn
sie allein in die Schraube ging, den Club am Spreeufer zwi-
schen Jannowitzbrücke und dem alten Heizkraftwerk der
Stadtbetriebe, um sich den Kopf mit Bass zu füllen und an

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nichts zu denken. Selbst dann schob sich Andreas in ihr
Bewusstsein.
   Und jetzt, im Bus, dann in der U1 in Richtung Kreuz-
berg, auf dem Weg vom Kotti in ihre Wohnung im zweiten
Stock in der Oranienstraße, reifte ein Plan in ihr. Sie hatte
nun diesen Brief in der Tasche und bevor sie Evelyn damit
konfrontierte, musste sie mit irgendjemandem darüber
sprechen, am besten jetzt sofort. Einem Erwachsenen.
Oder Erwachsenerem. Ihren Vater hatte sie zuletzt bei ihrer
Einschulung gesprochen, ihrer Mutter was an den Grab-
stein zu quatschen würde nicht ausreichen, diesmal
brauchte sie Antworten. Einen Rat. Sie schloss die Woh-
nungstür auf, nahm ihr Handy aus der Manteltasche, lief
über die weiß lackierten Dielen ins Wohnzimmer, zog die
Vorhänge zu, so als könnte sie jemand bei etwas Verbote-
nem beobachten. Setzte sich auf ihr weißes IKEA -Sofa,
atmete tief durch, sagte noch einmal laut und für sich
»Leck mich doch!« und drückte auf den grünen Hörer
neben Andreas’ Nummer.

Na sowas, na sowas, na sowas.

                             33
4.

                                          Rostock 1926

Das Schönste am Morphium war nicht unbedingt der
Rausch. Das Schönste war die Vorfreude. Die Minuten,
bevor Trude die Spritze setzte, das Wissen, dass sie sich nun
mit Wonne in den Abgrund ihres Unglücks werfen durfte.
Noch einmal all die schlimmen Gedanken denken, den
Schmerz fühlen, sich suhlen in der Vergeblichkeit ihrer un-
erfüllbaren Sehnsucht – wissend, dass sich kurz vor dem
Aufschlag der rettende Fallschirm der Droge aufspannen
würde.
   Die Spritze hatte Trude schon aufgezogen und zusam-
men mit dem Stauschlauch neben die Schüssel gelegt, in
der die anderen Instrumente sterilisiert werden mussten.
Die leere Morphiumampulle hatte sie in die Tasche ihres
Schwesternkittels gleiten lassen, um sie später auf dem
Nachhauseweg heimlich hinter irgendeine Hecke zu wer-
fen. Noch war es nicht so weit, noch hatte sie zu tun, aber
die Spritze wartete dort auf sie wie der Nachtisch nach
einem faden Essen.
   Doktor Klausen war längst gegangen und hatte ihr die
Praxis überlassen, damit sie in Ruhe aufräumen konnte.
Saß jetzt sicher zu Hause bei seiner Frau, die er nicht ver-
lassen würde. Niemals, er hatte es gerade heute wieder

                             34
gesagt. Aber das hatte er schon so oft. Hatte schon so oft
in seinem gestärkten weißen Arztkittel vor ihr gestanden
und ihr gesagt, dass das alles aufhören müsse, dass sie
beide damit aufhören müssten, mit dem Morphium und
allem, was es in ihnen auslöste, die selbstvergessenen Mo-
mente im Behandlungszimmer nach dem Ende der Sprech-
stunde, wenn ihnen beiden alles so irritierend gleichgültig
war.
   Trude wusste ganz genau, dass das alles nicht aufhören
würde, sie und er, das war etwas Besonderes. Sie hatten
eine gemeinsame Bestimmung und eine Geschichte. War
seine Frau etwa an seiner Seite gewesen, im Lazarett in den
Masuren? Hatte sie ihn etwa nachts getröstet, wenn er vom
vielen Amputieren zu aufgewühlt war, um zu schlafen?
Hatte sie ihm das verkrustete Blut aus den Haaren gewa-
schen, nach einem Tag am Operationstisch? Hatte sie etwa
die Schreie und das Stöhnen gehört und die Hoffnungs-
losigkeit der jungen Männer gespürt, die entweder starben
oder wieder notdürftig zusammengeflickt an die Front ge-
schickt wurden, wenn sie nicht zu Zitterern geworden
waren?
   Trude war ein Engel gewesen, an ihrer weißen Schwes-
terntracht klebten unsichtbare Flügel. Sie hatte so viele
Hände gehalten und Schwüre abgenommen und so getan,
als würde sie letzte Worte notieren, um sie irgendwelchen
Verlobten oder Müttern zu schicken. Vor allem aber war
sie der Engel mit der Spritze. Der rettenden Morphium-
spritze, die den Schmerz nahm und den Frieden brachte
und diese unschuldige Euphorie. Wer hätte es ihnen beiden
verdenken sollen, dass sie in all dem stinkenden Elend
nicht auch einmal ein bisschen Frieden finden wollten,
zumal er so einfach zu haben war: Ein Schlüssel zum

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Medizinschrank, eine gute Vene, und binnen Sekunden
fühlte man sich, als sei man im Innersten mit Samt ausge-
schlagen.
   Doktor Klausen war bei alldem disziplinierter gewesen
als sie, das musste Trude zugeben. Er hatte Prinzipien, das
liebte sie ja so an ihm, er spritzte niemals selbst. Er ließ sich
lieber von Trude verarzten, einmal die Woche, an ihrem
verabredeten Tag, wenn sie beide länger in der Praxis im
Rostocker Westen blieben. Da durfte sie wieder der Engel
sein, erst für ihn, dann für sich selbst. Eine Stunde warm-
weiche Lust, bevor er nach Hause ging zu seiner Frau und
den Kindern und sie zu sich, wo niemand wartete, außer
dem Geist ihrer Mutter, der sie aus der Zimmerecke an-
starrte. Bis dahin hatte die Wirkung des Morphiums in der
Regel nachgelassen, gerade noch hatte sie Doktor Klausen
in fröhlicher Gleichgültigkeit mit einem langen Kuss ver-
abschiedet, in ihrem Zimmer im ersten Stock ihres Eltern-
hauses musste sie sich dann so schnell wie möglich schlafen
legen, um die beißende Einsamkeit nicht zu lange zu spü-
ren.
   Heute war nicht ihr gemeinsamer Tag, heute gehörte das
Morphium Trude ganz allein. Eine Weile hatte sie sich an
die Regel gehalten: Einmal in der Woche, keinesfalls öfter,
man konnte sonst irgendwann nicht mehr verzichten. Aber
verzichtete sie nicht schon auf so viel anderes? Inzwischen
spritzte sie sich einmal am Tag, immer abends nach der
Sprechstunde. Die Nadel war steril, und sie achtete darauf,
dass sich die Stiche nicht entzündeten, sie hatte das im
Griff, sie war schließlich vom Fach. Sie war nicht wie die
Krüppel, die versuchten, Doktor Klausen die Rezeptblöcke
vom Schreibtisch zu stehlen. Die bettelten und jammerten
und kaltschweißig zitterten, weil sie ohne Morphium nicht

                               36
mehr sein konnten. Die neben Gliedmaßen im Krieg auch
noch Ehen und Besitz verloren hatten. Nein, eine von die-
sen ehrlosen Kreaturen war sie nicht, sie hatte alles unter
Kontrolle.
   Trude zog die Laken von der Behandlungsliege und holte
neue aus dem Schrank, steckte ihre Nase dabei in Doktor
Klausens Ersatzhemden, die dort aufgereiht auf hölzernen
Kleiderbügeln hingen und nach einer Mischung aus Wasch-
mittel, Pfeifentabak und Formaldehyd rochen.
   In einer halben Stunde würde ihr Bruder da sein, um sie
abzuholen, weil er etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen
hatte. Konnte ja nur um Senta gehen. Wie immer, wenn
Trude ihrem Bruder Ulrich ein Ohr leihen musste, weil er
mit keinem seiner Freunde darüber sprechen konnte.
   Ulrich war das beste Beispiel dafür, wie die falsche Frau
aus einem Mann eine Witzfigur machen konnte, und Trude
hatte es von Anfang an gewusst. Dieses Mädchen, das sich
ihrem Bruder an den Hals geworfen und sich von ihm ein
Kind hatte machen lassen, seine Arglosigkeit ausgenutzt
und auf seinen Edelmut gebaut hatte. Jeder hätte verstan-
den, wenn er sie nicht geheiratet hätte, die dunkle Bohnen-
stange ohne nennenswerte Familie. Keine Partie für einen
wie ihn. Er hätte jede haben können und war doch dumm
genug gewesen, hier den Ehrenmann zu spielen. Trude
bekam sofort feuchte Augen bei dem Gedanken an die
Hochzeit, hastig arrangiert, bevor man den Bauch zu deut-
lich sah. Senta mit ihren dämlich glotzenden Schwestern
und der stillen Mutter, die sie so durchdringend angesehen
hatte, als könnte sie Trudes Gedanken lesen. Alle in selbst
genähten Kleidern aus billigem Tuch. Die sich an den Pas-
teten und den Spanferkeln satt gefressen hatten, die Ulrich
spendiert hatte, schließlich gab es ja keinen Brautvater, der

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das hätte übernehmen können. Lumpenpack. Das nun zur
Familie gehören sollte.
   Kein halbes Jahr nach der Hochzeit war Mutter gestor-
ben, zu groß war der Kummer über das Unglück des Soh-
nes, der so viel geopfert hatte fürs Vaterland und nun ge-
bunden war an ein Mädchen, das nicht mal einen Haushalt
führen konnte. Die die ungewaschene Wäsche aufbügelte
und zurück in den Schrank legte, Trude hatte es selbst ge-
sehen. Senta, wie sie mit erloschenem Blick und nachlässig
hochgebundenen Haaren das Bügeleisen auf Ulrichs Hem-
den presste, als wollte sie jemanden bestrafen. Die nichts
von dem rosigen Glimmen an sich hatte, das schwangere
Frauen sonst umgab. Die in der Küche in Tränen ausbrach,
weil ihr nichts gelang, nicht mal ein simples Schmorfleisch,
und weil hinterher Töpfe und Pfannen verbrannt und ver-
krustet waren und alles in größter Unordnung war.
   Und dann die Geburt. Da hatte ihr Ulrich ein Kind ge-
schenkt und diese dumme Gans weigerte sich, es zu gebä-
ren. Trude hatte wirklich versucht, mit Senta schwesterlich
zu sein, ihr Sympathie und Geduld und Großmut entgegen-
zubringen. Und natürlich hatte sie sich der Bitte ihres Bru-
ders nicht verweigert, bei der Geburt zu helfen und der
Hebamme zur Hand zu gehen, die sich alle Mühe gab,
Senta zum Pressen zu bewegen. Aber nein, das Mädchen
wimmerte und schrie sich lieber die Seele aus dem Leib,
kein bisschen Würde und Anstand wahrte sie, so als wäre
sie die erste Frau auf der Welt, die ein Kind bekam. Diesen
völlig natürlichen Vorgang durch übertriebene Wehleidig-
keit zu erschweren, das war typisch für Senta. Nach sieben
Stunden in den Wehen hatte Trude durchgreifen müssen
und Senta angeschrien, jetzt sei es aber mal gut, jetzt müsse
sie eben etwas arbeiten für ihr Glück, verdammt noch mal,

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wo ihr doch sonst alles buchstäblich in den Schoß gefallen
sei, und dann endlich, nur vier oder fünf Presswehen später,
kam Evelyn.
   Rot und schrumpelig und mit heiseren Schreien, die fast
wie Fauchen klangen, hatte sie in Trudes Armen gelegen,
während sich die Hebamme um die Nachgeburt kümmerte
und Senta mit leeren Augen an die Wand guckte. Trude
hatte das Mädchen gebadet und in ein Handtuch gewickelt
und dabei ein altes Schlaflied gesummt. Das Kind hatte sie
mit seinem milchigen Blick fixiert, und Trude hatte zurück-
geschaut und gedacht: »Du solltest mir gehören«, bevor sie
ihren Bruder aus der Küche holte. Der hatte dort nervös
rauchend am Tisch gesessen und gewartet, und als Trude
ihm sagte, dass es ein Mädchen sei, nahm er noch einen
tiefen, resignierten letzten Zug.
   Drei Jahre war das nun her. Drei Jahre, in denen Trude
Senta beim Scheitern zusehen musste. Senta hatte erst zu
wenig Milch, dann eine Brustentzündung, Evelyn schrie
viel und Senta weinte stumm. Schaute ihr Kind an, als
wüsste sie auch nicht, was ihr da nun eigentlich widerfah-
ren war. Senta wickelte und badete und fütterte die kleine
Evelyn zwar nicht lieblos, aber doch abwesend, als wäre
sie mit den Gedanken ganz woanders. Und wenn Ulrich in
der Nähe war, zwang sie sich zu freundlicher Heiterkeit,
die ihr sofort aus dem Gesicht fiel, sobald er das Zimmer
verließ. Senta spielte das Ehefrau- und Muttersein, so wie
man als Kind »Familie« spielte. Sie verbarg sich. Nur ein-
mal hatte Trude ihre Schwägerin so richtig gelöst gesehen
und das war, als sie zufällig dabei war, als das Telefon
klingelte und Senta mit roten Wangen und zitternder
Stimme mit einer Freundin in Berlin gesprochen hatte, die
da wohl schon seit einer Weile lebte – unter welchen

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Umständen, das mochte Trude sich gar nicht vorstellen,
man hörte ja so einiges.
   Evelyn dagegen war Trudes Augenstern. Optisch schlug
sie mit ihren schwarzen Haaren zwar nach der Mutter, aber
das Gemüt, den starken Charakter, den hatte sie vom Vater.
Wie sie sich stundenlang friedlich in einer Ecke sitzend mit
ihrer Puppe beschäftigen konnte, diese aber entschlossen
verteidigte, wenn der Nachbarshund auf der Straße danach
schnappte. Knapp drei Jahre alt und schon eine Kämpferin.
Trude war absolut davon überzeugt, dass sie dem Kind die
bessere Mutter gewesen wäre. Gut, das war nicht schwie-
rig. Aber es war ja nun mal auch eine himmelschreiende
Ungerechtigkeit, dass Senta all das häusliche Glück so gar
nicht zu schätzen wusste. Sondern seit drei Jahren mit die-
ser sauertöpfischen Dumpfheit durch den Tag ging. Und
keine Anstalten machte, erneut schwanger zu werden, so
langsam wäre es ja nun an der Zeit.
   Apropos Zeit: Der Hunger und die innere Unruhe waren
nun nicht mehr zu leugnen, und länger aufschieben würde
sie die Spritze nicht können, Ulrich würde sicher bald hier
sein. Die Praxis war aufgeräumt und vorbereitet für den
nächsten Tag, Trude hatte sich ihre Medizin mehr als ver-
dient. Der schwere Sessel hinter Doktor Klausens Schreib-
tisch war der beste Platz, um den Stauschlauch festzuziehen
und die Spritze zu setzen und den Kopf für eine Weile nach
hinten in die Mulde zwischen Rückenlehne und Sesselohr
zu schmiegen. Trude drückte sich die gelbliche Flüssigkeit
in die linke Armbeuge, löste den Schlauch, den sie fest um
ihren Oberarm gezogen hatte, und ließ sich in die Umar-
mung des Sessels fallen. Samtweiches goldenes Glück
schwappte durch ihren Körper, nur kurz die Augen zuma-
chen, dachte sie …

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… nur kurz …

Und dann wie im Nebel Ulrichs Gesicht über ihrem, warum
guckst du so traurig, liebster Bruder, hab ich die Tür nicht
zugemacht? Nein, mir geht es gut, ganz wunderbar, lass die
Spritze doch einfach liegen, es ist nur eine Spritze, Ulrich,
was schaust du so grimmig, es ist doch alles schön. Alles
ist schön und leicht, schau mal, wir sind doch wie Engel,
wir zwei, nur dass ich kein Flugzeug brauche, ich flieg auch
so. Nun zieh doch nicht so, Ulrich, zieh mich doch nicht
so vor die Tür, ich komme ja, ich fliege mit dir den Gehsteig
entlang, hui, wie leicht alles ist. Alles ist wunderbar, und
ich hör gar nicht so richtig, was du da sagst. Dass ich mich
lächerlich mache mit dieser Affenliebe zu einem verheira-
teten Arzt. Lächerlich? Das ist mir egal, alles ist Liebe und
Wärme und Wonne, warum damit aufhören, Bruderherz,
warum? Wo es doch so schön ist und niemandem wehtut?
Was weißt du schon, wie schnell etwas unentbehrlich wird,
wie schnell man nicht mehr ohne kann, selbst wenn es nur
ein bisschen Zuneigung ist von einem Mann, der einem
nicht gehört. Was sagst du, Senta geht weg? Schön, ja,
wunderbar, das soll sie tun, weggehen, einfach weggehen,
so als wäre sie nie hier gewesen. Ach, Brüderchen, nimm
es nicht schwer, du wirst leichter sein ohne sie, es wird
wieder wie Fliegen sein, so viel Freiheit.

Und dann hatte Ulrich ihr eine geklebt. Einmal rechts, ein-
mal links, das hatte er schon lange nicht mehr getan, nicht,
seit sie beide Kinder gewesen waren. Der physische Schmerz
war nicht der Rede wert, aber der harte Aufschlag im kla-
ren Bewusstsein, der schmerzte. Der sanfte Nebel war nun
beinahe verschwunden, und Trude sah ihren Bruder in all

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seiner Wut. Wie ihm der Unterkiefer zitterte, die Zähne fest
aufeinandergepresst, die blauen Augen starr.
   »Das hört jetzt auf. Jetzt. Auf der Stelle«, sagte er, so
ruhig er konnte. »Du wirst keinen Tag länger für diesen
Mann arbeiten. Du wirst nie wieder dieses Zeug nehmen.
Du wirst weggehen aus Rostock und dich zusammenreißen
und für Evelyn sorgen.«
   Evelyn. Wieso Evelyn? Ulrich packte seine Schwester
fest an den Schultern und sah ihr gerade ins Gesicht, mitten
hinein in die immer noch winzigen Pupillen. »Senta will
weg. Wir werden uns scheiden lassen, Trude. So schnell wie
möglich. Aber meine Tochter kriegt sie nicht.« Ein hartes
Schlucken und ein kurzer Blick zur Seite, dann fixierte er
sie erneut. »Sie ist klein genug, um ihre Mutter schnell zu
vergessen. Du wirst für sie sorgen und sie großziehen, und
zwar weit weg von diesem Quacksalber, für den du nichts
weiter als eine Hure bist.«
   Trude wollte nach Hause, in den Schutz ihrer Zimmer-
höhle, Vorhänge zuziehen, früh schlafen. Vor allem wollte
sie allein sein. Aber Ulrich hatte sie fest untergehakt und
zog sie die Straßen entlang, bis zu ihrem gemeinsamen
Elternhaus, in dem Trude nun allein wohnte und das un-
behaust und ein bisschen heruntergekommen wirkte, seit
ihre Eltern tot waren. Er würde ein paar Tage hier über-
nachten, hatte Ulrich gesagt, bis alles geregelt sei. Vor
allem schnell solle es gehen, sagte er, je schneller, desto
besser. Die ganze Sache mit Senta sei ein Fehler gewesen,
den er nun korrigieren würde. Nicht lang fackeln, Ent-
scheidungen treffen, handeln – war es nicht das, was ihn
als Soldat ausgezeichnet hatte?
   Die Wohnzimmermöbel hatte Trude mit weißen Laken
zugehängt, sie nutzte den Raum ohnehin nicht. Aber Ulrich

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war zielstrebig hineinmarschiert, hatte die Stehlampe ange-
macht und das Laken von einem der beiden Sofas gezogen –
hier würde er schlafen. Dann war er zur staubigen Wohn-
zimmervitrine gegangen und hatte eine Flasche Klaren und
zwei Gläser herausgeholt und sich und seiner Schwester am
Küchentisch je ein Schnapsglas vollgeschenkt. Trude trank
ihres in einem Zug aus. Der Schnaps half gegen die Leere
und die kalte Klarheit nach dem Morphiumrausch.
   »Du blutest«, sagte Ulrich von der anderen Seite des
Tisches, während er sein eigenes Schnapsglas noch einmal
bis zum Rand füllte. Jetzt sah Trude es auch: Eine lange
rote Blutspur lief ihr über die rechte Hand. In der Tasche
ihres Schwesternkittels war die gläserne Morphiumampulle
in winzige Scherben zerborsten.
5.

Am Morgen nach dem Telefongespräch mit Andreas lag
Hannah in ihrem Bett und schwor sich, nie wieder zu tele-
fonieren. Jedenfalls nicht, wenn es wichtig war. Sie hätte
nachdenken und eine E-Mail schreiben sollen, wenn über-
haupt. Aber nein, sie war eine Idiotin, die sich unentwegt
in idiotische Situationen brachte. Was für eine brutal däm-
liche Kackidee, am frühen Abend ihren Prof auf dem
Handy anzurufen. Wegen eines Briefs. Den sie in Wahrheit
nur als Vorwand nutzte, um seine Stimme zu hören. Und
um sich ein bisschen interessant zu machen.
   »Hannah. Na, so was!«, hatte er sich gemeldet, und Han-
nah hatte kurz schrill aufgelacht und dann nach Fassung
gerungen. Sich umständlich für die Störung entschuldigt
und versucht zu erklären, warum sie anrief. Noch während
sie das erklärte, war ihr klar geworden, wie absurd das war.
Was hatte sie denn erwartet? Dass er bei ihr vorbeikommen
würde? Dass er genau wüsste, was jetzt zu tun sei? Dass er
ihr würde sagen können, wie sie mit ihrer Großmutter über
das Erbe eines jüdischen Kunstvermögens reden sollte, mit
dem sie offenbar nichts zu tun haben wollte?
   »Das klingt wirklich spannend, Hannah. Aber ich weiß
nicht genau, wie ich dir da helfen kann«, hatte Andreas

                            44
gesagt. Und Hannah hatte geantwortet: »Ich brauche ein-
fach nur … einen väterlichen Rat.«
   Väterlicher Rat. O Gott, sie hatte es genau so gesagt.
Und dann gehört, wie Andreas lange ausatmete. »Ja, gut,
ich denke mal darüber nach. Warum rufst du nicht einfach
bei dieser Kanzlei mal an und fragst die?«
   Väterlicher Rat. Väterlicher Rat. Wie eine Abrissbirne
donnerte das in Hannahs Magen umher, jedes Mal, wenn
sie in der Nacht im Halbschlaf daran gedacht hatte. Herz-
lich willkommen in Hannah Borowskis Proseminar zum
Thema »Wie man sich nicht für eine Affäre mit einem älte-
ren Mann empfiehlt«. Heute sprechen wir über Daddy-
Issues und darüber, wie uns ein leiblicher Vater, der nie
etwas mit uns zu tun haben wollte, in unseren Liebesbezie-
hungen prägt. Wenn Sie, liebe Studierende, das Produkt
einer heimlichen Affäre Ihrer Mutter mit einem verheirate-
ten Mann sind, so wie ich, dann werden Sie schon früh in
Ihrem Leben die Erfahrung gemacht haben zu stören. Sie
sind ein Kostenfaktor und das buchstäblich fleischgewor-
dene schlechte Gewissen. Sie sind die Erinnerung an einen
fatalen Fehler, nein, Moment, das formuliere ich noch ein-
mal präziser: Sie SIND der fatale Fehler. Sie sind das, was
keiner wissen darf. Sie sind die scharfe Waffe in der Hand
Ihrer Mutter, wenn sie mit Ihnen stundenlang auf einer
Parkbank vor einer Gründerzeitvilla in Zehlendorf sitzt und
auf die geschlossene Tür starrt, so lange, bis ein wütender
Mann, der Ihnen fremd und vertraut zugleich vorkommt,
die Tür öffnet, die Treppe herunterkommt, die Straße über-
quert und sagt, dass es nun aber langsam mal gut sei und
was denn noch, bitte schön, er zahle regelmäßig und wün-
sche keinen Kontakt und verbiete Ihrer Mutter, hier weiter
aufzutauchen und ihn und seine Familie zu belästigen.

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Denn da gehören Sie nicht dazu, zu seiner Familie, das
ist klar.
   Möglicherweise haben Sie, auch auf Drängen Ihrer Mut-
ter, ein paar Jahre lang immer kurz vor Weihnachten noch
ein hübsches Bild gemalt und »Für Papa« draufgekrakelt,
aber nie eine Antwort bekommen. Bis auf den Tag Ihrer
Einschulung, da hatten Sie ein besonders hübsches Kleid
an und eine Schultüte mit Schmetterlingen drauf im Arm
und vor dem Schultor drückt Ihnen plötzlich ein fremder
Mann ein kleines Geschenk in die Hand und sagt: »Alles
Gute für dich.« Und in dem Papier ist ein lilafarbener Stift-
halter mit einem ALF drauf, der »Null Problemo!« sagt,
und der steht immer noch auf Ihrem Schreibtisch, weil es
das erste und einzige Zeugnis von Beachtung ist. Wenn Sie,
liebe Studierende, nun als einigermaßen erwachsene Men-
schen Sex mit einem deutlich älteren Mann haben und Sie
hätten gern, dass sich das noch einmal wiederholt, dann
vermeiden Sie unbedingt das Wort »väterlich«, denn dieser
Mann möchte ja – wenn überhaupt – Ihr Liebhaber sein
und kein Vaterersatz und beides geht nun mal nicht zusam-
men, und wenn doch, o Gott, das wäre schon ziemlich
krank, bitte suchen Sie sich einen Therapeuten und lesen
Sie unbedingt den Reader, den ich Ihnen zusammenkopiert
habe, bis nächste Woche, schönen Tag noch.
   Hannah starrte auf die drei bedruckten Leinwände, die
sie dem Kopfende gegenüber an die Wand gehängt hatte,
für den ersten Blick gleich nach dem Aufwachen: Kiesel,
Herbstlaub und Muscheln – ein Triptychon des schlech-
ten Geschmacks, direkt aus der IKEA-Dekoabteilung. Es
half dabei, die besonders coolen Start-up-Boys morgens
so früh wie möglich aus ihrem Bett zu vertreiben, bevor
sie mit ihnen hätte reden müssen. Aber das war nur ein

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