Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern? - Think Tank Ponto
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Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern? Von Judith Kohlenberger ABSTRACT Der Schutz der Außengrenzen beherrscht ak- 2 Flüchtlingsdeals und Rückführabkom- tuell die europäische Sicherheits- und Migra- men wirken destabilisierend auf afrikani- tionspolitik. Effizientes Grenzmanagement sche Länder und können langfristig Re-Mig- und die Beseitigung mutmaßlicher Pullfakto- ration bedingen. EU-Mittel sollten auch da- ren sollen helfen, die Zahl der gefährlichen für verwendet werden, negative Effekte der Überfahrten zu senken und das Sterben im Migrationsprävention auf lokale Arbeits- Mittelmeer zu beenden. Doch rezente For- märkte und Sicherheit abzufedern. schungsergebnisse legen nahe, dass eine restriktive Migrationspolitik durch Grenzkon- 3 Statt Außengrenzschutz und Bekämp- trollen, Schließung von Fluchtrouten und fung der Schlepperkriminalität muss die Rücknahmeabkommen nicht zwingend zu ei- Rettung von Menschenleben priorisiert wer- ner Abnahme der Migration nach Europa den. Legale und sichere Migrationswege führt. Die Gründe dafür liegen in a) der Kom- können durch Lockerung von Visabestim- plexität von Migrationserfahrungen, b) der mungen, ambitionierte Resettlement-Pro- Vielschichtigkeit von Migrationsgründen, c) gramme oder Wegfall von 'carrier sanctions' dem geringen Pulleffekt von Search-and-Res- geschaffen werden. cue-Missionen, d) den Substitutionseffekten restriktiver Migrationspolitik, und e) den stabi- lisierenden Auswirkungen von Rücknahme- Spätestens seit Österreich mit 1. Juli 2018 den EU-Ratsvorsitz übernommen hat, wurde der abkommen und Flüchtlingsdeals auf Her- kunfts- und Transitländer. Um das Sterben im Schutz der EU-Außengrenzen zum zentralen Mittelmeer nachhaltig zu beenden, ist eine europäischen Thema erklärt. Effizientes Grenz- management steht im Fokus der Gemeinsa- fundamentale Re-Orientierung der europäi- schen Migrationspolitik durch Schaffung le- men Sicherheits- und Verteidigungspolitik, galer und sicherer Fluchtrouten und Flexibili- nicht zuletzt getragen durch die Küstenwache sierung von Aufenthaltstiteln notwendig. Frontex. Erklärtes Ziel ist, zu verhindern, dass sich „nicht schutzbedürftige Menschen auf die gefährliche Überfahrt nach Europa begeben“1 und damit dem Sterben am Mittelmeer ein Ende zu setzen. Seenotrettungen werden POLICY RECOMMENDATIONS demzufolge als „Pullfaktor“ gesehen, würden sie doch maßgeblich zu Migrationsentschei- 1 Aufenthaltstitel müssen möglichst treffsi- dungen und damit zu riskanten Überfahrten cher und flexibel auf Migrationsrealitäten beitragen. Doch kann eine restriktive europäi- angepasst werden. Eine Möglichkeit dazu sche Migrationspolitik das Sterben im Mittel- ist der rechtliche "Spurwechsel", um dem meer nachhaltig beenden? Phänomen der gemischten Migration ge- Im Folgenden wird auf Basis aktueller recht zu werden. Forschungsergebnisse auf fünf Gründe einge- gangen, warum ein verstärkter Schutz der EU- https://www.bundeskanzleramt.gv.at/documents/131008/432952/Pro- 1 Bundeskanzleramt Österreich (2018): Programm des österreichi- gramm+EU-Ratsvorsitz/1f05afd5-05ae-4404-ba98-baf61809d177 schen Ratsvorsitzes, online unter: (11.05.2019). 1
Judith Kohlenberger Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern? Außengrenzen durch Kontrolle, Schließung ein instabiles Land handelt, sind es oft vorhan- von Migrationsrouten und Rücknahmeab- dene afrikanische Netzwerke, die den Aus- kommen sich nicht in sinkenden Migrations- schlag für die Migrationsentscheidung geben. druck aus Afrika und dem Mittleren Osten Während einerseits der bestehende Konflikt übersetzen lässt, und welche Handlungsalter- und die drastischen Menschenrechtsverlet- nativen einem Europa, das schützt, offen ste- zungen aus Scham oder Eigenschutz der be- hen. reits Emigrierten heruntergespielt werden, versprechen sie anderseits den Neuankom- menden, ihnen bei Arbeits- und Wohnungssu- 1 MIGRATIONSERFAHRUNGEN SIND KOM- che behilflich zu sein. Wenn sich die so ge- PLEXER ALS UNSERE KATEGORIEN schürten Hoffnungen schlussendlich aber Bislang konzentrierte sich die europäische Po- nicht materialisieren, Erfahrungen von Gewalt litik, basierend auf neoklassischer Migrations- und Korruption überhandnehmen oder, wie forschung, auf die Wanderungsabsichten je- im Fall von Ägypten, politische Machtverhält- ner MigrantInnen, die den Weg nach Europa nisse sich ändern, wird die gefährliche Über- geschafft haben. Dementsprechend wird der fahrt nach Europa oftmals als einziger Ausweg oft monate- oder jahrelange Aufenthalt in an- verstanden. Somit spielen politische, ökonomi- deren Ländern als „Transit“ verstanden, und sche und soziale Bedingungen in vermeintli- Migration als mehr oder weniger lineare Bewe- chen „Transitländern“, zu welchen auch Eu- gung, deren Zielort von Beginn an feststeht. ropa beiträgt, eine wesentliche Rolle für den Neueste Studien legen jedoch nahe, dass die Anstieg oder die Abnahme von Mittelmeer- Migrationsrealität vieler Menschen aus Sub- fahrten. Sahara Afrika oder dem Mittleren Osten eine Nur für ein Drittel all jener MigrantIn- gänzlich andere ist. Erhebungen unter mehr nen, die in Aufnahmezentren in Italien befragt als zweihundert MigrantInnen in Italien und wurden, war Europa bereits zu Beginn ihrer Malta zeigen, dass weniger als 1% der Neuan- Wanderung als finale Destination gedacht. kommenden bereits einen Monat nach Auf- Selten standen dabei spezifische Länder im bruch aus dem Heimatland in Europa gelan- Fokus, sondern es überwog die generelle Hoff- det waren. Über ein Drittel war zwischen sie- nung auf ein Leben in Sicherheit und Freiheit. ben und 18 Monate unterwegs, und ein weite- Während bessere Bildungs- und Erwerbs- res Drittel hatte ihr Heimatland vor mehr als 18 chancen in Europa für diese Gruppe an Mig- Monaten verlassen. Migration ist also selten rantInnen eine Rolle in der Migrationsent- eine temporäre, klar abgrenzbare und lineare scheidung spielten (61%), war das Wissen um Erfahrung, sondern beinhaltet in der Realität Arbeitsmarktbestimmungen, Konjunktur, Bil- der meisten MigrantInnen viele Zwischenauf- dungszugang oder soziale Absicherung in ein- enthalte und mitunter sogar Rückbewegun- zelnen EU-Mitgliedstaaten kaum vorhanden. gen. Dazu zählen unfreiwillige Stopps auf- Dass es sich dabei also um wesentliche Pull- grund von Entführungen oder Gewalterfah- faktoren handelt, lässt sich empirisch nicht rungen in Libyen genauso wie freiwillige Ar- nachweisen. beitsaufenthalte, um den nächsten Abschnitt der Reise zu finanzieren.2 Länder wie Libyen sind nicht nur Zwi- 2 DAS PUSH-PULL-MODELL WIRD DER VIEL- schenstationen, sondern häufig bewusst aus- SCHICHTIGKEIT VON MIGRATIONSGRÜNDEN NICHT GERECHT gewählte Zielorte: Noch 2015 gaben 37% der befragten MigrantInnen an, ihr Land verlassen Ähnlich sind auch Motivationen zum Aufbruch zu haben, um in Libyen Arbeit zu finden. Ob- sehr unterschiedlich, mitunter überlappend, wohl viele wissen, dass es sich bei Libyen um und können sich während der 2 McMahon, Simon/Nando Sigona (2018): Navigating the Central Med- iterranean in a Time of ‘Crisis’: Disentangling Migration Governance and Migrant Journeys; in: Sociology 52.3, S. 497-514. 2
Judith Kohlenberger Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern? Migrationserfahrung mehrfach ändern. Es ist können (unter bestimmten Auflagen und Ar- bereits zu einem Gemeinplatz geworden, dass beitsmarktkriterien) ein Aufenthaltsrecht zu die klassische Unterscheidung zwischen „er- Erwerbszwecken erhalten. Die Option eines zwungener“, also unfreiwilliger Migration solchen flexiblen Wechsels zwischen Einwan- (vulgo Flucht), und „regulärer“, freiwilliger Mig- derungskategorien kann dazu beitragen, das ration (die vor allem Arbeits- und Familienmig- Asylsystem zu entlasten und auf Fachkräfte- rantInnen beinhaltet) in vielen Fällen nicht mangel zu reagieren sowie Integration zu be- mehr greift. Zu durchmischt sind die Beweg- schleunigen und die Staatsausgaben im Be- gründe für MigrantInnen vor allem aus afrika- reich des Asylwesens zu verringern.3 nischen Ländern, wo eine unsichere politische Lage mit ökonomischen und sozialen Heraus- 3 SEARCH-AND-RESCUE (SAR) MISSIONEN forderungen einhergeht. Nicht selten führt in MACHEN DAS MITTELMEER NICHT ATTRAK- Ländern wie Gambia oder der Elfenbeinküste TIVER ein Klima von politischer Verfolgung, Korrup- Als Argument für verstärkten Außengrenz- tion, Gewalt und hoher Kriminalität zu steigen- schutz wird häufig angeführt, dass dadurch der Arbeitslosigkeit, fehlenden ökonomischen weniger Search-and-Rescue (SAR)-Missionen Chancen und Barrieren beim Zugang zu Bil- notwendig wären, würden doch Migrations- dung. Ein Mangel an Sicherheit wirkt sich ne- ströme bereits vor dem Mittelmeer gestoppt gativ auf andere Lebensbereiche aus und kann werden. Während die Grenzschutzagentur wirtschaftliche Gründe für die Auswanderung Frontex auch ein Schutzmandat hat, liegt ihre befeuern. primäre Aufgabe im Kampf gegen Schlepper- Gleichzeitig können sich Migrations- kriminalität und dem Schutz der EU-Außen- gründe und somit auch die rechtlichen Kate- grenzen auf dem Mittelmeer. Privat initiierte gorien, in die eine Person nach Ankunft in der Seenotrettungen humanitärer Organisatio- EU fallen würde, mehrmals wandeln. Ein Mig- nen, aber auch nationale Programme wie das rant, der seine Lebensumstände verbessern italienische Mare Nostrum, welches 2014 ein- will und deshalb nach Libyen geht, um dort ei- gestellt wurde, sollen unterbunden oder zu- nen Job zu finden, kann nach Monaten der Ge- mindest nicht mit EU-Geldern subventioniert walterfahrung, Bedrohung und Freiheitsbe- werden, werden sie doch als zentraler Pullfak- raubung als Geflüchteter nach Europa gelan- tor gesehen: MigrantInnen wüssten sehr wohl gen, vielfach der einzige Ausweg aus dieser Si- darüber Bescheid, dass sie kurz nach Verlassen tuation. Die Fluchtgründe liegen in diesem Fall der libyschen Küste ohnehin gerettet und ans aber nicht im Heimat-, sondern im Transitland europäische Festland gebracht werden. Folg- vor. lich soll die Stilllegung reiner SAR-Programme Europa wäre also gefragt, Migrationska- zu weniger Migration und letztendlich zu we- tegorien möglichst treffsicher und flexibel auf niger Toten führen. Migrationsrealitäten anzupassen. Das gilt für Empirisch ist dieses Argument nicht Asylmigration und damit verbundene Asyl- haltbar: Rezente Studien zu Mortalitätsraten gründe genauso wie für die Schaffung rechtli- im Mittelmeer zeigen, dass diese nach Beendi- cher Rahmenbedingungen für das zuneh- gung von SAR-Missionen wie Mare Nostrum mende Phänomen der gemischten Migration. im Herbst 2014 gleichbleiben oder sogar an- Wie zuletzt von der Bertelsmann Stiftung und steigen.4 Das ist selbst dann der Fall, wenn Ret- des deutschen Instituts für Arbeitsmarkt- und tungsmissionen nicht gänzlich abgeschafft, Berufsforschung (IAB) angeregt, könnte eine sondern von Frontex übernommen werden. Möglichkeit der „Spurwechsel“ zwischen Auf- Ein umfangreicher Bericht des Goldsmiths enthaltstiteln sein, d.h. Asylbewerbende 3 Brücker, Herbert/Andreas Hauptmann/Parvati Trübswetter (2015): 4 Steinhilper, Elias/Rob J. Gruijters (2018): A Contested Crisis: Policy Nar- Asyl- und Flüchtlingsmigration in die EU und nach Deutschland, Insti- ratives and Empirical Evidence on Border Deaths in the Mediterra- tut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), online unter: nean; in: Sociology 52.3/2018, S. 515–533. http://doku.iab.de/aktuell/2015/aktueller_bericht_1508.pdf (11.05.2019). 3
Judith Kohlenberger Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern? College der University of London widmete sich Umleitung von Migrationsströmen auf andere unlängst der Thematik und macht deutlich, Routen oder Einwanderungskategorien (von dass große Schiffbrüche wie jene im April 2015, Asyl auf Visum) beinhalten.10 Globale Migrati- die 400 bzw. 750 Todesopfer forderten, durch onsbewegungen reagieren also teils empfind- ausgedehntere Mandate und besser ausge- lich auf Änderungen im Asylbereich. Gleichzei- stattete SAR-Missionen hätten verhindert wer- tig lässt sich belegen, dass eine restriktive Ge- den können. Aus einem Mangel an Hand- setzgebung zu einem Anstieg der MigrantIn- lungsalternativen würden MigrantInnen auch nenpopulation führen kann, da sie zirkuläre nach Beendigung von Mare Nostrum weiter- Migration erschwert: Psychologisch und öko- hin die Dienste von Schleppern in Anspruch nomisch hat ein/e MigrantIn bereits zu viel auf und die gefährliche Seefahrt auf sich nehmen, sich genommen, um den wertvollen Aufent- so der Bericht.5 haltsstatus im Zielland jemals wieder freiwillig Gleichzeitig zeigen verfügbare Statisti- aufzugeben und ins Herkunftsland zurückzu- ken, dass auch die absolute Zahl an versuchten kehren, auch wenn persönliche Motivationen Überfahrten durch die Einstellung von SAR- (besonders im fortgeschrittenen Alter) oft vor- Missionen nicht zurückging. Ganz im Gegen- handen sind. teil lässt sich in vergleichbaren Zeiträumen mit Die vorhandenen Substitutionseffekte zeigen, und ohne Mare Nostrum eine Zunahme der dass indirekte Konsequenzen der Migrations- ankommenden MigrantInnen beobachten.6 politik mitbedacht werden müssen, wie etwa Ein Grund dafür scheint zu sein, dass Informa- kurz- oder langfristige Auswirkungen auf an- tionen zur Absetzung von SAR-Missionen oder dere Migrationskategorien oder -routen. Wäh- Nachrichten von großen Schiffbrüchen die rend migrationspolitische Maßnahmen zwar Migrationswilligen gar nicht erst erreichen.7 durchaus messbare Effekte auf das tatsächli- Bedingungen im Herkunftsland, persönliche che Migrationsvolumen haben können, fällt Aspirationen und Gewalterfahrungen im Tran- dieser Effekt im Vergleich zu anderen Migrati- sitland spielen eine größere Rolle für die tat- onsdeterminanten häufig nur gering aus.11 Tat- sächliche Entscheidung zur Überfahrt;8 wer in sächlich haben Staaten in anderen Bereichen einem Lager in Libyen tagtäglich um sein Le- der politischen Gestaltung einen wesentlichen ben fürchten muss, ergreift trotz aller Risiken größeren Einfluss auf Migrationsbewegungen, so schnell wie möglich die Chance, nach Eu- nicht zuletzt durch Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- ropa gelangen.9 und Sozialpolitik oder Sicherheits- und Vertei- digungspolitik.12 4 RESTRIKTIVE MIGRATIONSPOLITIK KANN Restriktive Migrationspolitik hat nach- ZU SUBSTITUTIONSEFFEKTEN FÜHREN weislich tödliche Folgen, aber in bestimmten Kontexten mitunter nur geringe Auswirkun- Restriktive Migrationspolitik kann neben inter- gen auf das tatsächliche Migrationsaufkom- temporalen Effekten (sogenannten Jetzt-o- men. Was es braucht, ist eine fundamentale der-Nie-Schüben) zu kategorischen und/oder Re-Orientierung, weg von einer Politik der Re- räumlichen Effekten führen, welche u.a. die pression hin zu legalen, kontrollierten und experiences, online unter: www.warwick.ac.uk/crossingthemed 5 Heller, Charles/Lorenzo Pezzani (2016): Death by rescue: The lethal ef- (11.05.2019). fects of the EU’s policies of nonassistance at sea, London: University of London, Goldsmiths College, online unter: www.deathbyrescue.org 9 Andersson, Ruben (2017): Rescued and caught: The humanitarian– (11.05.2019). security nexus at Europe’s frontiers; in: Nicholas De Genova (Hg.): The Borders of ‘Europe’: Autonomy of Migration, Tactics of Bordering, 6 Steinhilper/Gruijters (2018), basierend auf den Datenbanken von Durham, NC, S. 64–94. Frontex, IOM und UNHCR. 10 De Haas, Hein (2011): The determinants of international migration; 7 Crawley, Heaven/Franck Düvell/Katharine Jones/Simon DEMIG Working Paper 2, International Migration Institute, University McMahon/Nando Sigona (2016): Destination Europe? Understanding of Oxford. the dynamics and drivers of Mediterranean migration in 2015; MED- MIG final report, online unter: http://www.medmig.info/research-brief- 11 Czaika, Mathias/Hein De Haas (2013): The Effectiveness of Immigra- destination-europe.pdf (11.05.2019). tion Policies; in: Population and Development Review 39.3, S. 487-508. 8 Squire, Vicki/Angeliki Dimitriadi/Nina Perkowski/Maria Pisani/Dallal 12 Castles, Stephen (2010): Understanding global migration: A social Stevens/Nick Vaughan-Williams (2017): Crossing the Mediterranean transformation perspective; in: Journal of Ethnic and Migration Stud- Sea by boat: Mapping and documenting migratory journeys and ies 36, S. 1565–1586. 4
Judith Kohlenberger Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern? sicheren Flucht- und Migrationswegen, die so- Naht eine Patrouille der Militärpolizei, werden wohl Schlepperei als auch Seenotrettungen sie von den Schleppern einfach ausgesetzt, obsolet machen würden. Dazu kann die Lo- was pro Jahr zu Dutzenden Toten durch De- ckerung von Visabestimmungen genauso bei- hydrierung führt. Zynisch ausgedrückt wird tragen wie ambitionierte Resettlement-Pro- das Sterben im Mittelmeer vom Sterben in der gramme, aber auch die Abschaffung von Sahara abgelöst. Sanktionen gegenüber Transportunterneh- Andererseits hat die Kriminalisierung von men, die Geflüchteten die Einreise ermögli- Schlepperei auch ökonomische Auswirkun- chen (sogenannte „carrier sanctions“).13 Das gen und birgt Sicherheitsrisiken. Durch die würde eine radikale Neu-Priorisierung in der Schließung von Fluchtrouten lässt sich in vie- EU-Migrationspolitik bedeuten, die die Ret- len afrikanischen Ländern ein Anstieg der Ar- tung von Menschenleben vor Außengrenz- beitslosigkeit und eine Zunahme anderer kri- schutz, Routenschließung und Bekämpfung mineller Aktivitäten wie Drogenhandel be- der Schlepperkriminalität stellt. obachten. Beides wird u.a. auch durch rück- kehrende MigrantInnen aus Libyen bedingt, die nicht nach Europa ausreisen können, aber 5 FLÜCHTLINGSDEALS UND RÜCKKEHRAB- weder in Libyen bleiben noch in ihre Heimat- KOMMEN WIRKEN DESTABILISIEREND AUF AFRIKANISCHE LÄNDER länder zurückgehen möchten. Städte entlang ehemals hoch frequentierter Routen müssen Neben Außengrenzschutz dominiert auch das Schulen oder Krankenhäuser schließen, die Thema der effektiven Rückführung in Her- durch den Wegfall der Migrationsindustrie kunfts- oder Transitländer die europäische nicht mehr finanziert werden können.15 Gleich- Migrationspolitik. Die EU will sich Rücknahme- zeitig werden neue Transitrouten erschlossen, abkommen, aber auch präventive Maßnah- z.B. via Algerien und Marokko. men in Herkunftsländern viel kosten lassen: Projekte, die alternative Lebensgrund- Bis 2020 soll etwa Niger eine Milliarde an Ent- lagen für ehemalige Schlepper schaffen sollen, wicklungsgeldern erhalten, wovon ein großer befinden sich noch in der Pilotphase und kön- Teil in die Prävention von Migration fließt.14 Das nen die entstehende Armut und Kriminalität Geld wird dazu verwendet, Schmuggel und selten ausreichend lindern. Hier erscheint eine Menschenhandel durch Militärpolizei zu be- Zweckwidmung der zuerkannten EU-Mittel kämpfen, Fahrzeuge zu konfiszieren und Be- sinnvoll, nicht zuletzt um späterer Re-Migra- treiber zu inhaftieren. Erste Effekte sind bereits tion entgegenzuwirken. Gleichzeitig muss erkennbar: Laut der Internationalen Organisa- auch das vom Meer in die Wüste verlagerte tion für Migration (IOM) hat der Migrationsfluss Sterben von MigrantInnen als europäische in den letzten zwei Jahren seine Richtung ge- Verantwortung erkannt und adressiert wer- ändert, sodass mehr MigrantInnen aus Libyen den. nach Niger und weiter in ihre Heimatländer wandern, als umgekehrt. Neben diesen Erfolgen gibt es aber auch Rückschläge. Einerseits nehmen jene MigrantInnen, die entgegen des derzeitigen Trends dennoch nach Libyen und weiter in die EU einreisen möchten, nun weitaus gefährli- chere Anreisewege durch die Wüste auf sich, die teils durch vermintes Gebiet führen oder meilenweit von Wasserreserven entfernt sind. 13 Vgl. auch die Policy Empfehlungen von Heller/Pezzani (2016). 15 Penney, Joe (2018): Europe Benefits by Bankrolling an Anti-Migrant Effort. Niger Pays a Price; In: The New York Times, online unter: 14 Siehe dazu: https://ec.europa.eu/europeaid/news-and-events/eu- https://www.nytimes.com/2018/08/25/world/africa/niger-migration- will-support-niger-assistance-eu1-billion-2020_en (11.05.2019). crisis.html#click=https://t.co/2U9if2SyIO (11.05.2019). 5
AUTORIN Dr. Judith Kohlenberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für So- zialpolitik, Department für Sozialökonomie, an der Wirtschaftsuniversität Wien und Gastforscherin am Wittgenstein Centre for Demography and Global Hu- man Capital (IIASA, VID/ÖAW, WU). Kontakt: judith.kohlenberger@wu.ac.at Der Policy Brief repräsentiert die Meinung der Autorin und spricht nicht für Ponto als Organisation. Ponto – Grassroots Think Tank für Europa- und Außenpolitik. Plattform zur Förderung eines konstruktiven und evidenzbasierten Dialogs zwischen Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft e.V. Mai 2019 Ponto – Grassroots Think Tank für Europa- und Außenpolitik office@pontothinktank.org www.pontothinktank.org @PontoThinkTank
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