Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern? - Think Tank Ponto

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Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern? - Think Tank Ponto
Kann EU-Außengrenzschutz
das Sterben im Mittelmeer
verhindern?
Von Judith Kohlenberger

ABSTRACT
Der Schutz der Außengrenzen beherrscht ak-                            2   Flüchtlingsdeals und Rückführabkom-
tuell die europäische Sicherheits- und Migra-                         men wirken destabilisierend auf afrikani-
tionspolitik. Effizientes Grenzmanagement                             sche Länder und können langfristig Re-Mig-
und die Beseitigung mutmaßlicher Pullfakto-                           ration bedingen. EU-Mittel sollten auch da-
ren sollen helfen, die Zahl der gefährlichen                          für verwendet werden, negative Effekte der
Überfahrten zu senken und das Sterben im                              Migrationsprävention auf lokale Arbeits-
Mittelmeer zu beenden. Doch rezente For-                              märkte und Sicherheit abzufedern.
schungsergebnisse legen nahe, dass eine
restriktive Migrationspolitik durch Grenzkon-                         3   Statt Außengrenzschutz und Bekämp-
trollen, Schließung von Fluchtrouten und                              fung der Schlepperkriminalität muss die
Rücknahmeabkommen nicht zwingend zu ei-                               Rettung von Menschenleben priorisiert wer-
ner Abnahme der Migration nach Europa                                 den. Legale und sichere Migrationswege
führt. Die Gründe dafür liegen in a) der Kom-                         können durch Lockerung von Visabestim-
plexität von Migrationserfahrungen, b) der                            mungen, ambitionierte Resettlement-Pro-
Vielschichtigkeit von Migrationsgründen, c)                           gramme oder Wegfall von 'carrier sanctions'
dem geringen Pulleffekt von Search-and-Res-                           geschaffen werden.
cue-Missionen, d) den Substitutionseffekten
restriktiver Migrationspolitik, und e) den stabi-
lisierenden Auswirkungen von Rücknahme-                              Spätestens seit Österreich mit 1. Juli 2018 den
                                                                     EU-Ratsvorsitz übernommen hat, wurde der
abkommen und Flüchtlingsdeals auf Her-
kunfts- und Transitländer. Um das Sterben im                         Schutz der EU-Außengrenzen zum zentralen
Mittelmeer nachhaltig zu beenden, ist eine                           europäischen Thema erklärt. Effizientes Grenz-
                                                                     management steht im Fokus der Gemeinsa-
fundamentale Re-Orientierung der europäi-
schen Migrationspolitik durch Schaffung le-                          men Sicherheits- und Verteidigungspolitik,
galer und sicherer Fluchtrouten und Flexibili-                       nicht zuletzt getragen durch die Küstenwache
sierung von Aufenthaltstiteln notwendig.                             Frontex. Erklärtes Ziel ist, zu verhindern, dass
                                                                     sich „nicht schutzbedürftige Menschen auf die
                                                                     gefährliche Überfahrt nach Europa begeben“1
                                                                     und damit dem Sterben am Mittelmeer ein
                                                                     Ende zu setzen. Seenotrettungen werden
    POLICY RECOMMENDATIONS
                                                                     demzufolge als „Pullfaktor“ gesehen, würden
                                                                     sie doch maßgeblich zu Migrationsentschei-
    1 Aufenthaltstitel müssen möglichst treffsi-
                                                                     dungen und damit zu riskanten Überfahrten
    cher und flexibel auf Migrationsrealitäten
                                                                     beitragen. Doch kann eine restriktive europäi-
    angepasst werden. Eine Möglichkeit dazu
                                                                     sche Migrationspolitik das Sterben im Mittel-
    ist der rechtliche "Spurwechsel", um dem
                                                                     meer nachhaltig beenden?
    Phänomen der gemischten Migration ge-
                                                                            Im Folgenden wird auf Basis aktueller
    recht zu werden.
                                                                     Forschungsergebnisse auf fünf Gründe einge-
                                                                     gangen, warum ein verstärkter Schutz der EU-

                                                                     https://www.bundeskanzleramt.gv.at/documents/131008/432952/Pro-
1
 Bundeskanzleramt Österreich (2018): Programm des österreichi-       gramm+EU-Ratsvorsitz/1f05afd5-05ae-4404-ba98-baf61809d177
schen Ratsvorsitzes, online unter:                                   (11.05.2019).
                                                                 1
Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern? - Think Tank Ponto
Judith Kohlenberger                           Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern?
Außengrenzen durch Kontrolle, Schließung                                   ein instabiles Land handelt, sind es oft vorhan-
von Migrationsrouten und Rücknahmeab-                                      dene afrikanische Netzwerke, die den Aus-
kommen sich nicht in sinkenden Migrations-                                 schlag für die Migrationsentscheidung geben.
druck aus Afrika und dem Mittleren Osten                                   Während einerseits der bestehende Konflikt
übersetzen lässt, und welche Handlungsalter-                               und die drastischen Menschenrechtsverlet-
nativen einem Europa, das schützt, offen ste-                              zungen aus Scham oder Eigenschutz der be-
hen.                                                                       reits Emigrierten heruntergespielt werden,
                                                                           versprechen sie anderseits den Neuankom-
                                                                           menden, ihnen bei Arbeits- und Wohnungssu-
1 MIGRATIONSERFAHRUNGEN SIND KOM-
                                                                           che behilflich zu sein. Wenn sich die so ge-
PLEXER ALS UNSERE KATEGORIEN
                                                                           schürten Hoffnungen schlussendlich aber
Bislang konzentrierte sich die europäische Po-
                                                                           nicht materialisieren, Erfahrungen von Gewalt
litik, basierend auf neoklassischer Migrations-                            und Korruption überhandnehmen oder, wie
forschung, auf die Wanderungsabsichten je-                                 im Fall von Ägypten, politische Machtverhält-
ner MigrantInnen, die den Weg nach Europa
                                                                           nisse sich ändern, wird die gefährliche Über-
geschafft haben. Dementsprechend wird der                                  fahrt nach Europa oftmals als einziger Ausweg
oft monate- oder jahrelange Aufenthalt in an-                              verstanden. Somit spielen politische, ökonomi-
deren Ländern als „Transit“ verstanden, und                                sche und soziale Bedingungen in vermeintli-
Migration als mehr oder weniger lineare Bewe-                              chen „Transitländern“, zu welchen auch Eu-
gung, deren Zielort von Beginn an feststeht.                               ropa beiträgt, eine wesentliche Rolle für den
Neueste Studien legen jedoch nahe, dass die
                                                                           Anstieg oder die Abnahme von Mittelmeer-
Migrationsrealität vieler Menschen aus Sub-                                fahrten.
Sahara Afrika oder dem Mittleren Osten eine                                       Nur für ein Drittel all jener MigrantIn-
gänzlich andere ist. Erhebungen unter mehr
                                                                           nen, die in Aufnahmezentren in Italien befragt
als zweihundert MigrantInnen in Italien und                                wurden, war Europa bereits zu Beginn ihrer
Malta zeigen, dass weniger als 1% der Neuan-                               Wanderung als finale Destination gedacht.
kommenden bereits einen Monat nach Auf-                                    Selten standen dabei spezifische Länder im
bruch aus dem Heimatland in Europa gelan-                                  Fokus, sondern es überwog die generelle Hoff-
det waren. Über ein Drittel war zwischen sie-                              nung auf ein Leben in Sicherheit und Freiheit.
ben und 18 Monate unterwegs, und ein weite-
                                                                           Während bessere Bildungs- und Erwerbs-
res Drittel hatte ihr Heimatland vor mehr als 18
                                                                           chancen in Europa für diese Gruppe an Mig-
Monaten verlassen. Migration ist also selten                               rantInnen eine Rolle in der Migrationsent-
eine temporäre, klar abgrenzbare und lineare                               scheidung spielten (61%), war das Wissen um
Erfahrung, sondern beinhaltet in der Realität                              Arbeitsmarktbestimmungen, Konjunktur, Bil-
der meisten MigrantInnen viele Zwischenauf-                                dungszugang oder soziale Absicherung in ein-
enthalte und mitunter sogar Rückbewegun-                                   zelnen EU-Mitgliedstaaten kaum vorhanden.
gen. Dazu zählen unfreiwillige Stopps auf-                                 Dass es sich dabei also um wesentliche Pull-
grund von Entführungen oder Gewalterfah-                                   faktoren handelt, lässt sich empirisch nicht
rungen in Libyen genauso wie freiwillige Ar-
                                                                           nachweisen.
beitsaufenthalte, um den nächsten Abschnitt
der Reise zu finanzieren.2
        Länder wie Libyen sind nicht nur Zwi-                              2 DAS PUSH-PULL-MODELL WIRD DER VIEL-
schenstationen, sondern häufig bewusst aus-                                SCHICHTIGKEIT VON MIGRATIONSGRÜNDEN
                                                                           NICHT GERECHT
gewählte Zielorte: Noch 2015 gaben 37% der
befragten MigrantInnen an, ihr Land verlassen                              Ähnlich sind auch Motivationen zum Aufbruch
zu haben, um in Libyen Arbeit zu finden. Ob-                               sehr unterschiedlich, mitunter überlappend,
wohl viele wissen, dass es sich bei Libyen um                              und     können      sich    während     der

2
  McMahon, Simon/Nando Sigona (2018): Navigating the Central Med-
iterranean in a Time of ‘Crisis’: Disentangling Migration Governance
and Migrant Journeys; in: Sociology 52.3, S. 497-514.
                                                                       2
Judith Kohlenberger                              Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern?
Migrationserfahrung mehrfach ändern. Es ist                                    können (unter bestimmten Auflagen und Ar-
bereits zu einem Gemeinplatz geworden, dass                                    beitsmarktkriterien) ein Aufenthaltsrecht zu
die klassische Unterscheidung zwischen „er-                                    Erwerbszwecken erhalten. Die Option eines
zwungener“, also unfreiwilliger Migration                                      solchen flexiblen Wechsels zwischen Einwan-
(vulgo Flucht), und „regulärer“, freiwilliger Mig-                             derungskategorien kann dazu beitragen, das
ration (die vor allem Arbeits- und Familienmig-                                Asylsystem zu entlasten und auf Fachkräfte-
rantInnen beinhaltet) in vielen Fällen nicht                                   mangel zu reagieren sowie Integration zu be-
mehr greift. Zu durchmischt sind die Beweg-                                    schleunigen und die Staatsausgaben im Be-
gründe für MigrantInnen vor allem aus afrika-                                  reich des Asylwesens zu verringern.3
nischen Ländern, wo eine unsichere politische
Lage mit ökonomischen und sozialen Heraus-
                                                                               3  SEARCH-AND-RESCUE (SAR) MISSIONEN
forderungen einhergeht. Nicht selten führt in
                                                                               MACHEN DAS MITTELMEER NICHT ATTRAK-
Ländern wie Gambia oder der Elfenbeinküste                                     TIVER
ein Klima von politischer Verfolgung, Korrup-
                                                                               Als Argument für verstärkten Außengrenz-
tion, Gewalt und hoher Kriminalität zu steigen-
                                                                               schutz wird häufig angeführt, dass dadurch
der Arbeitslosigkeit, fehlenden ökonomischen
                                                                               weniger Search-and-Rescue (SAR)-Missionen
Chancen und Barrieren beim Zugang zu Bil-
                                                                               notwendig wären, würden doch Migrations-
dung. Ein Mangel an Sicherheit wirkt sich ne-
                                                                               ströme bereits vor dem Mittelmeer gestoppt
gativ auf andere Lebensbereiche aus und kann
                                                                               werden. Während die Grenzschutzagentur
wirtschaftliche Gründe für die Auswanderung
                                                                               Frontex auch ein Schutzmandat hat, liegt ihre
befeuern.
                                                                               primäre Aufgabe im Kampf gegen Schlepper-
        Gleichzeitig können sich Migrations-
                                                                               kriminalität und dem Schutz der EU-Außen-
gründe und somit auch die rechtlichen Kate-
                                                                               grenzen auf dem Mittelmeer. Privat initiierte
gorien, in die eine Person nach Ankunft in der
                                                                               Seenotrettungen humanitärer Organisatio-
EU fallen würde, mehrmals wandeln. Ein Mig-
                                                                               nen, aber auch nationale Programme wie das
rant, der seine Lebensumstände verbessern
                                                                               italienische Mare Nostrum, welches 2014 ein-
will und deshalb nach Libyen geht, um dort ei-
                                                                               gestellt wurde, sollen unterbunden oder zu-
nen Job zu finden, kann nach Monaten der Ge-
                                                                               mindest nicht mit EU-Geldern subventioniert
walterfahrung, Bedrohung und Freiheitsbe-
                                                                               werden, werden sie doch als zentraler Pullfak-
raubung als Geflüchteter nach Europa gelan-
                                                                               tor gesehen: MigrantInnen wüssten sehr wohl
gen, vielfach der einzige Ausweg aus dieser Si-
                                                                               darüber Bescheid, dass sie kurz nach Verlassen
tuation. Die Fluchtgründe liegen in diesem Fall
                                                                               der libyschen Küste ohnehin gerettet und ans
aber nicht im Heimat-, sondern im Transitland
                                                                               europäische Festland gebracht werden. Folg-
vor.
                                                                               lich soll die Stilllegung reiner SAR-Programme
        Europa wäre also gefragt, Migrationska-
                                                                               zu weniger Migration und letztendlich zu we-
tegorien möglichst treffsicher und flexibel auf
                                                                               niger Toten führen.
Migrationsrealitäten anzupassen. Das gilt für
                                                                                       Empirisch ist dieses Argument nicht
Asylmigration und damit verbundene Asyl-
                                                                               haltbar: Rezente Studien zu Mortalitätsraten
gründe genauso wie für die Schaffung rechtli-
                                                                               im Mittelmeer zeigen, dass diese nach Beendi-
cher Rahmenbedingungen für das zuneh-
                                                                               gung von SAR-Missionen wie Mare Nostrum
mende Phänomen der gemischten Migration.
                                                                               im Herbst 2014 gleichbleiben oder sogar an-
Wie zuletzt von der Bertelsmann Stiftung und
                                                                               steigen.4 Das ist selbst dann der Fall, wenn Ret-
des deutschen Instituts für Arbeitsmarkt- und
                                                                               tungsmissionen nicht gänzlich abgeschafft,
Berufsforschung (IAB) angeregt, könnte eine
                                                                               sondern von Frontex übernommen werden.
Möglichkeit der „Spurwechsel“ zwischen Auf-
                                                                               Ein umfangreicher Bericht des Goldsmiths
enthaltstiteln sein, d.h. Asylbewerbende

3
  Brücker, Herbert/Andreas Hauptmann/Parvati Trübswetter (2015):               4
                                                                                Steinhilper, Elias/Rob J. Gruijters (2018): A Contested Crisis: Policy Nar-
Asyl- und Flüchtlingsmigration in die EU und nach Deutschland, Insti-          ratives and Empirical Evidence on Border Deaths in the Mediterra-
tut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), online unter:                 nean; in: Sociology 52.3/2018, S. 515–533.
http://doku.iab.de/aktuell/2015/aktueller_bericht_1508.pdf (11.05.2019).
                                                                           3
Judith Kohlenberger                              Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern?
College der University of London widmete sich                                   Umleitung von Migrationsströmen auf andere
unlängst der Thematik und macht deutlich,                                       Routen oder Einwanderungskategorien (von
dass große Schiffbrüche wie jene im April 2015,                                 Asyl auf Visum) beinhalten.10 Globale Migrati-
die 400 bzw. 750 Todesopfer forderten, durch                                    onsbewegungen reagieren also teils empfind-
ausgedehntere Mandate und besser ausge-                                         lich auf Änderungen im Asylbereich. Gleichzei-
stattete SAR-Missionen hätten verhindert wer-                                   tig lässt sich belegen, dass eine restriktive Ge-
den können. Aus einem Mangel an Hand-                                           setzgebung zu einem Anstieg der MigrantIn-
lungsalternativen würden MigrantInnen auch                                      nenpopulation führen kann, da sie zirkuläre
nach Beendigung von Mare Nostrum weiter-                                        Migration erschwert: Psychologisch und öko-
hin die Dienste von Schleppern in Anspruch                                      nomisch hat ein/e MigrantIn bereits zu viel auf
und die gefährliche Seefahrt auf sich nehmen,                                   sich genommen, um den wertvollen Aufent-
so der Bericht.5                                                                haltsstatus im Zielland jemals wieder freiwillig
         Gleichzeitig zeigen verfügbare Statisti-                               aufzugeben und ins Herkunftsland zurückzu-
ken, dass auch die absolute Zahl an versuchten                                  kehren, auch wenn persönliche Motivationen
Überfahrten durch die Einstellung von SAR-                                      (besonders im fortgeschrittenen Alter) oft vor-
Missionen nicht zurückging. Ganz im Gegen-                                      handen sind.
teil lässt sich in vergleichbaren Zeiträumen mit                                Die vorhandenen Substitutionseffekte zeigen,
und ohne Mare Nostrum eine Zunahme der                                          dass indirekte Konsequenzen der Migrations-
ankommenden MigrantInnen beobachten.6                                           politik mitbedacht werden müssen, wie etwa
Ein Grund dafür scheint zu sein, dass Informa-                                  kurz- oder langfristige Auswirkungen auf an-
tionen zur Absetzung von SAR-Missionen oder                                     dere Migrationskategorien oder -routen. Wäh-
Nachrichten von großen Schiffbrüchen die                                        rend migrationspolitische Maßnahmen zwar
Migrationswilligen gar nicht erst erreichen.7                                   durchaus messbare Effekte auf das tatsächli-
Bedingungen im Herkunftsland, persönliche                                       che Migrationsvolumen haben können, fällt
Aspirationen und Gewalterfahrungen im Tran-                                     dieser Effekt im Vergleich zu anderen Migrati-
sitland spielen eine größere Rolle für die tat-                                 onsdeterminanten häufig nur gering aus.11 Tat-
sächliche Entscheidung zur Überfahrt;8 wer in                                   sächlich haben Staaten in anderen Bereichen
einem Lager in Libyen tagtäglich um sein Le-                                    der politischen Gestaltung einen wesentlichen
ben fürchten muss, ergreift trotz aller Risiken                                 größeren Einfluss auf Migrationsbewegungen,
so schnell wie möglich die Chance, nach Eu-                                     nicht zuletzt durch Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-
ropa gelangen.9                                                                 und Sozialpolitik oder Sicherheits- und Vertei-
                                                                                digungspolitik.12
4 RESTRIKTIVE MIGRATIONSPOLITIK KANN
                                                                                        Restriktive Migrationspolitik hat nach-
ZU SUBSTITUTIONSEFFEKTEN FÜHREN                                                 weislich tödliche Folgen, aber in bestimmten
                                                                                Kontexten mitunter nur geringe Auswirkun-
Restriktive Migrationspolitik kann neben inter-
                                                                                gen auf das tatsächliche Migrationsaufkom-
temporalen Effekten (sogenannten Jetzt-o-
                                                                                men. Was es braucht, ist eine fundamentale
der-Nie-Schüben) zu kategorischen und/oder
                                                                                Re-Orientierung, weg von einer Politik der Re-
räumlichen Effekten führen, welche u.a. die
                                                                                pression hin zu legalen, kontrollierten und

                                                                                experiences,    online   unter:   www.warwick.ac.uk/crossingthemed
5
  Heller, Charles/Lorenzo Pezzani (2016): Death by rescue: The lethal ef-       (11.05.2019).
fects of the EU’s policies of nonassistance at sea, London: University of
London, Goldsmiths College, online unter: www.deathbyrescue.org                 9
                                                                                 Andersson, Ruben (2017): Rescued and caught: The humanitarian–
(11.05.2019).                                                                   security nexus at Europe’s frontiers; in: Nicholas De Genova (Hg.): The
                                                                                Borders of ‘Europe’: Autonomy of Migration, Tactics of Bordering,
6
  Steinhilper/Gruijters (2018), basierend auf den Datenbanken von               Durham, NC, S. 64–94.
Frontex, IOM und UNHCR.
                                                                                10
                                                                                  De Haas, Hein (2011): The determinants of international migration;
7
    Crawley,      Heaven/Franck        Düvell/Katharine  Jones/Simon            DEMIG Working Paper 2, International Migration Institute, University
McMahon/Nando Sigona (2016): Destination Europe? Understanding                  of Oxford.
the dynamics and drivers of Mediterranean migration in 2015; MED-
MIG final report, online unter: http://www.medmig.info/research-brief-          11
                                                                                  Czaika, Mathias/Hein De Haas (2013): The Effectiveness of Immigra-
destination-europe.pdf (11.05.2019).                                            tion Policies; in: Population and Development Review 39.3, S. 487-508.
8
 Squire, Vicki/Angeliki Dimitriadi/Nina Perkowski/Maria Pisani/Dallal           12
                                                                                  Castles, Stephen (2010): Understanding global migration: A social
Stevens/Nick Vaughan-Williams (2017): Crossing the Mediterranean                transformation perspective; in: Journal of Ethnic and Migration Stud-
Sea by boat: Mapping and documenting migratory journeys and                     ies 36, S. 1565–1586.
                                                                            4
Judith Kohlenberger                               Kann EU-Außengrenzschutz das Sterben im Mittelmeer verhindern?
sicheren Flucht- und Migrationswegen, die so-                           Naht eine Patrouille der Militärpolizei, werden
wohl Schlepperei als auch Seenotrettungen                               sie von den Schleppern einfach ausgesetzt,
obsolet machen würden. Dazu kann die Lo-                                was pro Jahr zu Dutzenden Toten durch De-
ckerung von Visabestimmungen genauso bei-                               hydrierung führt. Zynisch ausgedrückt wird
tragen wie ambitionierte Resettlement-Pro-                              das Sterben im Mittelmeer vom Sterben in der
gramme, aber auch die Abschaffung von                                   Sahara abgelöst.
Sanktionen gegenüber Transportunterneh-                                 Andererseits hat die Kriminalisierung von
men, die Geflüchteten die Einreise ermögli-                             Schlepperei auch ökonomische Auswirkun-
chen (sogenannte „carrier sanctions“).13 Das                            gen und birgt Sicherheitsrisiken. Durch die
würde eine radikale Neu-Priorisierung in der                            Schließung von Fluchtrouten lässt sich in vie-
EU-Migrationspolitik bedeuten, die die Ret-                             len afrikanischen Ländern ein Anstieg der Ar-
tung von Menschenleben vor Außengrenz-                                  beitslosigkeit und eine Zunahme anderer kri-
schutz, Routenschließung und Bekämpfung                                 mineller Aktivitäten wie Drogenhandel be-
der Schlepperkriminalität stellt.                                       obachten. Beides wird u.a. auch durch rück-
                                                                        kehrende MigrantInnen aus Libyen bedingt,
                                                                        die nicht nach Europa ausreisen können, aber
5 FLÜCHTLINGSDEALS UND RÜCKKEHRAB-
                                                                        weder in Libyen bleiben noch in ihre Heimat-
KOMMEN WIRKEN DESTABILISIEREND AUF
AFRIKANISCHE LÄNDER                                                     länder zurückgehen möchten. Städte entlang
                                                                        ehemals hoch frequentierter Routen müssen
Neben Außengrenzschutz dominiert auch das
                                                                        Schulen oder Krankenhäuser schließen, die
Thema der effektiven Rückführung in Her-
                                                                        durch den Wegfall der Migrationsindustrie
kunfts- oder Transitländer die europäische
                                                                        nicht mehr finanziert werden können.15 Gleich-
Migrationspolitik. Die EU will sich Rücknahme-
                                                                        zeitig werden neue Transitrouten erschlossen,
abkommen, aber auch präventive Maßnah-
                                                                        z.B. via Algerien und Marokko.
men in Herkunftsländern viel kosten lassen:
                                                                                Projekte, die alternative Lebensgrund-
Bis 2020 soll etwa Niger eine Milliarde an Ent-
                                                                        lagen für ehemalige Schlepper schaffen sollen,
wicklungsgeldern erhalten, wovon ein großer
                                                                        befinden sich noch in der Pilotphase und kön-
Teil in die Prävention von Migration fließt.14 Das
                                                                        nen die entstehende Armut und Kriminalität
Geld wird dazu verwendet, Schmuggel und
                                                                        selten ausreichend lindern. Hier erscheint eine
Menschenhandel durch Militärpolizei zu be-
                                                                        Zweckwidmung der zuerkannten EU-Mittel
kämpfen, Fahrzeuge zu konfiszieren und Be-
                                                                        sinnvoll, nicht zuletzt um späterer Re-Migra-
treiber zu inhaftieren. Erste Effekte sind bereits
                                                                        tion entgegenzuwirken. Gleichzeitig muss
erkennbar: Laut der Internationalen Organisa-
                                                                        auch das vom Meer in die Wüste verlagerte
tion für Migration (IOM) hat der Migrationsfluss
                                                                        Sterben von MigrantInnen als europäische
in den letzten zwei Jahren seine Richtung ge-
                                                                        Verantwortung erkannt und adressiert wer-
ändert, sodass mehr MigrantInnen aus Libyen
                                                                        den.
nach Niger und weiter in ihre Heimatländer
wandern, als umgekehrt.
        Neben diesen Erfolgen gibt es aber
auch Rückschläge. Einerseits nehmen jene
MigrantInnen, die entgegen des derzeitigen
Trends dennoch nach Libyen und weiter in die
EU einreisen möchten, nun weitaus gefährli-
chere Anreisewege durch die Wüste auf sich,
die teils durch vermintes Gebiet führen oder
meilenweit von Wasserreserven entfernt sind.

13
     Vgl. auch die Policy Empfehlungen von Heller/Pezzani (2016).       15
                                                                          Penney, Joe (2018): Europe Benefits by Bankrolling an Anti-Migrant
                                                                        Effort. Niger Pays a Price; In: The New York Times, online unter:
14
   Siehe dazu: https://ec.europa.eu/europeaid/news-and-events/eu-       https://www.nytimes.com/2018/08/25/world/africa/niger-migration-
will-support-niger-assistance-eu1-billion-2020_en (11.05.2019).         crisis.html#click=https://t.co/2U9if2SyIO (11.05.2019).
                                                                    5
AUTORIN
                    Dr. Judith Kohlenberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für So-
                    zialpolitik, Department für Sozialökonomie, an der Wirtschaftsuniversität Wien
                    und Gastforscherin am Wittgenstein Centre for Demography and Global Hu-
                    man Capital (IIASA, VID/ÖAW, WU).

                    Kontakt: judith.kohlenberger@wu.ac.at

Der Policy Brief repräsentiert die Meinung der Autorin und spricht nicht für Ponto als Organisation.

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                                                                                           Mai 2019

                                       Ponto – Grassroots Think Tank für Europa- und Außenpolitik
                                                                       office@pontothinktank.org
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