Zur Bedeutung der Grundrechte für eine rechtsstaatliche Polizei

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Zur Bedeutung der Grundrechte für eine
                     rechtsstaatliche Polizei *

                         Wolfgang Hoffmann-Riem

Liebe Absolventinnen und Absolventen!
Zunächst möchte ich einen herzlichen Glückwunsch an alle neugebackenen
Bachelors aussprechen. Sie haben einen wichtigen Abschnitt in Ihrem
Berufsleben erfolgreich beendet und stehen sofort wieder vor neuen
Aufgaben.
Sollten aber auch einige bei dieser Feier dabei sein, die es nicht geschafft
haben: Erfolg und Glück im Leben hängen nicht allein an Abschlüssen und
Urkunden. Auch Sie werden vieles in der Ausbildung gelernt haben,
vielleicht nicht hinreichend gerade das für Prüfungen Wichtige; aber es gibt
vieles für das Leben Wichtige, das in Prüfungen nicht abgefragt wird.
Jedenfalls auch für Sie sind viele Chancen offen, darunter auch solche, bei
denen Sie eventuell glücklicher werden als nach einem Bachelorabschluss.
Diese Ermunterung soll allerdings nicht darüber hinwegtrösten, dass es für
Sie natürlich schöner gewesen wäre, auch heute zum Bachelor „geadelt“ zu
werden.

Liebe Absolventinnen und Absolventen, die heutige Feier gilt einem
wichtigen Abschnitt in Ihrer Biografie. Das Thema: „Rechtsstaat –
Grundrechte – Polizei“ benennt zugleich ein Leitmotv für Ihre zukünftige
Arbeit. Benannt sind abstrakte Begriffe und Institutionen. Betroffen sind
aber auch konkrete Institutionen, in denen die Begriffe mit konkretem
Inhalt gefüllt werden sollen, wenn Sie in ihnen arbeiten. Die Stichworte
betreffen daher auch Ihre weitere Biografie. Für Sie geht es insoweit
•      um einen gelebten Rechtsstaat;
•      um Grundrechte als Handlungsmaßstab, auch als persönliche
       Orientierung;
•      um Ihre Mitarbeit an der Sicherung von Gemeinwohl und dem
       Schutz von Individualinteressen in einer rechtsstaatlichen
       Demokratie.

In solchen Dimensionen zu leben ist vielleicht auch Last, jedenfalls aber ist
es ein großartiges Privileg. An diesem Privileg können und dürfen Sie
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teilhaben, weil in Deutschland der Aufbau eines Rechtsstaats gelungen ist –
trotz vielleicht noch verbleibender Defizite besser als in den meisten
Staaten der Welt. Es handelt sich jedenfalls um ein Privileg, um das Sie
und uns Deutsche viele Menschen beneiden, die nicht oder noch nicht in
einem Rechtsstaat leben. Etwa Menschen in Syrien oder im Iran, in
Russland und mehreren ehemaligen Ostblockstaaten, aber auch in Ägypten
oder Tunesien und Libyen, wo zurzeit völlig offen ist, ob der arabische
Frühling auch einen rechtsstaatlichen Sommer bringen wird. Einen
Rechtsstaat in unserem Sinne gibt es nicht in China und auch nicht in den
meisten afrikanischen und südamerikanischen Staaten.
Würden die Staaten mit gelungener Rechtsstaatlichkeit auf einer Weltkarte
farbig gekennzeichnet werden, erschienen sie als Inseln in einem
weitgehend anders gefärbten Meer politischer Systeme.
Der Verweis auf ferne Staaten darf aberden Blick darauf nicht versperren,
dass es auch in Westeuropa noch viele Defizite gibt, auch in mehreren der
von der Finanz- und Schuldenkrise besonders hart getroffenen Staaten. In
Staaten ohne funktionierende Steuerverwaltung, ohne leistungsfähige
Gerichte und mit erheblichen Prisen von Korruption lässt sich eine
prosperierende Volkswirtschaft nicht, jedenfalls nicht dauerhaft, aufbauen.
Ohne Verstärkung der Rechtsstaatlichkeit wird es daher auch kein Ende der
Finanzkrisen geben.
Auch in Deutschland muss gelebte Rechtsstaatlichkeit jeden Tag neu
errungen werden. Dies ist eine Herausforderung für jedermann, auch für
mich. Den heutigen Anlass, ein wichtiger Tag in Ihrer Biografie, möchte
ich nutzen, um zu dem mir aufgegebenen Thema unter Rückblick auf
meine eigene Biografie zu sprechen.
Als Staatsbürger und Familienvater ist auch mein Handeln durch einen
rechtsstaatlichen Rahmen geprägt. Fünf Jahre habe ich als Rechtsanwalt
gearbeitet; jahrzehntelang war ich (und bin es weiter) Hochschullehrer; ich
habe als Politiker in der Rolle als Minister gehandelt und war gut acht Jahre
lang Richter. Gegenwärtig bin ich Mitglied einer Kommission des
Europarats, der so genannten Venedig-Kommission mit dem ausführlichen
Namen: „European Commission for Democracy through Law“. Ihre
Aufgabe ist es, den neuen Demokratien beim Aufbau von
Rechtsstaatlichkeit beizustehen – dies nicht nur in Europa, sondern auch in
anderen Teilen der Welt, etwa Nordafrika oder Südamerika. Nicht darüber
möchte ich jetzt sprechen, sondern über persönliche Erlebnisse, die mir die
Bedeutung rechtsstaatlicher Grundrechte besonders plastisch gemacht
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haben. Ein wichtiges Beispielsfeld – das auch für viele von Ihnen
bedeutsam sein wird – ist das Grundrecht der Versammlungsfreiheit.
Blicken wir also ein wenig in die Zeit zurück, als ich persönlich zum ersten
Mal mit diesem Grundrecht praktisch konfrontiert wurde.
1964 erhielt ich ein USA-Stipendium der Studienstiftung des deutschen
Volkes mit freier Wahl der Universität. Wegen des guten Wetters entschied
ich mich für die University of California, nämlich den Campus Berkeley.
Auf diesem Campus begann zu meinem Erstaunen schon bald nach meiner
Ankunft der Aufruhr. Ich versichere Ihnen, mit mir hatte das nichts zu tun.
Vielmehr hatten einige Studenten einen Tisch zum Verkauf von Büchern –
auch solchen mit politischem, aber keineswegs radikalem, Inhalt - auf dem
Campus aufstellen wollen und die Regents der Universität – nach
deutschem Verständnis eine Art Hochschulrat - verboten dies: die
Universität müsse frei von Politik gehalten werden. Es kam zu
Solidarisierungen und zu sit ins. Die Polizei erschien und reagierte völlig
unproportional, ja in Manchem brutal. Eines Tages verhaftete sie fast 800
Studenten. Die Solidarität unter Studenten und Professoren wuchs. Die
Studenten Mario Savio und Arthur Goldberg wurden zu Helden des
Aufstands – so wie etwa Rudi Dutschke später in Deutschland. Bob Dylan
und Joan Baez saßen unter den Streikenden und sangen zur Gitarre.
Geboren war das free speech-movement. So hieß der Protest, von dem
schnell deutlich wurde: es ging nicht um Büchertische, sondern um eine
Gesellschaft, die sich noch nicht aus den Verkrustungen der Vergangenheit
befreit hatte. Der Protest weitete sich aus und gebar einen Ableger: das free
sex-movement mit Zentrum in Sausalito und dem Start der Hippie-
Bewegung. Der Protest fand noch im selben Jahr neue Gegenstände und
Formen: Er mutierte insbesondere zur Anti-Vietnamkriegs-Bewegung und
zu machtvollen Demonstrationen gegen Präsident Johnson und dessen
imperialistische Vietnampolitik. Die Solidarisierung und Aktivierung war
ein Lehrstück in direkter Demokratie. Die etablierte Macht wurde in Frage
gestellt und ihre Träger reagierten unproportioniert. Die amerikanische
Polizei war offenbar nicht darauf vorbereitet, wie ein Rechtsstaat mit
Protest so umgeht, dass er nicht prinzipiell als Gefahr verbucht und gleich
unterdrückt wird, sondern auch produktiv werden kann.
 Es waren auf dem Campus Tage des Gemeinschaftsgefühls, begleitet durch
den Gesang von Joan Baez. Es waren Tage des Aufbruchs in eine andere
Art von Gesellschaft, eines neuen Gefühls von Macht durch Worte, aber
auch durch kollektive Aktion. Es waren auch Tage der Erfahrung einer
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Staatsgewalt, die Repression am besten beherrschte. Das aber reichte jetzt
nicht mehr. In gewisser Weise können die damaligen Protestierer der
Staatsgewalt dankbar sein, dass sie durch unangemessene Reaktion den
Protest schürte und seine Ausbreitung beförderte und der
Studentenbewegung den Weg bereitete, tiefe Furchen für gesellschaftliche
Veränderungen zu ziehen.
Als ich 1965 wieder die USA verließ, trat die Studentenbewegung ihren
Siegeszug um den Globus an. Deutschland erreichte sie 1967 und 1968.
Schon zu Beginn hatte es in Berlin das Intermezzo der Prügel-Perser
gegeben. So wurden Mitarbeiter des Geheimdienstes des Schahs von
Persien genannt, die deutsche Protestierer gegen den Schah-Besuch ohne
jede rechtsstaatliche Grundlage und Rücksichtnahme niederknüppelten,
ohne dass dies von der deutschen Polizei verhindert wurde.
Die Zeiten in Deutschland wurden bewegter. In Hamburg – ich war
Referendar und wissenschaftliche Hilfskraft an der dortigen Universität –
kam es zu heftigen Demonstrationen gegen den Verleger Axel Springer und
seine vorherrschende Macht im Pressebereich. Es kam zu Blockaden der
Zeitungsauslieferung. Mehrere Demonstranten wurden verhaftet und später
verurteilt – zu mindestens drei Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung.
Ein Student der Kunsthochschule bat mich, ihn zu verteidigen.
In dieser meiner ersten Zeit als Strafverteidiger hatte ich ein Erlebnis der
besonderen Art. Während ich einmal bei meinem Referendarausbilder zur
Besprechung eines Votums war, erreichte ihn ein Anruf. Es meldete sich
ein Vertreter des Verfassungsschutzes. Er wollte sich nach einem
Referendar namens Hoffmann – so hieß ich damals noch – erkundigen,
nach dessen politischer Einstellung. Ich war seinerzeit politisch völlig
inaktiv. Eine einzelne Prozessvertretung, und schon war ich im Visier des
Verfassungsschutzes!
Hier habe ich zum ersten Mal aus eigener Anschauung gelernt, dass
rechtsstaatliches Engagement – Hilfe bei der Rechtsverteidigung – auch in
einem Rechtsstaat nichts Selbstverständliches ist, sondern Argwohn
auslösen kann. Natürlich war der Anruf eines Verfassungsschützers nichts
Verbotenes. Aber warum die Frage bei einem Ausbilder? Ich deutete dies
als Anschwärzung. Heute sehe ich das gelassener, hätte aber meine stille
Freude, wenn der Anrufer von damals jetzt erführe, dass der seinerzeitige
Referendar später Richter des Bundesverfassungsgerichts wurde, und zwar
als Berichterstatter für alle Fragen der Versammlungsfreiheit und des
Persönlichkeits- und Datenschutzes.
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Für mich war 1964 der Auftakt für mein gesteigertes Interesse an den
politischen Grundrechten. In der Folgezeit, insbesondere während der
Studentenbewegung, habe ich erlebt, wie wichtig der Schutz durch ein
Freiheitsrecht ist, wenn in einem kontroversen Feld für Themen geworben
und für gesellschaftlichen Wandel demonstriert wird. Als Schüler von
Gerhard Wacke, seinerzeit ein führender Polizeirechtler in Deutschland,
Autor des als „Drews/Wacke“ bekannten Lehrbuchs – später
“Drews/Wacke/Vogel/Martens“ - , habe ich mich viel mit Polizeirecht
befasst, und zwar durchgängig mit dem Ziel der Stabilisierung des
Rechtsstaats. Dieses Ziel verfolgte auch meine 1977 ausgesprochene
Warnung vor einer Privatisierung der Polizeigewalt. Meine Absicht war es,
die Maßgeblichkeit rechtsstaatlicher Grenzen bei der Ordnungssicherung zu
wahren, die bei der staatlichen Polizei bessere Obhut findet als bei privaten
Sicherheitskräften.     Seitdem       ist     das     Gewerbe        privater
Sicherheitsgewährleistung ausgebaut und die Kooperation mit der Polizei –
auch im Bereich der Ausbildung ist verstärkt worden. Meine damaligen
Bedenken sind gleichwohl nicht ausgeräumt.
Auch bei anderen Fragen habe ich Anlass gesehen, immer wieder auf
rechtsstaatliche Maßgaben hinzuweisen. So habe ich in den 70iger Jahren
die im damaligen Musterentwurf einheitlicher Polizeigesetze enthaltenen
Regelungen über Personalienfeststellung unter rechtsstaatlichen Aspekten
kritisiert. Der Beitrag wurde in einer überregionalen Tageszeitung unter
dem Titel abgedruckt: „Wie sich der Rechtsstaat selbst ein Bein stellt“.

Durch Mitarbeit an einem Gegenentwurf, dem „Alternativentwurf
einheitlicher Polizeigesetze des Bundes und der Länder“, habe ich
seinerzeit zusammen mit anderen versucht, auch in weiteren Hinsichten
rechtsstaatliche Standards besser zu präzisieren. Wir haben erstmals
spezielle datenschutzrechtliche Regeln für das Polizeirecht formuliert,
damals noch sehr zurück haltend. Dieses Thema hat seitdem viel
Aufmerksamkeit gefunden und mich vor allem später als
Verfassungsrichter immer wieder gefordert. So war ich Berichterstatter des
1. Senats für die Entscheidungen zum großen Lauschangriff, zur
Rasterfahndung, zur Telekommunikationsüberwachung, zur Online-
Durchsuchung, zur ersten Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung und
zu vielen weiteren Entscheidungen, auch aus dem Feld
Terrorismusbekämpfung. Hier waren häufig härtere Nüsse zu knacken als
im Versammlungsrecht.
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Ich vermute, mehrere hier Anwesende sind nicht über alle diese
Entscheidungen glücklich. Ein Gericht wie das Bundesverfassungsgericht
entscheidet über Konflikte mit unterschiedlichen Akteuren und heterogenen
Interessen. Es darf die Konflikte nicht nur aus einer Perspektive besehen,
sondern muss im Rahmen des Rechts einen Ausgleich unter Beachtung
verschiedener Sichtweisen und Interessen anstreben. Wie das hohe
Ansehen des Gerichts – auch bei der Polizei – zeigt, scheint ihm dies (alles
in allem) doch relativ gut gelungen zu sein.
Dabei ergeben sich immer neue Herausforderungen für die konkrete
polizeiliche Arbeit, aber auch für deren richterliche Kontrolle. In Zeiten in
vielem entgrenzter, auch globaler, Gefährdungen, aber auch globaler
Vernetzungen von Kommunikationswegen und angesichts der digitalen
Revolution des Internet und seiner Dienste wird nicht nur die polizeiliche
Aufgabe immer schwieriger. Die Sorge um den Erhalt rechtsstaatlicher
Standards bei der traditionellen Gefahrenabwehr, aber vor allem bei der
immer weiter in das Vorfeld von Gefahren verschobenen präventiven
Tätigkeit nötigt zum ständigen Überdenken bisheriger Lösungen und zur
Suche nach neuen. Das Bundesverfassungsgericht verlangt nämlich dort,
wo die rechtsstaatliche Schutzfunktion des traditionellen Gefahrenbegriffs
entfällt,    handlungsbegrenzende        Tatbestandselemente       in     der
Ermächtigungsnorm, die einen Standard an Vorhersehbarkeit und
Kontrollierbarkeit vergleichbar dem schaffen, der für die überkommenen
Aufgaben der Gefahrenabwehr geboten ist (BVerfGE 110,33, 55f).

Lassen Sie mich noch einmal auf das Beispiel der Versammlungsfreiheit
zurückkommen. Besonders häufig war ich als Verfassungsrichter mit
Anträgen zum Schutz der Versammlungsfreiheit von Neonazis befasst,
meist im Rahmen von Eilanträgen gegen Versammlungsverbote oder
Auflagen. Der Grundrechtsschutz ist weder von dem Inhalt des Anliegens
noch von der politischen Überzeugung der Initiatoren und Teilnehmer von
Versammlungen abhängig. Die Ordnungsbehörden, die Polizei und die
Gerichte stehen daher vor der Aufgabe, ein Freiheitsrecht auch zum Schutz
für Ewig-Gestrige einzusetzen, für dumpfe Ideologen und für Personen,
denen es an Toleranz für Ausländer oder Obdachlose fehlt und die den
Rechtsstaat sogar verspotten. Weder für eine Behörde noch für ein Gericht
darf aber Antipathie zu den um Grundrechtsschutz nachsuchenden
Personen bestimmend werden. Auch Neonazis dürfen sich auf Grundrechte
berufen. Das Grundgesetz hat zwar eine wehrhafte Demokratie geschaffen,
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die Wehrhaftigkeit aber auf den Einsatz von Mitteln begrenzt, die ihrerseits
rechtsstaatlichen Anforderungen genügen.
Die Gesetze in der Bundesrepublik enthalten solche Mittel und ermöglichen
den Schutz auch vor Rechtsextremisten, etwa wenn sie Leib oder Leben
gefährden, wenn sie Bürger durch paramilitärisches Auftreten
einschüchtern oder Strafgesetze verletzen, auch solche, die vor einer
Störung des öffentlichen Friedens durch Billigung oder Rechtfertigung der
nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft schützen sollen.

Das Bundesverfassungsgericht wurde Anfang dieses Jahrtausends mit einer
Vielzahl von Eilanträgen aus dem Neonazi-Umfeld gegen Verbote und
Auflagen für Versammlungen befasst. In überraschend vielen Fällen kam
das Gericht zu der Einschätzung, dass diese Beschränkungen den
rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügten. Es drängte sich dem
Gericht der Eindruck auf, dass manche Behörden und Gerichte sich
weniger am Grundsatz rechtsstaatlicher Liberalität als an dem öffentlichen
Druck orientierten, ein Zeichen gegen die Neonazis um jeden Preis zu
setzen, auch um den Preis von zweierlei Maß oder von rechtsstaatlicher
Unfairness. Hier hat das Gericht vielfach interveniert und die Praxis von
Gerichten und Behörden hat sich danach verändert – ein Zeichen für einen
funktionierenden Rechtsstaat.
Dem Gericht war bewusst, dass seine Entscheidungen den
Ordnungsbehörden und der Polizei eine große Verantwortung auflasteten
und die einzelnen Polizeibeamten in Situationen bringen konnten, in denen
sie sich im Interesse des Freiheitsschutzes auch selbst Gefährdungen
aussetzten. Die Probleme sind heute für die handelnden Polizeibeamten
keineswegs geringer geworden, wie nicht zuletzt das militanter gewordene
Auftreten von linken Gegendemonstranten und Schwarzen Blocks und
rechten Gegenblocks verdeutlichen.
Ich beneide niemanden, der als Polizeibeamter in solche
Konfliktsituationen gerät, dort besonnen handeln soll und berücksichtigen
muss, dass der Rechtsstaat ihm nicht alle Mittel ermöglicht, die er evtl. in
der konkreten Situation gern verfügbar hätte. Dass der Rechtsstaat die
Grenzen nicht nur für Versammlungsteilnehmer, sondern auch für die
Polizei umschreibt, hat aber auch eine Schutzfunktion: Wer sich an die
rechtsstaatlichen Grenzen hält, kann im Streitfall auch auf den Schutz des
Rechtsstaats vertrauen.

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Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht bürgerschaftlicher
Selbstentfaltung, das grundsätzlich in allen Lebensbereichen nutzbar ist. Es
ist auch für eine Demokratie zentral, etwa weil es Chancen für sozialen
Wandel eröffnet – ich erinnere an das Beispiel der Studentenbewegung. Es
ist zugleich ein Mittel zur Sicherung von politischer Stabilität angesichts
von widersprüchlichen Interessen, unterschiedlichen Werten und
segmentierten Lebenswelten, wie sie moderne Demokratien kennzeichnen.
Versammlungen sind auch ein Frühwarnsystem zur Erfassung des
gesellschaftlichen Potentials an Unzufriedenheit – häufig auch nur ein
Ventil für aufgestockten Unmut - und sie können als Katalysator für Neues
wirken.
Sie können auch ein Indikator für einen beginnenden Wertewandel sein,
etwa für Veränderungen im Lebensgefühl und in den Befindlichkeiten
weiter Gesellschaftskreise. Gerade wegen solcher Funktionen des
Freiheitsrechts sind freiheitliche Demokratien stärker als solche
Rechtsordnungen, in denen die jeweiligen Machthaber sich zur Repression
Andersdenkender berechtigt sehen.
Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland mit einer gewachsenen und
stabilen rechtsstaatlichen Verfassung haben keinen Anlass, Kritik, auch
fundamentale Kritik, als grundsätzlich unerwünscht zu definieren oder die
Nutzung von Grundrechten an die politische Überzeugung der Handelnden
zu binden. Auch Kritik an der Verfassung ist erlaubt. Hierzu hat das
Bundesverfassungsgericht formuliert: „Das Grundgesetz baut zwar auf der
Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung
akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht. Die
Bürger sind daher auch frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in
Frage zu stellen, solange sie dadurch Rechtsgüter anderer nicht gefährden.
Die plurale Demokratie des Grundgesetzes vertraut auf die Fähigkeit der
Gesamtheit der Bürger, sich mit Kritik an der Verfassung
auseinanderzusetzen und sie dadurch abzuwehren.“ (So schon BVerfG
NJW 2001, S. 2069, 2070).
Solche Feststellungen zur           Reichweite     der   Meinungs- und
Versammlungsfreiheit aber befreien nicht von der fortwährenden Aufgabe,
das jeweils geltende Versammlungsrecht auf den Prüfstand zu stellen, ob es
den Schutzanforderungen noch gerecht wird. Dies gilt auch für die
gegenwärtigen Versammlungsgesetze. Das alte Versammlungsgesetz des
Bundes hat sich zwar in vielem bewährt, ist aber auch in die Jahre
gekommen. Deshalb gibt es Überlegungen zu seiner Modernisierung, so
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auch in der vergangenen Legislaturperiode im Schleswig-holsteinischen
Landtag und erneut bei der jetzigen Landesregierung. Auch insoweit habe
ich mich in die öffentliche Diskussion eingemischt. Zusammen mit
Kollegen habe ich einen „Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes“
(2011) – als Angebot an die mit der Neufassung des
Versammlungsgesetzes befasste Politik – erarbeitet. Er geht gezielt von der
Versammlungsfreiheit als Freiheit bürgerschaftlicher Selbstbestimmung
aus und soll neben einer Anpassung der Rechtsnormen an veränderte
Erscheinungsformen von Versammlungen und Gefährdungen von
Rechtsgütern auch die Klarheit und Bestimmtheit der Regeln verbessern.
In der Zeit, als das Bundesverfassungsgericht viele in der Öffentlichkeit
kritisierte Entscheidungen zur Versammlungsfreiheit getroffen hatte, habe
ich häufig mit Polizeibeamten gesprochen. Diese haben mir vielfach
gesagt: Besonders schwierig sei ihre Aufgabe, wenn die rechtlichen
Grundlagen unklar seien und sie in konkreten Konflikten mit Unsicherheit
konfrontiert seien.
Sie müssten gerade bei solchen komplexen und schwierigen Einsätzen, wie
sie bei Versammlungen häufig sind, möglichst genau wissen, welche
rechtlichen Maßstäbe für ihr Handeln gelten. Dann würden sie diese auch
loyal anwenden. Ich denke, das ist die einem Rechtsstaat gemäße Haltung,
und zwar weit über den Bereich der Versammlungsfreiheit hinaus.

Ihnen, liebe Absolventinnen und Absolventen, wünsche ich, dass Sie Ihre
vor Ihnen stehenden schwierigen beruflichen Aufgaben in dieser Haltung
bewältigen können. Dabei wünsche ich Ihnen eine gute Hand, Glück und
Erfolg.

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      Festansprache aus Anlass der Verabschiedung der Abschlussjahrgänge
      Polizei und Sicherheitsmanagement (2012) am 28.6.2012 in Kiel.

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