Kein Programm links von der Mitte - Öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Frankreich - Bibliothek der Friedrich ...

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Kein Programm links von der Mitte - Öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Frankreich - Bibliothek der Friedrich ...
Kein Programm links
  von der Mitte
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk
in Frankreich

Sébastien Poulain

                                                                 ab. Seit 1981, dem Beginn der Präsidentschaft von François
 AUF EINEN BLICK                                                 Mitterrand, reguliert eine als unabhängig bezeichnete Me-
 Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Frankreich                dienaufsichtsbehörde (Conseil supérieur de l’audiovisuel,
 unterliegt in hohem Maße der Einflussnahme                      CSA; seit Januar 2022 Autorité de régulation de la commu-
 durch Politik und Behörden. Dabei ist er zur de-                nication audiovisuelle et numérique, Arcom) unter anderem
 mokratischen Grundversorgung der Bürger_in-                     die Frequenzen, schlägt aber auch die Intendant_innen der
 nen geschaffen und unabdingbar. Er befördert                    öffentlich-rechtlichen Sender vor, die vom Präsidenten er-
 eine kulturelle Debatte, die sich um Inklusion,                 nannt werden. Die Kräfteverhältnisse haben sich durch das
 Vielfalt und gesellschaftlichen Zusammenhalt                    Aufkommen der unabhängigen, kommerziellen Radio- und
 bemüht – trotz äußerer Angriffe, Sparmaßnah-                    Fernsehsender sowie der zahlreichen internetbasierten
 men und der bevorstehenden Wahlen.                              Konkurrenzangebote weiter verschoben. Mit ihnen gehen
                                                                 erneut mögliche Einflussnahmen aus dem Ausland und
                                                                 Gefahren für die öffentliche Ordnung einher. Zu nennen
                                                                 wären hier Cyberattacken, Lauschangriffe, Terrorismus,
Während der französische Staat bei den Printmedien zu-           Mobbing und Stalking, Piraterie, Falschinformation und
rückhaltend agiert, kommt ihm im Bereich des Rundfunks           das Schüren eines öffentlichen Misstrauens.
historisch eine bedeutende Rolle zu. Denn die Rundfunk-             Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sieht sich insgesamt
und Fernsehtechnologie wurde – aus Sorge vor einer Ein-          einem gesellschaftlichen Trend gegenüber, den man „Ube-
flussnahme durch ausländische Medien – von Beginn an             risierung“ nennen könnte. Dazu gehören Privatisierung,
als Gefahr für die französische Souveränität und die Ho-         abnehmende Finanzmittel, Prekarisierung, Konformismus
heit über die Frequenzen – aus Sorge vor einer Bedrohung         und Abwertung. Er befindet sich also in der Defensive und
durch anarchistische Kräfte im eigenen Land – als zentral        erhofft sich vom Staat finanzielle Unterstützung und Vor-
angesehen. Nach der militärischen und zivilen Erprobung          gaben. Ersteres erhält er nicht, an Zweitem arbeitet die EU
von Radio und Fernsehen wurden im Jahr 1941 Rundfunk-            in Form von E-Privacy-Verordnung, Datenschutz-Grund-
sender und ein öffentlich-rechtlicher Informationsdienst         verordnung (DSGVO), Digital Markets Act (DMA)/Digital
eingerichtet sowie 1941 das staatliche Rundfunkmonopol           Services Act (DSA) und der Richtlinie über audiovisuelle
geschaffen. Der Einfluss des französischen Staates blieb         Mediendienste.
auch nach der Gründung der staatlichen Rundfunk- und                Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Frankreich
Fernsehanstalt (Office de radiodiffusion-télévision française,   geht es darum, ein hochwertiges und pluralistisches Ange-
ORTF) im Jahr 1964 durch General Charles de Gaulle noch          bot zu sichern. Dieses muss gleichermaßen europäisch wie
lange unverkennbar.                                              regional ausgerichtet, digital und innovativ, solidarisch
   Seit 1953 propagiert der öffentlich-rechtliche Rundfunk       und inklusiv, kreativ und demokratisch sein.
in Frankreich den Dreiklang aus Information, Kultur und
Unterhaltung (informer, cultiver, distraire). Damit verbun-
den sind auch der demokratische Austausch, kulturelle            DAS DIGITALE ZEITALTER
Vielfalt mit den wichtigen Aspekten der Staatsbürger-
schaft, Integration und Inklusion sowie letztlich der gesell-    Unübersehbar verlagert sich der Medienkonsum ins Digi-
schaftliche Zusammenhalt. Mit der Liberalisierung der            tale. Radio und Fernsehen werden zunehmend über DSL/
Medienbranche nimmt die Rolle des französischen Staates          Glasfaser oder 4G- bzw. 5G-Netze empfangen, Videoinhal-

                                                                        FES impuls — Öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Frankreich   1
te auf dem Smartphone. Seit dem Jahr 2019 verbringen die                 fenheit, Bürgersinn und Solidarität trägt der öffentlich-
Menschen weltweit und täglich mehr Zeit im Internet als                  rechtliche Rundfunk zur Emanzipation und Entfaltung der
vor dem Fernseher.1 Zwischen den Gewohnheiten der Jün-                   einzelnen Menschen bei.
geren, die zwar eher individualistisch, aber gut vernetzt                   Der französische öffentlich-rechtliche Rundfunk ist we-
sind, und denen der älteren Generation, die gemeinschaft-                niger reißerisch, vermeidet die Jagd nach „Buzz“ und den
liche Angebote bevorzugt, tariert sich der Medienkonsum                  Kampf um Einschaltquoten um jeden Preis. Er ist wirt-
neu aus. Diese „Aufmerksamkeitsökonomie“2 gehorcht                       schaftlich weniger liberal und aus gesellschaftlicher Sicht
­zunehmend dem Pull- (Nachfrage), weniger dem Push-                      weniger konservativ. Er stellt Recherche und Verifizierung
 Prinzip (Angebot) und erfordert neue Sende- (vonseiten                  über Desinformation und Gerüchte, Reflexion und Diskus-
 der Rundfunk- und Internetanbieter) und Sichtbarkeits-                  sion über Streit und Meinungsmache, Toleranz und Offen-
strategien (in den App Stores, auf Fernbedienungen und                   heit über Hass und Diskriminierung. Dies gilt auch für die
Benutzeroberflächen).                                                    Unterhaltungsprogramme, die eher kulturell und intellek-
    Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Frankreich hat                 tuell, kollaborativ und partnerschaftlich, weniger gewalt-
daher neue Wege eingeschlagen. Er wandelt sich, indem er                 orientiert und stigmatisierend, wettbewerbsorientiert und
die ATAWAD-Philosophie (any time, anywhere, any device)                  individualistisch sind.
der globalen Medien übernimmt und mithilfe der neuen                        Der öffentlich-rechtliche Rundfunk will eine demokrati-
Informations- und Kommunikationstechnologien das                         sche „Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) schaffen, indem
360-Grad-Spektrum der globalen Medien bedient. Aktuell                   er unterschiedlichen religiösen, politischen, gewerkschaft-
ist francetvinfo.fr, mit 140 Millionen Besucher_innen im                 lichen, kulturellen, gesellschaftlichen und künstlerischen
August 2021 gegenüber 100 Millionen im Frühjahr 2017,                    Gruppen eine Stimme gibt, ohne sie zu vergemeinschaften.
die am stärksten frequentierte französische Nachrichten-                 Sein inklusiver Ansatz steht der „Rechtsextremisierung“
seite im Internet. Die vom öffentlich-rechtlichen Sender                 des 24-h-Nachrichtensenders CNews (nach dem Muster
Radio France produzierten Podcasts werden pro Monat                      von Fox News) und des Unterhaltungsfernsehsenders C84
etwa 80 Millionen Mal heruntergeladen. Grundlage dieses                  der mächtigen Bolloré-Gruppe (Transport und Logistik,
Erfolgs ist unter anderem, dass die Sender alle Urheber-                 Medien, Entertainment) gegenüber. Diese verfolgen eine
rechte besitzen. France Télévisions hält hingegen nur bei                fremdenfeindliche Agenda, die Minderheiten, Arme, Mig-
20 Prozent der Produktionen die Rechte. Dort griffen im                  rant_innen, Muslim_innen, Jugendliche aus den Vorstäd-
August 2021 nur 21,5 Millionen Unique User auf Beiträge                  ten, Linke und Umweltschützer_innen stigmatisiert, und
in der Mediathek zu.                                                     überschreiten damit die Grenzen dessen, was ihr journalis-
                                                                         tischer Auftrag ist. Außerdem unterstützen sie – über ihre
                                                                         Moderator_innen, Leitartikler_innen und Gäste – den Prä-
DIE BESONDERHEITEN DER ÖFFENTLICH-                                       sidentschaftskandidaten Éric Zemmour (ehemals politi-
RECHTLICHEN                                                              scher Kolumnist diverser Zeitungen und Moderator von
                                                                         CNews), insbesondere indem sie seine militante staats­
Trotz der Plattformen, auf denen nicht lineare Social-Me-                medienfeindliche Haltung rechtfertigen.
dia-Inhalte im industriellen Stil produziert werden, dürf-                  Dabei ist der öffentlich-rechtliche Rundfunkt preiswert
ten weder lineare Programme mit ihren kostenlosen Ange-                  und finanziert Kultur und Produktionen in großem Stil.
boten und ihrer Möglichkeit zum gemeinschaftlichen Kon-                  Pro Jahr sind dies rund 600 Filme auf seinen Sendern (dar-
sum noch TV- bzw. Radiogeräte in Zukunft verschwin-                      unter 430 der rund 2.300 auf den kostenfreien digitalen
den – Letztere, weil sie sich anonym nutzen lassen und zu-               Kanälen bei Arte) und deutlich mehr Erstausstrahlungen
dem praktisch sind. Doch inwieweit der öffentlich-rechtli-               als bei den kostenfreien Privaten (28 Prozent auf France
che Rundfunk diese positive Prognose erfüllen wird, liegt                TV und Arte gegenüber 13 Prozent bei den Privaten).5 Der
maßgeblich an der Qualität und Vielfalt seiner Angebote.                 öffentlich-rechtliche Rundfunk trägt damit zum Pluralis-
    So lässt sich die Besonderheit3 der Öffentlich-Rechtli-              mus und zum sozialen Zusammenhalt bei. Er bremst die
chen in Abgrenzung zu den Privaten langfristig an zweier-                Auswirkungen marketingorientierter Formate, der Stan-
lei festmachen, nämlich daran, was er macht (Dokumenta-                  dardisierung und der konvergenz- und konzentrationsstra-
tionen, investigative Berichterstattung, Politik, Bildung,               tegisch bedingten „Zirkulation“ von Inhalten (Pierre Bour-
Wissenschaft, Kultur und Unterhaltung) und wie er es                     dieu) und festigt die Demokratie.
macht (vielfältiger, mit mehr Tiefgang, in größere Kontexte
eingebettet, ausgewogener und sachlicher). Hinzu kommen
lokale, bisher unveröffentlichte Produktionen oder solche,
die sich mit dem kulturellen Erbe befassen. Durch Förde-
rung eines kritischen und kreativen Bewusstseins, von Of-

1 Zenith, Rapport, 2020.
2 Yves Citton, L’économie de l’attention, La Découverte, 2014.
3	
  Im Original „distinctiveness“, F. Marty, G. Tremblay, A.-J. Bizimana, & O. Kane, Le service public médiatique à l’ère numérique, RFSIC, 2021.
4 C. Sécail, L’élection présidentielle 2022 vue par Cyril Hanouna, lesfocusdulcp, 2022.
5 CNC, La diffusion des films à la télévision en 2019, 2020.

2    Kein Programm links von der Mitte — FES impuls
WIDERSPRÜCHLICHE VORGABEN
                                                                    Öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Frankreich
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Frankreich muss
sich mit widersprüchlichen und immer anspruchsvolleren                                       Radio Tour Eiffel geht
Vorgaben staatlicher Behörden auseinandersetzen: Da wird                 1921
                                                                                             auf Sendung
Kreativität gefordert, aber zugleich Wirtschaftlichkeit;
­R isikobereitschaft, aber zugleich höhere Einschaltquoten;
 „offizielle“ Kulturangebote ebenso wie Unterhaltung; Bud-
 gets werden gekürzt, aber die Aufgaben nehmen zu; jour-                                     Beginn der TV-
                                                                         1935
 nalistische Freiheit muss sich gegen staatliche Kontrolle                                   Ausstrahlungen
 behaupten und der Pluralismus von Presse/Internet gegen
 Fusionen bzw. die Abschaffung von Sendern. Zentrale Her-
                                                                         1945                Staatliches Frequenzmonopol
 ausforderungen sind Diversität, Einsparungen und Verjün-
 gung des Publikums.
     In der Belegschaft, im Management und vor Mikrofon                                      Gründung von
 und Kamera ist die elitäre Gruppe „weißer Männer über                   1949
                                                                                             Radiodiffusion-Télévision
 50“ aus Kontinentalfrankreich, den Zentren der großen
 Städte, ohne Behinderung, mit Hochschulabschluss und ei-
 nem gehobenen Lebensstil überrepräsentiert. So bleibt der                                   Aufspaltung des ORTF in
 Anteil der als „nicht Weiße“ wahrgenommenen Personen                                        7 Einrichtungen (TV, Radio,
 auf dem Bildschirm bei France 2 (12 Prozent), France 3                  1974
                                                                                             Produktion, Archiv, Bild- und
 (8,7 Prozent) und France 5 (9,6 Prozent) unter dem Durch-
                                                                                             Tonübertragung)
 schnitt der gemessenen Kanäle (15 Prozent).6 Dennoch
 wurde im August 2020 der Kanal France Ô (etwa 0,6 Pro-
 zent Zuschaueranteil) eingestellt, obwohl dort die Men-                                     Ende des staatlichen
                                                                         1981
 schen aus den Überseegebieten im Mittelpunkt standen.                                       Frequenzmonopols
 Immerhin leben in Kontinentalfrankreich, dem ehemali-
 gen Sendegebiet von France Ô, rund eine Million Personen
                                                                         1984                Erster privater TV-Sender Canal+
 aus den außereuropäischen Teilen des Landes und France
 Ô hätte sich zu einem Kanal der weltweiten Migrations-
 und Stadtkulturen für das heterogene und multikulturelle
 französische Publikum entwickeln können.
     Der öffentlich-rechtliche Rundfunk Frankreichs mit sei-             1987                Privatisierung von TF1
 nen 17.000 Beschäftigten verfügt über ein Budget von rund
 4,4 Milliarden Euro dank Werbung (0,4 Milliarden für
                                                                                             Gründung von Arte, Nachfolge
 France TV), Subventionen, aber vor allem der 3,7 Milliar-               1992
 den Euro aus Rundfunkbeiträgen (contribution à l’audio­                                     von La Sept, gegr. 1986
 visuel public, CAP).7 Das ist mehr, als sein unmittelbarer
TV-Wettbewerber vorweisen kann (2,3 Milliarden Euro
Umsatz für die Gruppe TF1 mit 3.686 Beschäftigten), aber                                     Start des digitalen terrestrischen
                                                                         2005
weniger als das Budget von 6 Milliarden Euro für die BBC                                     Fernsehens (TNT)
mit 22.000 Beschäftigten 8 und sehr viel weniger als das von
 Netflix (30 Milliarden Euro Einnahmen bei 11.300 Be-                    2006                Start von France 24
 schäftigten9).
     Dennoch fordern die Behörden von den öffentlich-rechtli-
                                                                                             Verbot von Werbung bei
 chen Anstalten seit 20 Jahren Einsparungen, zuletzt 190 Mil­            2009                France TV nach 20 Uhr
 lio­nen Euro im Zeitraum 2018 bis 2022; im Rahmen des Kon-
 junkturprogramms vom Juli 2020 haben zusätzliche Geldmit-
 tel in Höhe von 70 Millionen Euro lediglich die pandemiebe-
                                                                                             Start des digitalen
 dingten Verluste desselben Jahres ausgeglichen. Gleichzeitig
                                                                         2014                terrestrischen Radios (RNT)
 verbieten sie France TV im Jahr 2009, abends Werbung auszu-
 strahlen, und befördern neue Kanäle sowie Website-Angebote
 und Apps. Die Folgen sind sozialer Art. France TV durchlaufe                                Gründung des TV-
                                                                         2016
 „seit fast zehn Jahren einen Sozialplan“, hinter dem „ein bei-                              Senders France Info

6   CSA, Baromètre de la diversité de la société française, 2020.                            Einrichtung der Spartenkanäle
                                                                    2018–2020
7   J.-R. Hugonet, Avis, Sénat, 2020.                                                        Lumni, Slash, Okoo, Salto
8   BBC, Group Annual Report and Accounts, 2020/21.
9   Netflix, zonebourse.com, 2021.

                                                                          FES impuls — Öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Frankreich   3
spielloser Prozess der Produktivitätssteigerung“ stehe, so seine      von France TV, Bastien Millot und Patrick de Carolis, wur-
Präsidentin Delphine Ernotte.10 Damit einher gehe ein Perso-          den wegen Günstlingswirtschaft zu fünf Monaten Haft ver-
nalabbau von „15 Prozent netto“, das heißt eine Reduzierung           urteilt. In der Folge wurde eine große Reform des öffent-
der Beschäftigtenzahl um 1.500 seit 2012 „bei gleichbleiben-          lich-rechtlichen Rundfunks angekündigt, um eine „franzö-
dem Arbeitsumfang“, was die erhöhte Belastung am Arbeits-             sische BBC“ zu schaffen: In der neu zu gründenden Hol-
platz und deren gesundheitliche Folgen erahnen lässt.                 ding „France Médias“ sollten die Verwaltungseinheiten des
   Auch wünscht sich die Politik eine Verjüngung des Pub-             zersplitterten öffentlich-rechtlichen Apparats zusammen-
likums der öffentlich-rechtlichen Sender. Das ist wahrlich            geführt und Kosten umverteilt werden, die Digitalisierung
eine Herausforderung, denn inzwischen erhalten Kinder                 vorangetrieben und auch die Art und Weise der Werbung
durchschnittlich mit knapp zehn Jahren ihr erstes Handy.              sowie die Struktur der Rundfunkbeiträge reformiert wer-
Die Fernsehzeit der 4- bis 14-Jährigen sinkt rapide, wäh-             den, um die sinkenden Einnahmen auszugleichen (Letzte-
rend die der über 50-Jährigen steigt.11 Dennoch hat France            res wurde allerdings auf 2023 verschoben).
TV seine Anteile am öffentlich-rechtlichen Kindersender                  Angesichts der Erinnerung an das ORTF aus der Ära de
Gulli (für Sechs- bis Zwölfjährige) schrittweise verkauft,            Gaulle, der zahlreichen Demonstrationen, die die Amtszeit
obwohl er profitabel war und immer noch ist (1,4 Prozent              Macrons überschatten, und der herannahenden Präsident-
Zuschaueranteil im August 2021), eine erste Tranche an                schaftswahl 2022 verhält sich die Exekutive nun zurückhal-
Lagardère Active 2014, eine zweite im Jahr 2019 an die                tender und konzentriert sich eher auf kleine, unauffälligere
Groupe M6. Ebenso hat der französische Wirtschaftsmi-                 Reformen. Die Regierung folgt damit dem „Mittelweg“, wie
nister im August 2021 die Abschaltung des Fernsehsenders              ihn die linksliberale Denkfabrik Terra Nova vorgeschlagen
France 4 verfügt, obwohl der Zuschaueranteil der über                 hat und der eine Konzentration der Mittel zugunsten „kon-
50-Jährigen 35 Prozent betrug, im Vergleich zu 63 Prozent             kreter, pragmatischer und realistischer“ Projekte vorsieht,
bei France TV im Jahr 2019.12 Seine Rolle als „Ersatzschu-            mit Unterstützung durch einen gleichermaßen als Aufse-
le“ während des Lockdowns hatte seine Schließung hinaus-              her, Finanzier und Strategen agierenden Staat.15
gezögert. France 4 hatte das Potenzial, zu einem Kanal für               So war die wichtigste Reform die der Regulierungsbe-
Bildung im Tagesprogramm und für „junge Kultur“ am                    hörde. Seit 2022 heißt sie Arcom (Autorité de régulation de
Abend zu werden. France TV musste sein Angebot seg-                   la communication audiovisuelle et numérique), da der CSA
mentieren und bündelt es nun auf den Plattformen Okoo                 und die Haute Autorité pour la diffusion des œuvres et la
mit Internetseiten für Kinder, dem Lumni-Portal für Bil-              protection des droits sur internet (Hadopi; zu Deutsch:
dung, Slash mit Filmen und Dokumentationen für Jugend-                Hohe Behörde für die Verbreitung von Werken und den
liche, Salto als Netflix-Konkurrent und Entr mit Nachrich-            Schutz von Internetrechten) zusammengelegt wurden. Sie
ten für junge Europäer_innen. France 4 wiederum darf von              umfasst neun Berater_innen, von denen sieben von einer
France TV als Doppelkanal weiterbetrieben werden: Okoo                politischen Institution, dem CSA (darunter dessen Vorsit-
tagsüber und Culturebox (ein Kulturkanal, der Anfang                  zender, der erneut den Vorsitz führt), und zwei von der Ju-
2021 für den Lockdown auf dem Kanal von France Ô ge-                  dikative (Hadopi; vom Conseil d’État [Staatsrat] und vom
schaffen wurde) am Abend. Nun ist eine Verjüngung mög-                Kassationsgerichtshof entsandt) für eine Amtszeit von
lich, da der Sender Arte, dessen Filme 2021 1,8 Milliarden            sechs Jahren ernannt werden (siehe Abbildung), sowie
Mal angesehen wurden und der den Kanal 77 für vernetz-                355 Mitarbeiter_innen mit einem Budget von 46,6 Millio-
tes und terrestrisches Fernsehen gestartet hat, seine Zu-             nen Euro im Jahr 2022, gegenüber 37,4 Millionen Euro für
schauer_innenzahlen bei den 15- bis 34-Jährigen verdop-               den CSA und 8,2 Millionen Euro für Hadopi im Jahr 2021.
pelt hat.13                                                           Sie ist für die Regulierung (Vereinbarungen mit Radio-
                                                                      und Fernsehsendern sowie Plattformen), die Bewertung
                                                                      (Repräsentativität der Akteure und der Beiträge aus Politik
DIE PRÄSIDENTSCHAFTSWAHL                                              und vonseiten der Bürger_innen) und die Sanktionen (ge-
                                                                      gen Desinformation, Hassrede im Internet, Piraterie, Por-
Emmanuel Macron bezeichnete zu Beginn seiner Amtszeit                 nografie und Sperrungen) zuständig. Seine Aufgaben glie-
die öffentlich-rechtlichen Medien als „Schande für die Re-            dern sich in sechs Bereiche: Förderung und Schutz kreati-
publik“ und warf ihnen „Missmanagement, Verschwen-                    ven Schaffens; technische und wirtschaftliche Regulierung;
dung, mittelmäßige Programme und Inhalte sowie unge-                  Unterstützung des Publikums; Beobachtung und Auswer-
sunde Beziehungen zu ihren externen Partnern (Modera-                 tung; Pluralismus und sozialer Zusammenhalt; Regulie-
tor_innen, Produzent_innen usw.)“14 vor; die Intendanten              rung von Online-Plattformen und sozialen Netzwerken.

10 Assemblée nationale, Audition de Delphine Ernotte, 2021.
11	Die Fernsehzeit der 4- bis 14-Jährigen betrug im September 2021 nur noch 59 Minuten am Tag (2 Stunden 8 Minuten im September
    2010), diejenige der über 50-Jährigen hingegen 5 Stunden 13 Minuten (4 Stunden 14 Minuten im Jahr 2010); der Durchschnitt aller
    Altersgruppen betrug 3 Stunden 21 Minuten (4 Stunden 14 Minuten im Jahr 2010), vgl. Médiamat annuel, Médiamétrie, 2010, und
    Médiamat mensuel, Médiamétrie, September 2021.
12 CSA, Rapport sur l’exécution du cahier des charges de France Télévisions, 2021.
13 T.-D. Nguyen, Le lifting payant d’Arte pour séduire le jeune public, Challenges.fr, 3.2.2022.
14 L’Express, 5.12.2017.
15 L.-C. Trebuchet, Audiovisuel public: tous ensemble vers le numérique (acte 2), Terra Nova, 2020.

4    Kein Programm links von der Mitte — FES impuls
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Frankreich
Ernennung von Führungskräften und Finanzflüsse

             PARLAMENT
      Anhörungen und Berichte des                  Kassations­                              ZWEIFACHE STAATLICHE AUFSICHT
           Kulturausschusses                       gerichtshof
                                                                                     Ministerium für Kultur und Kommunikation
                                    Staatsrat           1 Berater_in
    Nationalver-                                                                           Ministerium für Wirtschaft, Finanzen
     sammlung              Senat         1 Berater_in                                                 und Industrie
                                                                Élysée-Palast
                                 3 Berater_innen
                                                                  der Präsident
                                                                                            Verteilung von 3,7 Milliarden Euro aus
                            3 Berater_innen
                                                                                                      Rundfunkbeiträgen

                                                   Medienaufsicht Arcom
                                                      vormals: CSA                                              2,05 %
                                                      9 Berater_innen sind
        LCP                                   ­verantwortlich für Regulierung,
                                                 Bewertung, Sanktionen und                                  TV5Monde
    Public Sénat
                                                  ­N ominierungen (außer bei                                Zusammenschluss
     Parlamentari-
                                                 Arte, Public Sénat und LCP)                         ­ö ffentlicher frankophoner
       sches TV
                                                                                                        Medien aus Frankreich
                                                                                                     (France Télévisions, France
                                                                                  2,33 %                 Médias Monde, Arte),
                                 65,50 %                                                               Belgien (RTBF), Schweiz
                                                           17,82 %                                      (RTS) und Canada (Télé
                                                                          INA                              Québec, CBC/SRC)
                                                                       Nationales                                                  6,88 %
     France Télévisions                                                Rundfunk-            7,42 %
         France 2, France 3,                                             archiv
        France 5, France Info,
                                           Radio France                                                                     France Médias
                                             France Culture,
          Okoo, Culturebox                                                             Arte                                    Monde
                                        France Inter, France Bleue,
                                                                          Französisch-deutscher Zusam-                       France 24, Radio
                                       France Musique, Fip, Mouv,
                                                                          menschluss (France Télévisions,                  France International
                                                France Info
                                                                          Staat, Radio France, INA sowie                        (RFI), MCD
             Legende:
                                                                                    ARD, ZDF)
             Ernennung von Führungskräften
             Finanzfluss 2020

    Die Positionen der politischen Parteien zum öffentlich-                 (durchschnittlich 723 Euro pro Jahr pro Haushalt). Die
rechtlichen Rundfunk sind rasch zusammengefasst. Die po-                    Möglichkeit eines „fünfjährigen Finanzrahmens“ wurde er-
litische Rechte verlangt nicht nur in Frankreich von den öf-                wähnt,16 ein solcher Rahmen würde aber nicht verhindern,
fentlich-rechtlichen Anstalten, dass sie sparen und sich zu-                dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk stärker von der Ex-
gleich modernisieren bzw. digitalisieren, um mit den inter-                 ekutive abhinge, die ihn vom Parlament verabschieden las-
nationalen digitalen Plattformen konkurrieren zu können.                    sen müsste. Die pädagogische Dimension eines klar ausge-
Sie will den Rundfunkbeitrag (138 Euro pro Jahr pro Haus-                   wiesenen, dauerhaften und relativ autonomen Budgets für
halt im europäischen Teil Frankreichs und 88 Euro in Über-                  Medien, die theoretisch unabhängig von staatlichen Stellen
see) abschaffen, den die Parteifreund_innen von Emmanuel                    und Werbekunden sind und eine Alternative zu kommerzi-
Macron als „archaisch“ und „ungerecht“ bezeichnen, da ihn                   ellen Medien darstellen, würde zusätzlich beeinträchtigt
nur bestimmte Besitzer_innen von Fernsehern und ähnli-                      werden. Valérie Pécresse, die Präsidentschaftskandidatin der
chen Geräten zahlen. Es gehe dem Präsidentschaftskandida-                   liberal-konservativen Partei Les Républicains, äußerte ihrer-
ten darum, die Kaufkraft zu erhöhen, und zwar im Zuge der                   seits, dass die Privatisierung „kein Tabu“ sei, obwohl sie auf-
Abschaffung der gleichzeitig erhobenen Wohnsteuer                           grund des Wettlaufs um Werbekunden die kommerziellen

16 Suppression de la redevance : Attal écarte une mise en danger de l’audiovisuel public, Le Figaro, 8.3.2022.

                                                                                     FES impuls — Öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Frankreich   5
Medien insgesamt schwächen würde: TF1 und M6, die fusi-                    präzisierte – Ziel der französischen Grünen (Europe Éco-
 onieren wollen, positionieren sich dagegen.17                              logie/Les Verts) lautet, einen „starken“ und „unabhängi-
    Marine Le Pen, Vorsitzende der rechtspopulistischen                     gen“ öffentlich-rechtlichen Sendedienst aufrechtzuerhal-
Partei Rassemblement National (bis 2018 Front National),                    ten. Letztere – auf dem Vormarsch bei den vergangenen
die 2017 für die Präsidentschaft kandidierte und in die                     (Europa- und Kommunal-)Wahlen – wollen mehr Geld für
Stichwahl gelangte, will eine Privatisierung des öffentlich-                die lokalen Medien, mehr Frauen auf Sendung und weni-
rechtlichen Rundfunks 18 mit Ausnahme der „Sender in den                    ger Werbung, insbesondere für klimaschädliche Produkte.
 Überseegebieten zum Beispiel, als Stimme Frankreichs in                    Die Sozialistische Partei (Parti socialiste) – bei den landes-
 der Welt. Arte und das INA [Institut national de l’audiovi-                weiten Wahlen unter Druck – schlägt für den öffentlich-
suel; das nationale Rundfunkarchiv] werden nicht betrof-                    rechtlichen Rundfunk darüber hinaus eine zentrale Rolle
fen sein.“ Sie bedient sich dabei zweier Argumente. Das                     im Bereich Bildung und die Entwicklung einer Wissen-
erste ist die Kaufkraft – „das sind 2,8 Milliarden Euro [an                 schaftskultur vor.
Rundfunkbeiträgen], die sofort an die Franzosen zurück-
fließen“. Das zweite leitet sie aus der demokratischen Reife
der audiovisuellen Medien ab – private Medien seien aus-                    EMPFEHLUNGEN ZUR
reichend demokratisch.                                                      DEMOKRATISIERUNG
    Der bereits erwähnte Éric Zemmour, rechts vom Rassem-
blement National, verschärft die aktuelle Polarisierung noch                Frankreich findet sich 2020 auf der Rangliste der Presse-
und erhebt zusätzlich den populistischen Vorwurf mangelnder                 freiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 34 und auf
Neutralität der öffentlich-rechtlichen Sender, von denen er                 dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency
sich zensiert und bekämpft fühlt – er würde nur eine begrenz-               International auf Platz 23 wieder. Die Autonomie des öf-
te Anzahl an Sendern (France 5, France Info, RFI, TV5 Mon-                  fentlich-rechtlichen Rundfunks wurde immer gefordert
de, France Culture, Arte) und das INA in öffentlicher Hand                  und angekündigt, aber tatsächlich nie verwirklicht. Er wird
behalten wollen. Wie in einigen konservativ regierten Ländern               nach wie vor politisch vom Staatspräsidenten, Rechnungs-
(Polen, Ungarn, Österreich) wird der öffentlich-rechtliche                  hof, Parlament, Kultur- und Wirtschaftsministerium und
Rundfunk in Frankreich bezichtigt, linke Propaganda zu be-                  der Rundfunkaufsichtsbehörde beeinflusst und instrumen-
treiben.19 Ursprünglich ist seine Argumentation von der libe-               talisiert. Deren Eingriffe betreffen maßgeblich die Organi-
ralen Rechten inspiriert; sie lehnt sich an eine Studie von Fon-            sation (Gesetze), erfolgen über Regulierung (Arcom), Ziel-
dapol20, einer der Partei Les Républicains nahestehenden Stif-              setzungen (Pflichtenhefte, Zielvereinbarungen und Finan-
tung, an, die vorschlägt, die öffentlich-rechtlichen Sender ge-             zierungszusagen mit einer Laufzeit von fünf Jahren ab
mäß dem Subsidiaritätsprinzip auf die Bereiche „Informati-                  2000 und von zwei Jahren ab 2021), Haushalt und die Be-
on“ – mit Blick auf die „privaten Interessen“ – sowie der „offi-            setzung von Führungspositionen (mittels Arcom) bis hin
ziellen“ Kultur – mit Blick auf die mit der Werbung verbunde-               zur Evaluierung (Audits, Stellungnahmen, Berichte). Aus-
nen „Formatvorgaben“ und „Trivialisierungen“ – zu beschrän-                 wirkungen auf die redaktionelle Ausrichtung sind auf dem
ken.                                                                        Spielfeld von Personalrekrutierung, Laufbahnen und Hier-
    Die politischen Parteien von der linken Mitte bis zu den                archien unvermeidlich, selbst wenn die Zensur „unsichtba-
Antikapitalisten wiederum – gespalten und schwach –                         rer“21 ist als in der Ära de Gaulle, als der Informationsmi-
­stellen sich gegen diese „Uberisierung“ des öffentlich-                    nister in einem Büro ganz oben im Funkhaus residierte.
 rechtlichen Rundfunks, ohne jedoch einen echten Alterna-                   Nebenbei ein absoluter Widerspruch zum Programm des
 tivvorschlag zu unterbreiten. Sie richten ihr Hauptaugen-                  Nationalen Widerstandsrats (Conseil national de la Résis-
 merk auf den privaten Sektor, insbesondere die Auswir-                     tance) von 1944, der die „Unabhängigkeit vom Staat, der
 kungen der Medienkonzentration auf den Pluralismus –                       Macht des Geldes und von ausländischen Einflüssen“ ge-
 ähnlich wie bei der möglichen Fusion von TF1 und M6,                       fordert hatte. Die hartnäckige Weigerung, den öffentlich-
 die von der Regierung unterstützt wird, um den omnipo-                     rechtlichen Rundfunk von den institutionellen Einflüssen
 tenten Plattformgiganten (Google, Apple, Facebook, Ama-                    zu lösen, veranlasst wiederum die Bürger_innen, sich vom
 zon, ­Microsoft; Netflix, Airbnb, Tesla, Uber; Baidu, Aliba-               öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu lösen.
 ba, Tencent, Xiaomi) die Stirn zu bieten. In diese Richtung                   Dabei kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk in
 zielt denn auch der Wunsch der Partei von Jean-Luc Mé-                     Frankreich mit seinen Programmen – über den persönli-
 lenchon – auf Platz 3 bei der Präsidentschaftswahl 2017 –,                 chen Zugewinn an Information und Kultur hinaus – gerade
 die ein Antikonzentrationsgesetz einbringen, die rechtliche                bei aktiven Bürger_innen weiteres Empowerment fördern.
 Stellung der Redaktionen stärken und – zu deren Schutz                     Das Gleiche gilt für die Politik, wo die Partizipation der
 vor den Aktionär_innen – berufsständische Regelungen in                    Bürger_innen – von Bürgerkonventen und -budgets bis hin
 die Tarifverträge einbinden möchte. Das – nicht weiter                     zu Vorwahlen – an Bedeutung gewinnt. Die Möglichkeit,

17   Présidentielle 2022 : faut-il supprimer la redevance audiovisuelle ?, Les Echos, 19.1.2022.
18   Interview, Le Figaro, 8.9.2021.
19   Reuters Institute Report, 2019.
20   O. Babeau, Refonder l’Audiovisuel Public, Fondapol, 2016.
21   P. Durand, Médiamorphoses, PUL, 2019.

6      Kein Programm links von der Mitte — FES impuls
mit den öffentlich-rechtlichen Sendern zu interagieren, ist     on, Kunst, Reportage) aus Europa (und darüber hinaus).
zu einer Voraussetzung für ihren Erfolg geworden und darf       Dies erfordert, den Anteil der Eigenproduktionen der öf-
sich nicht mehr auf Umfragen, Kommentare und Zappen             fentlich-rechtlichen Sender zu erhöhen, um deren Verbrei-
beschränken. Dies erfordert eine Horizontalisierung der         tung unter urheberrechtlichen Gesichtspunkten zu erleich-
öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, um sie wirklich „öf-      tern.
fentlich“ oder „gemeinschaftlich“ (Elinor Ostrom), das
heißt bürgerschaftlich, zu machen. Räume zu schaffen, in      – Organisation. Änderung des Verfahrens für die Auswahl
denen physische und digitale Angebote verschmelzen, er-         der Intendant_innen der öffentlich-rechtlichen Sender in
scheint hier vielversprechend, beispielsweise wie im Mai-       Anlehnung an das Kooperationsmodell der Vereine, indem
son de la radio et de la musique mit seinen 100.000 Quad-       Vertreter_innen der Mitarbeiter_innen, des Publikums,
ratmetern, das gerade renoviert wird.                           der Oppositionsparteien etc. die Möglichkeit zur Nominie-
    Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Frankreich wird       rung erhalten. Die Kandidat_innen müssten einen Wahl-
zu drei Vierteln durch Rundfunkbeiträge finanziert; er ist      kampf führen und gegenüber den Vertreter_innen, von de-
zu 100 Prozent Eigentum des französischen Staates und er-       nen sie gewählt wurden, regelmäßig Rechenschaft ablegen.
füllt den Infrastrukturauftrag einer Daseinsvorsorge. Den       Die Amtszeit sollte auf fünf Jahre ohne Wiederwahl be-
Bürger_innen gegenüber steht er in der Pflicht, die Demo-       schränkt sein, das Budget sollte für die gesamte Zeit fest-
kratisierung auf kultureller Ebene (ein großer Wunsch seit      stehen und klare Transparenzvorgaben im Hinblick auf
der Amtszeit des Schriftstellers André Malraux als Kultus-      Gehälter, Budgetposten, Zuschauer_innenzahlen, digitale
minister) wie auf der Ebene der Information – von den po-       Daten, Algorithmen, strategische, personelle, programma-
litischen „Gatekeepern“ gefürchtet – voranzutreiben, an-        tische, redaktionelle und Governance-Entscheidungen
statt sich auf Fragen von Wirtschaftlichkeit und Digitali-      sollten gelten.
sierung zu konzentrieren. Die Handlungsfelder:
                                                              – Inklusion. Sicherstellung von Diversität, indem die Be-
– Kreativität. Schaffung eines künstlerischen Inkubators        schäftigten – insbesondere diejenigen am Mikrofon bzw.
  innerhalb des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch die      vor der Kamera –, aber auch die Gäste und die Personen,
  Bereitstellung von Finanzmitteln und Material, internen       über die berichtet wird, den Querschnitt der Bevölkerung
  (Mitarbeiter_innen als Kompetenz-Mäzen_innen) und ex-         widerspiegeln, und zwar im Hinblick auf soziale und geo-
  ternen Ressourcen (Videoproduzent_innen, Influencer_in-       grafische Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Beruf,
  nen, Künstler_innen, Informatiker_innen, Unternehmer_         körperliche und geistige Besonderheiten, Sprache, ideolo-
  innen, Gamer_innen, Macher_innen, Streamer_innen etc.,        gische, politische und gewerkschaftliche Zugehörigkeit.
  ausgewählt im Rahmen öffentlicher Wettbewerbe) sowie
  durch Partnerschaften mit Kultur-, Bildungs- und For-       – Finanzierung. Ausstattung der öffentlich-rechtlichen
  schungseinrichtungen als eine Art Ökosystem, das sich         Sender mit ausreichenden Mitteln, ähnlich wie in ver-
  über experimentelle Workshops, Schreibwerkstätten, Pro-       gleichbaren Ländern, insbesondere durch 1. einen Fonds,
  duktion, Test, Programmierung, Animation und im Ver-          gespeist durch eine Steuer auf den Umsatz von Unterneh-
  trieb einbringt.                                              men der Digitalwirtschaft, die professionelle journalisti-
                                                                sche Inhalte verbreiten (OTT-Dienste, Plattformen, Such-
– Information. Gründung eines Labors in den öffentlich-         maschinen und soziale Netzwerke); 2. eine Änderung der
  rechtlichen Häusern für metamediale und berufsethische        Bemessungsgrundlage und der Höhe des Rundfunkbei-
  Kritik, Forschung, Vermittlung und Medienerziehung, rea-      trags (null Euro pro Jahr für von der Zahlung befreite
  lisiert durch die Finanzierung und Bereitstellung von Ma-     Gruppen, 88 Euro für die Nutzer_innen in den Überseege-
  terial sowie durch Partnerschaften mit der staatlichen        bieten sowie für Besitzer_innen von digitalen Empfangsge-
  Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP) und den         räten und Radios, 138 Euro für TV-Besitzer_innen); sowie
  Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen sowie die Be-        3. Subventionen.
  teiligung von Vereinen, NGOs, Gewerkschaften, Fakten-
  checker_innen, Datenwissenschaftler_innen, Infografiker_
  innen, Hacker_innen, Aktivist_innen der „freien“ Medien
  (Open Gov, Data, Access, Source und Science; Wikipedia),
  Whistleblower_innen, Vermittler_innen, Dokumentarist_
  innen, unabhängigen Journalist_innen und den öffentlich-
  rechtlichen Einrichtungen (deren Statut und Vielfalt der
  Redaktionen besser geschützt werden müssen).

– International. Entwicklung von Arte – ergänzend zu Eu-
  ronews oder dem neuen digitalen Medium Entr – zu ei-
  nem globalen linearen und nicht linearen (mit Streaming
  per VoD, SVoD und/oder AVoD) Referenzmedium, unter
  Einbeziehung der Gesamtheit seiner Produktionen (Fikti-

                                                                      FES impuls — Öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Frankreich   7
AUTOR                                                                  IMPRESSUM

                           Dr. Sébastien Poulain ist assoziierter      März 2022
                           Wissenschaftler am Forschungszent-
                           rum MICA (Medien, Information,              Herausgeberinnen
                           Kommunikation, Arts) der Universi-          Friedrich-Ebert-Stiftung
                           tät Bordeaux Montaigne. Seine               Abteilung Analyse, Planung und Beratung
                           jüngsten Veröffentlichungen sind            Godesberger Allee 149, 53175 Bonn
                           „L’audiovisuel public est-il vraiment       www.fes.de/apb
                           public?“ (The Conversation, 2021)
                           und „Les radios locales“ (mit T. Le-        Friedrich-Ebert-Stiftung Paris
Foto: C.L.                 febvre, INA/L’Harmattan, 2021).             41 bis, boulevard de la Tour-Maubourg, 75007 Paris
                                                                       https://www.fesparis.org/

                                                                       Verantwortlich für diese Publikation in der FES sind

REIHE: ÖFFENTLICH-RECHTLICHER RUNDFUNK IN EUROPA
                                                                       Katrin D. Dapp, Referat Beratung, Deutschland
                                                                       Benjamin Schreiber, Büro Paris, Frankreich
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk (ÖRR) gerät in ver-
schiedenen europäischen Ländern zunehmend unter poli-                  Bestellungen: medienpolitik@fes.de
tischen Druck und wird finanziell eingeschränkt. Auch in
Deutschland werden immer wieder grundsätzliche Recht-                  Lektorat und redaktionelle Mitwirkung
fertigungen vom ÖRR verlangt; gleichzeitig nehmen An-                  Dr. Christian Jerger, ad litteras
sprüche an die Rundfunkanstalten nicht ab. Im Gegenteil
werden zum Beispiel eine zügige Umstrukturierung der                   Bildverzeichnis
Medienhäuser, eine Verschiebung der linearen Inhalte auf               Titelfoto: picture alliance / REUTERS | Benoit Tessier
moderne Digitalangebote sowie weiterhin die Erreichung                 Europakarte: Designed by Freepik
einer breiten, heterogenen Öffentlichkeit erwartet.                    Zeitstrahl: tigerworx (CC BY 4.0)
   Um zu verstehen, welchen Stellenwert der ÖRR hat und                Abbildung: Poulain/tigerworx (CC BY 4.0)
dass dieser zum Wohl der Demokratie geschützt werden
muss, lohnt sich ein Blick in andere europäische Länder.               Gestaltung
Diese Publikation ist die sechste in einer Reihe von „Län-             bergsee, blau
derberichten“ zum Stand des ÖRR. Eine Vielzahl von                     tigerworx
Handlungsempfehlungen liegen bereits vor, die in Deutsch-
land und auf europäischer Ebene weiter diskutiert werden               ISBN: 978-3-98628-101-4
sollen.
                                                                       Die in der Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansich-
                                                                       ten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-
                                                                       Stiftung. Publikationen der Friedrich-Ebert-Stiftung dür-
                                                                       fen nicht für Wahlkampfzwecke verwendet werden.

                                                                       CC BY-NC-ND 4.0

www.fes.de/medienpolitik/
rundfunk-in-europa                                  Bisher in dieser
                                                   Reihe erschienen
                                                 Großbritannien
                                                      Dänemark
                                           Tschechische Republik
                                                           Polen
                                                      Österreich
                                                      Frankreich

8      Kein Programm links von der Mitte — FES impuls
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