Grüßt die Wahlpflicht! - Idee, Wirkung und Realisierbarkeit einer Wahlrechtsreform Per Holderberg
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Essay Per Holderberg Bundestagswahl 2021: Und alle vier Jahre grüßt… die Wahlpflicht! Idee, Wirkung und Realisierbarkeit einer Wahlrechtsreform 03. August 2021
Redaktion/ Wissenschaftliche Koordination Julia Rakers Tel. +49 (0) 203 / 379 – 1388 Sekretariat Lina-Marie Zirwes Tel. +49 (0) 203 / 379 - 2018 lina-marie.zirwes@uni-due.de Herausgeber (V.i.S.d.P.) Univ. Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte Redaktionsanschrift Redaktion Regierungsforschung.de NRW School of Governance Institut für Politikwissenschaft Lotharstraße 53 47057 Duisburg redaktion@regierungsforschung.de Zitationshinweis Holderberg, Per (2021): Bundestagswahl 2021: Und alle vier Jahre grüßt… die Wahlpflicht! Idee, Wirkung und Re- alisierbarkeit einer Wahlrechtsreform, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de
Regierungsforschung.de Bundestagswahl 2021: Und alle vier Jahre grüßt… die Wahlpflicht! Idee, Wirkung und Realisierbarkeit einer Wahlrechtsreform Von Per Holderberg1 Sinkende Wahlbeteiligung als Diagnose und die Wahlpflicht als Therapie? In den letzten 30 Jahren setzt sich der Trend einer sinkenden Wahlbeteiligung in Deutschland bei Bundestagswahlen fort. Historisch betrachtet sind die drei letzten Wasserstandsmeldungen des Bundeswahlleiters (2009 = 70,8 Prozent; 2013 = 71,5 Prozent; 2017 = 76,6 Prozent) die niedrigs- ten, welche in der Nachkriegsgeschichte gemessen worden sind (vgl. Abbildung 1). Als Reaktion auf die nachlassende Beteiligung an Wahlen diskutieren deutsche Politiker:innen und Journalist:innen (Die Welt 2009; Mayer 2013; Lühmann 2015; Bröning 2016; Herr 2017; Weber 2017; Koch 2021) sowie engagierte Wissenschaftler:innen (Campagna 2011; Schäfer 2011; Merkel und Petring 2011; Faas 2012; Merkel 2013; Kaeding 2017) mit an der Wahlrhythmik ausgerichteten Regelmäßigkeit die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht.2 Dieses „Szenario“ (Koch 2021) einer Wahlpflicht für die Bundestagswahl 2021 soll mit dem vorlie- genden Beitrag aus der politikwissenschaftlichen Perspektive näher betrachtet werden.3 Zunächst erfolgt eine demokratietheoretische Einbettung der Debatte um die Vor- und Nachteile der Wahl- pflicht. Daran anschließend wird gefragt, inwiefern eine Wahlpflicht in Deutschland die Bundes- tagswahlen beeinflussen würde – speziell im Hinblick auf die Höhe der Wahlbeteiligung, der sozi- alstrukturellen Zusammensetzung der Wähler:innenschaft, der Wahlergebnisse der Parteien und schließlich auch der Akzeptanz und des politischen Verhaltens der wahlberechtigten Bevölkerung. Auf der Basis von repräsentativen Bevölkerungsumfragen und Experimentaluntersuchungen mit Nichtwähler:innen wird gefragt: Was bedeutet eine Wahlpflicht für Deutschland und wie würde 1 Per Holderberg, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Soziologie am Institut für Sozialwissen- schaften der Stiftung Universität Hildesheim und Koordinator für quantitative Methoden der Sozialforschung im Metho- denbüro. Seine Forschungsschwerpunkte sind Generations- und Hochschulforschung sowie Politische Soziologie, insbe- sondere im Bereich der Wahlforschung. Der Autor dankt Christian Seipel für die Anmerkungen zum Manuskript dieses Textes. 2 Dies gilt auch für Europawahlen. Beispielsweise wird vom Soziologen Max Haller zur Erhöhung der Wahlbeteiligung, der Stärkung des „Grundprinzips der Demokratie (Herrschaft des Volkes)“ und zum Abbau sozialer Benachteiligung beim Wahlakt die Einführung der Wahlpflicht als „keineswegs utopische Maßnahme“ gefordert (Haller 2019). 3 Explizit ausgespart wird hierbei eine rechtswissenschaftliche Betrachtung der verfassungsrechtlichen Umsetzbarkeit der Einführung einer Wahlpflicht in Deutschland (vgl. hierzu Haack 2011; Labrenz 2011; Heußner 2016). 3
Regierungsforschung.de sich das Ergebnis der politischen Beteiligung verändern, wenn die Wahl auf Bundesebene verpflich- tend ist? Welche Partei würde prozentual profitieren, wenn ein (sanktionierter) Zwang zur Wahl existieren würde? Welche Gründe sprechen theoretisch wie empirisch für oder gegen die Einfüh- rung einer Wahlpflicht? Der Beitrag schließt mit Überlegungen zur Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Abbildung 1: Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen in Deutschland (1949-2017), Quelle: Bundeswahlleiter Die demokratietheoretische Debatte zur Wahlpflicht Bei der Diskussion um die Einführung einer Wahlpflicht stehen sich republikanische und liberale Demokratieverständnisse gegenüber (Brennan und Hill 2014). Nach der republikanischen Auffas- sung ist die Teilnahme an Wahlen eine bürgerschaftliche Pflicht. Die Höhe der Wahlbeteiligung sei nicht nur ein Zeichen für das Ausmaß der Legitimität des politischen Systems. Je mehr Bürger:innen sich am Gemeinwesen beteiligen, der Rechtmäßigkeit der politischen Herrschaft mit ihrer Stimme Anerkennung und Zustimmung gewähren, also Wähler:innen den Gewählten das Vertrauen aus- sprechen, desto besser würden moderne Demokratien funktionieren. Hohe Beteiligungsraten sind zudem im Hinblick auf das Gebot der politischen Gleichheit ein erstrebenswertes Ziel, um eine brei- tenwirksame Einbindung aller Wähler:innenschichten zu erreichen. „The biggest advantage of com- pulsory voting is its contribution to high and relatively equal voter turnout“ (Lijphart 1998, S. 9). Herbert Tingstens (1975 [1937]) „law of dispersion“ folgend sind die Unterschiede in der Höhe der Wahlbeteiligung nach sozialer Schichtzugehörigkeit umso höher, je geringer die Wahlbeteiligung ausfällt. Diesem Argument folgend geht eine geringe Beteiligung an Wahlen in aller Regel mit einer Unterrepräsentation der niedrigeren sozialen Schichten einher (Lijphart 1997; Schäfer 2015). Nor- mative Begründungsmuster bemühen demnach die Zielvorstellung einer möglichst hohen Wahlbe- teiligung als demokratisches Optimum. In diesem wünschenswerten Zustand liege sodann eine 4
Regierungsforschung.de hohe Legitimität und politische Gleichheit der bindenden politischen Entscheidungen vor (Hill 2010; Brennan and Hill 2014, S. 127 f).4 Zu diesen beiden klassischen Werten von Legitimität und von höchstmöglicher politischer Gleich- heit geprägter Repräsentation kommt entsprechend der Annahme von Lijphart (1997, S. 10 f) eine weitere demokratieförderliche Eigenschaft hinzu. Ihm zufolge würde die Pflicht zu wählen eine stärkere gesamtgesellschaftliche politische Bildung nach sich ziehen, die in einer höheren politischen Informiertheit, einem stärkeren politischen Interesse und Wissen sowie Aktivitätsniveau der Bür- ger:innen in Bezug auf politisches Engagement Ausdruck findet. Lijphart stützt seine Herleitung die- ser Annahme an den bekannten Übertragungseffekt (Spill-Over-Effekt) zwischen dem Engagement in Betrieben, Kirchen und weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen auf die Wahrscheinlich- keit der politischen Beteiligung.5 Erstens veranlasse die Wahlpflicht die Bürger:innen, aktiv etwas über Politik zu lernen, um ihre Stimme bestmöglich zu nutzen. Zweitens sammeln die Bürger:innen durch die Teilnahme am Abstimmungsprozess zufälliges politisches Wissen an. Eine gesteigerte Wahlpraxis gehe mit einer gesteigerten politischen Involvierung einher, die sich in erhöhter politi- scher Aktivität im unkonventionellen Bereich der Partizipationsmöglichkeiten niederschlagen kann. Die (staats-)bürgerschaftliche und politische Aktivität erweitere tendenziell die Tugendhaf- tigkeit der Bürger:innen und ihres Wissens. Jason Brennan bezeichnet dieses Begründungsmuster ablehnend als „Erziehungsargument“ (2017, S. 103), welches kein Bild eines/r mündigen Staatsbürger:in vor Augen hat. Zahlreiche deutschspra- chige Autor:innen (Faas 2009; Jörke 2013; Viola 2017) stimmen mit ihrer dezidiert liberal argu- mentierenden Position diesen Grundintentionen von Brennan zu und verweisen hierbei auf die in- ternationale Debatte um die Vor- und Nachteile einer verpflichtenden Wahlteilnahme (Birch 2009; Hill 2010; Lever 2010; Brennan & Hill 2014; Malkopoulou 2015; Malkopoulou 2020). Neu (2017) identifiziert demokratietheoretisch in der Wahlpflicht einen Zwang zum Wählen, der eine Verlet- zung und Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte darstellt. Das Recht zu Wählen bedeute auch die verbriefte Möglichkeit der Nichtteilnahme an einer Wahl (z. B. als Mittel zur Bekundung von Ablehnung und Protest). Jörke (2013, S. 492) argumentiert ergänzend unter Rückbezug auf die Be- deutsamkeit von demokratischen Wahlen, die als Ritual eingeübt, sichergestellt und ständig repro- duziert werden müssen, dass die Gefahr eines Verlusts der individuellen Zugehörigkeit zum Akt der „symbolischen Integration der Gesellschaft“ bestehe. „Der Akt des Wahlboykotts stellt somit auch einen moralischen Appell an die Mehrheitsgesellschaft und ihre Meinungsführer dar, das, was sie alle vier Jahre zelebrieren, nicht nur in seinem symbolischen Gehalt beim Wort zu nehmen.“ (Jörke 2013, S. 493) Das Wählen als sozial normierter Handlungsakt bedarf einer historisch tradierten 4 Die Fürsprecherin Lisa Hill (2013) betont wiederholt, dass Wahlen mit Wahlpflicht umfassendere gesellschaftliche Teil- habe erzeugen und weniger anfällig für Verzerrungen durch ungleiche politische Macht sind als freiwillige Wahlen. Wahl- pflichtsysteme seien daher auch besser in der Lage, die objektiven Interessen der Wähler:innen widerzuspiegeln und die für die Deliberation notwendigen Bedingungen zu schützen. 5 Zugänge zu Organisationen (Unternehmen, Gewerkschaften, Kirchen, Vereinen usw.) und Netzwerken (Freunde, Ange- hörige, Bekannte usw.) motivieren, fördern und fungieren als „recruitment“ für die politische Mobilisierung. Dies stellt eine von drei Säulen („recruitment“, „resources“, „psychological engagement“) im Civic Voluntarism Model dar, welche als zentrale Einflussfaktoren für politische Beteiligung gelten (Verba et al. 1995, S. 269–275). 5
Regierungsforschung.de gesellschaftlichen und kulturpolitischen Akzeptanz im Demokratieverständnis (Holderberg 2021, S. 131 f).6 Eine umstrittenere Argumentationslinie stellt die als positiv eingeschätzte Annahme dar, wonach das freiwillige Wahlrecht uninformierte Wähler:innen fern von der Stimmabgabe hält. Dies sei für die Qualität einer Demokratie ein wünschenswerter Zustand. Einerseits gibt es die Sichtweise, dass Populisten durch eine vorhandene Wahlpflicht und damit einhergehender Politisierung der Gesell- schaft nicht parteipolitisch mobilisiert werden können (Bröning 2016). Wenn alle Bürger:innen wählen, sinkt der Einfluss radikaler Parteien (Malkopoulou 2020). Australien wird häufig als posi- tives Beispiel genannt (Fowler 2013). Dort konzentriere man sich auf weniger populistische Kernthemen und betreibe eine inklusive Ausrichtung der politischen Inhalte für die Interessen der gesamten Bevölkerung. „Die Pflicht zur Stimmenabgabe nimmt auch Einfluss auf die Wahlkämpfe. Klientelisti- sche Versprechen rein an die eigene Stammwählerschaft werden ebenso unpassend wie Versuche, die Anhänger der politischen Konkurrenz durch asymmetrische Demo- bilisierung von der Stimmabgabe abzuhalten. Zudem könnten sich Parteien in ihren Botschaften stärker auf Inhalte konzentrieren, anstatt darauf, die eigenen Anhänger am Wahltag vom Sofa in die Wahlkabine zu befördern“ (Bröning 2016). Andererseits argumentieren liberale Autor:innen hingegen genau umgekehrt, dass die Einführung einer Wahlpflicht die von Ihnen als uninformiert, desinteressiert und/oder politisch aus Protest nicht wählenden Bevölkerungsschichten für politisch radikale Ideen instrumentalisieren könnte.7 Die Einführung einer Wahlpflicht würde also radikalen Parteien aus dem linken und insbesondere rechtem Spektrum Auftrieb verleihen. Brennan (2017) – ein streitbarer Autor dieser Argumenta- tion – ist ein erbitterter Gegner der Wahlpflicht und hebt vor allem die mangelnde politische Bil- dung der Nichtwähler:innen hervor, die bei einer potentiellen Mobilisierung Nachteile für den po- litischen Prozess bedeuten würden. “Forcing everyone to vote is like forcing the drunk to drive” (Brennan und Hill 2014, S. 106). Brennan (2017) sieht in der verpflichtenden Wahlpraxis keine Ertüchtigung und politische Bildung des Wahlvolks, sondern eine liberale Entmündigung der Wis- senden und eine unnötige Einbindung des seiner Einschätzung nach nicht politisch handlungsfähi- gen Zoon Politikons, denen bei Nichtbestehen eines Wissenstests besser gleich das Wahlrecht ent- zogen werden sollte. Empirische Ergebnisse zur Wahlpflicht in Deutschland Nicht alle Annahmen und Wirkeffekte aus der theoretischen Erörterung zu den Vor- und Nachteilen einer Wahlpflicht sind ausreichend untersucht. Die folgende Ausführung beschränkt sich daher auf 6 Dazu wird ausführlicher im dritten Teil bei der soziologischen Bewertung aus der wert- und normorientierten Betrach- tung in Bezug auf Vorteile der kulturhistorisch gewachsenen Freiwilligkeit des Wahlaktes und der Problematik die Wahl- pflicht als Zwangs- und Sanktionsakt zu verordnen, Stellung genommen. 7 Die Fragestellung, ob radikale, extremistische, kleinere oder eher linke bzw. rechte Parteien von einer Wahlpflicht pro- fitieren, ist eine häufig untersuche Hypothese in der international vergleichenden Wahlforschung, die jedoch bisher un- zureichend beantwortet werden kann (siehe z.B. Bechtel et al. 2016; Malkopoulou 2020). 6
Regierungsforschung.de die häufigsten Fragestellungen der internationalen Literatur (Birch 2009), welche bisher für die deutsche Demokratie noch nicht explizit untersucht worden sind (Faas 2012). Was würde eine Wahlpflicht in Deutschland bei den Bundestagswahlen konkret verändern im Hinblick auf die Wahl- beteiligung, die sozialstrukturelle Zusammensetzung und das Wahlergebnis? Wie würden sich die Nichtwähler:innen politisch verhalten?8 Welche gesellschaftspolitische Akzeptanz weist das Pro- jekt der potentiellen Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht auf? Um diese Fragen zu beantwor- ten, werden zentrale Ergebnisse aus mehreren empirischen Forschungsprojekten dargestellt, in de- nen repräsentative Daten für die kontrafaktische Annahme der Einführung einer Wahlpflicht für die Bundestagswahl 20139 generiert wurden (Klein et al. 2014; Klein et al. 2015; Klein et al. 2016; Holderberg & Ballowitz 2020).10 Wahlpflicht als Booster für die Wahlbeteiligung? Eingangs kann festgestellt werden, dass sich die Wahlbeteiligung in der simulierten Befragungssi- tuation mit einer Wahlpflicht signifikant steigern würde. Die Brutto-Wahlbeteiligung wäre bei der Bundestagswahl 2013 von 71,5 Prozent auf 89,8 Prozent und netto auf 80,6 Prozent (exklusive der ungültigen Stimmen) angestiegen. Die Wahlbeteiligung würde bei der ad-hoc-Einführung einer Wahlpflicht demnach um 10 Prozentpunkte im Vergleich zur freiwilligen Wahl ansteigen. Ein Drit- tel der Nichtwähler:innen würde trotz der Wahlpflicht der Wahlurne fernbleiben, ein weiteres Drit- tel ungültig wählen und ein Drittel könnte effektiv für eine Partei- oder Kandidat:innenwahl moti- viert werden (vgl. Tabelle 1). Der amtliche Anteil der ungültigen Stimmen lag bei der Bundestags- wahl 2013 bei 1,3 Prozent, wohingegen bei der simulierten Wahlpflicht der Anteil sich auf 10 Pro- zent fast verachtfacht hätte (vgl. Tabelle 2). Die Wahlpflicht vermag eine enorme Steigerung der Wahlbeteiligung zu bewirken, aber diese geht mit einer sehr hohen Rate an ungültigen Stimmen einher, was an dieser Stelle bereits auf eine mangelnde Akzeptanz des Wahlmodus hinweist. 8 Althoff (2020) bezeichnet in Anspielung auf Falter & Schumann (1994) Nichtwähler:innen als „ein noch immer unbe- kanntes Wesen“. Im Hinblick auf das politische Verhalten von Nichtwähler:innen im Falle einer gesetzlichen Wahlpflicht, gibt es (inter)national jedoch mittlerweile eine reichhaltige Forschungsliteratur (Holderberg 2021). 9 Da es sich im Folgenden um Ergebnisse für die Bundestagswahl 2013 handelt, können die empirischen Befunde nur bedingt auf die Bundestagswahl 2021 übertragen werden. Jedoch ist davon auszugehen, dass auch eine Wiederholung der Wahlbefragungen und der Experimente, aufgrund der hohen Übereinstimmung mit Forschungsbefunden aus der in- ternationalen Literatur zur Wahlpflicht, weiterhin Aktualität besitzen. 10 Es handelt sich hierbei einerseits um eine disproportional geschichtete Stichprobe von über 2026 Interviews mit je der Hälfte Wähler:innen und Nichtwähler:innen einer CATI-Erhebung. Durch ein Oversampling von Nichtwähler:innen unter dem hypothetischen Szenario einer Wahlpflicht wurden deren Wahlpräferenzen erfasst. Andererseits wurde ein dreiwel- liges Online-Split-Ballot-Experiment mit einer Stichprobe von 2047 Fällen, aufgeteilt je zur Hälfte in eine Experimental- und Kontrollgruppe, realisiert. Hierbei sollte den Fragen nach den Spill-Over-Effekten von Lijphart (1999) in einem Ex- perimentaldesign nachgegangen werden. Beide Datensätze sind nahezu repräsentativ, sodass die folgenden Ausführun- gen inferenzstatistisch verallgemeinert werden können. Nähere methodische Beschreibungen der Daten, Stichprobe, Er- hebungsmethode, Operationalisierungs- und Auswertungsstrategie sowie Limitationen sind den einzelnen Publikationen (Klein et al. 2014; Klein et al. 2015; Klein et al. 2016; Holderberg & Ballowitz 2020) zu entnehmen. 7
Regierungsforschung.de Teilnahme an der Wahl 64,2% davon: Abgabe einer gültigen Stimme 35,7% Abgabe einer ungültigen Stimme 28,5% Nicht-Teilnahme trotz Wahl- 32,0% pflicht weiß nicht / k.A. 3,9% Summe 100,0% N 1.007 Tabelle 1: Das Verhalten der Nichtwähler:innen im Falle einer Wahlpflicht Ohne Mit Wahl- Wahl- pflicht pflicht Wahlbeteiligung (inkl. ungültige Stimmen) 71,5% 89,8% Anteil ungültiger Stimmen an abgegebenen Stimmen 1,3% 10,0% Anteil gültiger Stimmen an Wahlberechtigten 70,6% 80,6% Tabelle 2: Die Auswirkungen einer Wahlpflicht auf die Wahlbeteiligung, den Anteil der ungültigen Stimmen an den abgegebenen Stimmen sowie den Anteil der gültigen Stimmen an den Wahlberechtigten Verbesserung der politischen Gleichheit? Eine gesetzliche Wahlpflicht hätte bei der Bundestagswahl 2013 einige soziale Verzerrungen in der Zusammensetzung der Wähler:innenschaft abmildern können, ohne sie jedoch vollständig zu be- seitigen (Klein et al. 2015). Insbesondere junge und weibliche Nichtwähler:innen wären durch eine Wahlpflicht verstärkt zur Abgabe einer gültigen Stimme bewegt worden. 51 Prozent der 18- bis 24- jährigen und 49 Prozent der 25- bis 34-jährigen Nichtwähler:innen würden eine gültige Stimme abgeben gegenüber 26 Prozent der 50- bis 64-jährigen und 33 Prozent der über 65-jährigen. 39 Prozent der Nichtwählerinnen gäben eine gültige Stimme ab, im Vergleich zu 31 Prozent der Nicht- wähler. Arbeitslose Nichtwähler:innen (25 Prozent) sowie Personen mit geringem (30 Prozent) oder (sehr) starkem politischen Interesse (stark = 25 Prozent; sehr stark = 22 Prozent) wären durch eine Wahlpflicht hingegen nur unterdurchschnittlich mobilisiert worden. Auffallend ist, dass Per- sonen mit wenig (42 Prozent) und mittlerem (44 Prozent) politischen Interesse für das Merkmal die höchsten Steigerungsraten aufweisen.11 Teilweise ist eine Verbesserung der politischen Gleich- heit erkennbar, welche sich republikanische Autor:innen erhoffen. Gleichzeitig führt die Mobilisie- rung auch zu einer Erhöhung der Anteile ungültiger Stimmen, wie es von liberaler Seite angenom- men wird (Zwangswahl, Protest). Verändert die Wahlpflicht das Wahlergebnis? Das Stimmverhalten der freiwilligen Wähler:innen weicht von dem der Nichtwähler:innen, die bei einer Wahlpflicht (gezwungenermaßen) wählen gehen würden, ab. Nur ein Drittel dieser 11 Für weitere soziodemografische Kennwerte siehe Klein et al. 2015, S. 77. 8
Regierungsforschung.de „gezwungenen Wähler:innen“ berichtet demzufolge eine Wahlentscheidung zugunsten einer be- stimmten Partei. Unter den freiwilligen Wähler:innen beträgt dieser Anteil gut zwei Drittel. Es zeigt sich, dass von den freiwilligen Wähler:innen 31,1 Prozent keine Angaben über ihr Stimmverhalten machen können oder wollen. 0,8 Prozent geben an, eine ungültige Stimme abzugeben. Unter den gezwungenen Wähler:innen können oder wollen 20,7 Prozent keine Angabe über ihr Stimmverhal- ten machen. Weitere 44,4 Prozent würden eine ungültige Stimme abgeben (vgl. Tabelle 3). Die span- nende Frage nach den Veränderungen bei der Parteiwahlabsicht zeigt bereits die deutliche Abwei- chung der gültigen Stimmenanteile. Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass die Unions- parteien und die FDP von der Einführung einer Wahlpflicht nicht profitieren könnten. Im Gegenteil: Die neu generierten Wähler:innen hätten eine deutlich geringere Bereitschaft zur Wahl dieser Par- teien. Alle anderen Parteien hingegen erzielen unter den gezwungenen höhere Stimmenanteile als unter den freiwilligen Wählern:innen. Besonders deutlich ist der Zugewinn dabei im Falle der Par- tei Die Linke sowie der sonstigen Parteien. Wähler:innen, die auch ohne Nichtwähler:innen, die bei Wahlpflicht wählen Wahlpflicht wählen gehen Alle gültige Stimmen Alle gültige Stimmen weiß nicht 16,9% 14,2% keine Angabe 6,5% 6,5% Abgabe einer ungültigen 0,8% 44,4% Stimme CDU 28,9% 42,5% 11,1% 32,0% CSU 2,9% 4,2% 1,1% 3,1% SPD 19,3% 28,3% 10,1% 28,9% Bündnis90/Die Grünen 6,8% 10,0% 3,9% 11,1% FDP 3,3% 4,9% 0,6% 1,8% Linke 2,7% 3,9% 3,4% 9,8% Piraten 0,5% 0,7% 0,5% 1,3% Alternative für Deutschland 2,4% 3,5% 1,4% 4,0% sonstige 1,4% 2,0% 2,8% 8,0% Summe 100,0% 100,0% 100,0% 100,0% Tabelle 3: Stimmverhalten freiwilliger Wähler:innen sowie von Nichtwählern:innen, die bei einer Wahlpflicht wählen gehen („gezwungene Wähler:innen“) Überträgt man in einer einfachen Simulationsrechnung die berichteten Stimmenverteilungen der durch die Wahlpflicht generierten Wähler:innen (welche in der Befragung insgesamt nur einen An- teil von 13 Prozent an allen gültigen Wähler:innenstimmen ausmachen) auf das amtliche Ender- gebnis der Bundestagswahl 2013, bekommt man eine grobe Einschätzung zu den Auswirkungen einer Wahlpflicht auf das Wahlergebnis.12 Die deutlichste Veränderung ergibt sich im Falle der Uni- onsparteien, die knapp eineinhalb Prozentpunkte verlieren. Die FDP verliert 0,4 Prozentpunkte, 12 Aufgrund der in Bezug auf das Wahlverhalten leicht verzerrten Stichprobe kann Tabelle 4 dabei nicht im Sinne einer exakten Prognose des Wahlergebnisses unter den Bedingungen einer Wahlpflicht interpretiert werden. Ausgehend von dem in unserer Stichprobe beobachteten Verhalten der Befragten liefert sie vielmehr eine grobe Schätzung der Verände- rung der Stimmenanteile der verschiedenen Parteien im Falle einer Wahlpflicht. Fehlerwahrscheinlichkeiten sind eben- falls zu berücksichtigen. 9
Regierungsforschung.de während Die Linke und die sonstigen Parteien jeweils 0,7 Prozentpunkte hinzugewinnen. Bei allen anderen Parteien machen die Veränderungen nicht mehr als einen Zehntel Prozentpunkt aus. Ent- scheidende Verschiebungen von politischen Kräfteverhältnissen sind durch die Wahlpflicht nicht zu erwarten. Allerdings könnten die Abweichungen bei den kleineren Parteien über den Einzug- oder Nicht-Einzug sowie bei der Stimmenverteilung auch im Hinblick auf Koalitionsoptionen durchaus wahlentscheidend sein. Stimmenverteilung Stimmenverteilung Abweichung der freiwilligen Wäh- bei Wahlpflicht ler:innen CDU 42,5% 41,2% -1,3 CSU 4,2% 4,1% -0,1 SPD 28,3% 28,4% +0,1 Bündnis90/Die Grünen 10,0% 10,1% +0,1 FDP 4,9% 4,5% -0,4 Die Linke 3,9% 4,6% +0,7 Piraten 0,7% 0,8% +0,1 Alternative für Deutschland 3,5% 3,6% +0,1 sonstige 2,0% 2,7% +0,7 Summe 100,0% 100,0% Tabelle 4: Veränderung der Stimmenverteilung unter den Bedingungen einer Wahlpflicht Die dargestellten geringen potenziellen Veränderungen von Parteiwahlergebnissen, welche durch die Wahlpflicht induzierte Steigerung der Wahlbeteiligung entstehen, stimmen mit den geringen Effekten überein, die auch Kohler (2009) auf Basis imputationsbasierter Schätzverfahren für die Stimmenverteilung bei den deutschen Parlamentswahlen der Nachkriegszeit berichtet. Das durch eine Wahlpflicht potenziell beeinflusste politische Verhalten und Einstellungsweisen der Bürger:in- nen sind bisher noch nicht ausreichend erforscht. Erste Ergebnisse aus Experimentaluntersuchun- gen für Deutschland zeigen jedoch, dass die potenzielle Einführung der Wahlpflicht keinen nen- nenswerten Einfluss auf die Steigerung des politischen Interesses, des politischen Medienkonsums, des politischen Wissens oder sogar des unkonventionellen politischen Engagements besitzt (Hol- derberg & Ballowitz 2020). Hat die Wahlpflicht gesellschaftlichen Rückhalt? Daten zur gesellschaftlichen Akzeptanz einer gesetzlichen Wahlpflicht in Deutschland zeigen sehr geringe Zustimmungswerte (Klein et al. 2014). Nur ein Drittel der Bevölkerung befürwortet die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht. Würde die Missachtung der gesetzlichen Wahlpflicht mit einer Strafandrohung verknüpft, sinkt die Unterstützung noch weiter auf nur noch elf Prozent. Akzeptiert werden dabei von den Sanktionsbefürworter:innen am ehesten moderate (eine Geld- strafe in Höhe von 10 Euro) beziehungsweise gestaffelte Geldbußen (eine niedrige Geldstrafe für erstmaliges Nichtwählen und eine hohe Geldstrafe bei wiederholtem Nichtwählen) sowie Strafen mit einem eher erzieherischen Charakter (z. B. eine Verpflichtung zu zehn Stunden gemeinnütziger Arbeit; eine Verpflichtung zur Teilnahme an Kursen zur politischen Bildung). Wie aus 10
Regierungsforschung.de ländervergleichenden Analysen bekannt ist, wirkt die Wahlpflicht besonders gut für die politische Mobilisierung bei Wahlen, wenn Sie einen aktiven Sanktionsmechanismus aufweist und historisch in der politischen Kultur verankert ist (Birch 2009).13 Der Zwang zu Wählen als kulturpolitischer Bruch mit dem tradierten Demokratieverständ- nis der BRD Die berichteten geringen Akzeptanzwerte für die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht unter der wahlberechtigten Bevölkerung in Deutschland sprechen für einen geringen Rückhalt für die politische Idee, Wählen zur gesetzlichen Pflicht zu erheben. Auch wenn das Ziel einer hohen Wahl- beteiligung, die stärkere Berücksichtigung des Gebots der politischen Gleichheit und der Wunsch nach einer hohen Politisierung und Bildung der Bevölkerung durch die Einführung einer gesetzli- chen Wahlpflicht grundsätzlich erstrebenswert sind, so führt die Verpflichtung bzw. der Zwang zu Wählen bei geringer gesellschaftlicher Akzeptanz eventuell zu mehr Politikverdrossenheit. „Zu be- fürchten ist vielmehr eine Art Antistimmung, wenn man zu etwas gezwungen wird, was man ei- gentlich – aus welchen Gründen auch immer – ablehnt.“14 (Jörke 2013, S. 492) Wenn die Pflicht zu Wählen als eine soziale Norm betrachtet wird, die auf die Wertbezogenheit der Demokratie zurückgeht, ergibt sich folgendes Bild: In Anlehnung an Hans Joas (1999) können Werte nicht ohne weiteres per Gesetz produziert, verordnet oder indoktriniert werden. Gemein- schaftsorientierung und der wünschenswerte Zustand von legitimiertem politischen Handeln in ei- ner guten Demokratie lassen sich nicht verordnen, sondern basieren auf Freiwilligkeit (Joas 1999, S. 16). Dies schließt auch die bürgerschaftliche Vorstellung von Demokratie in Form einer freiwilli- gen Beteiligung in einer kulturell und historisch gewachsenen Wertbezogenheit zur prozeduralen Funktionsweise der deutschen Demokratie mit ein, in der also Interessen in gewisser Art und Weise artikuliert und aggregiert werden sollten (Freiwilligkeit). Werte allgemein sind dann attraktiv, wenn diese verinnerlicht sind; Menschen also von ihrer Richtigkeit überzeugt sind. Nach Joas ent- stehen Werte u. a. in „Erfahrung der Selbstbildung und Selbsttranszendenz“ (ebd., S. 10). Demokra- tie wird heute anders erfahren und unterliegt einer anderen Sozialisation in Kindheit und Jugend, die über wahlzentrierte Beteiligungsmechanismen hinaus geht (Holderberg 2021). „Soziale Normen sind demnach gesellschaftliche Verhaltensregeln, die einer definier- ten Gruppe von Individuen in einem gegebenen Kontext eine bestimmte Handlung vor- geben. Unter ihnen findet man die Wahlnorm ‚Du sollst wählen‘, die eine große Bedeu- tung für die Stabilität moderner Demokratien hat: Wahlen legitimieren das politische System, kontrollieren politische Eliten und aggregieren politische Präferenzen von Bürger:innen“ (Goerres 2010, S. 276). 13 In Australien, wo die Wahlpflicht früh als Reaktion auf den 1. Weltkrieg etabliert wurde (zwischen 1914 und 1941 führten die föderalen Staaten sukzessive den Wahlpflichtsmodus ein), sind Beteiligungsraten von über 90 Prozent (bei geringen Anteilen von ungültigen Stimmen) keine Seltenheit. Eine kleine Geldstrafe von 20 Dollar zeigt übereinstimmend mit den präferierten Sanktionsweisen aus der Befragung in Deutschland, dass diese Verfahrensweise ein gängiges bzw. effektives Mittel darstellt (Fowler 2013). 14 Das Argument entfaltet sich in der Covid-19 Pandemie medial auch in Bezug auf die Diskussionen um eine Impfpflicht. 11
Regierungsforschung.de In diesem Verständnis ist die Pflicht zu Wählen eine internalisierte Verhaltensnorm, die zu einer sozialen Handlung führt. Demokratische Unterstützung, Erzeugung von Legitimität und repräsen- tative Beteiligung im politischen System stellen den Wertbezug der sozialen Handlung dar.15 Sicher- lich können soziale Normen einen verpflichtenden Charakter aufweisen, wenn diese als Gesetze oder Verordnungen formalisiert sind. Die Pflicht zu Wählen könnte also theoretisch auch wie das deutsche Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr einer gesetzlichen Kodifizierung unterliegen. Aller- dings sind gut funktionierende soziale Normen an eine Rückkoppelung von Wertorientierungen angewiesen, die sich zumeist historisch etabliert haben und tradiert werden. Das Wählen ist im Nachkriegsdeutschland der Bundesrepublik ein freier Akt gewesen, der über Generationenabfolgen als solcher ausgeübt wurde. In der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und auch in der NS-Zeit war diese Freiheit zudem eingeschränkt. Aktuell die Einführung einer Wahlpflicht in Deutschland umzusetzen, wäre aus dieser Warte beobachtet ein Bruch mit der historischen Tradi- tion von freien Wahlen und könnte zu kognitiven Dissonanzerfahrungen beim Wahlvolk führen. Der hohe Anteil von ungültigen Stimmen in den empirischen Ergebnissen des hypothetischen Szenarios zeigt auf, dass die Einführung einer Wahlpflicht ggf. mehr Schaden anrichtet, als Probleme zu lösen. Die geringen Akzeptanzwerte sind Ausdruck eines historischen Demokratieverständnisses von freien Wahlen und der nicht mit Zwangsmaßnahmen erfolgreich implementierbaren sozialen Norm einer gesetzlich verpflichteten Wahlteilnahme. Soziale Normen sind sodann im Vergleich zu den Werten, aus denen sie sich speisen, häufig restrik- tiv. Soziale Normen weisen positive oder negative Sanktionen auf, welche der Umsetzung der Ver- haltensvorschrift dienlich sind. Die Gefahr einer sanktionierten Wahlpflicht (z. B. bei Normverlet- zung folgt die Zahlung einer Geldstrafe fürs Nichtwählen) besteht auch im Sinne der Auffassung nach Popitz (2006, S. 36) darin, dass bei der dann vorhandenen vollkommenen Verhaltenstranspa- renz jeder Normbruch bestraft werden würde. Die Norm des Wählens, die geschützt werden soll, würde sich durch eine perfekte Sanktionsgeltung ggf. selbst diskreditieren und auch eine Überlas- tung des Sanktionssystems bedeuten. Es erscheint zusammen mit der dargestellten Annahme über eine tradierte Wertvorstellung plausibel, dass nur der Zustand der Imperfektion der Wahlnorm – also das Abweichen von der Norm als zulässig zu gestalten – zugleich eine Bedingung einer funkti- onierenden Demokratie innerhalb der gelebten politischen Kultur in Deutschland darstellt. Die Wahlpflicht als eine (unpopuläre) Idee ohne politische Fürsprache – Alternative: Absen- kung des Wahlalters auf 16? Den Ausführungen folgend wurde die Umsetzbarkeit der Wahlrechtsreform der Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht von der Abwägung des Nutzens im Verhältnis zum potenziellen Schaden diskutiert. Die Debatte ist und bleibt überdies ein Nischenthema. Auch wenn mittlerweile, wie 15 Nach Karl-Dieter Opp (1983, S. 118) ist die Auffassung weitverbreitet, das Werte „definitionsgemäß solche Verhaltens- vorschriften [sind], mit denen andere Verhaltensvorschriften gerechtfertigt werden. Die gerechtfertigten Vorschriften heißen Normen.“ Nach Heinrich Popitz (2006) kann wie alle sozial normierten Handlungen, die einer sozialen Regelmä- ßigkeit unterworfen sind, die Wahlnorm als tradierbar betrachtet werden. Den Gedankengang von Popitz (2006) auf Mannheims Generationenansatz (1928) angewendet, werden bestimmte Normeninhalte von einer Generation auf die an- dere weitergegeben. Die Erosion der sozialen Norm zu Wählen (Wahlnorm) durch eine Sanktion zu revitalisieren (Wahl- pflicht) folgt einem technokratischen Verständnis einer rein elektoralen Sicht auf demokratische Mitbestimmung. 12
Regierungsforschung.de aufgezeigt wurde, deutlich mehr empirische Forschungsergebnisse vorliegen, ist der Diskurs mehr- heitlich von politisch-ideologischen Standpunkten und theoretischen Erwägungen in der Auseinan- dersetzung um das Thema gekennzeichnet. Journalist:innen oder einzelne Fürsprecher:innen set- zen hier solitäre Akzente, ohne dass die Forderung einen breiten gesellschaftspolitischen Reso- nanzraum erfährt. Häufig erscheint die Forderung nach der Wahlpflicht, wie eingangs dargestellt, eine reflexartige Reaktion auf geringe Wahlbeteiligungserfahrungen darzustellen. Angela Merkels Absage zur Idee, eine gesetzliche Wahlpflicht einzuführen (Tag24 2018), steht stellvertretend für den hierzulande geringen Rückhalt in der Politik wie auch der Wissenschaft. Kein Wahl- oder Grundsatzprogramm der Parteien für die Bundestagswahl 2021 weist diese Forderung auf. Die Idee der Einführung einer Wahlpflicht rangiert sowohl in der Wissenschaft als auch unter Politiker:in- nen nicht gerade an erster Stelle unter den Reformoptionen des deutschen Wahlrechts (Mörschel 2016). Diesem Umstand muss trotz wahlfördernder Eigenschaften der vorgetragenen Ergebnisse Rechnung getragen werden. Auch wenn die Problemwahrnehmung ansteigt, etwas gegen die schlei- chende Erosion der konventionellen Beteiligung zu unternehmen, haben sich andere Reformideen im Diskurs etabliert. Die Absenkung des aktiven und passiven Wahlalters auf 16 Jahre für alle Kommunal-, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen erscheint ein alternativer Debattenvorschlag zu sein, der im Ver- gleich hierzu eine größere Chance hat, nach der Bundestagswahl 2021 eine Umsetzung zu erfahren. Die SPD, Bündnis90/Die Grünen und Die Linke haben sich bereits zu einer „Koalition der Willigen“ zur Gesetzesänderung informell verständigt. Die FDP ist noch uneinheitlich positioniert, hat aber viele Politiker:innen in den Reihen, die dem Vorschlag grundsätzlich offen gegenüberstehen. AfD und Union hingegen rücken nicht von der Koppelung des Wahlrechts an die Volljährigkeit ab. Wissenschaftlichen Rückenwind bekam der Vorschlag von der Otto-Brenner-Studie zur empiri- schen Untersuchung der Debatte um die Wahl mit 16 (Faas & Leininger 2020). Die Absenkung des Wahlalters würde ebenfalls eine Vitalisierungskur für die stagnierende bis sinkende Wahlbeteili- gung bedeuten, unter jüngeren Erwachsenen mehr Mitsprache etablieren und Legitimität erzeugen. Im Vergleich zur Wahlpflicht zeichnet sich eine wachsende Akzeptanz und damit eine realistische Wahlrechtsreform nach der kommenden Bundestagswahl ab. Der Autor stimmt dieser Reformop- tion uneingeschränkt zu, aber es soll angemerkt werden, dass die in diesem Beitrag diskutierte Problemlage und die demokratietheoretischen Zielvorstellungen im politischen Diskurs nicht ver- gessen werden dürfen. Es gilt nicht nur nach der Verbesserung der Legitimität zu streben, sondern unbedingt, wie bei der Idee der Wahlpflicht von Lijphart (1998) betont, die häufig vernachlässigte politische Gleichheit der Teilhabeprozesse in einer demokratischen Gesellschaft nicht aus den Au- gen zu verlieren (Schäfer 2015). „Get out the vote“-Kampagnen sollten insbesondere für Stadtteile mit geringer Wahlbeteiligung und an Personen in sozio-ökonomisch prekären Lebenslagen ausge- richtet werden. Eine Verbesserung der politischen Responsivität des demokratischen Systems ist ein Ziel, das von Parteien und Politiker:innen nach der Bundestagswahl mit Nachdruck angegangen werden muss. Die empirische Politikforschung liefert hier wichtige Erkenntnisse, denen mehr Ge- hör verschafft werden sollte (Schäfer 2015; Elsässer 2018). 13
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