Keine Gerechtigkeit für niemand - Budrich Journals

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30              Bedingungsloses Grundeinkommen                                                  Politisches Lernen 1-2|2018

Christoph Butterwegge

Keine Gerechtigkeit für niemand
Das bedingungslose Grundeinkommen weckt falsche
Hoffnungen, ohne allen soziale Sicherheit zu bieten
Das bedingungslose Grundeinkommen erscheint seinen Anhängerinnen und Anhängern als Inbegriff der sozialen
Gerechtigkeit. In dem Beitrag wird demgegenüber argumentiert, dass mit Einführung des Grundeinkommens
nicht bloß der bestehende Sozialstaat zerstört, sondern auch keine Gerechtigkeit verwirklicht würde, weil es die
konkrete Lebenslage seiner Bezieher und die Maxime der klassischen griechischen Philosophie unberücksichtigt
lässt, wonach Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden muss, wenn es gerecht zugehen soll.

  Seit am 1. Januar 2005 mit der Arbeitslosenhilfe eine den          geldes“ wie auch die Bündnisgrünen hegen Sympathien für
Lebensstandard von Langzeiterwerbslosen noch halbwegs                ein Grundeinkommen, wenngleich es nur Letztere nicht an
sichernde Lohnersatzleistung durch das im Volksmund „Hartz           Bedingungen knüpfen wollen.
IV“ genannte Gesetzespaket abgeschafft worden und mit dem
                                                                        Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein steuerfi-
regierungsoffiziell als „Grundsicherung für Arbeitsuchende“
                                                                     nanzierter Universaltransfer, den alle (Wohn-)Bürgerinnen
bezeichneten Arbeitslosengeld (Alg) II eine bloße Fürsorge-
                                                                     und Bürger zwecks Sicherstellung ihres Lebensunterhalts
bzw. Lohnergänzungsleistung an seine Stelle getreten ist,1 hat
                                                                     ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Verpflichtung zur
das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) in Deutschland
                                                                     Erwerbsarbeit erhalten sollen, wenn sich seine Befürworte-
erheblich an öffentlicher Resonanz und politischer Rele-
                                                                     rinnen und Befürworter durchsetzen, die unterschiedlichen
vanz gewonnen. Noch größeren Auftrieb erhielt die Debatte
                                                                     Organisationen, Parteien und sozialen Milieus angehören.
darüber durch Befürchtungen, der Digitalisierungsprozess
                                                                     Damit wird suggeriert, dass nach permanenter „Flickschus-
könne einen Großteil der Arbeitsplätze vernichten und ein
                                                                     terei“ am Sozialstaat, die über Jahrzehnte hinweg nur immer
Millionenheer materiell unversorgter Menschen zurücklassen.
                                                                     neue Probleme mit sich gebracht und nicht enden wollende
   Bei der Bundestagswahl am 24. September 2017 hat die              Streitigkeiten in der (Medien-)Öffentlichkeit hervorgeru-
unter dem Kürzel „BGE“ firmierende Partei „Bündnis Grund-            fen hat, ein politischer Befreiungsschlag möglich sei. Der
einkommen“ bloß 0,2 Prozent der Zweitstimmen bekommen.               angestrebte Paradigmenwechsel erscheint vielen Menschen
Ihr singuläres Thema bleibt aber auf der Tagesordnung, auch          geradezu als Erlösung aus dem Jammertal der Konflikte, die
wenn im Bund trotz mehrwöchiger Sondierungen zwischen                ihre Harmoniesucht herbeisehnt. Endlich können sie hoffen,
CDU, CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen keine „Ja-                   vom bisherigen Elend der Armen, die um Almosen betteln,
maika-Koalition“ gebildet wurde. In dem am 27. Juni 2017             und der ständigen Reformen, die – wie Hartz IV – nur immer
geschlossenen Koalitionsvertrag für die 19. Wahlperiode des          neue Verschlechterungen bewirkt haben, befreit zu werden.
Schleswig-Holsteinischen Landtages hatten die Regierungs-               Dass zahlreiche Alg-II-Beziehende, die unter dem büro-
parteien CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP nämlich unter            kratischen Antragsverfahren, Schikanen und Kontrollmaß-
der Zwischenüberschrift „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung          nahmen ihres Jobcenters sowie unter den Sanktionsdrohun-
in der digitalen Gesellschaft“ angekündigt, ein „Zukunftslabor“      gen des Hartz-IV-Systems leiden, mehr oder weniger große
mit den Akteurinnen und Akteuren der Arbeitsmarktpolitik und         Sympathie für die Alternativlösung eines bedingungslosen
aus der Wissenschaft einzurichten, in dem sie „die Umsetz-           Grundeinkommens empfinden, kann ebenso wenig überra-
barkeit neuer Absicherungsmodelle, z. B. ein Bürgergeld, ein         schen wie die Tatsache, dass sich viele Betroffeneninitiati-
Grundeinkommen oder die Weiterentwicklung der sozialen               ven, Arbeitslosenverbände und Frauenorganisationen hinter
Sicherungssysteme“ diskutieren und bewerten lassen wollen.2          dieser Forderung versammeln. Unter dem Kontrolldruck
Sowohl die FDP mit ihrem Konzept eines „liberalen Bürger-            ihres Jobcenters stehende Beziehende von Arbeitslosengeld
1    Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Hartz IV und die Folgen.    II erwarten, sich mit Hilfe eines ohne Papierkrieg gezahlten
     Auf dem Weg in eine andere Republik?, 3. Aufl. Weinheim/        Grundeinkommens der Gängelung, Erniedrigung und De-
     Basel 2018, S. 116 f.                                           mütigung durch eine ausufernde Sozialbürokratie entziehen
2    Siehe Christlich Demokratische Union Deutschland, Lan-          zu können. Schließlich würden die leidige Bedürftigkeits-
     desverband Schleswig-Holstein/Freie Demokratische Partei,
                                                                     prüfung sowie die Anrechnung des Partnereinkommens auf
     Landesverband Schleswig-Holstein/Bündnis 90/Die Grünen,
     Landesverband Schleswig-Holstein (Hg.): Das Ziel verbindet:     die Transferleistung entfallen, weil alle Personen in seinen
     weltoffen – wirtschaftlich wie ökologisch stark – menschlich.   Genuss kämen und damit auch die Forderung nach einer
     Koalitionsvertrag für die 19. Wahlperiode des Schleswig-        eigenständigen sozialen Sicherung der Frau erfüllt wäre.
     Holsteinischen Landtages (2017-2022) zwischen der Christ-
     lich Demokratischen Union Deutschland, Landesverband
                                                                       Gleichwohl sprechen gewichtige Einwände gegen das
     Schleswig-Holstein, Bündnis 90/Die Grünen, Landesverband        bedingungslose Grundeinkommen, weshalb ihm der Durch-
     Schleswig-Holstein, und der Freien Demokratischen Partei,       bruch selbst innerhalb des Hartz-IV-kritischen Lagers, das
     Landesverband Schleswig-Holstein, Kiel o.J., S. 31              zahlreiche Wohlfahrtsverbände, große Teile der christlichen
Politisches Lernen 1-2|2018                                           Bedingungsloses Grundeinkommen                         31

Kirchen, der Gewerkschaftsbewegung, der SPD, der Bündnis-         einkommen ausgesprochen und ihm perspektivisch gro-
grünen und der Piraten, aber auch die LINKE als Gesamtpartei      ße Realisierungschancen zugebilligt: „Es könnte eine Lösung
umfasst, bisher nicht gelungen ist. Hier soll erörtert werden,    sein – nicht heute, nicht morgen, aber in einer Gesellschaft,
ob die BGE-Forderung eine sinnvolle Alternative zur Grund-        die sich durch die Digitalisierung grundlegend verändert hat.“4
sicherung für Arbeitsuchende darstellt oder andere Wege zu        Auf diese Weise wird unterstellt, dass der Wohlfahrtsstaat,
mehr sozialer Gerechtigkeit beschritten werden müssen.            wie man ihn bisher kannte, nicht zukunftsträchtig sei und
                                                                  die soziale Sicherung von der Lohnarbeit entkoppelt werden
Rahmenbedingungen, Zusammenhänge                                  müsse, weil das Ende der Arbeitsgesellschaft näherrücke.
und Hintergründe der BGE-Diskussion
                                                                    Modebegriffe wie „Industrie 4.0“ oder „Internet der Dinge“,
  Die sozialphilosophische Idee, sämtliche Bürgerinnen            Bilder einer menschenleeren Fabrik und Horrorszenarien,
und Bürger vom Arbeitszwang zu befreien und Armut zu              wonach die künftige Herrschaft der Algorithmen für einen
vermeiden, indem der Staat allen Gesellschaftsmitgliedern         Großteil der arbeitsfähigen Bevölkerung sämtliche Verdienst-
ein gleich hohes, ihre materielle Existenz auf einem Mindest-     möglichkeiten beseitigt, stilisieren das Grundeinkommen
niveau sicherndes Grundeinkommen zahlt, ist uralt. Durch          zum letzten Rettungsanker in einer aus den Fugen geratenen
die Verbindung der Gerechtigkeitsvorstellungen eines uto-         Welt. Dabei ist jegliche Panikmache unangebracht, weil der
pischen Sozialismus, bürgerlicher Gleichheitsideale und           Gesellschaft auch bei früheren wissenschaftlich-technischen
zentraler Funktionselemente der Marktökonomie gewinnt             Umbrüchen wie der Mechanisierung, der Elektrifizierung, der
sie an Bedeutung. Gegenwärtig haben BGE-Modelle des-              Motorisierung und der Computerisierung nie die (Erwerbs-)
halb Hochkonjunktur, weil sie dem neoliberalen Zeitgeist          Arbeit ausging, obwohl an vergleichbaren Kassandrarufen
entsprechen,3 also die Freiheit des (Wirtschafts-)Bürgers nicht   auch seinerzeit kein Mangel herrschte.
gefährden, vielmehr „Privatinitiative“, „Eigenverantwor-
                                                                     Aus einem weiteren Quantensprung in der modernen Pro-
tung“ und „Selbstvorsorge“ glorifizieren sowie die tradierten
                                                                  duktionstechnik, so er denn eintritt, müssten in Wahrheit ganz
Mechanismen der kollektiven Absicherung von Lebensrisiken
                                                                  andere Schlussfolgerungen gezogen und radikalere Forde-
problematisieren, auf die prekär Beschäftigte und Erwerbslose
                                                                  rungen abgeleitet werden, als es die BGE-Anhängerinnen
angewiesen sind. „Das bedingungslose Grundeinkommen“,
                                                                  und -Anhänger tun. Macht die Arbeit künftig tatsächlich
bemerkt denn auch Mark Schieritz in der Zeit (v. 28.12.2017),
                                                                  „einen immer geringeren Anteil der gesamten Wertschöpfung“
„ist in seinem Vertrauen darauf, dass schon alles gut wird,
                                                                  aus, müssen Sozialleistungen gerade nicht „stärker steuer-
wenn der Bürger selbst entscheiden darf, wie er sein Geld
                                                                  finanziert“ werden, wie der Hamburger Ökonom Thomas
ausgibt, eine zutiefst neoliberale Idee.“
                                                                  Straubhaar behauptet.5 Vielmehr könnte das Kapital auch
   Dabei hinterlassen BGE-Konzepte allerdings nicht den           durch eine fälschlicherweise „Maschinensteuer“ genannte
Eindruck sozialer Kälte, welcher der Regierungspolitik heut-      Wertschöpfungsabgabe stärker zur Entrichtung von Sozial-
zutage meistenteils anhaftet. Außerdem wird der bestehende        versicherungsbeiträgen herangezogen werden.6 „Wenn auto-
Sozialstaat sogar von manchen seiner Nutznießenden mit einer      matische Maschinen und Roboter und große gesellschaftliche
alles überwuchernden Bürokratie, Gängelungsversuchen und          Infrastrukturen und Netze immer mehr die Grundlagen der
Schikanen der Arbeitsverwaltung, das Grundeinkommen               Reichtumsproduktion bilden, dann stellt sich die Frage nach
dagegen mit Kreativität, Spontaneität und bürgerschaftli-         Eigentum und Verfügung daran, also nach sozialistischen
cher Emanzipation identifiziert. Die zunehmende Spaltung          Alternativen jenseits des Kapitalismus.“7
der westlichen Wohlstandsgesellschaften in Arm und Reich
schreit geradezu nach einer Alternativlösung, die viele Ge-       Konzepte und Modelle
ringverdienende und Beziehende von Transferleistungen             eines bedingungslosen Grundeinkommens
– aus ihrer Perspektive durchaus nachvollziehbar – im be-
                                                                    Politisch interessant und gesellschaftlich relevant wird das
dingungslosen Grundeinkommen sehen.
                                                                  Grundeinkommen durch seine heterogene Anhängerschaft,
  BGE-Protagonistinnen und -Protagonisten greifen eine            die von einem in der Tradition von Milton Friedman stehenden
dritte Große Erzählung unserer Zeit – neben der Globali-          Ökonomen (Thomas Straubhaar), einem prominenten Groß-
sierung und dem demografischen Wandel – auf, die eben-            unternehmer (Götz W. Werner) sowie einzelnen Topmanagern
falls als Scheinargument für angeblich notwendige tief-           (etwa von BMW, SAP, Siemens und der Deutschen Telekom)
greifende Veränderungen des europäischen Sozialmodells            4   „Der Unterschied zwischen Mensch und Computer wird in
herhalten muss: „Digitalisierung“ heißt das noch relativ              Kürze aufgehoben sein“. Interview mit Timotheus Höttges,
junge Schlagwort, unter dem das Grundeinkommen qua-                   in: Die Zeit v. 30.12.2015
si als Naturgesetzlichkeit erscheint, die aus technologi-         5   „Gegen die Lobbymacht der Senioren können Sie keine Politik
schen Umbrüchen in der Arbeitswelt resultiert. Timotheus              machen“, Interview mit Thomas Straubhaar, ZEIT Online,
Höttges, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom                  7.4.2016
                                                                  6   Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge: Krise und Zukunft des
AG, hat sich prinzipiell für ein bedingungsloses Grund-
                                                                      Sozialstaates, 6. Aufl., Wiesbaden 2018, S. 402 ff.
                                                                  7   Ralf Krämer: Zu kurz gesprungen. Seit den 1980ern wird über
3   Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge / Bettina Lösch / Ralf         eine „Maschinensteuer“ diskutiert – bisher ohne Konsequen-
    Ptak: Kritik des Neoliberalismus, 3. Aufl., Wiesbaden 2017        zen, in: Neues Deutschland v. 15.6.2016
32              Bedingungsloses Grundeinkommen                                                       Politisches Lernen 1-2|2018

über Vertreter der Unionsparteien, erhebliche Teile der Bünd-          abgesprochen werden. Zu fragen ist m. E. allerdings, ob
nisgrünen, die Piraten sowie Mitglieder von Erwerbslosenin-            utopische, um nicht zu sagen: weltfremde Entwürfe einer
itiativen und Frauenverbänden bis zu gesellschaftskritischen           ganz anderen Gesellschaft, die allen Menschen ohne Ansehen
Soziologen wie Stephan Lessenich, Michael Opielka und                  der Person und ohne Arbeitspflicht ein gutes Auskommen
Georg Vobruba, manchen SPD-Untergliederungen und Teilen                sichert, wirklich realitätsgerecht sind, also nicht zwangsläu-
der LINKEN mit ihrer Parteivorsitzenden Katja Kipping an               fig an der ungeheuren Machtkonzentration im bestehenden
der Spitze reicht.                                                     Wirtschaftssystem scheitern müssen.
  Ein derart breit gefächertes und buntscheckiges politisches             Das mit Abstand medienwirksamste Modell eines bedin-
Spektrum verbindet mit einer Reformidee wie dem Grund-                 gungslosen Grundeinkommens stammt von Götz W. Werner,
einkommen natürlich ganz unterschiedliche, teilweise sogar             dem anthroposophisch orientierten Gründer der dm-Droge-
gegensätzliche Motive: „Während man am linken Rand die                 riemarktkette. Dieser erfolgreiche Großunternehmer wurde
Erlösung des Prekariats aus kapitalistischer Lohnsklaverei             einer breiteren Öffentlichkeit durch ein Interview bekannt,
und Armut sucht, zielt der rechte Rand auf die Befreiung               das der stern am 20. April 2006 publizierte und die folgende
des Kapitals von den Fesseln der Sozialstaatlichkeit.“8 Ein            prägnante Feststellung enthielt: „Hartz IV ist offener Straf-
Autorenteam um Heiner Flassbeck, unter Oskar Lafontaine                vollzug. Es ist die Beraubung von Freiheitsrechten. Hartz
kurzzeitig Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und               IV quält die Menschen, zerstört ihre Kreativität. Es ist ein
später Chef-Volkswirt der UN-Organisation für Welthandel               Skandal, dass eine rot-grüne Regierung dieses destruktive
und Entwicklung (UNCTAD), hält das BGE für ausgespro-                  Element in die Gesellschaft gebracht hat.“12
chen gefährlich, weil es bei Teilen des rechten politischen
                                                                         Durch seine Fundamentalkritik an Hartz IV und sein Plä-
Spektrums die Illusion schaffe, mit einem (möglichst niedri-
                                                                       doyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen avancierte
gen) „Einkommen für alle“ darüber hinausreichende Vertei-
                                                                       Werner bei Alg-II-Empfangenden zu einer politischen Gali-
lungsfragen auf Dauer zu unterbinden und so dem neoliberalen
                                                                       onsfigur, obwohl er aufgrund seines Reichtums kaum Berüh-
Ziel näher zu kommen, dass die „Tüchtigen“ erhalten, was
                                                                       rungspunkte zu ihrem Alltag hatte. Zuerst nannte Werner 1.500
sie am Markt erringen, während es auf der Linken die Illu-
                                                                       Euro als monatlichen Zahlbetrag eines Grundeinkommens,13
sion nähre, sowohl die Armut erfolgreich zu bekämpfen wie
                                                                       das allerdings mit dem Erwerbseinkommen verrechnet werden
auch die Umwelt zu retten und die Frage nach den „wahren
                                                                       soll. Später forderte er in seinem zusammen mit der frühe-
Werten“ des Lebens sinnvoll zu beantworten.9
                                                                       ren Berliner Kultur- und Wissenschaftssenatorin Adrienne
  Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Modellen, die sich            Goehler veröffentlichten Buch gleichen Titels aber bloß noch
als (nicht immer: bedingungsloses) Grundeinkommen ver-                 „1000 € für jeden“, über deren Finanzierung sich der Autor
stehen oder zumindest als solches klassifizieren lassen.10 Da          und seine Koautorin überdies nicht einig waren.14
hier schon aus Platzmangel nicht alle Konzepte vorgestellt
                                                                         Die Achillesferse des Modells von Götz W. Werner ist
und einer kritischen Würdigung unterzogen werden können,
                                                                       seine Refinanzierung. Für den Karlsruher Unternehmer bildet
erfolgt eine Selbstbeschränkung auf jene Ansätze, die den
                                                                       das Grundeinkommen augenscheinlich nur den Hebel zur
größten Rückhalt in der Öffentlichkeit finden und deshalb
                                                                       Durchsetzung einer weiteren drastischen Steuerentlastung
noch am ehesten die Chance hätten, realisiert zu werden.
                                                                       von Unternehmen. Unter der Überschrift „Ausgaben- statt
Damit sollen denjenigen Personen und Initiativen, die ein
                                                                       Einkommensteuer!“ begründet Werner, warum seiner Mei-
bedingungsloses Grundeinkommen vornehmlich als Chance
                                                                       nung nach ausschließlich eine reine Konsumsteuer sozial
betrachten, die verhärteten Fronten im Kampf gegen den
                                                                       gerecht ausgestaltet werden kann und zeitgemäß ist: „Die
Sozialabbau der letzten Jahrzehnte aufzubrechen und diesen
                                                                       Mehrwertsteuer hat [...] als einzige Steuer einen gesamt-, ja
gleichzeitig zu beenden,11 keineswegs ihre lauteren Motive
                                                                       weltwirtschaftlichen Charakter. Man könnte sagen, dass sie
8  Daniel Kreutz: Bedingungslose Freiheit? – Warum die Grund-          die adäquate Steuer für eine hochgradig arbeitsteilige Gesell-
   einkommensdebatte den Freunden des Kapitalismus in die              schaft und eine globalisierte Welt ist.“15 So unproblematisch
   Hände spielt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik   die Mehrwertsteuer für einen (Handels-)Unternehmer sein
   4/2010, S. 66                                                       mag, der sie einfach auf die Preise umlegt, auf seine Kun-
9 Siehe Heiner Flassbeck u. a.: Irrweg Grundeinkommen. Die             dinnen und Kunden abwälzt und als durchlaufenden Posten
   große Umverteilung von unten nach oben muss beendet werden,
   Frankfurt am Main 2012, S. 9
10 Vgl. den Überblick bei Ronald Blaschke: Aktuelle Ansätze                 jetzt!, vollständig überarbeitete Auflage mit neuem Konzept,
   und Modelle von Grundsicherungen und Grundeinkommen                      Berlin, Mai 2014; Werner Rätz / Dagmar Paternoga: Zukunfts-
   in Deutschland. Vergleichende Darstellung, in: ders. / Adeline           modell Grundeinkommen? – Recht auf Teilhabe, soziale Siche-
   Otto / Norbert Schepers (Hg.): Grundeinkommen. Von der                   rung und ein wenig Utopie, Hamburg 2017 (AttacBasisTexte
   Idee zu einer europäischen politischen Bewegung, mit einem               50)
   Vorwort von Katja Kipping, Hamburg 2012, S. 118 ff.                 12   Arno Luik: „Das manische Schauen auf Arbeit macht uns alle
11 Vgl. z. B. Ralf Welter / Diözesanverband der KAB Aachen                  krank“, in: stern 17/2006, S. 178
   (Hg.): Solidarische Marktwirtschaft durch Grundeinkommen.           13   Vgl. Götz W. Werner: Einkommen für alle, Köln 2007, S. 220
   Konzeptionen für eine nachhaltige Sozialpolitik, Aachen 2003;       14   Vgl. ders. / Adrienne Goehler: 1000 € für jeden. Freiheit,
   Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in und bei der                  Gleichheit, Grundeinkommen, Berlin 2010, S. 226
   Partei DIE LINKE (Hg.): Bedingungsloses Grundeinkommen              15   Götz W. Werner: Einkommen für alle, a.a.O., S. 207
Politisches Lernen 1-2|2018                                           Bedingungsloses Grundeinkommen                         33

behandelt, so wenig berücksichtigt sie die unterschiedliche          Der frühere Abteilungsleiter im Bundesministerium für
finanzielle Leistungs- bzw. Zahlungsfähigkeit der einzelnen       Arbeit und Sozialordnung Thomas Ebert weist auf den durch
Gesellschaftsmitglieder. „Durch die Besteuerung des priva-        ein bedingungsloses Grundeinkommen zu erwartenden Infla-
ten Konsums wird das Prinzip der Lastverteilung nach der          tionseffekt hin, den die hohe Konsumsteuer im Werner-Modell
ökonomisch-individuellen Leistungsfähigkeit endgültig ver-        verstärkt.19 Nach seiner Berechnung müsste das Grundein-
drängt: Je mehr jemand an Einkommen erzielt und je geringer       kommen nicht weniger als 2.214 Euro betragen, um die heutige
der Anteil des privaten Konsums ausfällt, um so geringer ist      Kaufkraft von 1.000 Euro zu erreichen, und die Konsumsteuer
dessen Steuerlast. Wachsende nicht konsumtive Verwendung          selbst dann 121,4 Prozent, wenn alle heute erhobenen Steu-
des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte, also die       ern erhalten blieben. Werner geht zwar davon aus, dass die
Geldvermögensbildung als Ausdruck ökonomischer Stärke,            Unternehmer die Preise ihrer Waren und Dienstleistungen
wird steuerlich bevorteilt.“16                                    nach Wegfall der sie belastenden Kapital- und Gewinnsteuern
                                                                  senken würden, was bei massiven Steuerentlastungen in der
   Ausgerechnet die Mehrwertsteuer bezeichnet Werner als
                                                                  Vergangenheit allerdings nie der Fall war. Außerdem würde
„erfolgreichste“ Steuerart.17 Über deren Erhöhung auf über
                                                                  der Finanzaufwand für das Grundeinkommen laut Ebert
50 Prozent möchte er das Grundeinkommen finanzieren,
                                                                  deutlich über zwei Billionen Euro pro Jahr betragen. Ebert
obwohl sie kinderreiche Familien von Geringverdienenden
                                                                  prognostiziert aber nicht bloß einen „gigantischen Inflations-
und Transferleistungsbeziehenden besonders hart trifft, weil
                                                                  schub“, den das Grundeinkommen seines Erachtens auslösen
diese praktisch ihr gesamtes Einkommen vor Ort in den
                                                                  würde, sondern sieht hierin auch „keine echte Alternative zur
Alltagskonsum stecken (müssen). Möglicherweise würde
                                                                  Erwerbsarbeit“, was er wie folgt begründet: „Freiheit – wir
ein Multimillionär seiner Gattin den nächsten Pelzmantel
                                                                  können auch sagen soziale Gerechtigkeit – ist nur in der
oder Brillantring fortan in in einem weit entfernt liegenden
                                                                  Arbeit möglich, d. h. durch die politische Gestaltung der
Niedrigsteuerland kaufen; der heutige Hartz-IV- und künftige
                                                                  Arbeitswelt selbst, nicht durch ein Grundeinkommen, mit
Grundeinkommensbezieher müsste hingegen alles, was er
                                                                  dessen Hilfe man sich von den Zwängen der Arbeitswelt
sich überhaupt leisten kann, wie bisher in Berlin-Neukölln,
                                                                  loszukaufen versucht.“20
München-Hasenbergl oder Köln-Chorweiler kaufen, wenn
er dort lebt, denn seine Mobilität ist und bleibt aufgrund feh-     Wolfgang Engler, Rektor der Schauspielhochschule „Ernst
lender Ressourcen beschränkt. Zudem sind die (progressive)        Busch“ in Berlin, plädiert für eine „Sozialdividende“ und
Einkommensteuer und eine Vermögensteuer nun einmal                schlägt zum Zweck ihrer Finanzierung ebenfalls indirekte
sozial gerechter als die Mehrwertsteuer, weil sie hauptsäch-      Steuern vor. Über die Mehrwertsteuer schwärmt er unter Be-
lich Besserverdienende, Kapital Besitzende und Begüterte          rufung auf Lester Thurow: „Sie wird auf alle Waren erhoben,
treffen, während Geringverdienende und Sozialleistungen           auch auf die importierten, und zieht daher (anders als bei
Empfangende davon weitgehend verschont bleiben.                   Abgaben und direkten Steuern) keine Wettbewerbsnachteile
                                                                  für die je einheimische Volkswirtschaft nach sich.“21 Folgt
  Selbst wenn man die Steuersätze stärker ausdifferenziert,
                                                                  man weniger der Standortlogik als sozialen Gerechtigkeits-
also z. B. Grundnahrungsmittel niedrig oder gar nicht, andere
                                                                  kriterien, kommt die Mehrwertsteuer als Finanzierungsquelle
Güter höher und Luxusgüter am höchsten besteuert, wird aus
                                                                  für Sozialtransfers kaum in Betracht, weil sie besonders kin-
einer Konsumsteuer kein sozial gerechtes Steuerungsinstru-
                                                                  derreiche Familien trifft, die in Relation zu ihrem niedrigen
ment. „Indirekte Steuern belasten die unteren Einkommens-
                                                                  Einkommen einen relativ hohen Konsumgüterbedarf haben,
gruppen weit mehr als die oberen. Daran ändert auch wenig,
                                                                  während ihr Wohlhabende schon wegen häufigerer Aufent-
dass Werner Kaviar höher besteuern will als Milch. Befreit
                                                                  halte in Ländern ohne Grundeinkommen und vergleichbar
von jeder Form der Steuerprogression oder von Erbschaft-
                                                                  hohe Steuersätze leichter ausweichen könnten.
und Vermögensteuer würde sich die Umverteilung von unten
nach oben beschleunigen und könnte mit dem Verweis auf              Ähnlich wie Engler beschwört Werner das Grundeinkom-
das ja schließlich allen gewährte Grundeinkommen eine             men zwar sehr pathetisch als „Bürgerrecht“, versteht darunter
gewisse Legitimität in Anspruch nehmen.“18                        aber letztlich nur einen „bar ausgezahlten Steuerfreibetrag“,
                                                                  der nötig ist, weil in seinem Modell alle direkten Steuern
16 Rudolf Hickel: Wie gerecht ist das deutsche Steuersystem?      entfallen, was nicht die Armen, sondern die Vermögenden –
   – Zum voranschreitenden Abbau der Besteuerung nach dem         besonders Milliardäre wie Werner – entlasten würde. Wenn
   Prinzip der Leistungsfähigkeit, in: Wolfram Elsner / Werner    man das Grundeinkommen als bloße „Rücküberweisung
   Wilhelm Engelhardt / Werner Glastetter (Hg.): Ökonomie         des Grundfreibetrages“ interpretiert, wie dies Werner tut,22
   in gesellschaftlicher Verantwortung. Sozialökonomik und
   Gesellschaftsreform heute, Berlin 1998, S. 260
17 Zit. nach: „Grundeinkommen? Da geht es um die Ziele der
   Aufklärung“. Götz Werner hat dm zum Drogerie-Riesen ge-        19 Vgl. dazu und zum Folgenden: Thomas Ebert: Soziale Ge-
   macht und will, dass der Staat jedem 1000 Euro auszahlt, in:      rechtigkeit in der Krise, Bonn 2012 (Schriftenreihe der Bun-
   Der Freitag v. 25.5.2016                                          deszentrale für politische Bildung, Bd. 1291), S. 273
18 Hermann Theißen: Grundeinkommen, in: Gabriele Gillen/          20 Ebd., S. 274
   Walter van Rossum (Hg.): Schwarzbuch Deutschland. Das          21 Wolfgang Engler: Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale
   Handbuch der vermissten Informationen, Reinbek bei Hamburg        Neugestaltung der Gesellschaft, Berlin 2005, S. 371 f.
   2009, S. 332                                                   22 Siehe Götz W. Werner: Einkommen für alle, a.a.O., S. 211
34             Bedingungsloses Grundeinkommen                                                    Politisches Lernen 1-2|2018

degeneriert es zum Abfallprodukt einer bestimmten steuer-          von Arbeitsgelegenheiten gezahlt werden sollte. Abgesehen
politischen Reformkonzeption, die eine Restauration früherer       davon, dass der genannte Betrag weder die staatlichen Durch-
Gesellschaftszustände darstellen würde.                            schnittsausgaben für den Regelsatz sowie Kaltmiete und Heiz-
                                                                   kosten bei Hartz IV überstieg noch sich die Lebenssituation
   Der ehemalige thüringische Ministerpräsident Dieter Alt-
                                                                   der sozial Benachteiligten durch eine bloße Umbenennung
haus (CDU) bezeichnet sein Modell, das er im Sommer 2006
                                                                   von „Grundsicherung“ in „Bürgergeld“ verbessern ließe, hätte
vorlegte, als „Solidarisches Bürgergeld“, weil es gerecht
                                                                   dieses gegenüber jener aus ihrer Perspektive den gravierenden
sei, die Existenz sämtlicher Staatsbürgerinnen und -bürger
                                                                   Nachteil, dass die Unterkunftskosten pauschaliert wären,
bedingungslos zu sichern und der Massenerwerbslosigkeit
                                                                   wodurch einer Gettoisierung der Armen zweifellos Vorschub
durch Entkopplung von Arbeitsmarkt und sozialer Sicherung
                                                                   geleistet würde. Denn wer als Alg-II-Bezieherin oder -Bezie-
entgegenzuwirken.23 Nach diesem Konzept würde jedes
                                                                   her heute noch in einer relativ komfortablen Wohnung und in
Kind 300 Euro, jede/r Volljährige 600 Euro im Monat und
                                                                   einem gutbürgerlichen Stadtteil einer Großstadt lebt, wäre bei
Erwachsene ab dem 67. Lebensjahr außerdem eine Zusatz-
                                                                   (niedrigeren) fixen Unterkunftskosten gezwungen, entweder
rente bis zur selben Höhe je nach Art ihrer Erwerbstätigkeit
                                                                   einen Teil der Miete aus dem sehr niedrigen Regelsatz zu be-
erhalten. Ergänzend gäbe es eine Gutschrift von 200 Euro
                                                                   zahlen oder aus- und in eine „schlechtere“ Gegend, womöglich
als „Gesundheits- und Pflegeprämie“. Behinderte und Bür-
                                                                   in eine Hochhaussiedlung am Stadtrand umzuziehen. Zwar
gerinnen und Bürger in einer besonderen Lebenslage, etwa
                                                                   konnte sich die FDP mit ihrem Vorschlag nicht durchsetzen,
Alleinerziehende, könnten einen „Bürgergeldzuschlag“ bean-
                                                                   der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag für die 17. Legislatur-
tragen, der sich nach dem individuellen Bedarf richtet. Alle
                                                                   periode enthielt aber einen Prüfauftrag zu diesem Thema.26
übrigen Sozialleistungen, beispielsweise Wohn-, Kinder- und
Elterngeld, entfielen genauso wie sämtliche Sozialversiche-          Am 1. November 2010 stellte Dieter Althaus, inzwischen
rungsbeiträge; die Arbeitgeber würden stattdessen für ihre         Vizepräsident des Autozulieferers Magna, gemeinsam mit sei-
Beschäftigten eine Lohnsummensteuer zwischen 10 und 12             nem Ex-Staatssekretär Hermann Binkert die Arbeitsergebnisse
Prozent entrichten. Finanziert werden soll das Bürgergeld          einer von der CDU-Spitze eingesetzten und von ihm geleite-
überdies durch eine Erhöhung der Einkommensteuer auf 50            ten Kommission „Solidarisches Bürgergeld“ vor. Finanziert
Prozent, die mit dem Bürgergeld verrechnet wird. Ab einer          werden soll es durch eine für alle gleiche („Solidarische“)
bestimmten Einkommenshöhe (1.600 Euro) würde sich das              Einkommensteuer in Höhe von 40 Prozent, die mit dem Bür-
Bürgergeld halbieren, während die Beziehenden höherer Ein-         gergeld verrechnet würde. Bis zu einer bestimmten Einkom-
kommen umgekehrt nur 25 Prozent Steuern zahlen müssten.            menshöhe (18.000 Euro pro Jahr) würde man Zuwendungen
                                                                   des Finanzamtes im Sinne einer negativen Einkommensteuer
   Michael Opielka und Wolfgang Strengmann-Kuhn haben
                                                                   erhalten; wer darüber läge, würde zum Nettozahler. Sozial-
das Konzept des Solidarischen Bürgergeldes im Auftrag
                                                                   versicherungsbeiträge würden entfallen; da die Unternehmen
der Konrad-Adenauer-Stiftung auf seine Finanzierbarkeit
                                                                   bloß noch eine „Lohnsummenabgabe“ in Höhe von 18 Prozent
überprüft. In ihrem Gutachten würdigten sie das Modell als
                                                                   zahlen müssten, wären sie die eigentlichen Gewinner der Re-
„Beitrag für eine konkrete und realitätsnahe Reform des deut-
                                                                   form. Arbeitgeber würden aus der paritätischen Beitragspflicht
schen Sozialstaats“, die nur überparteilich bzw. parteienüber-
                                                                   entlassen und durch die geplante „flat tax“ (Einheitssteuer) als
greifend Erfolg verspreche.24 Opielka und Strengmann-Kuhn
                                                                   Spitzeneinkommensbezieher doppelt entlastet.
gelangten zu dem Ergebnis, dass zwar einige weitere Modi-
fikationen nötig, die Grundlinien von Althaus’ Konzept aber          Althaus ging es im Wesentlichen darum, das Lohnabstands-
durchweg stimmig seien. Solidarisch kann man das Modell            gebot zu garantieren und die Personalzusatzkosten der Un-
allerdings kaum nennen, liegt es doch „deutlich unter der von      ternehmen zu senken. Außerdem ließ er Sympathien für eine
der EU festgelegten Armutsgrenze“ (seinerzeit: 935 Euro),          weitere Verschiebung von Einkommen- zu Konsumsteuern
wie auch Opielka und Strengmann-Kuhn konstatierten.25              erkennen und plädierte unter Berufung auf Ludwig Erhard
                                                                   für eine Befreiung der Wirtschaftssubjekte von staatlichen
  Kaum hatten im Oktober 2009 die Koalitionsverhandlun-
                                                                   Regulierungszwängen: „Das Solidarische Bürgergeld stärkt
gen zwischen CDU/CSU und FDP begonnen, ging deren
                                                                   Kreativität und Risikobereitschaft, es stärkt auch Eigenver-
damaliger finanzpolitischer Sprecher Hermann Otto Solms
                                                                   antwortung und Wettbewerb.“27 Sozialer als der bestehende
mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, Hartz IV durch ein
                                                                   Wohlfahrtsstaat wäre das CDU-Bürgergeldmodell im Falle
„Bürgergeld“ in Höhe von 662 Euro zu ersetzen, das nur
                                                                   seiner Verwirklichung kaum, läge der Zahlbetrag doch nur
im Falle der Bereitschaft des Antragstellers zur Übernahme
                                                                   geringfügig über dem Hartz-IV-Niveau.
23 Vgl. Dieter Althaus: Das Solidarische Bürgergeld. Sicher-
   heit und Freiheit ermöglichen Marktwirtschaft, in: Michael
   Borchard (Hg.): Das Solidarische Bürgergeld – Analyse einer     26 Vgl. CDU Deutschlands / CSU Landesleitung / FDP (Hg.):
   Reformidee, Stuttgart 2007, S. 2                                   Wachstum – Bildung – Zusammenhalt. Der Koalitionsvertrag
24 Siehe Michael Opielka / Wolfgang Strengmann-Kuhn: Das              zwischen CDU, CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode
   Solidarische Bürgergeld. Finanz- und sozialpolitische Analyse      (des Deutschen Bundestages), Rheinbach o.J., S. 99
   eines Reformkonzepts, Studie im Auftrag der Konrad-Ade-         27 Dieter Althaus: Einführung, in: ders. / Hermann Binkert (Hg.):
   nauer-Stiftung, in: Michael Borchard (Hg.): Das Solidarische       Solidarisches Bürgergeld. Den Menschen trauen – Freiheit
   Bürgergeld – Analyse einer Reformidee, a.a.O., S. 25 f.            nachhaltig und ganzheitlich sichern, 2. Aufl., Norderstedt
25 Siehe ebd., S. 109                                                 2010, S. 12
Politisches Lernen 1-2|2018                                             Bedingungsloses Grundeinkommen                        35

   Fast alle BGE-Protagonistinnen und -Protagonisten be-            Sozialstaat und / oder Grundeinkommen?
fürworten eine „Zusammenfassung“ der steuerfinanzierten
                                                                      Neoliberale hoffen, mittels des Grundeinkommens weit-
Transferleistungen des Staates. Angeführt werden in diesem
                                                                    reichende Deregulierungskonzepte durchsetzen zu können.
Zusammenhang das Arbeitslosengeld II, das Sozialgeld, die
                                                                    Thomas Straubhaar bezweckt die Senkung der „Lohnne-
Sozialhilfe, die Grundsicherung im Alter, der Kinderzuschlag
                                                                    benkosten“ durch Streichung der Arbeitgeberbeiträge zur
und das Wohngeld, obwohl das Kindergeld und das Elterngeld
                                                                    Sozialversicherung. Sein BGE-Modell soll die bestehenden
in denselben Kontext gehören. Zu befürchten steht, dass über
                                                                    Sicherungssysteme keineswegs ergänzen, sondern „alle steuer-
kurz oder lang alle genannten und womöglich noch weitere
                                                                    und abgabenfinanzierten Sozialleistungen“ ersetzen: „Es gibt
Sozialtransfers abgeschafft würden.
                                                                    weder gesetzliche Renten- und Arbeitslosenversicherung noch
   Was auf den ersten Blick einfach, großzügig und sozial           Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Wohn- und Kindergeld.“30 Das
gerecht erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinschauen           von Straubhaar bis 2014 geleitete Hamburgische Weltwirt-
oftmals als eine politische Mogelpackung, die mehr Gerech-          schaftsinstitut (HWWI) ging in seiner Studie „Bedingungsloses
tigkeit bloß vortäuscht. Das Solidarische Bürgergeld stellt nur     Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld – mehr als
eine Pauschalierung bestehender Transferleistungen dar, würde       sozialutopische Konzepte“ noch weiter, wurde die Situation
das bisherige Sicherungsniveau für Millionen Menschen per           nach der BGE-Einführung doch folgendermaßen beschrieben:
Saldo senken und den Wohlfahrtsstaat weder entlasten noch           „Es gibt keinen Schutz gegen Kündigungen mehr, dafür aber
sinnvoll umstrukturieren. Letztlich würde das bedingungslose        betrieblich zu vereinbarende Abfindungsregeln. Es gibt kei-
Grundeinkommen in Form des Solidarischen Bürgergeldes als           nen Flächentarifvertrag mehr und auch keine Mindestlöhne,
ein Kombilohn für alle wirken. Weil das Existenzminimum             sondern von Betrieb zu Betrieb frei verhandelbare Löhne.
seiner es Beziehenden gesichert wäre, könnten diese noch            Es gibt keine Sozialklauseln mehr. Die heute zu leistenden
schlechter entlohnte Jobs annehmen, wodurch den Unternehmen         Abgaben an die Sozialversicherungen entfallen vollständig.“31
mehr preiswerte Arbeitskräfte zur Verfügung stünden und die
                                                                      Was zahlreichen Erwerbslosen als „Schlaraffenland ohne
Gewinne noch stärker steigen würden. Das bedingungslose
                                                                    Arbeitszwang“ erscheint, wäre folglich ein wahres Paradies
Grundeinkommen wird zwar manchmal als einzig richtige
                                                                    für Unternehmer, in dem die abhängig Beschäftigten weniger
Antwort auf die vermeintliche „Krise der Arbeitsgesellschaft“
                                                                    soziale Rechte geltend machen könnten und ihre Gewerk-
betrachtet,28 diese Begründung für seine Einführung erweist sich
                                                                    schaften als (Gegen-)Machtfaktor praktisch ausfallen würden.
jedoch als grotesk, soweit dadurch Niedrigstlöhne salonfähig
                                                                    Straubhaar möchte deren Aufgabenbereich nämlich so weit
gemacht würden. Weil sich das „Solidarische Bürgergeld“
                                                                    einschränken, dass sie bloß noch „kluge Abfindungsregeln
gegen Mindestlöhne richtet und die Lohnflexibilität nach unten
                                                                    abzuschließen“ hätten, weil „die Marktmacht der Beschäftig-
erhöhen soll, damit auch Geringqualifizierte mit seiner Hilfe von
                                                                    ten“ seiner Meinung nach durch das Grundeinkommen sogar
„marktgerechten“ Löhnen leben können, würde es die Armut
                                                                    gestärkt würde: „Die Gewerkschaften werden in keiner Weise
von prekär Beschäftigten vermehren, denn sie müssten sich
                                                                    überflüssig. Im Gegenteil. Gerade weil die neue Arbeitswelt
vom Staat alimentieren lassen, während er das Lohndumping
                                                                    zu einer Erosion des Normalfalles führen wird, steigt für
von Unternehmen mit Steuergeldern subventioniert.
                                                                    jeden Einzelfall der Bedarf an Information, Beratung und
  Wenn (fast) alle bisherigen Transferleistungen in einem           Unterstützung beim Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit.“32
unsolidarischen Bürgergeld aufgingen, hätten Neoliberale ihr
Ziel erreicht, das deutsche Sozialversicherungssystem endgültig       In seinem Buch „Radikal gerecht. Wie das bedingungs-
zu zerstören, und könnten den Systemwechsel noch dazu als           lose Grundeinkommen den Sozialstaat revolutioniert“ stellt
Wohltat für die Bedürftigsten hinstellen. Peter Bofinger, ge-       Thomas Straubhaar richtigerweise fest: „Menschen müssen
werkschaftsnahes Mitglied im Sachverständigenrat zur Begut-         sozialpolitisch eher als Einzelfälle und weniger als standar-
achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wertete das         disierter Normalfall behandelt werden.“33 Da der bestehende
bedingungslose Grundeinkommen treffend als „Sargnagel für           Sozialstaat dieses Postulat zu realisieren versucht, wirkt er
den Sozialstaat“, weil dieser dadurch unbezahlbar und zu einem      manchem Kritiker (zu) bürokratisch, verzweigt und kompli-
„Almosenstaat“ verkümmern würde: „Gefährlich am Konzept             ziert. Genau das Gegenteil trifft indes auf das bedingungslose
des bedingungslosen Grundeinkommens ist das Nebeneinander           Grundeinkommen zu, weil es alle Menschen über einen Kamm
von unbezahlbaren staatlichen Transfers mit einem völligen          schert, statt auf die konkrete Lebenssituation abzuheben, in
Kahlschlag bei den bisherigen sozialen Sicherungssystemen. Im       der sich diese befinden.
Falle der Umsetzung ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dann
aufgrund der finanziellen Restriktionen sämtliche staatlichen       30 Thomas Straubhaar: Radikal gerecht. Wie das bedingungslose
Leistungen auf einem Niveau fixiert würden, das noch unter             Grundeinkommen den Sozialstaat revolutioniert, Hamburg
dem heutigen Niveau des Arbeitslosengeldes II liegen würde.“29         2017, S. 100
                                                                    31 Ingrid Hohenleitner / Thomas Straubhaar: Bedingungsloses
                                                                       Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld – mehr als
28 Vgl. z. B. Manuel Franzmann (Hg.): Bedingungsloses Grund-           sozialutopische Konzepte, in: ders. (Hg.): Bedingungsloses
   einkommen als Antwort auf die Krise der Arbeitsgesellschaft,        Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld – mehr als
   Weilerswist 2010                                                    sozialutopische Konzepte, Hamburg 2008, S. 20 f.
29 Peter Bofinger: Ist der Markt noch zu retten? – Warum wir        32 Thomas Straubhaar: Radikal gerecht, a.a.O., S. 169
   jetzt einen starken Staat brauchen, Berlin 2009, S. 215          33 Ebd., S. 71
36             Bedingungsloses Grundeinkommen                                                 Politisches Lernen 1-2|2018

  Straubhaar handelt gewissermaßen nach der Methode               nebenbei erreicht. Ausgerechnet die einflussreichsten BGE-
„Haltet den Dieb!“, wenn er den bestehenden Sozialstaat           Modelle laufen letztlich auf eine Zerschlagung des hierzulande
als marodes Sicherungssystem hinstellt, das immer stär-           bestehenden Sozialstaates hinaus, der zumindest seinem An-
ker mit staatlichen Steuermitteln gestützt werden muss, um        spruch nach Bedarfsgerechtigkeit schafft, das soziokulturelle
nicht zu kollabieren, hat er dies in der Vergangenheit doch       Existenzminimum von Einkommensschwachen gewährleistet
stets befördert und in seiner Eigenschaft als Politikberater      und auch die Lebensleistung von Personen im Ruhestand
maßgeblich dazu beigetragen, dass neoliberale Reformen im         durch Zahlung einer Rente oder Pension anerkennt. Dagegen
Rahmen der „Agenda 2010“ (Riester-Rente, Hartz-Gesetze            sieht das Grundeinkommen von den konkreten Arbeits-,
und Gesundheitsreformen) den Sozialversicherungsstaat             Lebens-, Einkommens- und Vermögensverhältnissen der es
schrittweise unterminiert und demontiert haben.                   Beziehenden ab, wenn es allen Menschen in gleicher Höhe
                                                                  gezahlt wird – ganz egal, ob es sich im Einzelfall um einen
  Zwar versichert Straubhaar, es gehe ihm „nicht um ei-
                                                                  Multimilliardär oder eine Multijobberin handelt.
nen Sozialabbau.“34 Sein BGE-Modell lässt jedoch vom
Wohlfahrtsstaat bis auf Sonderleistungen für Menschen mit            Wer hingegen glaubt, die Sozialversicherung mitsamt ihren
schweren Behinderungen wenig übrig. Dieser beschränkt             lohn- und beitragsbezogenen Leistungen einerseits sowie steu-
sich aber gerade nicht – wie das Grundeinkommen – auf eine        erfinanzierte Transferleistungen andererseits erhalten zu kön-
Geldleistung, sondern umfasst auch Sach- und Dienstleis-          nen, wenn das Grundeinkommen zusätzlich eingeführt wird,
tungen, die bei einer Zerschlagung der Sozialversicherung         ist ein Phantast. Wenn es Kommunismus – für Marxististinnen
entfielen, was Millionen Menschen der Möglichkeit berauben        und Marxisten eine klassenlose Gesellschaft – überhaupt
würde, durch verschiedene Beratungs-, Betreuungs- und             geben kann, dann gewiss nicht im finanzmarktgetriebenen
Behandlungsangebote oder Maßnahmen der beruflichen Re-            Kapitalismus! Rainer Roth, früher Hochschullehrer an der
habilitation wieder in den Arbeitsprozess zurückzufinden          FH Frankfurt, spricht vom Grundeinkommen als „Fiktion
bzw. sich aus prekären Lebenslagen zu befreien.                   der Gleichheit von Ungleichen“, weil es sich aus der idealis-
                                                                  tischen Konstruktion des Rechts eines jeden Menschen auf
   Das bedingungslose Grundeinkommen bricht mit der Kon-
                                                                  dieselbe Geldsumme ableite.37 Ein nicht auf Erwerbsarbeit
struktionslogik des in Deutschland bestehenden, früher als
                                                                  gegründetes, gewissermaßen „leistungsloses“ Einkommen
Jahrhundertwerk gefeierten Wohlfahrtsstaates und würde
                                                                  erscheint zwar als schöne Utopie. „Aber manche Utopien
seine ganze Architektur bzw. Struktur zerstören. Hier liegt
                                                                  sind gefährlich, weil sie von der Suche nach realistischeren
vermutlich einer der Hauptgründe dafür, dass ihm manche
                                                                  Alternativen ablenken.“38
neoliberale Ökonomen so viel Sympathie entgegenbringen.
„Neoliberale lieben das Grundeinkommen als Hebel, um
                                                                  Mehr soziale Gerechtigkeit durch Aufhebung oder
den ganzen Sozialstaat samt seiner Klientel auf einen Schlag
                                                                  Abflachung der Steuerprogression?
loszuwerden, damit zugleich den Staat und den gesamten
öffentlichen Sektor gesundzuschrumpfen und jede Form von             Götz W. Werner, der die Steuerprogression – eine politische
Beschäftigungspolitik, von makroökonomischer Steuerung            und soziale Errungenschaft der Moderne – als „etwas Kons-
ein für allemal ad acta zu legen.“35 Dies gilt allerdings kei-    truiertes“ abtut, will sämtliche Unternehmens-, Kapital- und
neswegs durchgängig. Vielmehr sprach sich Horst Siebert,          Gewinnsteuern für Reiche abschaffen, während Arme ihr
emeritierter Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (Kiel),   Grundeinkommen selbst finanzieren sollen, wenn sie ein-
mit der Begründung gegen das bedingungslose Grundeinkom-          kaufen gehen. Bei dem von Thomas Straubhaar entwickelten
men aus, hierbei handle es sich um eine „abstruse Idee“, die      Modell, das gleichfalls einen Zahlbetrag von 1.000 Euro pro
starke Fehlanreize setze und zum gesellschaftlichen Chaos         Person vorsieht (von dem allerdings noch der Beitrag für
führe: „Die Arbeitsmoral würde zerrüttet, die Grundlagen          die – private – Krankenversicherung abgeht) und alle Ein-
der Arbeitsethik, die die Bevölkerung in Sätzen wie ‚Nach         kommen mit dem Einheitssteuersatz von 50 Prozent belegt,
getaner Arbeit ist gut ruhn‘ oder ‚Wo Arbeit das Haus be-         würden vor allem gut verdienende Mittelschichtangehörige
wacht, kann Armut nicht hinein‘ ausgedrückt hat, würden           stärker als bisher belastet.
zerstört. Das Arbeitsangebot würde markant zurückgehen, die
                                                                    Obwohl der Hamburger Ökonom beteuert, sein Finanzie-
Produktion müsste schrumpfen – eine seltsame Empfehlung
                                                                  rungsmodell wirke progressiv, weil das als Grundfreibetrag
für das Szenario einer alternden Gesellschaft.“36
                                                                  ausgezahlte Grundeinkommen die Steuerlast für Gering-
 Würden (fast) alle bisherigen Transferleistungen zu einem        verdienende stärker senke als für Spitzenverdienende, kann
Grundeinkommen verschmolzen, wäre das Ziel neoliberaler           davon keine Rede sein. Zwar sind die effektiven Durch-
Reformer, einen „Minimalstaat“ zu schaffen, gewissermaßen         schnittssteuersätze auch bei einer flat tax progressiv, wenn
                                                                  das Grundeinkommen mit der Einkommensteuer verrechnet
34 Siehe ebd., S. 138                                             wird, ein Steuersystem ist aber nur dann progressiv, wenn
35 Michael R. Krätke: Leben und Arbeiten, Brot und Spiele. Das    der Grenzsteuersatz mit wachsendem Einkommen steigt, wie
   Grundeinkommen als Sozialstaatsersatz?, in: Widerspruch 52
   (2007), S. 154                                                 37 Siehe Rainer Roth: Zur Kritik des bedingungslosen Grund-
36 Horst Siebert: Gegen ein bedingungsloses Grundeinkom-             einkommens, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2006, S. 14
   men. Eine abstruse Idee mit starken Fehlanreizen, in: FAZ v.   38 Robert Castel: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen
   27.6.2007                                                         Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005, S. 113 (Fußnote 14)
Politisches Lernen 1-2|2018                                           Bedingungsloses Grundeinkommen                          37

auch BGE-Anhängerinnen und -Anhänger konzedieren.39               ner und jede Einwohnerin nach einer bestimmten Niederlas-
                                                                  sungsdauer 12.000 Euro im Jahr steuerfrei im Rahmen einer
   In großer Offenheit charakterisiert Straubhaar das bedin-
                                                                  negativen Einkommensteuer erhalten sollen, fortan auf jedes
gungslose Grundeinkommen als „Steuersystem, das auf einem
                                                                  Einkommen allerdings eine Quellensteuer in Höhe von 50
Bierdeckel erklärt werden kann.“40 Ein unsoziales Konzept
                                                                  Prozent entrichten müssten, ohne dass es noch irgendwelche
zur Reform der Einkommensteuer, das Paul Kirchhof, Heidel-
                                                                  Freibeträge und den Werbungskostenabzug gäbe. Während
berger Steuerrechtler und früherer Bundesverfassungsrichter,
                                                                  Spitzenverdienenende auf den Großteil ihres Millionenein-
sowie Friedrich Merz, damals Vorsitzender der Unionsfrak-
                                                                  kommens nur 5 Prozentpunkte mehr als bisher entrichten
tion im Bundestag und heute Aufsichtsratsvorsitzender der
                                                                  müssten, weil sie ohnehin schon die Reichensteuer in Höhe
deutschen Tochter des weltgrößten Vermögensverwalters
                                                                  von 45 Prozent zahlen, würden manche Hochschullehrerinnen
BlackRock Inc., um die Jahrtausendwende entwickelt hatten,
                                                                  und Hochschullehrer oder Pilotinnen und Piloten oder auch
stand offenbar Pate und feiert heute im Gewand des bedin-
                                                                  Ingenieurinnen und Ingenieure erheblich stärker zur Kasse ge-
gungslosen Grundeinkommens fröhliche Urständ.
                                                                  beten. Denn das Grundeinkommen gleicht ihre Steuerbelastung
  Straubhaar will das Grundeinkommen allen Bürgerinnen            nicht – wie das bei Geringverdienenden der Fall wäre – aus,
und Bürgern unabhängig von ihrem jeweiligen Einkommen             und diese ist sehr viel höher als beim gültigen Einkommen-
steuerfrei gewähren. Dies sei „schlicht nichts anderes als ein    steuertarif, nicht zuletzt wegen der entfallenden Freibeträge.
Verrechnungsvorgang zum Zwecke der bürokratischen Ver-
                                                                    Eine steuerfinanzierte Transferleistung weist gegenüber
einfachung. Alle erhalten zunächst eine Steuergutschrift. Alle
                                                                  einem beitragsfinanzierten Sicherungssystem den Nachteil
zahlen danach auf alle Einkommen Steuern – der Besserver-
                                                                  auf, dass die sie Beziehenden von der Kassenlage des Staates
dienende mehr als der Geringverdienende.“41 In Deutschland
                                                                  abhängig werden: Unter dem Druck haushalts- und finanz-
zusätzlich anfallendes Einkommen jeglicher Art soll an der
                                                                  politischer „Sparzwänge“ bestünde die Gefahr, dass keine
Quelle erfasst und „mit einem einheitlichen und für alle
                                                                  Dynamisierung (der Höhe) des Grundeinkommens stattfände,
Einkommen gleichbleibenden Steuersatz belastet“ werden.42
                                                                  sondern Kürzungsmaßnahmen beschlossen würden, und zwar
Wenn es nach Straubhaar ginge, würde für den Einkommens-
                                                                  Jahr für Jahr, wenn die Steuereinnahmen sinken oder wenn man
millionär also derselbe Steuersatz wie für den Normalver-
                                                                  andere Staatsausgaben für wichtiger bzw. vordringlicher hält.44
diener gelten, was man wohl kaum gerecht nennen kann.
  Bei den zwei einflussreichsten BGE-Konzepten handelt es         Verringerung der Armut und der sozialen
sich um politische Mogelpackungen, denn es wird Etiketten-        Ungleichheit per Grundeinkommenszahlung?
schwindel betrieben: Thomas Straubhaar und Götz W. Wer-
                                                                    Selbst unter ansonsten Gleichgesinnten innerhalb der „BGE-
ner geben das Grundeinkommen zwar als sozialpolitischen
                                                                  Gemeinde“, die von sektenhaften Zügen nicht frei ist, herrscht
Universaltransfer aus, der allen Gesellschaftsmitgliedern und
                                                                  hinsichtlich seiner Hauptzielsetzung eine heillose Verwirrung:
dem Gemeinwohl diene, missbrauchen es indes als Vehikel
                                                                  Während es beispielsweise Michael Opielka, der sich bereits seit
ihrer jeweiligen steuerpolitischen Reformkonzeption, mit der
                                                                  Jahrzehnten – zunächst als bündnisgrüner „Cheftheoretiker“ im
sie es refinanzieren möchten. Joachim Rock befürchtet denn
                                                                  Bereich der Sozialpolitik und später als Jenaer Hochschullehrer
auch zu Recht, dass die Sozialpolitik durch eine Umsetzung
                                                                  für Soziologie – mit dem Grundeinkommen beschäftigt, als
der BGE-Idee nicht aufgewertet, sondern zum bloßen „Annex
                                                                  „bestes Mittel im Kampf gegen Armut“ würdigt, bestreitet Enno
der Steuerpolitik“ verkümmern würde.43
                                                                  Schmidt, Mitbegründer der „Schweizer Initiative Grundein-
  Götz W. Werner lässt die Armen ihr Grundeinkommen               kommen“, dass es überhaupt der Armutsbekämpfung dient.45
über eine drastisch erhöhte Mehrwertsteuer gewissermaßen
                                                                     Philip Kovce, Koautor eines weiteren Mitbegründers dieser
selbst finanzieren, während alle Steuern, die hauptsächlich
                                                                  Initiative, versteht das BGE „als Grundrecht, nicht als Sozi-
Wohlhabende und Reiche zahlen (Einkommen-, Gewerbe-,
                                                                  alleistung“, und versteigt sich gar zu der Feststellung, dass es
Körperschaft- und Kapitalertragsteuer) entfallen würden.
                                                                  mit Geld „nichts zu tun“ habe.46 Letzteres erscheint abwegig,
Thomas Straubhaar wiederum lässt relativ gut verdienende
                                                                  ist das bedingungslose Grundeinkommen doch ein monetärer
Angehörige der Mittelschicht die Hauptlast der Refinanzie-
rung des Grundeinkommens tragen, weil zwar jeder Einwoh-          44 Vgl. Heinz Stapf-Finé: Ein Grundeinkommen sprengt unser
                                                                     Sozialsystem. Bedarfsorientierte Grundsicherung ausbauen
39 Vgl. z. B. Wolfgang Strengmann-Kuhn: Mindesteinkommen             – und so (Alters-)Armut vermeiden, in: Soziale Sicherheit
   für jeden. Wie ein Grundeinkommen in die bestehenden so-          8/2007, S. 254
   zialen Sicherungssysteme integriert werden kann, in: Soziale   45 Siehe Michael Opielka, zit. nach: Marie Rövekamp: Bedin-
   Sicherheit 8/2007, S. 250                                         gungsloses Grundeinkommen: ein Auskommen für alle?, in:
40 Siehe Thomas Straubhaar: Radikal gerecht, a.a.O., S. 108          Der Tagesspiegel v. 4.6.2016; „Bedingungslosigkeit ist weder
41 Ebd., S. 16                                                       radikal noch spektakulär“, Interview mit Enno Schmidt, in:
42 Siehe ebd., S. 99                                                 taz v. 28./29.5.2016
43 Siehe Joachim Rock: Armut im Anzug. Anmerkungen zur            46 Siehe Gespräch mit Philip Kovce und Julian Nida-Rümelin:
   Notwendigkeit einer bedarfsorientierten Grundsicherung, in:       „Man arbeitet nicht nur aus Vergnügen“. Das bedingungslose
   Axel Gerntke u. a.: Einkommen zum Auskommen. Von bedin-           Grundeinkommen – realitätsferne Utopie oder praxisnahes
   gungslosem Grundeinkommen, gesetzlichen Mindestlöhnen             Zukunftsmodell?, in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte
   und anderen Verteilungsfragen, Hamburg 2004, S. 25                1-2/2016, S. 61
38              Bedingungsloses Grundeinkommen                                                      Politisches Lernen 1-2|2018

Universaltransfer, der dafür zu sorgen hätte, dass alle Gesell-         Tatsächlich würde das bedingungslose Grundeinkommen
schaftsmitglieder über die zum Leben nötigen finanziellen             als ein Kombilohn für alle wirken, weil der Staat für die
Ressourcen verfügen. Ebenso wenig erschließt sich, warum              Regeneration der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
die Gewährleistung eines „menschenwürdigen Existenzmini-              aufkäme und die Unternehmer entsprechend weniger dafür
mums“ (Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom              aufwenden müssten. Götz W. Werner lässt diese Intention
9. Februar 2010) durch das Grundeinkommen nicht beides                ebenfalls anklingen, möchte er doch „menschliche Arbeit,
implizieren soll – ein Grundrecht seiner Bezieherinnen und            die ja weiterhin bezahlt werden muss, erheblich verbilligen
Bezieher sowie eine Transferleistung des Staates zugleich.            und damit wieder attraktiv machen.“49 Da die Menschen
                                                                      nicht bloß der Existenzsicherung wegen arbeiten, sondern
  Aufgrund seiner mangelnden Zielgenauigkeit eignet sich
                                                                      auch, weil sie darin ihren Lebenssinn sehen, sich nützlich
das bedingungslose Grundeinkommen jedoch nur sehr bedingt
                                                                      machen wollen und/oder der Gesellschaft etwas zurückge-
zur Verringerung oder zur Verhinderung der Neuentstehung
                                                                      ben möchten, dürften die meisten BGE-Empfangenden an
von Armut. Bekämen alle Bürgerinnen und Bürger vom Staat
                                                                      einer Weiterbeschäftigung interessiert sein. Der ausufernde
1.000 Euro pro Monat, nähme zwar die absolute, nicht jedoch
                                                                      Niedriglohnsektor, seit Längerem das Haupteinfallstor für
die hierzulande grassierende relative Armut deutlich ab.
                                                                      Erwerbs- und spätere Altersarmut in Deutschland, würde
Vielmehr würde die von der EU bei 60 Prozent des mittleren
                                                                      deshalb nicht wie durch einen allgemeinen gesetzlichen Min-
bedarfsgewichteten Einkommens angesetzte Armuts(risiko)-
                                                                      destlohn in existenzsichernder Höhe und ohne Ausnahmen für
schwelle bloß so weit nach oben verschoben, dass man ihr
                                                                      besonders vulnerable Personengruppen (Langzeitarbeitslose,
mit diesem Betrag allein nahe bliebe. Um dies zu ändern,
                                                                      Jugendliche ohne Berufsabschluss und Kurzzeitpraktikantin-
müsste man trotz Grundeinkommensbezugs erwerbstätig
                                                                      nen und -praktikanten) eingedämmt,50 sondern womöglich
sein, wodurch ein indirekter Arbeitszwang fortbestünde.
                                                                      noch massiver durch den Staat subventioniert.
  Während das Grundeinkommen die absolute bzw. existen-
                                                                        Warum das Grundeinkommen seiner Ansicht nach „ge-
zielle Armut, unter der viele Bewohnerinnen und Bewohner
                                                                      recht“ ist, begründet Straubhaar folgendermaßen: „Es behan-
der Länder des globalen Südens leiden, möglicherweise
                                                                      delt alle gleich, belastet aber die Leistungsstarken mehr als die
verringern könnte,47 ist es für Länder des globalen Nordens,
                                                                      Leistungsschwachen.“51 Seit den griechischen Philosophen
wo diese Extremform der Armut eine untergeordnete Rolle
                                                                      des Altertums ist allerdings bekannt, dass Gleiches gleich und
spielt und eindeutig relative Armut dominiert, kaum geeignet.
                                                                      Ungleiches ungleich behandelt werden muss, soll es gerecht
Um diese zu verringern, muss man nämlich den Reichtum
                                                                      zugehen. Der besondere Charme des Grundeinkommens liegt
antasten, sprich: riesige Geldsummen umverteilen, damit sich
                                                                      hingegen in seiner organisatorischen Einfachheit, die durch
die Kluft zwischen Arm und Reich schließt und mehr soziale
                                                                      den Verzicht auf eine Bedarfsprüfung entsteht, was jede
Gleichheit einkehrt. Dies tut ein bedingungsloses Grund-
                                                                      Differenzierung nach der Lebenslage ausschließt: „Es kann
einkommen aber gerade nicht, weil es Hochvermögenden
                                                                      daher weder eine Gleichheit im Ergebnis, sei es in Ressourcen
den gleichen Geldbetrag wie Mittellosen zukommen lässt
                                                                      oder in Wohlergehen, erreichen noch eine Gleichheit in den
und keinen sozialen Ausgleich zwischen ihnen vornimmt.
                                                                      Lebenschancen.“52
  Thomas Straubhaar begreift das Grundeinkommen in erster
                                                                         Statt den spezifischen Bedarf von Hilfesuchenden zu ermit-
Linie als staatlichen Lohnzuschuss, der an die Stelle von
                                                                      teln und ihn durch ein differenziertes Sozialleistungssystem zu
Lohnersatzleistungen des Sozialstaates treten soll. Schon im
                                                                      erfüllen, würde der Staat nur mehr eine Sozialpolitik nach dem
„Hamburger Appell“ neoliberaler Ökonomen, den Straubhaar
                                                                      Gießkannenprinzip betreiben. Eine solche Gleichbehandlung
zusammen mit dem AfD-Gründer Bernd Lucke und Michael
                                                                      aller Bürgerinnen und Bürger im Sinne der „Nivellierung nach
Funke vor der Bundestagswahl 2005 initiiert hat, heißt es,
                                                                      unten“ führt zwangsläufig zu individueller Ungerechtigkeit,
„dass eine Verbesserung der Arbeitsmarktlage nur durch
                                                                      weil sie gerade die Menschen in den schwierigsten Le-
niedrigere Entlohnung der ohnehin schon Geringverdie-
                                                                      benslagen, etwa Schwerstbehinderte mit hohen Extra-
nenden, also durch eine verstärkte Lohnspreizung, möglich
                                                                      kosten, prinzipiell benachteiligt. Dasselbe gilt für Allein-
sein wird. Eine Abfederung dieser Entwicklung ist durch
                                                                      stehende sowie Personen, deren Einkommen durch hohe
verlängerte (!) Arbeitszeiten, verminderten Urlaubsanspruch
oder höhere Leistungsbereitschaft möglich. […] Das deutsche
System der Lohnersatzleistungen von der Sozialhilfe über das
Arbeitslosengeld bis zur subventionierten Frührente erzeugt
Lohnansprüche, die der Markt nicht mehr befriedigen kann.“48
                                                                      49 Götz W. Werner: Einkommen für alle, a.a.O., S. 80
                                                                      50 Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge: Armut in einem reichen
                                                                         Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 4.
47 Vgl. Pranab Bardhan: Grundeinkommen für den Süden?, in:               Aufl. Frankfurt am Main / New York 2016, S. 296 ff.
   Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2016, S. 29 f.   51 Thomas Straubhaar: Radikal gerecht, a.a.O., S. 29
48 Michael Funke / Bernd Lucke / Thomas Straubhaar: Ham-              52 Ulrich Metschl: Grundeinkommen und Gleichheit – egalita-
   burger Appell, in: Hamburgisches WeltWirtschaftsinstitut              ristische Grundlagen der Forderung nach einem bedingungs-
   (Hg.), Update (Wissens-Service des HWWI) Spezial, o.O. u.J.           losen Grundeinkommen, in: Rigmar Osterkamp (Hg.): Auf
   (www.hwwi.org/uploads/tx_wilpubdb/Hamburger_Appell.                   dem Prüfstand: Ein bedingungsloses Grundeinkommen für
   pdf; 9.9.2017)                                                        Deutschland?, Baden-Baden 2015, S. 67
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