Keine Gerechtigkeit für niemand - Budrich Journals
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30 Bedingungsloses Grundeinkommen Politisches Lernen 1-2|2018 Christoph Butterwegge Keine Gerechtigkeit für niemand Das bedingungslose Grundeinkommen weckt falsche Hoffnungen, ohne allen soziale Sicherheit zu bieten Das bedingungslose Grundeinkommen erscheint seinen Anhängerinnen und Anhängern als Inbegriff der sozialen Gerechtigkeit. In dem Beitrag wird demgegenüber argumentiert, dass mit Einführung des Grundeinkommens nicht bloß der bestehende Sozialstaat zerstört, sondern auch keine Gerechtigkeit verwirklicht würde, weil es die konkrete Lebenslage seiner Bezieher und die Maxime der klassischen griechischen Philosophie unberücksichtigt lässt, wonach Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden muss, wenn es gerecht zugehen soll. Seit am 1. Januar 2005 mit der Arbeitslosenhilfe eine den geldes“ wie auch die Bündnisgrünen hegen Sympathien für Lebensstandard von Langzeiterwerbslosen noch halbwegs ein Grundeinkommen, wenngleich es nur Letztere nicht an sichernde Lohnersatzleistung durch das im Volksmund „Hartz Bedingungen knüpfen wollen. IV“ genannte Gesetzespaket abgeschafft worden und mit dem Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein steuerfi- regierungsoffiziell als „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ nanzierter Universaltransfer, den alle (Wohn-)Bürgerinnen bezeichneten Arbeitslosengeld (Alg) II eine bloße Fürsorge- und Bürger zwecks Sicherstellung ihres Lebensunterhalts bzw. Lohnergänzungsleistung an seine Stelle getreten ist,1 hat ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Verpflichtung zur das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) in Deutschland Erwerbsarbeit erhalten sollen, wenn sich seine Befürworte- erheblich an öffentlicher Resonanz und politischer Rele- rinnen und Befürworter durchsetzen, die unterschiedlichen vanz gewonnen. Noch größeren Auftrieb erhielt die Debatte Organisationen, Parteien und sozialen Milieus angehören. darüber durch Befürchtungen, der Digitalisierungsprozess Damit wird suggeriert, dass nach permanenter „Flickschus- könne einen Großteil der Arbeitsplätze vernichten und ein terei“ am Sozialstaat, die über Jahrzehnte hinweg nur immer Millionenheer materiell unversorgter Menschen zurücklassen. neue Probleme mit sich gebracht und nicht enden wollende Bei der Bundestagswahl am 24. September 2017 hat die Streitigkeiten in der (Medien-)Öffentlichkeit hervorgeru- unter dem Kürzel „BGE“ firmierende Partei „Bündnis Grund- fen hat, ein politischer Befreiungsschlag möglich sei. Der einkommen“ bloß 0,2 Prozent der Zweitstimmen bekommen. angestrebte Paradigmenwechsel erscheint vielen Menschen Ihr singuläres Thema bleibt aber auf der Tagesordnung, auch geradezu als Erlösung aus dem Jammertal der Konflikte, die wenn im Bund trotz mehrwöchiger Sondierungen zwischen ihre Harmoniesucht herbeisehnt. Endlich können sie hoffen, CDU, CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen keine „Ja- vom bisherigen Elend der Armen, die um Almosen betteln, maika-Koalition“ gebildet wurde. In dem am 27. Juni 2017 und der ständigen Reformen, die – wie Hartz IV – nur immer geschlossenen Koalitionsvertrag für die 19. Wahlperiode des neue Verschlechterungen bewirkt haben, befreit zu werden. Schleswig-Holsteinischen Landtages hatten die Regierungs- Dass zahlreiche Alg-II-Beziehende, die unter dem büro- parteien CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP nämlich unter kratischen Antragsverfahren, Schikanen und Kontrollmaß- der Zwischenüberschrift „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung nahmen ihres Jobcenters sowie unter den Sanktionsdrohun- in der digitalen Gesellschaft“ angekündigt, ein „Zukunftslabor“ gen des Hartz-IV-Systems leiden, mehr oder weniger große mit den Akteurinnen und Akteuren der Arbeitsmarktpolitik und Sympathie für die Alternativlösung eines bedingungslosen aus der Wissenschaft einzurichten, in dem sie „die Umsetz- Grundeinkommens empfinden, kann ebenso wenig überra- barkeit neuer Absicherungsmodelle, z. B. ein Bürgergeld, ein schen wie die Tatsache, dass sich viele Betroffeneninitiati- Grundeinkommen oder die Weiterentwicklung der sozialen ven, Arbeitslosenverbände und Frauenorganisationen hinter Sicherungssysteme“ diskutieren und bewerten lassen wollen.2 dieser Forderung versammeln. Unter dem Kontrolldruck Sowohl die FDP mit ihrem Konzept eines „liberalen Bürger- ihres Jobcenters stehende Beziehende von Arbeitslosengeld 1 Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Hartz IV und die Folgen. II erwarten, sich mit Hilfe eines ohne Papierkrieg gezahlten Auf dem Weg in eine andere Republik?, 3. Aufl. Weinheim/ Grundeinkommens der Gängelung, Erniedrigung und De- Basel 2018, S. 116 f. mütigung durch eine ausufernde Sozialbürokratie entziehen 2 Siehe Christlich Demokratische Union Deutschland, Lan- zu können. Schließlich würden die leidige Bedürftigkeits- desverband Schleswig-Holstein/Freie Demokratische Partei, prüfung sowie die Anrechnung des Partnereinkommens auf Landesverband Schleswig-Holstein/Bündnis 90/Die Grünen, Landesverband Schleswig-Holstein (Hg.): Das Ziel verbindet: die Transferleistung entfallen, weil alle Personen in seinen weltoffen – wirtschaftlich wie ökologisch stark – menschlich. Genuss kämen und damit auch die Forderung nach einer Koalitionsvertrag für die 19. Wahlperiode des Schleswig- eigenständigen sozialen Sicherung der Frau erfüllt wäre. Holsteinischen Landtages (2017-2022) zwischen der Christ- lich Demokratischen Union Deutschland, Landesverband Gleichwohl sprechen gewichtige Einwände gegen das Schleswig-Holstein, Bündnis 90/Die Grünen, Landesverband bedingungslose Grundeinkommen, weshalb ihm der Durch- Schleswig-Holstein, und der Freien Demokratischen Partei, bruch selbst innerhalb des Hartz-IV-kritischen Lagers, das Landesverband Schleswig-Holstein, Kiel o.J., S. 31 zahlreiche Wohlfahrtsverbände, große Teile der christlichen
Politisches Lernen 1-2|2018 Bedingungsloses Grundeinkommen 31 Kirchen, der Gewerkschaftsbewegung, der SPD, der Bündnis- einkommen ausgesprochen und ihm perspektivisch gro- grünen und der Piraten, aber auch die LINKE als Gesamtpartei ße Realisierungschancen zugebilligt: „Es könnte eine Lösung umfasst, bisher nicht gelungen ist. Hier soll erörtert werden, sein – nicht heute, nicht morgen, aber in einer Gesellschaft, ob die BGE-Forderung eine sinnvolle Alternative zur Grund- die sich durch die Digitalisierung grundlegend verändert hat.“4 sicherung für Arbeitsuchende darstellt oder andere Wege zu Auf diese Weise wird unterstellt, dass der Wohlfahrtsstaat, mehr sozialer Gerechtigkeit beschritten werden müssen. wie man ihn bisher kannte, nicht zukunftsträchtig sei und die soziale Sicherung von der Lohnarbeit entkoppelt werden Rahmenbedingungen, Zusammenhänge müsse, weil das Ende der Arbeitsgesellschaft näherrücke. und Hintergründe der BGE-Diskussion Modebegriffe wie „Industrie 4.0“ oder „Internet der Dinge“, Die sozialphilosophische Idee, sämtliche Bürgerinnen Bilder einer menschenleeren Fabrik und Horrorszenarien, und Bürger vom Arbeitszwang zu befreien und Armut zu wonach die künftige Herrschaft der Algorithmen für einen vermeiden, indem der Staat allen Gesellschaftsmitgliedern Großteil der arbeitsfähigen Bevölkerung sämtliche Verdienst- ein gleich hohes, ihre materielle Existenz auf einem Mindest- möglichkeiten beseitigt, stilisieren das Grundeinkommen niveau sicherndes Grundeinkommen zahlt, ist uralt. Durch zum letzten Rettungsanker in einer aus den Fugen geratenen die Verbindung der Gerechtigkeitsvorstellungen eines uto- Welt. Dabei ist jegliche Panikmache unangebracht, weil der pischen Sozialismus, bürgerlicher Gleichheitsideale und Gesellschaft auch bei früheren wissenschaftlich-technischen zentraler Funktionselemente der Marktökonomie gewinnt Umbrüchen wie der Mechanisierung, der Elektrifizierung, der sie an Bedeutung. Gegenwärtig haben BGE-Modelle des- Motorisierung und der Computerisierung nie die (Erwerbs-) halb Hochkonjunktur, weil sie dem neoliberalen Zeitgeist Arbeit ausging, obwohl an vergleichbaren Kassandrarufen entsprechen,3 also die Freiheit des (Wirtschafts-)Bürgers nicht auch seinerzeit kein Mangel herrschte. gefährden, vielmehr „Privatinitiative“, „Eigenverantwor- Aus einem weiteren Quantensprung in der modernen Pro- tung“ und „Selbstvorsorge“ glorifizieren sowie die tradierten duktionstechnik, so er denn eintritt, müssten in Wahrheit ganz Mechanismen der kollektiven Absicherung von Lebensrisiken andere Schlussfolgerungen gezogen und radikalere Forde- problematisieren, auf die prekär Beschäftigte und Erwerbslose rungen abgeleitet werden, als es die BGE-Anhängerinnen angewiesen sind. „Das bedingungslose Grundeinkommen“, und -Anhänger tun. Macht die Arbeit künftig tatsächlich bemerkt denn auch Mark Schieritz in der Zeit (v. 28.12.2017), „einen immer geringeren Anteil der gesamten Wertschöpfung“ „ist in seinem Vertrauen darauf, dass schon alles gut wird, aus, müssen Sozialleistungen gerade nicht „stärker steuer- wenn der Bürger selbst entscheiden darf, wie er sein Geld finanziert“ werden, wie der Hamburger Ökonom Thomas ausgibt, eine zutiefst neoliberale Idee.“ Straubhaar behauptet.5 Vielmehr könnte das Kapital auch Dabei hinterlassen BGE-Konzepte allerdings nicht den durch eine fälschlicherweise „Maschinensteuer“ genannte Eindruck sozialer Kälte, welcher der Regierungspolitik heut- Wertschöpfungsabgabe stärker zur Entrichtung von Sozial- zutage meistenteils anhaftet. Außerdem wird der bestehende versicherungsbeiträgen herangezogen werden.6 „Wenn auto- Sozialstaat sogar von manchen seiner Nutznießenden mit einer matische Maschinen und Roboter und große gesellschaftliche alles überwuchernden Bürokratie, Gängelungsversuchen und Infrastrukturen und Netze immer mehr die Grundlagen der Schikanen der Arbeitsverwaltung, das Grundeinkommen Reichtumsproduktion bilden, dann stellt sich die Frage nach dagegen mit Kreativität, Spontaneität und bürgerschaftli- Eigentum und Verfügung daran, also nach sozialistischen cher Emanzipation identifiziert. Die zunehmende Spaltung Alternativen jenseits des Kapitalismus.“7 der westlichen Wohlstandsgesellschaften in Arm und Reich schreit geradezu nach einer Alternativlösung, die viele Ge- Konzepte und Modelle ringverdienende und Beziehende von Transferleistungen eines bedingungslosen Grundeinkommens – aus ihrer Perspektive durchaus nachvollziehbar – im be- Politisch interessant und gesellschaftlich relevant wird das dingungslosen Grundeinkommen sehen. Grundeinkommen durch seine heterogene Anhängerschaft, BGE-Protagonistinnen und -Protagonisten greifen eine die von einem in der Tradition von Milton Friedman stehenden dritte Große Erzählung unserer Zeit – neben der Globali- Ökonomen (Thomas Straubhaar), einem prominenten Groß- sierung und dem demografischen Wandel – auf, die eben- unternehmer (Götz W. Werner) sowie einzelnen Topmanagern falls als Scheinargument für angeblich notwendige tief- (etwa von BMW, SAP, Siemens und der Deutschen Telekom) greifende Veränderungen des europäischen Sozialmodells 4 „Der Unterschied zwischen Mensch und Computer wird in herhalten muss: „Digitalisierung“ heißt das noch relativ Kürze aufgehoben sein“. Interview mit Timotheus Höttges, junge Schlagwort, unter dem das Grundeinkommen qua- in: Die Zeit v. 30.12.2015 si als Naturgesetzlichkeit erscheint, die aus technologi- 5 „Gegen die Lobbymacht der Senioren können Sie keine Politik schen Umbrüchen in der Arbeitswelt resultiert. Timotheus machen“, Interview mit Thomas Straubhaar, ZEIT Online, Höttges, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom 7.4.2016 6 Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge: Krise und Zukunft des AG, hat sich prinzipiell für ein bedingungsloses Grund- Sozialstaates, 6. Aufl., Wiesbaden 2018, S. 402 ff. 7 Ralf Krämer: Zu kurz gesprungen. Seit den 1980ern wird über 3 Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge / Bettina Lösch / Ralf eine „Maschinensteuer“ diskutiert – bisher ohne Konsequen- Ptak: Kritik des Neoliberalismus, 3. Aufl., Wiesbaden 2017 zen, in: Neues Deutschland v. 15.6.2016
32 Bedingungsloses Grundeinkommen Politisches Lernen 1-2|2018 über Vertreter der Unionsparteien, erhebliche Teile der Bünd- abgesprochen werden. Zu fragen ist m. E. allerdings, ob nisgrünen, die Piraten sowie Mitglieder von Erwerbslosenin- utopische, um nicht zu sagen: weltfremde Entwürfe einer itiativen und Frauenverbänden bis zu gesellschaftskritischen ganz anderen Gesellschaft, die allen Menschen ohne Ansehen Soziologen wie Stephan Lessenich, Michael Opielka und der Person und ohne Arbeitspflicht ein gutes Auskommen Georg Vobruba, manchen SPD-Untergliederungen und Teilen sichert, wirklich realitätsgerecht sind, also nicht zwangsläu- der LINKEN mit ihrer Parteivorsitzenden Katja Kipping an fig an der ungeheuren Machtkonzentration im bestehenden der Spitze reicht. Wirtschaftssystem scheitern müssen. Ein derart breit gefächertes und buntscheckiges politisches Das mit Abstand medienwirksamste Modell eines bedin- Spektrum verbindet mit einer Reformidee wie dem Grund- gungslosen Grundeinkommens stammt von Götz W. Werner, einkommen natürlich ganz unterschiedliche, teilweise sogar dem anthroposophisch orientierten Gründer der dm-Droge- gegensätzliche Motive: „Während man am linken Rand die riemarktkette. Dieser erfolgreiche Großunternehmer wurde Erlösung des Prekariats aus kapitalistischer Lohnsklaverei einer breiteren Öffentlichkeit durch ein Interview bekannt, und Armut sucht, zielt der rechte Rand auf die Befreiung das der stern am 20. April 2006 publizierte und die folgende des Kapitals von den Fesseln der Sozialstaatlichkeit.“8 Ein prägnante Feststellung enthielt: „Hartz IV ist offener Straf- Autorenteam um Heiner Flassbeck, unter Oskar Lafontaine vollzug. Es ist die Beraubung von Freiheitsrechten. Hartz kurzzeitig Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und IV quält die Menschen, zerstört ihre Kreativität. Es ist ein später Chef-Volkswirt der UN-Organisation für Welthandel Skandal, dass eine rot-grüne Regierung dieses destruktive und Entwicklung (UNCTAD), hält das BGE für ausgespro- Element in die Gesellschaft gebracht hat.“12 chen gefährlich, weil es bei Teilen des rechten politischen Durch seine Fundamentalkritik an Hartz IV und sein Plä- Spektrums die Illusion schaffe, mit einem (möglichst niedri- doyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen avancierte gen) „Einkommen für alle“ darüber hinausreichende Vertei- Werner bei Alg-II-Empfangenden zu einer politischen Gali- lungsfragen auf Dauer zu unterbinden und so dem neoliberalen onsfigur, obwohl er aufgrund seines Reichtums kaum Berüh- Ziel näher zu kommen, dass die „Tüchtigen“ erhalten, was rungspunkte zu ihrem Alltag hatte. Zuerst nannte Werner 1.500 sie am Markt erringen, während es auf der Linken die Illu- Euro als monatlichen Zahlbetrag eines Grundeinkommens,13 sion nähre, sowohl die Armut erfolgreich zu bekämpfen wie das allerdings mit dem Erwerbseinkommen verrechnet werden auch die Umwelt zu retten und die Frage nach den „wahren soll. Später forderte er in seinem zusammen mit der frühe- Werten“ des Lebens sinnvoll zu beantworten.9 ren Berliner Kultur- und Wissenschaftssenatorin Adrienne Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Modellen, die sich Goehler veröffentlichten Buch gleichen Titels aber bloß noch als (nicht immer: bedingungsloses) Grundeinkommen ver- „1000 € für jeden“, über deren Finanzierung sich der Autor stehen oder zumindest als solches klassifizieren lassen.10 Da und seine Koautorin überdies nicht einig waren.14 hier schon aus Platzmangel nicht alle Konzepte vorgestellt Die Achillesferse des Modells von Götz W. Werner ist und einer kritischen Würdigung unterzogen werden können, seine Refinanzierung. Für den Karlsruher Unternehmer bildet erfolgt eine Selbstbeschränkung auf jene Ansätze, die den das Grundeinkommen augenscheinlich nur den Hebel zur größten Rückhalt in der Öffentlichkeit finden und deshalb Durchsetzung einer weiteren drastischen Steuerentlastung noch am ehesten die Chance hätten, realisiert zu werden. von Unternehmen. Unter der Überschrift „Ausgaben- statt Damit sollen denjenigen Personen und Initiativen, die ein Einkommensteuer!“ begründet Werner, warum seiner Mei- bedingungsloses Grundeinkommen vornehmlich als Chance nung nach ausschließlich eine reine Konsumsteuer sozial betrachten, die verhärteten Fronten im Kampf gegen den gerecht ausgestaltet werden kann und zeitgemäß ist: „Die Sozialabbau der letzten Jahrzehnte aufzubrechen und diesen Mehrwertsteuer hat [...] als einzige Steuer einen gesamt-, ja gleichzeitig zu beenden,11 keineswegs ihre lauteren Motive weltwirtschaftlichen Charakter. Man könnte sagen, dass sie 8 Daniel Kreutz: Bedingungslose Freiheit? – Warum die Grund- die adäquate Steuer für eine hochgradig arbeitsteilige Gesell- einkommensdebatte den Freunden des Kapitalismus in die schaft und eine globalisierte Welt ist.“15 So unproblematisch Hände spielt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik die Mehrwertsteuer für einen (Handels-)Unternehmer sein 4/2010, S. 66 mag, der sie einfach auf die Preise umlegt, auf seine Kun- 9 Siehe Heiner Flassbeck u. a.: Irrweg Grundeinkommen. Die dinnen und Kunden abwälzt und als durchlaufenden Posten große Umverteilung von unten nach oben muss beendet werden, Frankfurt am Main 2012, S. 9 10 Vgl. den Überblick bei Ronald Blaschke: Aktuelle Ansätze jetzt!, vollständig überarbeitete Auflage mit neuem Konzept, und Modelle von Grundsicherungen und Grundeinkommen Berlin, Mai 2014; Werner Rätz / Dagmar Paternoga: Zukunfts- in Deutschland. Vergleichende Darstellung, in: ders. / Adeline modell Grundeinkommen? – Recht auf Teilhabe, soziale Siche- Otto / Norbert Schepers (Hg.): Grundeinkommen. Von der rung und ein wenig Utopie, Hamburg 2017 (AttacBasisTexte Idee zu einer europäischen politischen Bewegung, mit einem 50) Vorwort von Katja Kipping, Hamburg 2012, S. 118 ff. 12 Arno Luik: „Das manische Schauen auf Arbeit macht uns alle 11 Vgl. z. B. Ralf Welter / Diözesanverband der KAB Aachen krank“, in: stern 17/2006, S. 178 (Hg.): Solidarische Marktwirtschaft durch Grundeinkommen. 13 Vgl. Götz W. Werner: Einkommen für alle, Köln 2007, S. 220 Konzeptionen für eine nachhaltige Sozialpolitik, Aachen 2003; 14 Vgl. ders. / Adrienne Goehler: 1000 € für jeden. Freiheit, Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in und bei der Gleichheit, Grundeinkommen, Berlin 2010, S. 226 Partei DIE LINKE (Hg.): Bedingungsloses Grundeinkommen 15 Götz W. Werner: Einkommen für alle, a.a.O., S. 207
Politisches Lernen 1-2|2018 Bedingungsloses Grundeinkommen 33 behandelt, so wenig berücksichtigt sie die unterschiedliche Der frühere Abteilungsleiter im Bundesministerium für finanzielle Leistungs- bzw. Zahlungsfähigkeit der einzelnen Arbeit und Sozialordnung Thomas Ebert weist auf den durch Gesellschaftsmitglieder. „Durch die Besteuerung des priva- ein bedingungsloses Grundeinkommen zu erwartenden Infla- ten Konsums wird das Prinzip der Lastverteilung nach der tionseffekt hin, den die hohe Konsumsteuer im Werner-Modell ökonomisch-individuellen Leistungsfähigkeit endgültig ver- verstärkt.19 Nach seiner Berechnung müsste das Grundein- drängt: Je mehr jemand an Einkommen erzielt und je geringer kommen nicht weniger als 2.214 Euro betragen, um die heutige der Anteil des privaten Konsums ausfällt, um so geringer ist Kaufkraft von 1.000 Euro zu erreichen, und die Konsumsteuer dessen Steuerlast. Wachsende nicht konsumtive Verwendung selbst dann 121,4 Prozent, wenn alle heute erhobenen Steu- des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte, also die ern erhalten blieben. Werner geht zwar davon aus, dass die Geldvermögensbildung als Ausdruck ökonomischer Stärke, Unternehmer die Preise ihrer Waren und Dienstleistungen wird steuerlich bevorteilt.“16 nach Wegfall der sie belastenden Kapital- und Gewinnsteuern senken würden, was bei massiven Steuerentlastungen in der Ausgerechnet die Mehrwertsteuer bezeichnet Werner als Vergangenheit allerdings nie der Fall war. Außerdem würde „erfolgreichste“ Steuerart.17 Über deren Erhöhung auf über der Finanzaufwand für das Grundeinkommen laut Ebert 50 Prozent möchte er das Grundeinkommen finanzieren, deutlich über zwei Billionen Euro pro Jahr betragen. Ebert obwohl sie kinderreiche Familien von Geringverdienenden prognostiziert aber nicht bloß einen „gigantischen Inflations- und Transferleistungsbeziehenden besonders hart trifft, weil schub“, den das Grundeinkommen seines Erachtens auslösen diese praktisch ihr gesamtes Einkommen vor Ort in den würde, sondern sieht hierin auch „keine echte Alternative zur Alltagskonsum stecken (müssen). Möglicherweise würde Erwerbsarbeit“, was er wie folgt begründet: „Freiheit – wir ein Multimillionär seiner Gattin den nächsten Pelzmantel können auch sagen soziale Gerechtigkeit – ist nur in der oder Brillantring fortan in in einem weit entfernt liegenden Arbeit möglich, d. h. durch die politische Gestaltung der Niedrigsteuerland kaufen; der heutige Hartz-IV- und künftige Arbeitswelt selbst, nicht durch ein Grundeinkommen, mit Grundeinkommensbezieher müsste hingegen alles, was er dessen Hilfe man sich von den Zwängen der Arbeitswelt sich überhaupt leisten kann, wie bisher in Berlin-Neukölln, loszukaufen versucht.“20 München-Hasenbergl oder Köln-Chorweiler kaufen, wenn er dort lebt, denn seine Mobilität ist und bleibt aufgrund feh- Wolfgang Engler, Rektor der Schauspielhochschule „Ernst lender Ressourcen beschränkt. Zudem sind die (progressive) Busch“ in Berlin, plädiert für eine „Sozialdividende“ und Einkommensteuer und eine Vermögensteuer nun einmal schlägt zum Zweck ihrer Finanzierung ebenfalls indirekte sozial gerechter als die Mehrwertsteuer, weil sie hauptsäch- Steuern vor. Über die Mehrwertsteuer schwärmt er unter Be- lich Besserverdienende, Kapital Besitzende und Begüterte rufung auf Lester Thurow: „Sie wird auf alle Waren erhoben, treffen, während Geringverdienende und Sozialleistungen auch auf die importierten, und zieht daher (anders als bei Empfangende davon weitgehend verschont bleiben. Abgaben und direkten Steuern) keine Wettbewerbsnachteile für die je einheimische Volkswirtschaft nach sich.“21 Folgt Selbst wenn man die Steuersätze stärker ausdifferenziert, man weniger der Standortlogik als sozialen Gerechtigkeits- also z. B. Grundnahrungsmittel niedrig oder gar nicht, andere kriterien, kommt die Mehrwertsteuer als Finanzierungsquelle Güter höher und Luxusgüter am höchsten besteuert, wird aus für Sozialtransfers kaum in Betracht, weil sie besonders kin- einer Konsumsteuer kein sozial gerechtes Steuerungsinstru- derreiche Familien trifft, die in Relation zu ihrem niedrigen ment. „Indirekte Steuern belasten die unteren Einkommens- Einkommen einen relativ hohen Konsumgüterbedarf haben, gruppen weit mehr als die oberen. Daran ändert auch wenig, während ihr Wohlhabende schon wegen häufigerer Aufent- dass Werner Kaviar höher besteuern will als Milch. Befreit halte in Ländern ohne Grundeinkommen und vergleichbar von jeder Form der Steuerprogression oder von Erbschaft- hohe Steuersätze leichter ausweichen könnten. und Vermögensteuer würde sich die Umverteilung von unten nach oben beschleunigen und könnte mit dem Verweis auf Ähnlich wie Engler beschwört Werner das Grundeinkom- das ja schließlich allen gewährte Grundeinkommen eine men zwar sehr pathetisch als „Bürgerrecht“, versteht darunter gewisse Legitimität in Anspruch nehmen.“18 aber letztlich nur einen „bar ausgezahlten Steuerfreibetrag“, der nötig ist, weil in seinem Modell alle direkten Steuern 16 Rudolf Hickel: Wie gerecht ist das deutsche Steuersystem? entfallen, was nicht die Armen, sondern die Vermögenden – – Zum voranschreitenden Abbau der Besteuerung nach dem besonders Milliardäre wie Werner – entlasten würde. Wenn Prinzip der Leistungsfähigkeit, in: Wolfram Elsner / Werner man das Grundeinkommen als bloße „Rücküberweisung Wilhelm Engelhardt / Werner Glastetter (Hg.): Ökonomie des Grundfreibetrages“ interpretiert, wie dies Werner tut,22 in gesellschaftlicher Verantwortung. Sozialökonomik und Gesellschaftsreform heute, Berlin 1998, S. 260 17 Zit. nach: „Grundeinkommen? Da geht es um die Ziele der Aufklärung“. Götz Werner hat dm zum Drogerie-Riesen ge- 19 Vgl. dazu und zum Folgenden: Thomas Ebert: Soziale Ge- macht und will, dass der Staat jedem 1000 Euro auszahlt, in: rechtigkeit in der Krise, Bonn 2012 (Schriftenreihe der Bun- Der Freitag v. 25.5.2016 deszentrale für politische Bildung, Bd. 1291), S. 273 18 Hermann Theißen: Grundeinkommen, in: Gabriele Gillen/ 20 Ebd., S. 274 Walter van Rossum (Hg.): Schwarzbuch Deutschland. Das 21 Wolfgang Engler: Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Handbuch der vermissten Informationen, Reinbek bei Hamburg Neugestaltung der Gesellschaft, Berlin 2005, S. 371 f. 2009, S. 332 22 Siehe Götz W. Werner: Einkommen für alle, a.a.O., S. 211
34 Bedingungsloses Grundeinkommen Politisches Lernen 1-2|2018 degeneriert es zum Abfallprodukt einer bestimmten steuer- von Arbeitsgelegenheiten gezahlt werden sollte. Abgesehen politischen Reformkonzeption, die eine Restauration früherer davon, dass der genannte Betrag weder die staatlichen Durch- Gesellschaftszustände darstellen würde. schnittsausgaben für den Regelsatz sowie Kaltmiete und Heiz- kosten bei Hartz IV überstieg noch sich die Lebenssituation Der ehemalige thüringische Ministerpräsident Dieter Alt- der sozial Benachteiligten durch eine bloße Umbenennung haus (CDU) bezeichnet sein Modell, das er im Sommer 2006 von „Grundsicherung“ in „Bürgergeld“ verbessern ließe, hätte vorlegte, als „Solidarisches Bürgergeld“, weil es gerecht dieses gegenüber jener aus ihrer Perspektive den gravierenden sei, die Existenz sämtlicher Staatsbürgerinnen und -bürger Nachteil, dass die Unterkunftskosten pauschaliert wären, bedingungslos zu sichern und der Massenerwerbslosigkeit wodurch einer Gettoisierung der Armen zweifellos Vorschub durch Entkopplung von Arbeitsmarkt und sozialer Sicherung geleistet würde. Denn wer als Alg-II-Bezieherin oder -Bezie- entgegenzuwirken.23 Nach diesem Konzept würde jedes her heute noch in einer relativ komfortablen Wohnung und in Kind 300 Euro, jede/r Volljährige 600 Euro im Monat und einem gutbürgerlichen Stadtteil einer Großstadt lebt, wäre bei Erwachsene ab dem 67. Lebensjahr außerdem eine Zusatz- (niedrigeren) fixen Unterkunftskosten gezwungen, entweder rente bis zur selben Höhe je nach Art ihrer Erwerbstätigkeit einen Teil der Miete aus dem sehr niedrigen Regelsatz zu be- erhalten. Ergänzend gäbe es eine Gutschrift von 200 Euro zahlen oder aus- und in eine „schlechtere“ Gegend, womöglich als „Gesundheits- und Pflegeprämie“. Behinderte und Bür- in eine Hochhaussiedlung am Stadtrand umzuziehen. Zwar gerinnen und Bürger in einer besonderen Lebenslage, etwa konnte sich die FDP mit ihrem Vorschlag nicht durchsetzen, Alleinerziehende, könnten einen „Bürgergeldzuschlag“ bean- der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag für die 17. Legislatur- tragen, der sich nach dem individuellen Bedarf richtet. Alle periode enthielt aber einen Prüfauftrag zu diesem Thema.26 übrigen Sozialleistungen, beispielsweise Wohn-, Kinder- und Elterngeld, entfielen genauso wie sämtliche Sozialversiche- Am 1. November 2010 stellte Dieter Althaus, inzwischen rungsbeiträge; die Arbeitgeber würden stattdessen für ihre Vizepräsident des Autozulieferers Magna, gemeinsam mit sei- Beschäftigten eine Lohnsummensteuer zwischen 10 und 12 nem Ex-Staatssekretär Hermann Binkert die Arbeitsergebnisse Prozent entrichten. Finanziert werden soll das Bürgergeld einer von der CDU-Spitze eingesetzten und von ihm geleite- überdies durch eine Erhöhung der Einkommensteuer auf 50 ten Kommission „Solidarisches Bürgergeld“ vor. Finanziert Prozent, die mit dem Bürgergeld verrechnet wird. Ab einer werden soll es durch eine für alle gleiche („Solidarische“) bestimmten Einkommenshöhe (1.600 Euro) würde sich das Einkommensteuer in Höhe von 40 Prozent, die mit dem Bür- Bürgergeld halbieren, während die Beziehenden höherer Ein- gergeld verrechnet würde. Bis zu einer bestimmten Einkom- kommen umgekehrt nur 25 Prozent Steuern zahlen müssten. menshöhe (18.000 Euro pro Jahr) würde man Zuwendungen des Finanzamtes im Sinne einer negativen Einkommensteuer Michael Opielka und Wolfgang Strengmann-Kuhn haben erhalten; wer darüber läge, würde zum Nettozahler. Sozial- das Konzept des Solidarischen Bürgergeldes im Auftrag versicherungsbeiträge würden entfallen; da die Unternehmen der Konrad-Adenauer-Stiftung auf seine Finanzierbarkeit bloß noch eine „Lohnsummenabgabe“ in Höhe von 18 Prozent überprüft. In ihrem Gutachten würdigten sie das Modell als zahlen müssten, wären sie die eigentlichen Gewinner der Re- „Beitrag für eine konkrete und realitätsnahe Reform des deut- form. Arbeitgeber würden aus der paritätischen Beitragspflicht schen Sozialstaats“, die nur überparteilich bzw. parteienüber- entlassen und durch die geplante „flat tax“ (Einheitssteuer) als greifend Erfolg verspreche.24 Opielka und Strengmann-Kuhn Spitzeneinkommensbezieher doppelt entlastet. gelangten zu dem Ergebnis, dass zwar einige weitere Modi- fikationen nötig, die Grundlinien von Althaus’ Konzept aber Althaus ging es im Wesentlichen darum, das Lohnabstands- durchweg stimmig seien. Solidarisch kann man das Modell gebot zu garantieren und die Personalzusatzkosten der Un- allerdings kaum nennen, liegt es doch „deutlich unter der von ternehmen zu senken. Außerdem ließ er Sympathien für eine der EU festgelegten Armutsgrenze“ (seinerzeit: 935 Euro), weitere Verschiebung von Einkommen- zu Konsumsteuern wie auch Opielka und Strengmann-Kuhn konstatierten.25 erkennen und plädierte unter Berufung auf Ludwig Erhard für eine Befreiung der Wirtschaftssubjekte von staatlichen Kaum hatten im Oktober 2009 die Koalitionsverhandlun- Regulierungszwängen: „Das Solidarische Bürgergeld stärkt gen zwischen CDU/CSU und FDP begonnen, ging deren Kreativität und Risikobereitschaft, es stärkt auch Eigenver- damaliger finanzpolitischer Sprecher Hermann Otto Solms antwortung und Wettbewerb.“27 Sozialer als der bestehende mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, Hartz IV durch ein Wohlfahrtsstaat wäre das CDU-Bürgergeldmodell im Falle „Bürgergeld“ in Höhe von 662 Euro zu ersetzen, das nur seiner Verwirklichung kaum, läge der Zahlbetrag doch nur im Falle der Bereitschaft des Antragstellers zur Übernahme geringfügig über dem Hartz-IV-Niveau. 23 Vgl. Dieter Althaus: Das Solidarische Bürgergeld. Sicher- heit und Freiheit ermöglichen Marktwirtschaft, in: Michael Borchard (Hg.): Das Solidarische Bürgergeld – Analyse einer 26 Vgl. CDU Deutschlands / CSU Landesleitung / FDP (Hg.): Reformidee, Stuttgart 2007, S. 2 Wachstum – Bildung – Zusammenhalt. Der Koalitionsvertrag 24 Siehe Michael Opielka / Wolfgang Strengmann-Kuhn: Das zwischen CDU, CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode Solidarische Bürgergeld. Finanz- und sozialpolitische Analyse (des Deutschen Bundestages), Rheinbach o.J., S. 99 eines Reformkonzepts, Studie im Auftrag der Konrad-Ade- 27 Dieter Althaus: Einführung, in: ders. / Hermann Binkert (Hg.): nauer-Stiftung, in: Michael Borchard (Hg.): Das Solidarische Solidarisches Bürgergeld. Den Menschen trauen – Freiheit Bürgergeld – Analyse einer Reformidee, a.a.O., S. 25 f. nachhaltig und ganzheitlich sichern, 2. Aufl., Norderstedt 25 Siehe ebd., S. 109 2010, S. 12
Politisches Lernen 1-2|2018 Bedingungsloses Grundeinkommen 35 Fast alle BGE-Protagonistinnen und -Protagonisten be- Sozialstaat und / oder Grundeinkommen? fürworten eine „Zusammenfassung“ der steuerfinanzierten Neoliberale hoffen, mittels des Grundeinkommens weit- Transferleistungen des Staates. Angeführt werden in diesem reichende Deregulierungskonzepte durchsetzen zu können. Zusammenhang das Arbeitslosengeld II, das Sozialgeld, die Thomas Straubhaar bezweckt die Senkung der „Lohnne- Sozialhilfe, die Grundsicherung im Alter, der Kinderzuschlag benkosten“ durch Streichung der Arbeitgeberbeiträge zur und das Wohngeld, obwohl das Kindergeld und das Elterngeld Sozialversicherung. Sein BGE-Modell soll die bestehenden in denselben Kontext gehören. Zu befürchten steht, dass über Sicherungssysteme keineswegs ergänzen, sondern „alle steuer- kurz oder lang alle genannten und womöglich noch weitere und abgabenfinanzierten Sozialleistungen“ ersetzen: „Es gibt Sozialtransfers abgeschafft würden. weder gesetzliche Renten- und Arbeitslosenversicherung noch Was auf den ersten Blick einfach, großzügig und sozial Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Wohn- und Kindergeld.“30 Das gerecht erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinschauen von Straubhaar bis 2014 geleitete Hamburgische Weltwirt- oftmals als eine politische Mogelpackung, die mehr Gerech- schaftsinstitut (HWWI) ging in seiner Studie „Bedingungsloses tigkeit bloß vortäuscht. Das Solidarische Bürgergeld stellt nur Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld – mehr als eine Pauschalierung bestehender Transferleistungen dar, würde sozialutopische Konzepte“ noch weiter, wurde die Situation das bisherige Sicherungsniveau für Millionen Menschen per nach der BGE-Einführung doch folgendermaßen beschrieben: Saldo senken und den Wohlfahrtsstaat weder entlasten noch „Es gibt keinen Schutz gegen Kündigungen mehr, dafür aber sinnvoll umstrukturieren. Letztlich würde das bedingungslose betrieblich zu vereinbarende Abfindungsregeln. Es gibt kei- Grundeinkommen in Form des Solidarischen Bürgergeldes als nen Flächentarifvertrag mehr und auch keine Mindestlöhne, ein Kombilohn für alle wirken. Weil das Existenzminimum sondern von Betrieb zu Betrieb frei verhandelbare Löhne. seiner es Beziehenden gesichert wäre, könnten diese noch Es gibt keine Sozialklauseln mehr. Die heute zu leistenden schlechter entlohnte Jobs annehmen, wodurch den Unternehmen Abgaben an die Sozialversicherungen entfallen vollständig.“31 mehr preiswerte Arbeitskräfte zur Verfügung stünden und die Was zahlreichen Erwerbslosen als „Schlaraffenland ohne Gewinne noch stärker steigen würden. Das bedingungslose Arbeitszwang“ erscheint, wäre folglich ein wahres Paradies Grundeinkommen wird zwar manchmal als einzig richtige für Unternehmer, in dem die abhängig Beschäftigten weniger Antwort auf die vermeintliche „Krise der Arbeitsgesellschaft“ soziale Rechte geltend machen könnten und ihre Gewerk- betrachtet,28 diese Begründung für seine Einführung erweist sich schaften als (Gegen-)Machtfaktor praktisch ausfallen würden. jedoch als grotesk, soweit dadurch Niedrigstlöhne salonfähig Straubhaar möchte deren Aufgabenbereich nämlich so weit gemacht würden. Weil sich das „Solidarische Bürgergeld“ einschränken, dass sie bloß noch „kluge Abfindungsregeln gegen Mindestlöhne richtet und die Lohnflexibilität nach unten abzuschließen“ hätten, weil „die Marktmacht der Beschäftig- erhöhen soll, damit auch Geringqualifizierte mit seiner Hilfe von ten“ seiner Meinung nach durch das Grundeinkommen sogar „marktgerechten“ Löhnen leben können, würde es die Armut gestärkt würde: „Die Gewerkschaften werden in keiner Weise von prekär Beschäftigten vermehren, denn sie müssten sich überflüssig. Im Gegenteil. Gerade weil die neue Arbeitswelt vom Staat alimentieren lassen, während er das Lohndumping zu einer Erosion des Normalfalles führen wird, steigt für von Unternehmen mit Steuergeldern subventioniert. jeden Einzelfall der Bedarf an Information, Beratung und Wenn (fast) alle bisherigen Transferleistungen in einem Unterstützung beim Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit.“32 unsolidarischen Bürgergeld aufgingen, hätten Neoliberale ihr Ziel erreicht, das deutsche Sozialversicherungssystem endgültig In seinem Buch „Radikal gerecht. Wie das bedingungs- zu zerstören, und könnten den Systemwechsel noch dazu als lose Grundeinkommen den Sozialstaat revolutioniert“ stellt Wohltat für die Bedürftigsten hinstellen. Peter Bofinger, ge- Thomas Straubhaar richtigerweise fest: „Menschen müssen werkschaftsnahes Mitglied im Sachverständigenrat zur Begut- sozialpolitisch eher als Einzelfälle und weniger als standar- achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wertete das disierter Normalfall behandelt werden.“33 Da der bestehende bedingungslose Grundeinkommen treffend als „Sargnagel für Sozialstaat dieses Postulat zu realisieren versucht, wirkt er den Sozialstaat“, weil dieser dadurch unbezahlbar und zu einem manchem Kritiker (zu) bürokratisch, verzweigt und kompli- „Almosenstaat“ verkümmern würde: „Gefährlich am Konzept ziert. Genau das Gegenteil trifft indes auf das bedingungslose des bedingungslosen Grundeinkommens ist das Nebeneinander Grundeinkommen zu, weil es alle Menschen über einen Kamm von unbezahlbaren staatlichen Transfers mit einem völligen schert, statt auf die konkrete Lebenssituation abzuheben, in Kahlschlag bei den bisherigen sozialen Sicherungssystemen. Im der sich diese befinden. Falle der Umsetzung ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dann aufgrund der finanziellen Restriktionen sämtliche staatlichen 30 Thomas Straubhaar: Radikal gerecht. Wie das bedingungslose Leistungen auf einem Niveau fixiert würden, das noch unter Grundeinkommen den Sozialstaat revolutioniert, Hamburg dem heutigen Niveau des Arbeitslosengeldes II liegen würde.“29 2017, S. 100 31 Ingrid Hohenleitner / Thomas Straubhaar: Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld – mehr als 28 Vgl. z. B. Manuel Franzmann (Hg.): Bedingungsloses Grund- sozialutopische Konzepte, in: ders. (Hg.): Bedingungsloses einkommen als Antwort auf die Krise der Arbeitsgesellschaft, Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld – mehr als Weilerswist 2010 sozialutopische Konzepte, Hamburg 2008, S. 20 f. 29 Peter Bofinger: Ist der Markt noch zu retten? – Warum wir 32 Thomas Straubhaar: Radikal gerecht, a.a.O., S. 169 jetzt einen starken Staat brauchen, Berlin 2009, S. 215 33 Ebd., S. 71
36 Bedingungsloses Grundeinkommen Politisches Lernen 1-2|2018 Straubhaar handelt gewissermaßen nach der Methode nebenbei erreicht. Ausgerechnet die einflussreichsten BGE- „Haltet den Dieb!“, wenn er den bestehenden Sozialstaat Modelle laufen letztlich auf eine Zerschlagung des hierzulande als marodes Sicherungssystem hinstellt, das immer stär- bestehenden Sozialstaates hinaus, der zumindest seinem An- ker mit staatlichen Steuermitteln gestützt werden muss, um spruch nach Bedarfsgerechtigkeit schafft, das soziokulturelle nicht zu kollabieren, hat er dies in der Vergangenheit doch Existenzminimum von Einkommensschwachen gewährleistet stets befördert und in seiner Eigenschaft als Politikberater und auch die Lebensleistung von Personen im Ruhestand maßgeblich dazu beigetragen, dass neoliberale Reformen im durch Zahlung einer Rente oder Pension anerkennt. Dagegen Rahmen der „Agenda 2010“ (Riester-Rente, Hartz-Gesetze sieht das Grundeinkommen von den konkreten Arbeits-, und Gesundheitsreformen) den Sozialversicherungsstaat Lebens-, Einkommens- und Vermögensverhältnissen der es schrittweise unterminiert und demontiert haben. Beziehenden ab, wenn es allen Menschen in gleicher Höhe gezahlt wird – ganz egal, ob es sich im Einzelfall um einen Zwar versichert Straubhaar, es gehe ihm „nicht um ei- Multimilliardär oder eine Multijobberin handelt. nen Sozialabbau.“34 Sein BGE-Modell lässt jedoch vom Wohlfahrtsstaat bis auf Sonderleistungen für Menschen mit Wer hingegen glaubt, die Sozialversicherung mitsamt ihren schweren Behinderungen wenig übrig. Dieser beschränkt lohn- und beitragsbezogenen Leistungen einerseits sowie steu- sich aber gerade nicht – wie das Grundeinkommen – auf eine erfinanzierte Transferleistungen andererseits erhalten zu kön- Geldleistung, sondern umfasst auch Sach- und Dienstleis- nen, wenn das Grundeinkommen zusätzlich eingeführt wird, tungen, die bei einer Zerschlagung der Sozialversicherung ist ein Phantast. Wenn es Kommunismus – für Marxististinnen entfielen, was Millionen Menschen der Möglichkeit berauben und Marxisten eine klassenlose Gesellschaft – überhaupt würde, durch verschiedene Beratungs-, Betreuungs- und geben kann, dann gewiss nicht im finanzmarktgetriebenen Behandlungsangebote oder Maßnahmen der beruflichen Re- Kapitalismus! Rainer Roth, früher Hochschullehrer an der habilitation wieder in den Arbeitsprozess zurückzufinden FH Frankfurt, spricht vom Grundeinkommen als „Fiktion bzw. sich aus prekären Lebenslagen zu befreien. der Gleichheit von Ungleichen“, weil es sich aus der idealis- tischen Konstruktion des Rechts eines jeden Menschen auf Das bedingungslose Grundeinkommen bricht mit der Kon- dieselbe Geldsumme ableite.37 Ein nicht auf Erwerbsarbeit struktionslogik des in Deutschland bestehenden, früher als gegründetes, gewissermaßen „leistungsloses“ Einkommen Jahrhundertwerk gefeierten Wohlfahrtsstaates und würde erscheint zwar als schöne Utopie. „Aber manche Utopien seine ganze Architektur bzw. Struktur zerstören. Hier liegt sind gefährlich, weil sie von der Suche nach realistischeren vermutlich einer der Hauptgründe dafür, dass ihm manche Alternativen ablenken.“38 neoliberale Ökonomen so viel Sympathie entgegenbringen. „Neoliberale lieben das Grundeinkommen als Hebel, um Mehr soziale Gerechtigkeit durch Aufhebung oder den ganzen Sozialstaat samt seiner Klientel auf einen Schlag Abflachung der Steuerprogression? loszuwerden, damit zugleich den Staat und den gesamten öffentlichen Sektor gesundzuschrumpfen und jede Form von Götz W. Werner, der die Steuerprogression – eine politische Beschäftigungspolitik, von makroökonomischer Steuerung und soziale Errungenschaft der Moderne – als „etwas Kons- ein für allemal ad acta zu legen.“35 Dies gilt allerdings kei- truiertes“ abtut, will sämtliche Unternehmens-, Kapital- und neswegs durchgängig. Vielmehr sprach sich Horst Siebert, Gewinnsteuern für Reiche abschaffen, während Arme ihr emeritierter Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (Kiel), Grundeinkommen selbst finanzieren sollen, wenn sie ein- mit der Begründung gegen das bedingungslose Grundeinkom- kaufen gehen. Bei dem von Thomas Straubhaar entwickelten men aus, hierbei handle es sich um eine „abstruse Idee“, die Modell, das gleichfalls einen Zahlbetrag von 1.000 Euro pro starke Fehlanreize setze und zum gesellschaftlichen Chaos Person vorsieht (von dem allerdings noch der Beitrag für führe: „Die Arbeitsmoral würde zerrüttet, die Grundlagen die – private – Krankenversicherung abgeht) und alle Ein- der Arbeitsethik, die die Bevölkerung in Sätzen wie ‚Nach kommen mit dem Einheitssteuersatz von 50 Prozent belegt, getaner Arbeit ist gut ruhn‘ oder ‚Wo Arbeit das Haus be- würden vor allem gut verdienende Mittelschichtangehörige wacht, kann Armut nicht hinein‘ ausgedrückt hat, würden stärker als bisher belastet. zerstört. Das Arbeitsangebot würde markant zurückgehen, die Obwohl der Hamburger Ökonom beteuert, sein Finanzie- Produktion müsste schrumpfen – eine seltsame Empfehlung rungsmodell wirke progressiv, weil das als Grundfreibetrag für das Szenario einer alternden Gesellschaft.“36 ausgezahlte Grundeinkommen die Steuerlast für Gering- Würden (fast) alle bisherigen Transferleistungen zu einem verdienende stärker senke als für Spitzenverdienende, kann Grundeinkommen verschmolzen, wäre das Ziel neoliberaler davon keine Rede sein. Zwar sind die effektiven Durch- Reformer, einen „Minimalstaat“ zu schaffen, gewissermaßen schnittssteuersätze auch bei einer flat tax progressiv, wenn das Grundeinkommen mit der Einkommensteuer verrechnet 34 Siehe ebd., S. 138 wird, ein Steuersystem ist aber nur dann progressiv, wenn 35 Michael R. Krätke: Leben und Arbeiten, Brot und Spiele. Das der Grenzsteuersatz mit wachsendem Einkommen steigt, wie Grundeinkommen als Sozialstaatsersatz?, in: Widerspruch 52 (2007), S. 154 37 Siehe Rainer Roth: Zur Kritik des bedingungslosen Grund- 36 Horst Siebert: Gegen ein bedingungsloses Grundeinkom- einkommens, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2006, S. 14 men. Eine abstruse Idee mit starken Fehlanreizen, in: FAZ v. 38 Robert Castel: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen 27.6.2007 Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005, S. 113 (Fußnote 14)
Politisches Lernen 1-2|2018 Bedingungsloses Grundeinkommen 37 auch BGE-Anhängerinnen und -Anhänger konzedieren.39 ner und jede Einwohnerin nach einer bestimmten Niederlas- sungsdauer 12.000 Euro im Jahr steuerfrei im Rahmen einer In großer Offenheit charakterisiert Straubhaar das bedin- negativen Einkommensteuer erhalten sollen, fortan auf jedes gungslose Grundeinkommen als „Steuersystem, das auf einem Einkommen allerdings eine Quellensteuer in Höhe von 50 Bierdeckel erklärt werden kann.“40 Ein unsoziales Konzept Prozent entrichten müssten, ohne dass es noch irgendwelche zur Reform der Einkommensteuer, das Paul Kirchhof, Heidel- Freibeträge und den Werbungskostenabzug gäbe. Während berger Steuerrechtler und früherer Bundesverfassungsrichter, Spitzenverdienenende auf den Großteil ihres Millionenein- sowie Friedrich Merz, damals Vorsitzender der Unionsfrak- kommens nur 5 Prozentpunkte mehr als bisher entrichten tion im Bundestag und heute Aufsichtsratsvorsitzender der müssten, weil sie ohnehin schon die Reichensteuer in Höhe deutschen Tochter des weltgrößten Vermögensverwalters von 45 Prozent zahlen, würden manche Hochschullehrerinnen BlackRock Inc., um die Jahrtausendwende entwickelt hatten, und Hochschullehrer oder Pilotinnen und Piloten oder auch stand offenbar Pate und feiert heute im Gewand des bedin- Ingenieurinnen und Ingenieure erheblich stärker zur Kasse ge- gungslosen Grundeinkommens fröhliche Urständ. beten. Denn das Grundeinkommen gleicht ihre Steuerbelastung Straubhaar will das Grundeinkommen allen Bürgerinnen nicht – wie das bei Geringverdienenden der Fall wäre – aus, und Bürgern unabhängig von ihrem jeweiligen Einkommen und diese ist sehr viel höher als beim gültigen Einkommen- steuerfrei gewähren. Dies sei „schlicht nichts anderes als ein steuertarif, nicht zuletzt wegen der entfallenden Freibeträge. Verrechnungsvorgang zum Zwecke der bürokratischen Ver- Eine steuerfinanzierte Transferleistung weist gegenüber einfachung. Alle erhalten zunächst eine Steuergutschrift. Alle einem beitragsfinanzierten Sicherungssystem den Nachteil zahlen danach auf alle Einkommen Steuern – der Besserver- auf, dass die sie Beziehenden von der Kassenlage des Staates dienende mehr als der Geringverdienende.“41 In Deutschland abhängig werden: Unter dem Druck haushalts- und finanz- zusätzlich anfallendes Einkommen jeglicher Art soll an der politischer „Sparzwänge“ bestünde die Gefahr, dass keine Quelle erfasst und „mit einem einheitlichen und für alle Dynamisierung (der Höhe) des Grundeinkommens stattfände, Einkommen gleichbleibenden Steuersatz belastet“ werden.42 sondern Kürzungsmaßnahmen beschlossen würden, und zwar Wenn es nach Straubhaar ginge, würde für den Einkommens- Jahr für Jahr, wenn die Steuereinnahmen sinken oder wenn man millionär also derselbe Steuersatz wie für den Normalver- andere Staatsausgaben für wichtiger bzw. vordringlicher hält.44 diener gelten, was man wohl kaum gerecht nennen kann. Bei den zwei einflussreichsten BGE-Konzepten handelt es Verringerung der Armut und der sozialen sich um politische Mogelpackungen, denn es wird Etiketten- Ungleichheit per Grundeinkommenszahlung? schwindel betrieben: Thomas Straubhaar und Götz W. Wer- Selbst unter ansonsten Gleichgesinnten innerhalb der „BGE- ner geben das Grundeinkommen zwar als sozialpolitischen Gemeinde“, die von sektenhaften Zügen nicht frei ist, herrscht Universaltransfer aus, der allen Gesellschaftsmitgliedern und hinsichtlich seiner Hauptzielsetzung eine heillose Verwirrung: dem Gemeinwohl diene, missbrauchen es indes als Vehikel Während es beispielsweise Michael Opielka, der sich bereits seit ihrer jeweiligen steuerpolitischen Reformkonzeption, mit der Jahrzehnten – zunächst als bündnisgrüner „Cheftheoretiker“ im sie es refinanzieren möchten. Joachim Rock befürchtet denn Bereich der Sozialpolitik und später als Jenaer Hochschullehrer auch zu Recht, dass die Sozialpolitik durch eine Umsetzung für Soziologie – mit dem Grundeinkommen beschäftigt, als der BGE-Idee nicht aufgewertet, sondern zum bloßen „Annex „bestes Mittel im Kampf gegen Armut“ würdigt, bestreitet Enno der Steuerpolitik“ verkümmern würde.43 Schmidt, Mitbegründer der „Schweizer Initiative Grundein- Götz W. Werner lässt die Armen ihr Grundeinkommen kommen“, dass es überhaupt der Armutsbekämpfung dient.45 über eine drastisch erhöhte Mehrwertsteuer gewissermaßen Philip Kovce, Koautor eines weiteren Mitbegründers dieser selbst finanzieren, während alle Steuern, die hauptsächlich Initiative, versteht das BGE „als Grundrecht, nicht als Sozi- Wohlhabende und Reiche zahlen (Einkommen-, Gewerbe-, alleistung“, und versteigt sich gar zu der Feststellung, dass es Körperschaft- und Kapitalertragsteuer) entfallen würden. mit Geld „nichts zu tun“ habe.46 Letzteres erscheint abwegig, Thomas Straubhaar wiederum lässt relativ gut verdienende ist das bedingungslose Grundeinkommen doch ein monetärer Angehörige der Mittelschicht die Hauptlast der Refinanzie- rung des Grundeinkommens tragen, weil zwar jeder Einwoh- 44 Vgl. Heinz Stapf-Finé: Ein Grundeinkommen sprengt unser Sozialsystem. Bedarfsorientierte Grundsicherung ausbauen 39 Vgl. z. B. Wolfgang Strengmann-Kuhn: Mindesteinkommen – und so (Alters-)Armut vermeiden, in: Soziale Sicherheit für jeden. Wie ein Grundeinkommen in die bestehenden so- 8/2007, S. 254 zialen Sicherungssysteme integriert werden kann, in: Soziale 45 Siehe Michael Opielka, zit. nach: Marie Rövekamp: Bedin- Sicherheit 8/2007, S. 250 gungsloses Grundeinkommen: ein Auskommen für alle?, in: 40 Siehe Thomas Straubhaar: Radikal gerecht, a.a.O., S. 108 Der Tagesspiegel v. 4.6.2016; „Bedingungslosigkeit ist weder 41 Ebd., S. 16 radikal noch spektakulär“, Interview mit Enno Schmidt, in: 42 Siehe ebd., S. 99 taz v. 28./29.5.2016 43 Siehe Joachim Rock: Armut im Anzug. Anmerkungen zur 46 Siehe Gespräch mit Philip Kovce und Julian Nida-Rümelin: Notwendigkeit einer bedarfsorientierten Grundsicherung, in: „Man arbeitet nicht nur aus Vergnügen“. Das bedingungslose Axel Gerntke u. a.: Einkommen zum Auskommen. Von bedin- Grundeinkommen – realitätsferne Utopie oder praxisnahes gungslosem Grundeinkommen, gesetzlichen Mindestlöhnen Zukunftsmodell?, in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte und anderen Verteilungsfragen, Hamburg 2004, S. 25 1-2/2016, S. 61
38 Bedingungsloses Grundeinkommen Politisches Lernen 1-2|2018 Universaltransfer, der dafür zu sorgen hätte, dass alle Gesell- Tatsächlich würde das bedingungslose Grundeinkommen schaftsmitglieder über die zum Leben nötigen finanziellen als ein Kombilohn für alle wirken, weil der Staat für die Ressourcen verfügen. Ebenso wenig erschließt sich, warum Regeneration der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Gewährleistung eines „menschenwürdigen Existenzmini- aufkäme und die Unternehmer entsprechend weniger dafür mums“ (Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom aufwenden müssten. Götz W. Werner lässt diese Intention 9. Februar 2010) durch das Grundeinkommen nicht beides ebenfalls anklingen, möchte er doch „menschliche Arbeit, implizieren soll – ein Grundrecht seiner Bezieherinnen und die ja weiterhin bezahlt werden muss, erheblich verbilligen Bezieher sowie eine Transferleistung des Staates zugleich. und damit wieder attraktiv machen.“49 Da die Menschen nicht bloß der Existenzsicherung wegen arbeiten, sondern Aufgrund seiner mangelnden Zielgenauigkeit eignet sich auch, weil sie darin ihren Lebenssinn sehen, sich nützlich das bedingungslose Grundeinkommen jedoch nur sehr bedingt machen wollen und/oder der Gesellschaft etwas zurückge- zur Verringerung oder zur Verhinderung der Neuentstehung ben möchten, dürften die meisten BGE-Empfangenden an von Armut. Bekämen alle Bürgerinnen und Bürger vom Staat einer Weiterbeschäftigung interessiert sein. Der ausufernde 1.000 Euro pro Monat, nähme zwar die absolute, nicht jedoch Niedriglohnsektor, seit Längerem das Haupteinfallstor für die hierzulande grassierende relative Armut deutlich ab. Erwerbs- und spätere Altersarmut in Deutschland, würde Vielmehr würde die von der EU bei 60 Prozent des mittleren deshalb nicht wie durch einen allgemeinen gesetzlichen Min- bedarfsgewichteten Einkommens angesetzte Armuts(risiko)- destlohn in existenzsichernder Höhe und ohne Ausnahmen für schwelle bloß so weit nach oben verschoben, dass man ihr besonders vulnerable Personengruppen (Langzeitarbeitslose, mit diesem Betrag allein nahe bliebe. Um dies zu ändern, Jugendliche ohne Berufsabschluss und Kurzzeitpraktikantin- müsste man trotz Grundeinkommensbezugs erwerbstätig nen und -praktikanten) eingedämmt,50 sondern womöglich sein, wodurch ein indirekter Arbeitszwang fortbestünde. noch massiver durch den Staat subventioniert. Während das Grundeinkommen die absolute bzw. existen- Warum das Grundeinkommen seiner Ansicht nach „ge- zielle Armut, unter der viele Bewohnerinnen und Bewohner recht“ ist, begründet Straubhaar folgendermaßen: „Es behan- der Länder des globalen Südens leiden, möglicherweise delt alle gleich, belastet aber die Leistungsstarken mehr als die verringern könnte,47 ist es für Länder des globalen Nordens, Leistungsschwachen.“51 Seit den griechischen Philosophen wo diese Extremform der Armut eine untergeordnete Rolle des Altertums ist allerdings bekannt, dass Gleiches gleich und spielt und eindeutig relative Armut dominiert, kaum geeignet. Ungleiches ungleich behandelt werden muss, soll es gerecht Um diese zu verringern, muss man nämlich den Reichtum zugehen. Der besondere Charme des Grundeinkommens liegt antasten, sprich: riesige Geldsummen umverteilen, damit sich hingegen in seiner organisatorischen Einfachheit, die durch die Kluft zwischen Arm und Reich schließt und mehr soziale den Verzicht auf eine Bedarfsprüfung entsteht, was jede Gleichheit einkehrt. Dies tut ein bedingungsloses Grund- Differenzierung nach der Lebenslage ausschließt: „Es kann einkommen aber gerade nicht, weil es Hochvermögenden daher weder eine Gleichheit im Ergebnis, sei es in Ressourcen den gleichen Geldbetrag wie Mittellosen zukommen lässt oder in Wohlergehen, erreichen noch eine Gleichheit in den und keinen sozialen Ausgleich zwischen ihnen vornimmt. Lebenschancen.“52 Thomas Straubhaar begreift das Grundeinkommen in erster Statt den spezifischen Bedarf von Hilfesuchenden zu ermit- Linie als staatlichen Lohnzuschuss, der an die Stelle von teln und ihn durch ein differenziertes Sozialleistungssystem zu Lohnersatzleistungen des Sozialstaates treten soll. Schon im erfüllen, würde der Staat nur mehr eine Sozialpolitik nach dem „Hamburger Appell“ neoliberaler Ökonomen, den Straubhaar Gießkannenprinzip betreiben. Eine solche Gleichbehandlung zusammen mit dem AfD-Gründer Bernd Lucke und Michael aller Bürgerinnen und Bürger im Sinne der „Nivellierung nach Funke vor der Bundestagswahl 2005 initiiert hat, heißt es, unten“ führt zwangsläufig zu individueller Ungerechtigkeit, „dass eine Verbesserung der Arbeitsmarktlage nur durch weil sie gerade die Menschen in den schwierigsten Le- niedrigere Entlohnung der ohnehin schon Geringverdie- benslagen, etwa Schwerstbehinderte mit hohen Extra- nenden, also durch eine verstärkte Lohnspreizung, möglich kosten, prinzipiell benachteiligt. Dasselbe gilt für Allein- sein wird. Eine Abfederung dieser Entwicklung ist durch stehende sowie Personen, deren Einkommen durch hohe verlängerte (!) Arbeitszeiten, verminderten Urlaubsanspruch oder höhere Leistungsbereitschaft möglich. […] Das deutsche System der Lohnersatzleistungen von der Sozialhilfe über das Arbeitslosengeld bis zur subventionierten Frührente erzeugt Lohnansprüche, die der Markt nicht mehr befriedigen kann.“48 49 Götz W. Werner: Einkommen für alle, a.a.O., S. 80 50 Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 4. 47 Vgl. Pranab Bardhan: Grundeinkommen für den Süden?, in: Aufl. Frankfurt am Main / New York 2016, S. 296 ff. Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2016, S. 29 f. 51 Thomas Straubhaar: Radikal gerecht, a.a.O., S. 29 48 Michael Funke / Bernd Lucke / Thomas Straubhaar: Ham- 52 Ulrich Metschl: Grundeinkommen und Gleichheit – egalita- burger Appell, in: Hamburgisches WeltWirtschaftsinstitut ristische Grundlagen der Forderung nach einem bedingungs- (Hg.), Update (Wissens-Service des HWWI) Spezial, o.O. u.J. losen Grundeinkommen, in: Rigmar Osterkamp (Hg.): Auf (www.hwwi.org/uploads/tx_wilpubdb/Hamburger_Appell. dem Prüfstand: Ein bedingungsloses Grundeinkommen für pdf; 9.9.2017) Deutschland?, Baden-Baden 2015, S. 67
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