Klimaneutralität - realistische Vision oder - Mogelpackung? VON MARIO SCHMIDT
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EDITORIAL | INHALT | ÜBERBLICK Klimaneutralität – realistische Vision oder Mogelpackung? VON MARIO SCHMIDT Fridays for Future fordert sie; Weltkonzerne proklamieren sie schon jetzt; CORONA ganze Städte wollen sie bis 2030 erreichen: die Klimaneutralität. Doch wissen die alle, wovon sie reden? Wahrscheinlich eher nicht oder es ist ein geschickter PR-Coup, der inzwischen den globalen Sprachgebrauch prägt. HOCHSCHULE UND ÖFFENTLICHKEIT D as Bundesverfassungsgericht erwähnt in seinem Natürlich kann man eine solche Bilanz aufstellen und ver- bahnbrechenden Beschluss zur Klimapolitik über suchen die Emissionen auszugleichen, was mit all diesen dreißigmal das Wort klimaneutral. Dabei ist dieser Begriffen offensichtlich gemeint ist. Aber man muss dazu Begriff rechtlich gar nicht definiert. Er taucht im Bundes- sagen, in welchem Rahmen bilanziert wird. Auf staatlicher klimaschutzgesetz zwar beiläufig auf, jedoch wird dort Ebene geht es stets um die sogenannten territorialen die „Treibhausgasneutralität“ bis 2050 proklamiert, das Emissionen, also das, was auf dem Gebiet Deutschlands Gleichgewicht zwischen den anthropogenen Emissionen unmittelbar freigesetzt wird. Für ein Unternehmen muss von Treibhausgasen aus Quellen und dem Abbau solcher man schon dazu sagen, was gemeint ist: Die Emissionen Gase durch Senken. Das Intergovernmental Panel on Cli- auf dem Betriebsgelände und der eigenen Organisation? mate Change (IPCC), also die höchste wissenschaftliche Oder zählen auch die mittelbaren Emissionen durch den Instanz zum Klimawandel, definiert „carbon neutrality“ Strombezug hinzu, also jene, die bei den Kraftwerken als globale Netto-Null-CO 2 -Emissionen und stellt an deren (außerhalb der Unternehmensgrenze) freigesetzt werden? Seite noch die Netto-Null-Treibhausgas-Emissionen – Und was ist gar mit den Emissionen der Lieferanten? NACHHALTIGKEIT wohlgemerkt: global betrachtet! Der Treibhausgasansatz geht weiter als nur der Blick auf CO 2, hier kommen noch an- Die Frage ist keine Haarspalterei. Sie hat weitreichende dere Stoffe hinzu. Unter „climate neutrality“ versteht IPCC Konsequenzen. So kann ein Unternehmen seine Emissi- schließlich einen „Zustand, in dem menschliche Aktivi- onsbilanz schnell auf Null bringen, wenn nur der eigene täten zu keinem Nettoeffekt auf das Klimasystem führen“, Standort betrachtet wird und alle emissionsträchtigen also ein hoher Anspruch, mehr als nur eine Netto-Null- Anlagen oder Aktivitäten ausgelagert oder verkauft wer- Treibhausgas-Bilanz. den. Dieses Thema wird in Fachkreisen seit vielen Jahren ernsthaft diskutiert. Man unterscheidet zwischen soge- nannten Scope-1-Emissionen, das sind die direkten AUS FORSCHUNG UND LEHRE Emissionen des Unternehmens, Scope-2-Emissionen, das sind die mittelbaren Emissionen durch den Energie- Abb.1: Verhältnis der Scope 1,2 und 3-Emissionen in bezug, und den Scope-3-Emissionen, das sind die son- verschiedenen Wirtschaftsbereichen. Quelle: Systain (2014) stigen Emissionen, die durch die Tätigkeit des Unterneh- https://www.systain.com/?ddownload=6426 (21.5.2021). >> INTERNATIONAL PERSONALIA
mens verursacht werden. Zu letzterem zählen vor allem Diese Frage ist von großer industriepolitischer Bedeutung. auch die Emissionsrucksäcke der eingekauften Rohstoffe Die Klimaziele wären nämlich leichter zu erreichen, wenn und Güter, also jene Emissionen, die in der vorgelagerten die Industrie in Deutschland gar keine Emissionen mehr Lieferkette erfolgen. Bilanziert man über alle drei Scopes, freisetzt – etwa wenn in Deutschland nicht mehr produ- so führen Verlagerungen innerhalb der Wertschöpfungs- ziert wird! Die Industrie steht immerhin für ein Viertel der kette zu keinen Scheinverbesserungen in den Emissions- Emissionen in Deutschland. Keine Chemieprodukte oder bilanzen. Deshalb sind sie in der Summe die zuverläs- Autos, kein Stahl, Kupfer oder Zement mehr aus Deutsch- sigsten Bilanzen. land. Das wäre aber eine große Mogelpackung, wenn man Auswertungen der vergangenen Jahre zeigen, dass dann die Waren in Deutschland trotzdem verbraucht und diese Scope-3-Emissionen bei den meisten Branchen den nun aus dem Ausland bezieht. Die Emissionen würden Löwenanteil ausmachen. Im Schnitt sind die Scope-3-Emis- stattdessen an anderer Stelle in der Welt erfolgen. Das sionen der Lieferkette dreimal so hoch wie die Summe wäre keine Klimaneutralität. aus Scope 1 und Scope 2, manchmal sogar noch deutlich Tatsächlich ist der Beitrag der importierten Waren an höher (Abb. 1). Die Herausforderung für die Unternehmen der Emissionsbilanz Deutschlands schon heute beträcht- besteht darin, diese Emissionen in der Lieferkette zu be- lich – wenn man nicht nur territorial bilanziert. Das Sta- stimmen. Dazu wären Angaben von den Lieferanten und tische Bundesamt weist Deutschland weitere CO 2 -Emis- deren Vorlieferanten erforderlich. Für Unternehmen mit sionen durch den Import von Waren zu, die halb so hoch einigen Tausend oder Zehntausend Vorprodukten ist das liegen wie die bisherige CO 2 -Bilanz Deutschland (siehe angesichts der globalen Handelsverflechtungen eine kaum Abb. 2). Andere Berechnungen liegen – je nach volkswirt- zu bewältigende und insbesondere kaum bezahlbare Auf- schaftlichem Modell – noch höher. gabe. Am Institut für Industrial Ecology (INEC) wurde dieses Diese zusätzlichen Emissionen der Importwaren wa- Problem schon vor über 10 Jahren zusammen mit der Firma ren bislang nie Gegenstand der deutschen Klimapolitik. Witzenmann GmbH mittels volkswirtschaftlicher Input- Natürlich muss sich Deutschland auf seine internationa- Output-Analysen gelöst. Das INEC hat nun zusammen mit len Verpflichtungen konzentrieren, und die vereinbarten dem Thinktank „Industrielle Ressourcenstrategien“ am KIT Minderungsziele sind nun mal gebietsbezogen. Rechnet Karlsruhe, dem Beratungsunternehmen Systain Consulting man zu den Importrucksäcken noch den globalen Einfluss Hamburg und Praxisanwendern, wie z.B. der Robert Bosch deutscher Exportwaren hinzu (deutsche Autos emittieren GmbH oder der Carl Zeiss AG, die Methode weiterentwi- auch im Ausland), so ist der Einfluss Deutschland auf das ckelt und bietet ein Online-Tool an, wie solche Emissionen Weltklima beträchtlich höher als die reinen territorialen verlässlich abgeschätzt werden können. Emissionen. Das hört sich schlimm an, könnte aber auch Was die betriebliche Klimaneutralität angeht, hat z.B. eine Chance für deutsche Produkte sein, wenn sie effizi- die Robert Bosch AG sie öffentlichkeitswirksam bereits enter und klimafreundlicher wären. Sie könnten dann auch 2019 angekündigt - für das Jahr 2020. Aber Bosch hat sehr außerhalb Deutschlands zum Klimaschutz beitragen. Falls genau nach den Scopes unterschieden und relativiert auf in Deutschland dann noch Produkte hergestellt werden… seiner Homepage die Ankündigung für die Scope-3-Emissi- onen, wohlwissend, welche Herausforderung das darstellt. Denn für diesen Bereich Klimaneutralität zu verlangen, hie- ße, dies auch weltweit für die Lieferanten durchzusetzen. »Bosch ist mit seinen weltweit über 400 Standorten seit 2020 klima- neutral (Scope 1 und 2). Eine unab- hängige Prüfungsgesellschaft hat dies offiziell bestätigt. Doch damit nicht genug: Wir wollen den Klima- schutz über unseren unmittelbaren Einflussbereich hinaus gestalten und Abb.2: Direkte und indirekte CO2-Emissionen in Mio. t für Deutschland 2015. Von den insg. 1.472 Mio. t sind 506 Mio. t den Import- auch die vor- und nachgelagerten gütern zuzurechnen. Quelle: Statistisches Bundesamt (2019)1 . Emissionen (Scope 3) systematisch Wenn man von dem engeren Begriff der Klimaneutralität verringern – bis 2030 sollen sie um ausgeht, dann müsste sich die deutsche Politik auch um 15 % sinken.« die Klimarucksäcke der importierten Güter kümmern. Oder aber konsequent nur noch von CO 2 - oder Treibhausgasneu- Quelle: https://www.bosch.com/de/unternehmen/nachhaltigkeit/ tralität auf dem Gebiet Deutschlands sprechen, was schon umwelt/ (21.5.2021) ambitioniert genug ist. Noch absurder wird die Forderung nach Klimaneutralität, wenn sie auf kleinere Gebiete, auf Wie sieht es aber mit der territorialen Bilanz für ganz Städte und Kommunen bezogen wird. Sie würde faktisch Deutschland aus? Würde man dieses Scope-Konzept aus eine Autarkie der Gebiete verlangen; Waren mit einem Kli- dem Unternehmensbereich übertragen, dann hätte sich marucksack dürften die Stadtgrenze von außen nicht mehr Deutschland – streng genommen – nur dazu verpflichtet, passieren. seine Scope-1-Emissionen zu neutralisieren. Deutschland importiert aber jede Menge Waren aus dem Ausland, die im Inland verarbeitet, konsumiert, teilweise auch wieder expor- 1 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/ tiert werden. Was ist mit dem Klimarucksack dieser Waren? Umwelt/UGR/energiefluesse-emissionen/Publikationen/Downloads/ co2-emissionen-pdf-5851305.pdf?__blob=publicationFile 086 | 087 HS PF KONTUREN 2021
EDITORIAL | INHALT | ÜBERBLICK Die Unternehmen sind in gewisser Hinsicht einen Schritt serkraftwerken angeboten: Die gibt es meistens schon seit weiter, wenn sie die Scope-3-Emissionen mitbilanzieren Jahrzehnten oder noch länger. Hier werden keine neuen und darüber nachdenken, wie sie auch im Einkauf von Kapazitäten geschaffen. Die volkswirtschaftliche Wirkung Gütern Klimaschutz betreiben können. Ein Kilogramm der grünen Stromtarife auf den Anteil der erneuerbaren Primäraluminium aus Europa verursacht derzeit ca. 7 kg Energien wird deshalb als gering eingeschätzt. CO 2 -Emissionen, aus China hingegen den dreifachen Wert. Ein weiteres Wundermittel ist die Kompensation, was Angesichts dieser Zahlen, die sich kaum ganz auf Null drü- auf den ersten Blick schlüssig erscheint. Wenn man CO 2 - cken lassen, von Klimaneutralität zu sprechen, erscheint Emissionen nicht vermeiden kann oder will, zahlt man Geld trotzdem vermessen. Denn die Abhängigkeit vom Ausland dafür, dass an anderer Stelle in Minderungsmaßnahmen in den Lieferketten wird bestehen bleiben, und es wird investiert wird und man damit auf Netto-Null-Emissionen noch lange dauern, bis dort alles klimaneutral ist. Selbst kommt. Hier ist aber die Forderung, dass die Maßnahme die vielzitierte Circular Economy löst dieses Problem nicht, zusätzlich sein muss zu den sowieso schon geplanten denn auch die Sekundärrohstoffe brauchen zu ihrer Her- Minderungsmaßnahmen z.B. des Staates, und dass sie CORONA stellung Energie und verursachen somit noch auf lange auch garantiert langfristig wirkt und nicht nur eine zeitliche Sicht Emissionen. Verschiebung der Emissionen darstellt. Ersteres wird im- Aber „Klimaneutralität“ hört sich toll an und lässt sich mer schwieriger, da derzeit alles an möglichen Maßnahmen gut vermarkten. Seit Jahrzehnten wird von „Klimaschutz“ mobilisiert wird, um CO 2 einzusparen. Bei vielen Projekten geredet, aber kaum etwas getan. Es fehlt an Ernsthaftig- muss man aufpassen, dass keine Doppelzählungen er- keit in der Politik und in der Wirtschaft. Mit dem neuen Su- folgen oder die Einsparungen mehrmals verkauft werden. HOCHSCHULE UND ÖFFENTLICHKEIT perlativ beteuert man nun die Ernsthaftigkeit, die von der Der Markt an geeigneten Kompensationsprojekten wird Jugend und von den Gerichten gefordert wird. Aber ein Wort deshalb in den nächsten Jahren immer begrenzter werden. allein richtet das nicht, zumal die Fakten weitgehend dage- Die Langfristigkeit hingegen spielt z.B. bei der populären gen sprechen. Um Klimaneutralität trotzdem proklamieren Wiederaufforstungen eine große Rolle, wo Kohlenstoff zu können, gibt es zwei Wundermittel, zu denen in der Wirt- der Atmosphäre entzogen und im Wald gespeichert wird. schaft nun verstärkt gegriffen wird: der Einkauf von grünem Dazu muss der neue Wald aber lange Standzeiten haben. Strom und die Kompensation von Emissionen durch Geld. Wer kann das heute schon garantieren? Die Rodung durch Die Anbieter von „grünem Strom“ sind inzwischen un- einen neuen Waldbesitzer oder ein Waldbrand können zählbar; es scheint ein lukratives Geschäft zu sein. Was die das schnell zunichtemachen, bezahlt ist aber schon. Dem wenigsten wissen: Wer grünen Strom bestellt, kriegt keinen Klima nützt das dann nichts. Einzig der Ankauf und die grünen Strom, sondern den gleichen wie zuvor – aus dem Vernichtung von Emissionszertifikaten macht wirklich Sinn. normalen Stromnetz. Es gibt in den Stromleitungen keine Damit greift man tatsächlich in die Emissionsmengen bei grünen und nicht-grünen Elektronen, die fein säuberlich Kraftwerken und anderen Emittenten ein. nach Stromtarif sortiert werden. Es ist nur ein bilanztech- NACHHALTIGKEIT nischer Effekt: Man bekommt den Strom aus regenerativen Es wäre also ehrlicher, statt von Klimaneutralität einfach Quellen zugerechnet, z.B. aus Flusswasserkraftwerken, nur von Klimaschutz zu reden, von dem Versuch, alles Windkraftanlagen oder Photovoltaik-Anlagen, der an ande- Mögliche zu unternehmen, die Treibhausgasemissionen rer Stelle erzeugt und auch verbraucht wird. Wenn man für deutlich einzuschränken. Dazu gibt es auch im betrieb- sich die Nutzung dieser grünen Quelle beansprucht, dann lichen Bereich viele Ansatzpunkte (siehe Abb. 3). Grüner fällt sie aus dem allgemeinen nationalen Strommix weg, Strom und Kompensation sollten höchstens die letzten d.h. dort sinkt der Anteil regenerativer Energiequellen – un- Maßnahmen in dieser Kette sein, wenn man unbedingt mit ter dem Strich ein Nullsummenspiel. Der Kauf von grünem Treibhausgas-Neutralität nach außen werben will. Aber Strom macht nur Sinn, wenn durch einen deutlich höheren eigentlich sollte die Zeit der vielen Wortkreationen, Prokla- AUS FORSCHUNG UND LEHRE Preis auch in den Ausbau neuer regenerativer Quellen mationen und sich überschlagenden Zielsetzungen vorbei investiert wird. Das muss dann detailliert nachgewiesen sein, und endlich die Zeit der Maßnahmen anbrechen. werden. Bekäme man zum Beispiel Strom aus Flusswas- Dem Klima wäre damit mehr geholfen. MARIO SCHMIDT ist Professor für Ökologische Abb.3: Was kann ein Unternehmen für den Klimaschutz Unternehmensführung und leitet tun und was sollte es vorrangig tun? das Institut für Industrial Ecology. Er ist u.a. Mitglied in den DIN/ISO- Normierungsgremien zu Carbon Neutrality. INTERNATIONAL PERSONALIA
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