KLIMAPOLITISCHER RAHMEN FÜR DEN INDUSTRIEUMBAU - Eine Studie im Rahmen des Projekts "Sozial-ökologische Transformation der deutschen Industrie"
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Uwe Witt KLIMAPOLITISCHER RAHMEN FÜR DEN INDUSTRIEUMBAU Eine Studie im Rahmen des Projekts «Sozial-ökologische Transformation der deutschen Industrie»
UWE WITT hat Volkswirtschaft studiert und ist Referent für Klimaschutz und Strukturwandel am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er war zuvor lange Jahre Mitarbeiter einer Bundestagsabgeordneten und arbeitete als Referent für Klima und Energie in der Bundestagsfraktion DIE LINKE. Zudem war er mehrere Jahre hauptberuflich journalistisch tätig. IMPRESSUM ONLINE-Studie 11/2022 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik e. V. V. i. S. d. P.: Alrun Kaune-Nüßlein Straße der Pariser Kommune 8A · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2749-3156 · Redaktionsschluss: April 2022 Lektorat: Text-Arbeit, Berlin Layout/Satz: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Diese Publikation ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie wird kostenlos abgegeben und darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden.
INHALT Zusammenfassung 4 1 Einführung 5 2 Das «Fit for 55»-Paket im industriepolitischen Kontext 7 2.1 Vorschläge für neue EU-Verordnungen und -Richtlinien 7 2.2 Aufteilung der neuen EU-Ziele 8 2.3 Reform des EU-Emissionshandels für Energiewirtschaft und Industrie (EU-ETS 1) 9 2.4 Der Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) 15 2.5 Vorgesehene EU-Rechtsakte im «Fit for 55»-Paket zum Straßenverkehr 17 3 Das novellierte Bundes-Klimaschutzgesetz 19 4 Weitere klima- und energiepolitische Rahmenbedingungen 20 4.1 Ökostromausbau und Gaskraftwerke 20 4.2 Carbon Contracts for Difference (CCfD) / weitere Instrumente zur Umbaufinanzierung 21 4.3 Novellierung der EU-Taxonomie 22 5 Klimapolitischer Rahmen bedarf sozialpolitischer Flankierung 24 Literatur 26 Abkürzungsverzeichnis 31
ZUSAMMENFASSUNG Als neues EU-Klimaschutzziel wurde 2021 eine Min- schutz-Booster wäre auch notwendig, um die Min- derung der Treibhausgase bis 2030 um 55 Prozent derungspfade in Übereinstimmung mit den Klima- gegenüber dem Jahr 1990 beschlossen. Diese Ver- schutzzielen von Paris zu bringen. Ob sich diese Ziele schärfung um 15 Prozentpunkte ist eine Reaktion auf mit dem herrschenden Wachstumsmodell erreichen das Pariser Klimaschutzabkommen. Sie erfordert von lassen, ist allerdings fraglich. allen EU-Mitgliedstaaten, ihre nationalen Ziele deut- Die Rahmensetzung des Staates und seine Unter- lich höher zu stecken; Deutschland hat sein Klima- stützungsleistungen für Unternehmen, wie sie von schutzgesetz bereits angepasst. Obgleich sowohl die diesen machtvoll eingefordert werden, werden seit EU als Ganzes als auch die Bundesrepublik Deutsch- Monaten in der Bundesregierung und auf diversen land ihre Ambitionen nun spürbar erhöhen, sind ihre nachgelagerten Stakeholder-Plattformen diskutiert. Beiträge noch deutlich davon entfernt, die Erderwär- Dagegen bleiben längerfristig wirkende Konzepte der mung in einem erträglichen Rahmen zu halten. Das sozialen Absicherung des Wandels noch vielfach im gilt insbesondere auch für die bislang bekannten Nebel. Das muss sich ändern, soll ambitionierte Kli- Umsetzungspläne. Doch selbst um diese Ziele zu maschutzpolitik nicht scheitern. erreichen, bedarf es enormer Anstrengungen. Soll- Diese Übersichtsarbeit stellt die wichtigsten derzei- ten die Minderungspfade tatsächlich wie geplant tigen und künftigen klimapolitischen Rahmenbedin- beschritten werden, so sind neue und komplexe gungen für die Industrie auf Ebene der Europäischen Konflikte um materielle Ressourcen und Flächen zu Union und Deutschlands vor. Im Zentrum stehen erwarten – und natürlich um Verteilungsgerechtig- dabei das «Fit for 55»-Paket der EU-Kommission, hier keit. vor allem die Vorschläge zur Reform der CO2-Beprei- Für die Industrie bedeuten die gesetzten Ziele, zum sung (einschließlich ihres historischen Missbrauchs) Teil auch die Pläne der EU-Kommission zu ihrer sowie die EU-Pläne zur Verhinderung von tatsächli- Umsetzung im «Fit for 55»-Paket, dass eine Zeiten- chem oder vermeintlichem «Carbon Leakage» zum wende anbricht, wie sie im Bereich der Energiewirt- Schutz der heimischen Wirtschaft. Mit Blick auf die schaft bereits im Gange ist. Der Wechsel nicht nur der Bundesrepublik werden das deutsche Klimaschutz- Brennstoffe, sondern auch der Roh- und Hilfsstoffe gesetz und die Pläne der Ampelregierung zu den für hin zu erneuerbaren Energien (vor allem in der Che- die deutsche Industrie besonders relevanten Berei- mie- und der Stahlindustrie) erfordert vielfach völlig chen der Energiewirtschaft und des Verkehrs unter- neue Produktionsmethoden und teilweise auch neue sucht. Dabei werden Verteilungs- und Gerechtigkeit- Geschäftsmodelle. Dabei spielt der Staat als Regula- saspekte betrachtet. tor und Mitfinanzier dieses Wandels eine immer grö- Die Untersuchung ist Teil des von der Rosa-Luxem- ßere Rolle. Das im Zuge des russischen Überfalls auf burg-Stiftung geförderten und von dem gemeinnüt- die Ukraine angekündigte höhere Tempo der Dekar- zigen Verein Arbeitsgruppe Alternative Wirtschafts- bonisierung, um sich mittelfristig vor allem von fos- politik unterstützten Projekts «Sozial-ökologische silen Gaslieferungen unabhängiger zu machen, kann Transformation der deutschen Industrie», in dessen den Gesamtprozess beschleunigen. Solch ein Klima- Rahmen sieben weitere Studien entstanden sind. 4
1 EINFÜHRUNG Nach dem Pariser UN-Klimaschutzabkommen von Die somit über den europäischen Vorgaben liegenden 2015 soll die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad Zielstellungen Deutschlands dürften sich vor allem Celsius, möglichst auf 1,5 Grad gegenüber dem vor- aus der Berücksichtigung der «Einheitsdividende» im industriellen Niveau begrenzt werden. Angesichts der Klimaschutz erklären. Der Zusammenbruch der ost- galoppierenden Erderwärmung (2021 global bereits deutschen Wirtschaft nach der Wiedervereinigung plus 1,1 Grad) und der mittlerweile unübersehba- führte nach einer Studie im Auftrag des Umweltbun- ren gravierenden Folgen für Mensch und Natur for- desamtes Anfang der 1990er-Jahre netto (also auch dert eine weltweit agierende Klimaschutzbewegung unter Berücksichtigung zusätzlicher Emissionen von den Regierungen, endlich substanzielle Schritte Westdeutschlands zur Teilversorgung Ostdeutsch- im Kampf gegen den Klimawandel und für sozial lands) zu zusätzlichen Treibhausgaseinsparungen gerechte Übergänge zu unternehmen. von jährlich 104 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent Die Europäische Kommission hat im Sommer ver- (Eichhammer et al. 2001). Für den gesamten Klima- gangenen Jahres regulative Vorschläge unterbreitet, schutzerfolg seit 1990 ergibt das einen «Osteffekt» wie das Pariser Klimaschutzabkommen umzuset- von rund 23 Prozent der bis heute erzielten THG-Ein- zen sei. Im Juli 2021 wurde der erste Teil des «Fit for sparungen – die der Bundesrepublik historisch in den 55»-Pakets veröffentlicht (Europäische Kommission Schoß fielen. 2021a). Grundlage dafür war das schon Monate frü- Obgleich sowohl die EU als Ganzes als auch Deutsch- her politisch beschlossene und im Juni 2021 recht- land ihre Ambitionen nun spürbar erhöhen, sind auch lich verabschiedete neue EU-Klimaziel, die Treib- die neuen Ziele – und vor allem die bislang von der hausgase (THG) bis zum Jahr 2030 um 55 Prozent1 Bundesregierung benannten Umsetzungsstrate- gegenüber dem Jahr 1990 zu mindern und bis zum gien – noch deutlich entfernt von einem klimagerech- Jahr 2050 Klimaneutralität zu erreichen (Europäische ten Beitrag, die Erderwärmung in einem erträglichen Kommission 2021b). Diese neuen Zielmarken sind Rahmen zu halten. Umweltverbände und DIE LINKE der Beitrag der EU zum Ambitionssteigerungs-Me- etwa fordern für die EU 65 bis 70 Prozent Minde- chanismus des Pariser Abkommens. Danach waren rung, für die Bundesrepublik 70 bis 80 Prozent sowie die in Paris eingereichten freiwilligen nationalen Kli- jeweils eine frühere Klimaneutralität (BUND 2021; maschutzbeiträge (Nationally Determined Contribu- WWF 2021; LINKE 2021). Die Grünen forderten tions – NDCs) im Jahr 2020 zu aktualisieren oder neu Vergleichbares noch vor der Bundestagswahl 2021 einzureichen. (Bündnis 90/Die Grünen 2021). Doch selbst wenn nur Die Verschärfung um 15 Prozentpunkte erfordert nun die bereits gesetzlich fixierten neuen Ziele erreicht von allen EU-Mitgliedstaaten, ihre nationalen Ziele werden sollen, stehen die Mitgliedstaaten vor enor- deutlich höher zu stecken. Gleichzeitig verhandeln men Herausforderungen. So müsste eine wirklich die Staaten voraussichtlich noch bis Sommer 2023 klimagerechte Politik den fraglos notwendigen Struk- die weitere Ausgestaltung des «Fit for 55»-Pakets bis turwandel in der Energieversorgung und der Indus- zur endgültigen Verabschiedung der einzelnen Ver- trie, bei Gebäuden, in der Mobilität und in der land- ordnungen und Richtlinien – und damit die zentralen wirtschaftlichen Produktion so ausgestalten, dass er Rahmenbedingungen dafür, die höheren Klima- sich zugleich ökologisch und sozial vollzieht. Vor dem schutzziele in den verschiedenen Sektoren der Volks- Hintergrund einer sozial schon jetzt tief gespaltenen wirtschaften Europas umzusetzen. Gesellschaft und einer genuin profitorientierten Wirt- In Deutschland zwang im letzten Frühsommer eine schaft ist das eine gewaltige Aufgabe. erfolgreiche Klage von Klimaaktivist*innen vor dem Die Lage verschärft sich zusätzlich durch die Folgen Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung der völkerrechtswidrigen Invasion Russlands in die dazu, das Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) bereits Ukraine. Um weniger abhängig von russischen Erd- vor den Bundestagswahlen zu novellieren (Witt gaslieferungen zu werden, ist es notwendig, den Erd- 2021). Nunmehr 65 Prozent Klimagasminderung bis gaseinsatz vor allem im Wärmebereich zügig zu redu- 2030 gegenüber 1990 statt ursprünglich 55 Prozent, zieren. Gerade die Erhöhung der Energieeffizienz im Klimaneutralität bis 2045 statt 2050 und ein Minde- Gebäudebereich und die Umstellung auf erneuerbare rungspfad in Jahresscheiben nun auch für die Zeit Energien für den Restwärmebedarf (vor allem durch nach 2030 sind die wichtigsten Änderungen, die effiziente Wärmepumpen) sind aber vergleichsweise zugleich das neue EU-Klimaschutzziel antizipieren. teure und technisch wie mietrechtlich vorausset- 1 Das entspräche knapp 53 Prozent Minderung, würde die Anrechnung sogenannter Senken im maximal geschätzten Umfang stattfinden (eine mögliche Bindung von CO2 durch Landnutzungsänderungen). 5
zungsvolle Prozesse. Um Verdrängungsgefahren für Abbildung 2: Beziehung zwischen dem globalen Mieter*innen vorzubeugen, müssten sie vom Staat materiellen Fußabdruck (Global MF), dem massiv sozial flankiert werden. globalen Anstieg der CO2-Emissionen infolge Überdies sind die in EU und Deutschland rechtlich der Verbrennung fossiler Brennstoffe und von vorgegebenen THG-Einsparmengen so hoch, dass Industrieprozessen (Global CO2 FFI) und dem die in den letzten Jahrzehnten tatsächlich erreichte globalen BIP (Global GDP) absolute Entkopplung 2 von THG-Emissionen (im Sinne eines absolut sinkenden Ausstoßes) und wirt- schaftlichem Wachstum (siehe Abbildung 1) an ihre Grenzen stoßen könnte (Öko-Institut 2020). Dies gilt erst recht für Paris-kompatible Minderungsszenarien, die zusätzliche Einsparungen erfordern würden. Ver- gleichbares lässt sich für den Einsatz von Rohstoffen vermuten, für den bislang noch keine absolute Ent- kopplung stattgefunden hat. In der Bundesrepublik liegt beispielsweise der Primärrohstoffeinsatz heute über dem Niveau des Jahres 2000 (UBA 2022). Abbildung 1: CO2-Emissionen der EU27 und Großbritanniens seit 1990 und Reduktionsziele Quelle: Wiedmann et al. 2020 Nach einer im Jahr 2020 veröffentlichten Metastudie ist es höchst unwahrscheinlich, dass eine absolute Entkopplung vom Wirtschaftswachstum, wie sie bei Treibhausgasen in der EU und in Deutschland statt- gefunden hat, in naher Zukunft breiter auftreten wird, schnell genug auf globaler Ebene und für andere Umweltauswirkungen (Wiedmann et al. 2020). Denn erneuerbare Energien, Elektrifizierung, Technologien zur Kohlenstoffabscheidung und auch Dienstleistun- gen hätten sämtlich einen eigenen Ressourcenbe- darf, meist in Form von Metallen, Beton und Land. Steigender Energiebedarf und Kosten der Ressour- cengewinnung, technische Einschränkungen und Rebound-Effekte verschärften das Problem. Es ist demnach unklar, ob und mit welchen Instrumen- ten sich die beschriebenen Kopplungen dauerhaft Quelle: Janson 2021 auflösen lassen und absolute Minderungen erreich- bar sind, bis hin zu einer vollständig dekarbonisierten Im weltweiten Maßstab ist keine absolute Entkopp- Gesellschaft und einem nachhaltigen Ressourcenver- lung von globalem Wirtschaftswachstum und THG- brauch. Gelingt dies aber nicht, so stünde das kapita- bzw. CO2-Emissionen zu verzeichnen. Der Ausstoß listische Wachstumsmodell als Ganzes infrage. von Klimagasen stieg bis Mitte des letzten Jahrzehnts In der Bundesrepublik wurden die für die Erfüllung fast ungebremst an und verharrt seitdem auf einem des deutschen Beitrags zum EU-Klimaschutzziel hohen Plateau. Der CO 2-Gehalt der Atmosphäre erforderlichen Treibhausgasminderungen im Bun- kennt ungeachtet aller Klimaverhandlungen ohnehin des-Klimaschutzgesetz verankert (BMJ 2021), und nur eine Richtung: ansteigend. Global hat es zudem zwar in Jahresscheiben zunächst bis 2040 für jeden nicht einmal eine relative Entkopplung von wirtschaft- Sektor außer dem Energiesektor. Letzterer unterliegt lichem Wachstum und materiellem Fußabdruck (ent- dafür dem künftig weiter reduzierten Klimagasbud- spricht der globalen Rohstoffgewinnung) gegeben – get des EU-Emissionshandels (siehe Tabelle 1, S. 19). beides wächst eng proportional. Sollte dieser zwingende und zweifellos herausfor- 2 Von 1990 bis 2020: steigendes BIP der EU um 62 Prozent, in Deutschland um 110 Prozent, gleichzeitig Minderung von Treibhausgasemissionen der EU um 25 Prozent, in Deutschland um 40 Prozent; siehe Europäische Kommission 2020 sowie Statista 2021. 6
dernde Minderungspfad – der mit Blick auf die Erder- komplexe Konflikte um verbleibende materielle Res- wärmung dennoch nicht ambitioniert genug ist – tat- sourcen und Flächen zu erwarten sein – und natürlich sächlich beschritten werden, so werden neue und um Verteilungsgerechtigkeit. 2 DAS «FIT FOR 55»-PAKET IM INDUSTRIEPOLITISCHEN KONTEXT 2.1 VORSCHLÄGE FÜR NEUE damit, bis es schließlich zur Verabschiedung der EU-VERORDNUNGEN UND -RICHTLINIEN gegebenenfalls geänderten Entwürfe kommt. Die für den Umbau der Industrie wichtigsten Ele- Am 14. Juli 2021 veröffentlichte die EU-Kommission mente des «Fit for 55»-Pakets dürften folgende Vor- Vorschläge für acht zu ändernde und vier neu zu ver- schläge sein: abschiedende EU-Verordnungen3 bzw. -Richtlinien im – die Neufassung der Richtlinie für das bereits exis- Rahmen des ersten Teils des «Fit for 55»-Pakets (Euro- tierende EU-Emissionshandelssystem für die Sek- päische Kommission 2021a). Am 15. Dezember 2021 toren Energiewirtschaft, Industrie und Luftfahrt folgte Teil 2 mit den Vorschlägen eines Gas-/Wasser- (EU Emissions Trading System – EU-ETS 14) (Euro- stoffpakets sowie zur Gebäudeeffizienz-Richtlinie päische Kommission 2021e) einschließlich der (EPBD) (Europäische Kommission 2021c, 2021d). Änderungen am System der Markstabilitätsreserve Die Co-Gesetzgeber (Rat und EU-Parlament) beschäf- (Europäische Kommission 2021 f); tigen sich nun in den folgenden etwa zwei Jahren Abbildung 3: «Fit for 55»-Paket (Teil 1) der EU-Kommission, März 2021 (Übersicht) Quelle: Europäische Kommission 2021q 3 Verordnungen sind im EU-Recht unmittelbar für die Mitgliedstaaten geltendes Recht, während EU-Richtlinien Umsetzungsrechtsakte auf Ebene der Mitgliedstaaten erfordern. 4 Die nummerierten Abkürzungen EU-ETS 1 und EU-ETS 2 sind vergleichsweise neu in der politischen und wissenschaftlichen Debatte. EU- ETS 2 bezeichnet die vorgesehene Einführung eines zusätzlichen, vorerst separaten EU-Emissionshandelssystems für die Sektoren Verkehr und Gebäudewärme, während mit EU-ETS 1 das seit 2005 bestehende EU-Emissionshandelssystem für die Energiewirtschaft und die Industrie gemeint ist. 7
– das geplante neue EU-Emissionshandelssystem 2.2 AUFTEILUNG DER NEUEN EU-ZIELE für die Sektoren Straßenverkehr und Gebäude (EU-ETS 2) (Europäische Kommission 2021e); Die neuen, deutlich ambitionierteren Klimaziele im «Fit – die Verordnung zur Einführung eines geplanten for 55»-Paket sind entsprechend der bisherigen Archi- Grenzausgleichsmechanismus für Kohlenstoff tektur auf europäischer Ebene zweigeteilt. Ausgehend (Carbon Border Adjustment Mechanism – CBAM) vom neuen gesetzlich fixierten Klimaschutzziel von (Europäische Kommission 2021g); 55 Prozent THG-Minderung bis 2030 gegenüber 1990 – die Neufassung der EU-Klimaschutzverordnung für erhält nach den Kommissionsvorschlägen zum einen jene Sektoren, die nicht dem EU-ETS 1 unterliegen der EU-Emissionshandelsbereich ein neues Min- (auch genannt Climate Action Regulation – CAR derungsziel (Energiewirtschaft und Industrie sowie oder Effort Sharing Regulation – ESR) (Europäische Luftverkehr und künftig auch Schifffahrt – ETS-1-Be- Kommission 2021h); reich). Zum anderen erhalten jene Sektoren, die nicht – die Neufassung der Erneuerbare-Energien-Richtli- dem EU-ETS 1, sondern der EU-Klimaschutzverord- nie (RED) (Europäische Kommission 2021i); nung unterliegen, ein neues gemeinsames Einspar- – die Neufassung der Richtlinie über Energieeffizienz ziel (Gebäudewärme, Verkehr ohne Schifffahrt und (Energy Efficiency Directive – EED) (Europäische Luftverkehr, Landwirtschaft, Abfall sowie kleinere Kommission 2021j); Energie- und Industrieanlagen – Non-ETS-1-Bereich). – die Überarbeitung der EU-Energiesteuerrichtlinie Die Zielstellungen sollen erhöht werden für den ETS- (Europäische Kommission 2021k); 1-Bereich von 43 auf 61 Prozent und für den Non-ETS- – die Änderung der Verordnung zur Festlegung von 1-Bereich von 30 auf 40 Prozent THG-Minderung, CO2-Emissionsnormen für Pkw und Nutzfahrzeuge beides bis zum Jahr 2030 im Vergleich zum Basisjahr (Europäische Kommission 2021l); 2005. Während das EU-ETS-1-Ziel entsprechend der – die Überarbeitung der Richtlinie über den Aufbau Wirkungsweise des EU-Emissionshandels europä- der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe (Europäi- isch gilt, wird das gemeinsame Non-ETS-1-Ziel mit sche Kommission 2021m); der EU-Klimaschutzverordnung auf nationalstaatliche – der strategische Rollout-Plan zur Unterstützung Ziele aufgeteilt. Die Bundesrepublik müsste nach die- einer schnellen Bereitstellung der Infrastruktur für ser Verordnung ihre Emissionen bis 2030 gegenüber alternative Kraftstoffe (Europäische Kommission 2005 um 50 Prozent statt um 38 Prozent mindern. 2021n); Der Regelungsbereich des EU-ETS 2, den die EU-Kom- – der Rahmen zur Dekarbonisierung der Gasmärkte, mission ab 2026 für die Sektoren Straßenverkehr und zur Förderung von Wasserstoff und zur Verringe- Gebäude neu einführen will und der ein eigenes Kli- rung der Methanemissionen (Europäische Kom- maziel von 43 Prozent THG-Minderung gegenüber mission 2021o, 2021p). 2005 bekommen soll, überschneidet sich folglich in ebendiesen beiden Sektoren mit dem Regelungs- Im Folgenden werden für den Zweck dieser Studie die bereich der EU-Klimaschutzverordnung. Dies ist vor Vorschläge zum EU-ETS 1 und zum CBAM genauer, allem darin begründet, dass die meisten EU-Mitglied- die Rechtsakte zum Straßenverkehr kursorisch staaten5 bislang Widerstand gegen den Kommissi- betrachtet. onsvorschlag leisten, die Emissionen des Straßenver- kehrs und der Gebäude in einen Emissionshandel zu Abbildung 4: «Fit for 55»-Aufteilung der neuen EU-Klimaschutzziele Quelle: Eigene Darstellung 5 Nur Deutschland und Dänemark streiten gegenwärtig für das EU-ETS 2. 8
überführen. Erklärtes Fernziel der Kommission ist es Das reale EU-ETS 1 hatte allerdings die längste Zeit dagegen, das EU-ETS 2 in das klassische EU-ETS 1 seines Bestehens so gut wie keine mindernde Wir- einzubeziehen. Somit würde die EU-Klimaschutzver- kung auf den Umfang der Kohleverstromung oder ordnung gegebenenfalls überflüssig werden. Das den CO2-Ausstoß von Industrieanlagen (siehe spe- EU-ETS 2 ist demnach nur für den Übergang geplant, ziell zu Letzterem auch den folgenden Abschnitt): also nur zeitweise vom EU-ETS 1 getrennt. Im Übri- Infolge massiven Drucks aus der Wirtschaft war das gen handelt es sich beim EU-ETS 2 vorerst um einen sogenannte Cap (die THG-Gesamtobergrenze) aus sogenannten Upstream-Ansatz. Die Abgabepflicht Klimaschutzsicht zu wenig ambitioniert und wurde trifft hier nicht die Emittenten wie beim EU-ETS 1, das Regelwerk des EU-ETS aufgeweicht. In der Folge sondern die Inverkehrbringer von Brennstoffen.6 gaben die staatlichen Stellen häufig mehr Emissi- onsberechtigungen (European Union Allowance, EUA) an Anlagenbetreiber aus (an Industriebetriebe 2.3 REFORM DES EU-EMISSIONSHANDELS überdies weitgehend kostenlos anstatt per Auktion8), FÜR ENERGIEWIRTSCHAFT UND INDUSTRIE als tatsächlich CO2 emittiert wurde. Parallel fluteten (EU-ETS 1) anrechenbare Billigzertifikate von vermeintlichen Klimaschutzprojekten aus dem globalen Süden und Einführung, Kurzdarstellung aus Osteuropa den EU-Emissionshandelsmarkt.9 Die Mit dem «Fit for 55»-Paket wird die Richtlinie neu Mehrheit dieser Auslandsprojekte bot kaum zusätzli- gefasst, die das bereits existierende EU-Emissions- chen Klimaschutz im Vergleich zu einer Entwicklung handelssystem regelt (EU-ETS 1). Hierbei wird auch ohne dieses System (Witt/Moritz 2004). Dennoch das mit dem EU-ETS 1 verbundene System der Markt konnten Anlagenbetreiber in der EU diese faulen stabilitätsreserve geändert, das ungenutzte Über- Zertifikate lange zur vermeintlichen Erfüllung ihrer schüsse an Emissionsberechtigungen aus vergan- Minderungspflichten im EU-ETS 1 einsetzen. Die genen Handelsperioden7 abbauen und zugleich neue längerfristigen Auswirkungen der Finanz- und Wirt- Überschüsse verhindern soll. schaftskrise 2008/09 trugen ebenfalls zu Überschüs- Das bereits 2005 gestartete EU-Emissionshandelssys- sen bei. In der Summe lagen zeitweise europaweit tem für die Sektoren Energiewirtschaft und energiein- 2,6 Milliarden EUA ungenutzt auf Konten der Anla- tensive Industrie (seit 2012 auch für den innereuropäi- genbetreiber. Diese gewaltige Menge überstieg das schen Luftverkehr), in das künftig auch die Schifffahrt CO2-Budget des EU-ETS 1 eines ganzen Jahres. In aufgenommen werden soll, deckt heute circa 40 Pro- der Folge brachen die CO2-Preise auf wenige Euro pro zent der EU-Gesamtemissionen ab. Nach dem Willen Tonne CO2 ein, rein betriebswirtschaftlich rechnete der Mitgliedstaaten ist es das zentrale europäische Kli- sich realer Klimaschutz lange Zeit kaum. maschutzinstrument. In ihm werden die Emissionen Das System wurde über die Zeit jedoch mehrfach von europaweit rund 11.000 Anlagen erfasst. reformiert. Die Überschüsse wurden und werden Diese Anlagenbetreiber erhalten ein begrenztes schrittweise abgebaut, neue «faule» Zertifikate dür- Budget an Emissionsrechten – teilweise kostenlos, fen nicht mehr ins EU-ETS 1. In den letzten zweiein- teilweise über Versteigerungen zu erwerben –, mit halb Jahren sind die CO2-Zertifikatspreise durch diese denen sie untereinander handeln können. Jedes Reformen deutlich angestiegen und haben im Ener- Frühjahr muss jeder Anlagenbetreiber so viele Emissi- giesektor tatsächlich zum Klimaschutz beigetragen. onsrechte an den Staat abgeben, wie dessen Anlage Ein CO2-Zertifikat kostete nicht mehr nur 5 Euro je im Vorjahr tatsächlich CO2 oder andere Treibhausgase Tonne CO2, sondern 25 bis 40 Euro, zuletzt gar um die freigesetzt hat. Ziel des Systems ist es modellhaft, 80 Euro.10 In der Folge ging die Rentabilität vor allem Treibhausgase dort zu reduzieren, wo es am preis- von älteren, ineffizienten Braunkohleanlagen dras- günstigsten ist. Die europaweit begrenzte Menge tisch zurück bis zur zeitweiligen Unwirtschaftlichkeit. ausgegebener Emissionszertifikate soll dabei garan- Sie wurden deshalb häufiger zugunsten emissionsär- tieren, dass die politischen Klimaschutzziele einge- merer Gaskraftwerke heruntergefahren. Infolge des halten werden. Der sich am Markt bildende CO2-Preis weltmarktbedingten Anstiegs der Gas- und Steinkoh- setzt für die beteiligten Unternehmen Anreize, ihre lepreise stiegen Ende des Jahres 2021 auch die Groß- Treibhausgasemissionen zu reduzieren. handelspreise für Strom drastisch an. Dadurch wurde 6 Analog zum System des Brennstoffemissionshandelsgesetzes (BEHG) in Deutschland. 7 Erste Handelsperiode 2005–2007 (Pilotphase); zweite Handelsperiode 2008–2012; dritte Handelsperiode 2013–2020; vierte Handelsperiode 2021–2030. 8 Dies führte zu leistungslosen Extraprofiten der Industrie in Milliardenhöhe. 9 Es geht um folgende Emissionsgutschriften aus UN-Prozessen: Certified Emission Reductions (CER) aus gemeinsamen CDM-Projekten (Clean Development Mechanism, CDM) im globalen Süden und Emission Reduction Units (ERU) aus gemeinsamen JI-Projekten (Joint Implementation, JI) in Osteuropa. 10 So der Stand von Ende März 2022. Expert*innen führen diese hohen EUA-Preise zum Teil auch auf spekulativen Handel zurück, der sich von realen Knappheiten am Emissionshandelsmarkt entfernt hat. 9
vor allem die Braunkohleverstromung wieder renta- schaft, der Industrie, der Luftfahrt12 und des nach den bler. Analysen (Öko-Institut 2022) gehen aber davon Vorschlägen der EU-Kommission neu hinzukommen- aus, dass Stilllegungsanreize und ökonomischer den Sektors Seefahrt (für den das Budget entspre- Druck auf Braunkohlekraftwerke spätestens ab 2024 chend erhöht wird). wieder deutlich zunehmen werden, sollten sich die Vom derzeitigen Gesamt-Cap (2021 rund 1,6 Mrd. Erdgas- und Steinkohlepreise wieder auf dem übli- EUA13) werden europaweit 40 Prozent der Emissions- chen Niveau bewegen.11 rechte kostenlos zugeteilt, vor allem an die Industrie. Zentral bei der Reform des EU-ETS 1 ist es, die Emis- Der Rest wird, abgesehen von einem kleinen Sicher- sionsobergrenzen (Caps) der emissionshandelspflich- heitspuffer (3 Prozent) und einer Wachstumsreserve tigen Sektoren an das um 15 Prozentpunkte erhöhte (2 Prozent), auktioniert, vor allem an die Energiewirt- THG-Minderungs-Gesamtziel der EU für das Jahr schaft, die, wiederum abgesehen von Übergangsre- 2030 anzupassen. Die Kommission schlägt dafür geln für einige osteuropäische Staaten, keine kosten- eine einmalige Senkung der Obergrenze vor, die sie losen Zuteilungen erhält. aber noch nicht quantifiziert hat. Damit soll der Start- Ein Einnahmeanteil von 5 Prozent der unionsweiten punkt für den Reduktionspfad dieser Handelsperiode Menge an Zertifikaten wird für einen Modernisie- näher an die (niedrigeren) realen Emissionen im Jahr rungsfonds verwendet, der die Energiewende von 2021 herangeführt werden («Rebasing»). Nach dieser Mitgliedstaaten mit einem Bruttoinlandsp rodukt Absenkung soll ferner der jährliche lineare Kürzungs- (BIP) pro Kopf von weniger als 65 Prozent des Unions- faktor des THG-Gesamtbudgets im EU-ETS 1 von durchschnitts (gemessen im Zeitraum 2016–2018) 2,2 Prozent pro Jahr auf 4,2 Prozent fast verdoppelt finanzieren soll. Ferner finanzieren 3 Prozent der Zer- werden. Insgesamt plant die EU-Kommission für 2030 tifikate einen Innovationsfonds, der Entwicklungen ein um 18 Prozentpunkte höheres Reduktionsziel für auf dem Gebiet von Technologien und Prozessen mit das EU-ETS 1. geringem CO2-Ausstoß fördern soll, «einschließlich Das sich letztlich daraus ergebende reduzierte umweltverträglicher CO2-Abscheidung und -Nutzung Gesamtbudget des EU-ETS 1 wäre seinerseits wie- (CCU)» sowie Produkte, die CO2-intensiv hergestellte der aufzuteilen in die THG-Budgets der Energiewirt- Produkte ersetzen können. Abbildung 5: Zusammensetzung des Caps in der 4. Handelsperiode LKF = minus 2,2 % (= -43 Mio. t CO 2 /a) Anteil am Gesamtbudget 1800 2% 1600 1400 1200 Millionen EUA 40 % 1000 48 % 800 600 400 200 3% 0 3% 5% 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030 kostenlose Zuteilung (Bestandsanlagen) Puffer für Abwendung CSCF Auktionierung durch Mitgliedstaaten Modernisierungsfonds Innovationsfonds NER/Wachstumsreserve (aus Cap 3. HP) Cap-Reduktion wg. Brexit Quelle: Deutsche Emissionshandelsstelle (DEHSt) 2021 11 Diese Analysen entstanden vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Ob die Erdgaspreise bis 2024 tatsächlich wieder auf ein «übliches Niveau» fallen werden, ist ungewiss. Gegebenenfalls müssten ordnungsrechtliche Instrumente zum Einsatz kommen, um die Kohleverstromung bis zum Jahr 2030 zu beenden. 12 Berücksichtigt sind grundsätzlich alle Flüge, die innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) starten oder landen (full scope). 13 Mengenreduktionen wegen des EU-Austritts Großbritanniens sind bereits berücksichtigt. 10
Das neue EU-ETS 1 soll nach den Vorschlägen der rig, so könnten Stromengpässe zu derart hohen Groß- EU-Kommission auch im Industriebereich stärker handelspreisen für Strom führen, dass Kohlekraft- steuernd wirken und weniger Mitnahmeeffekte aus- werke trotz hoher CO2-Preise wieder rentabel Strom lösen. Der lineare Reduktionsfaktor im Gesamt-Cap verkaufen könnten. Parallel besteht stets die Gefahr, wird, wie erwähnt, von 2,2 auf 4,2 Prozent pro Jahr dass externe Entwicklungen wie Wirtschaftskrisen angehoben, was auch zu einem permanent sinken- oder das Platzen von Spekulationsblasen die CO2- den Industriebudget an Emissionsrechten führt. Preise im EU-ETS 1 zusammenbrechen lassen. Die Zudem wird die Auktionsmenge einmalig abgesenkt. Ampelkoalition von SPD, Grünen und FDP, die den Dazu soll die kostenlose Zuteilung von Emissions- Kohleausstieg laut Koalitionsvertrag «idealerweise» rechten an die Industrie schrittweise abgebaut wer- auf 2030 vorziehen will, erwägt darum zur Absiche- den, die zu massiven Fehlsteuerungen geführt hat rung einen nationalen Mindestpreis von 60 Euro pro (siehe auch den nächsten Abschnitt). Die EU-Kom- Tonne CO2 für EU-ETS-1-pflichtige Emissionen. mission will sie zwischen 2026 und 2035 jährlich um Eine Studie (Matthes 2021) des Öko-Instituts im 10 Prozentpunkte bis auf 0 Prozent absenken und die Auftrag der Umweltorganisation WWF kommt zum zusätzlichen Auktionseinnahmen dem Innovations- Ergebnis, dass die von der EU-Kommission ange- fonds des EU-ETS zuführen. dachten Reformen noch nicht ausreichen, um eine Gleichzeitig sollen die ungenutzten Überschüsse an Paris-kompatible EU-ETS-1-Reform zu ermöglichen Emissionszertifikaten aus vergangenen Handelspe- sowie den Aufbau erneuter Überschüsse im System rioden weiter abgebaut werden. Um das strukturelle sicher zu verhindern. Neben einem EU-ETS-1-Ziel mit Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage 65 bis 70 Prozent niedrigeren Emissionen bis 2030 bei Zertifikaten im Markt zu beheben, wurden bereits (unter dem Basisniveau von 2005) müssten dazu seit 2018 Zertifikate zurückgehalten, und eine soge- neben den bisherigen Überschüssen auch die Aus- nannte Marktstabilitätsreserve wurde eingerichtet. wirkungen der Covid-19-Pandemie auf die CO2-Emis- Übersteigt die Zahl der innerhalb des EU-ETS 1 in sionen stärker berücksichtigt werden. Erforderlich Umlauf befindlichen überschüssigen Zertifikate die seien dafür unter anderem eine ambitioniertere Kom- Obergrenze von 833 Millionen EUA, so wird eine bination von zeitlich frühem Rebasing und einer stär- Menge, die 24 Prozent dieser Zertifikate entspricht, keren Anhebung des linearen Reduktionsfaktors, eine von der Menge der zu versteigernden Zertifikate weitergehende Reform der MSR zur Beseitigung der abgezogen und in die Reserve eingestellt. Fällt die historischen Zertifikatsüberschüsse sowie die Festle- Gesamtzahl der in Umlauf befindlichen Zertifikate gung eines in der Zeit steigenden CO2-Mindestprei- hingegen unter die Untergrenze von 400 Millionen ses im EU-ETS 1. EUA, werden bis zu 100 Millionen Zertifikate aus der Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen Reserve an die Mitgliedstaaten freigegeben und zu des Pakets hat der zuständige Berichterstatter zum den Mengen der zu versteigernden Zertifikate addiert. Thema Emissionshandel dem Umweltausschuss des Das System führte zu einer ersten Stabilisierung der EU-Parlaments am 14. Januar 2022 einen Berichts- CO2-Preise im EU-ETS 1. Nunmehr sollen die immer entwurf vorgelegt, der Änderungsvorschläge zum noch vorhandenen ungenutzten Überschüsse an Kommissionsvorschlag enthält (Liese 2021). Er führt Emissionszertifikaten weiter abgebaut werden; bis- nach Einschätzung von Umweltverbänden allerdings lang nur zeitweise eingeführte Mechanismen dafür zu keiner Verbesserung für den Klimaschutz in Bezug werden beispielsweise verstetigt; in der MSR befind- auf das Ambitionsniveau des EU-ETS 1, macht dafür liche Überschüsse wiederum werden endgültig aber etliche neue Ausnahmen für die Industrie, die de gelöscht, wenn sie eine gewisse Menge überschrei- facto dazu führen würden, dass der Minderungspfad ten. weniger anspruchsvoll sei als von der Kommission All diese Änderungen werden – so sie beschlossen vorgeschlagen. und umgesetzt werden – den CO2-Preis im EU-ETS 1 voraussichtlich weiter nach oben treiben. Die Bislang kaum Lenkungswirkung des EU-ETS 1 EU-Kommission strebt einen CO2-Preis an, der sich in der Industrie zwischen dem Niveau von rund 50 Euro und 85 Euro Die größten Mankos des EU-ETS 1 im Industriesektor pro Tonne CO2 bewegen soll (BBH 2021). Analyst*in- bestehen bislang zum einen in der kostenlosen Zutei- nen (PIK 2021) sehen infolgedessen das wirtschaft- lung von Emissionsrechten (im Energiesektor wur- liche Aus für die Kohle bereits gegen 2030 und nicht den sie seit Beginn der dritten Handelsperiode 2013 erst 2038 bzw. gegebenenfalls 2035, wie im deut- überwiegend versteigert) und zum anderen darin, schen Kohleausstiegsgesetz (BMJ 2020) verankert. dass die Industrieanlagenbetreiber lange Zeit sehr Ähnlich schätzte es die frühere Bundesumweltminis- großzügig mit diesen Zertifikaten bedacht wurden. In terin Svenja Schulze (SPD) ein (Reuters Staff 2021). der Folge gab es für die Industrie zumindest aus dem Ob es dazu kommt, hängt allerdings wesentlich vom EU-Emissionshandel kaum Anreize, auf klimafreund- Ausbautempo für Ökostromanlagen ab. Ist es zu nied- lichere Produktionsverfahren umzusteigen. Zudem 11
wurden die aktuellen Marktpreise der ursprünglich erwerben. Der Anteil der kostenlosen Zuteilung für kostenlos bezogenen Zertifikate teilweise auf die Pro- die Industrie hätte von 80 Prozent im Jahr 2013 auf duktpreise umgelegt und so leistungslose Extrage- 30 Prozent im Jahr 2020 sinken sollen. In der vierten winne generiert. Handelsperiode soll sie nach geltendem Recht bis Im Zuteilungsverfahren für die kostenlosen Zertifikate 2025 anteilig noch 30 Prozent des Benchmarkwer- werden Produkt-Emissionswerte zugrunde gelegt tes betragen, von 2026 bis 2030 wird dieser Anteil (sogenannte Benchmarks). Diese definieren, wie viel schrittweise auf 0 Prozent abgesenkt. CO2-Äquivalent bei der Herstellung einer Tonne Pro- Dieses komplizierte Regelwerk mit nur anteiliger dukt (z. B. einer Tonne Stahl) die 10 Prozent der effizi- Gratiszuteilung wurde in der Realität allerdings zur entesten Anlagen der Branche emittieren. Je weniger absoluten Ausnahme. Denn in der dritten und vierten die Emissionen einer bestimmten Anlage von die- Handelsperiode fielen bzw. fallen 97 bzw. 94 Prozent sem Produktbenchmark abweichen, desto weniger der Emissionsmenge in der emissionshandelspflich- Zertifikate muss ein Unternehmen für diese Anlage tigen Industrie unter eine sogenannte Carbon-Leaka- zukaufen. Die Zuteilungsmenge für eine Anlage wird ge-Liste (CL-Liste) (Europäische Kommission 2021r). über die Multiplikation des jeweiligen Benchmarks Bei Anlagen dieser Liste wird die Gefahr einer Verla- mit der historischen Produktionsmenge der konkre- gerung ihrer Produktion ins Ausland gesehen. Nach ten Anlage berechnet und (seit 2021, dem Start der dem System erhalten solche Anlagen eine weitge- laufenden vierten Handelsperiode) jährlich um einen hende Vollzuteilung (bezogen auf die ermittelte Emis- Minderungsfaktor von 2,2 Prozent gekürzt. Zudem sionsmenge bei effizienter Produktion, siehe oben). werden in der vierten Handelsperiode auch die Carbon Leakage tritt nach Definition der EU-Kommis- Benchmarks selbst im Zeitablauf verschärft, um dem sion dann auf, wenn Unternehmen in bestimmten technischen Fortschritt Rechnung zu tragen. Industriesektoren oder Teilsektoren aus klimapoli- Im Regelfall sollte die Industrie ihre Zertifikate aller- tischen Gründen die Produktion in andere Länder dings über die so ermittelte Zuteilung nur teilweise transferieren oder Importe aus diesen Ländern gleich- kostenlos erhalten, der Rest wäre bei Auktionen wertige, aber weniger THG-emissionsintensive zu ersteigern gewesen oder am Sekundärmarkt zu Produkte ersetzen. Das könnte weltweit zu einem Abbildung 6: Carbon-Leakage-Schutz im jetzigen System Quelle: BMU 2018 12
Anstieg der Gesamtemissionen führen. Eine Unter- (sogenannte windfall profits, siehe dazu den fol- suchung des Berliner Ecologic Institute (Görlach/Zell- genden Abschnitt sowie Abbildung 7). Das traf vor jadt 2019) kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass allem für jene Bereiche zu, bei denen eine deutliche zusätzliche Netto-Emissionen nur dann auftreten, Überausstattung zu verzeichnen war (etwa Eisen und wenn ein Land, in das Produktionsvolumen verlagert Stahl mit plus 29,2 Millionen EUA). wird, ein schwaches System zur Erfüllung seiner im Die geringen Anreize aus dem EU-ETS 1 hatten kli- Rahmen des Pariser Abkommens abgegebenen Ver- mapolitische Folgen: Die Emissionen der deutschen pflichtungen hat (sogenannte QELRO, d. h. quantifi- energieintensiven Industrie insgesamt änderten zierte Emissionsobergrenzen und Reduktionsziele). sich in den Jahren 2013 bis 2018 kaum, sie lagen Denn die verlagerten zusätzlichen Emissionen stün- jeweils zwischen rund 123 und 126 Millionen Ton- den in Konflikt mit den nationalen Klimaschutzzielen nen CO2-Äquivalent. Erst 2019 – im letzten Jahr vor und müssten in dem Land an anderer Stelle ausgegli- Corona – sanken sie erstmalig mit 119 Millionen Ton- chen werden, was bei einer starken Klimapolitik dazu nen unter das Niveau von 2013. Damit ergibt sich eine führe, dass sich der globale Ausstoß nicht erhöht. Minderung von lediglich insgesamt 4 Prozent inner- Gleichwohl dürfte es eine sinnvolle Politik sein, die halb dieser sechs Jahre (DEHSt 2020a). Verlagerung von Produktionsanlagen und Emissio- Der Europäische Rechnungshof übte deutliche Kri- nen aufgrund von unterschiedlich hohen umweltpo- tik an Umfang und Verfahren der kostenlosen Zutei- litischen Ambitionen von Staaten bzw. Regionen zu lung an den Industriesektor und die Luftfahrt (Euro- verhindern. Dafür spricht nicht nur, dass es viele Staa- päischer Rechnungshof 2020). Er bemängelte unter ten mit einem schwachen QELRO bzw. Umsetzungs- anderem, dass die CL-Liste der EU für die einzelnen defiziten gibt, auch industrie- und arbeitsmarktpoliti- darin aufgeführten Sektoren keine unterschiedlichen sche Gründe liegen auf der Hand. Grade des Risikos der Verlagerung von CO2-Emissio- Der Schutz vor Carbon Leakage war entsprechend nen festlegt, sondern alle gleichrangig behandelt. Im das Hauptargument für eine Vielzahl von Privilegie- Vergleich dazu werde in den Emissionshandelssys- rungen der Industrie nicht nur im Emissionshandel, temen, die etwa in Kalifornien oder der kanadischen sondern in Deutschland beispielsweise auch bei der Provinz Quebec gelten, eine CL-Liste verwendet, EEG-Umlage, den Netzentgelten, der KWK-Umlage auf der die Sektoren in Kategorien mit hohem, mitt- oder der Ökosteuer. Zudem gehört die Bundesrepu- lerem und geringem Risiko einer Verlagerung von blik zu jenen elf Staaten, die die in der EU vorgese- CO2-Emissionen eingeteilt sind. Auf diese Zusam- hene zusätzliche Möglichkeit einer Kompensation menhänge hatte 2018 bereits eine Analyse des emissionshandelsbedingter Strompreissteigerungen Umweltbundesamtes hingewiesen (Graichen et al. für die Industrie nutzen. Umweltverbände, DIE LINKE 2018). Zudem stellte der Europäische Rechnungshof und Bündnis 90/Die Grünen kritisieren hier seit Jah- fest, dass die Anzahl der zugeteilten kostenlosen Zer- ren, dass der Umfang der Industrieprivilegien in kei- tifikate nicht von der Fähigkeit der Branchen, Kosten nem adäquaten Verhältnis zu den tatsächlichen Car- weiterzugeben, abhing und dass die kostenlose Zutei- bon-Leakage-Risiken stehe. lung von Zertifikaten nicht sehr gezielt erfolgte. Bei der Festlegung der Zuteilungsmengen im Rah- Aufgrund der strengeren Zuteilungsregeln der lau- men des EU-ETS 1 konnte die Industrie mit dem Car- fenden vierten Handelsperiode müssen mittlerweile bon-Leakage-Argument ihre Interessen gegenüber auch viele der unter die CL-Liste fallenden Industrie der Politik vor allem in den ersten drei Handelsperio- unternehmen Emissionsberechtigungen kaufen. den in einem erheblichen Maße durchsetzen. EU-weit Allerdings ist das nicht unzumutbar. Denn die Aukti- kam es in der Folge zu einer massiven Überausstat- onierung von Emissionszertifikaten war ursprünglich tung der Industrie mit Emissionsrechten. In der drit- als Regelfall gedacht, die kostenlose Zuteilung nur als ten Handelsperiode (Daten bis 2019) entstand sie vor (befristete) Übergangslösung für vermeintlich oder allem bei Eisen und Stahl, Zellstoff/Papier, Zement, tatsächlich von Carbon Leakage bedrohte Industrie- Chemie und Keramik (Europäischer Rechnungshof sektoren. Die nun anstehende Reform des EU-ETS 1 2020). Zum Teil großzügige Benchmarks, Unklarhei- will diese Übergangslösung mit einer Kombination ten bei den Produktionsmengen und natürlich die aus dem Abbau der kostenlosen Zuteilung und dem oben erläuterte Zuordnung fast aller Anlagen zur Liste Aufbau eines Grenzausgleichsmechanismus zum der von Carbon Leakage gefährdeten Sektoren gelten CL-Schutz schrittweise beenden (siehe Kapitel 2.4 zu als wesentliche Ursachen. CBAM). In der Bundesrepublik kam dadurch im Durchschnitt Bei der Bewertung der in der zweiten und dritten über die zweite und dritte Handelsperiode (2008– Handelsperiode aufgelaufenen Überschüsse ist zu 2020) faktisch eine Benchmark-unabhängige Voll- beachten, dass Anlagenbetreiber in der zweiten ausstattung für die Industrie zustande (DEHSt 2020a), Handelsperiode neben den «normalen» Emissions- was entsprechend geringe Klimaschutzanreize setzte berechtigungen (EUA) auch die bereits oben ange- und leistungslos erzielte Extragewinne ermöglichte führten Projektgutschriften aus dem Ausland (CER/ 13
ERU aus CDM-/JI-Projekten) für die Abgabe ver- Windfall profits – leistungslose Extraprofite wenden konnten, und zwar im Umfang von 22 Pro- der Industrie aus dem EU-ETS 1 zent ihrer ursprünglichen jährlichen EUA-Zuteilung. Bei den anstehenden Umstellungen auf klimafreund- Ungenutzte Ansprüche blieben in der Regel auch in liche Produkte, Techniken und Technologien fordert der dritten Handelsperiode bestehen. Anlagenbetrei- die Industrie massive staatliche Unterstützung. Vor ber ohne Altanspruch konnten grundsätzlich CER/ diesem Hintergrund lohnt ein näherer Blick auf die ERU bis zu einer Höhe verwenden,14 die 4,5 Prozent Gewinne, die die Industrie bislang leistungslos aus ihrer geprüften Emissionen in der dritten Handelspe- dem EU-ETS 1 erzielen konnte. Auch die Forderun- riode entsprach. Da die Preise für Projektgutschrif- gen nach angemessenen Gegenleistungen der Indus- ten immer deutlich unterhalb des Preisniveaus von trie für die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bzw. EUA lagen, entspannten die Nutzungsansprüche in nach staatlichen Beteiligungen lassen sich so besser beiden Handelsperioden die Zuteilungssituation bei beurteilen. den betroffenen Anlagen zusätzlich – es entstanden Nach einer Analyse des Beratungsunternehmens EUA-Polster, die bis heute verwendet werden kön- CE Delft im Auftrag der Organisation Carbon Market nen, oder auch zusätzliche Einnahmen bei der Veräu- Watch (Amaral 2021) hat die energieintensive Indus- ßerung von Überschüssen. trie in Europa von 2008 bis 2019 leistungslos bis zu 50 Milliarden Euro an Extraprofiten infolge der kos- Abbildung 7: Windfall profits jener Industriesektoren in der EU, die zwischen 2008 und 2019 am meisten von der kostenlosen Zuteilung im EU-ETS 1 profitierten. Billion = Milliarde Quelle: Carbon Market Watch 2021 14 Technisch wurden CER/ERU entsprechend den gestatteten Quoten umgetauscht in EUA, was noch bis zum 30.4.2021 möglich war. In der vierten Handelsperiode ist eine Nutzung von CER/ERU im EU-ETS 1 generell nicht mehr erlaubt, siehe DEHSt 2020b. 14
tenlosen Zuteilung von Emissionsberechtigungen Die Funktionsweise des CBAM lässt sich so zusam- realisieren können. Die Sektoren, die am meisten pro- menfassen: Auf importierte Waren aus dem Nicht- fitierten, seien Eisen und Stahl, Raffinerien, Zement EU-Ausland wird eine CO2-Abgabe erhoben, um so und Petrochemie. Den Großteil der Gewinne hätten Wettbewerbsunterschiede zwischen Produkten von Unternehmen in Deutschland, Frankreich, Italien und heimischen Produzenten, die dem EU-ETS 1 unter- Spanien erwirtschaftet. liegen, und denen von vergleichbaren ausländischen Die Genehmigungen für die freie Umweltverschmut- Produzenten, die einer anderen oder gar keiner zung stellten ein Marktversagen innerhalb des EU-ETS CO2-Bepreisung unterliegen, auszugleichen. dar, da die externen Kosten der Kohlenstoffverschmut- Die Kommission begründet den neuen Schutzmecha- zung nicht internalisiert würden. Unternehmen hätten nismus folgendermaßen: keinen Anreiz, ihr Handeln zu ändern, die Bürger*innen – Infolge der ETS-Reform sei mit einem weiteren trügen die Kosten der Klimaauswirkungen. Zugleich Anstieg der CO2-Preise im EU-ETS 1 zu rechnen. verzichteten die EU-Regierungen durch die Erteilung – Gleichzeitig sei aufgrund des geringeren Umfangs kostenloser Verschmutzungsgenehmigungen auf Ver- von kostenlosen EUA (allein infolge der Senkung steigerungseinnahmen, die für weitere Klimaschutz- der Emissionsobergrenze) auch für Industrieunter- maßnahmen hätten ausgegeben werden können. nehmen keine Vollzuteilung mehr möglich. Die windfall profits wurden laut Studie über drei Quel- – Die kostenlose Zuteilung schwäche das CO2-Preis- len folgendermaßen erzielt: Erstens hätten die Unter- signal im Vergleich zur vollständigen Versteigerung nehmen die kalkulativen Kosten (Marktpreise) – der und solle darum schrittweise abgebaut werden.16 allerdings frei bezogenen Emissionsberechtigungen – – Insgesamt steige durch die Reformen für die Indus- teilweise in den Produktpreis weiterverrechnet, der trie die Gefahr des Carbon Leakage, der mit dem von den Endverbraucher*innen bezahlt wird. Daraus CBAM zu begegnen sei. resultierten beispielsweise windfall profits im Eisen- Nach dem Vorschlag der EU-Kommission für eine und Stahlsektor in Höhe von 12 bis 16 Milliarden Euro künftige Verordnung sollen in den CBAM zunächst und bei Raffinerien in Höhe von 7 bis 12 Milliarden nur folgende Sektoren (mit vergleichsweise hohem Euro. Zweitens seien den meisten Unternehmen zu CL-Risiko und Produktionsumfang) einbezogen wer- viele kostenlose Emissionsberechtigungen zugespro- den, wobei das Endziel eine breite Produktabdeckung chen worden. Die Überschüsse hätten sie gewinn- sei: Zement, Elektrizität, Düngemittel, Eisen und bringend am Markt verkaufen können, zum Beispiel Stahl, Aluminium (Europäische Kommission 2021g). im Zementsektor in Höhe von 3,1 Milliarden Euro und Der CBAM soll mit einer Einführungsphase (dem in der Petrochemie in Höhe von 600 Millionen Euro.15 sogenannten Phase-in) in den Jahren 2023 bis 2025 Drittens hätten Unternehmen zur Erreichung ihrer beginnen, in der von den Importeuren Meldungen Ziele günstigere internationale Offsets aus den flexi abgegeben, aber noch keine Zahlungen geleistet wer- blen Mechanismen des Kyoto-Protokolls erworben den müssen. Der Zeitraum von 2026 bis 2034 (und (bis 2020 möglich). In der Folge konnten sie verblei- darüber hinaus, aber noch nicht mit Regeln unterlegt) bende kostenlose Zertifikate gewinnbringend am wird mit Zahlungsverpflichtungen belegt. Markt verkaufen, zum Beispiel im Eisen- und Stahl- Reziprok zur schrittweise abnehmenden Gratiszutei- sektor (850 Millionen Euro), bei Raffinerien (630 Milli- lung von EUA an die Industrie soll die Wirkung des onen Euro) und Zement (610 Millionen Euro). CBAM schrittweise aufgebaut werden. Konkret soll das System laut Verordnungsvorschlag folgendermaßen funktionieren: 2.4 DER GRENZAUSGLEICHSMECHANISMUS – Importeure müssen sogenannte CBAM-Zertifikate (CBAM) in Höhe «grauer Emissionen» der importierten Güter von einer zuständigen staatlichen Behörde Die EU-Kommission will die Gratiszuteilung für die in der EU kaufen und später bei dieser Behörde Industrie, wie erläutert, schrittweise reduzieren, auch jährlich zu einem festgelegten Zeitpunkt für die tat- um windfall profits zu verhindern. Dieses Abschmel- sächlich importierten Güter abgeben. zen kostenloser Zuteilungen steht im Zusammenhang – Bei «einfachen Gütern» sollen nur direkte Emissio- mit einem neuen Instrument, das ab 2026 eingesetzt nen berücksichtigt werden, bei komplexen Gütern werden soll: dem Grenzausgleichsmechanismus auch «zugeordnete Emissionen» für relevante Vor- (Carbon Border Adjustment Mechanism – CBAM, kettenprozesse. Die «eingebetteten Emissionen» siehe auch Studie «Wettbewerb im Treibhaus» von sollen sich an Benchmarks orientieren, wenn eine Thomas Fritz innerhalb dieses Studienpakets). exakte Ermittlung nicht möglich ist. 15 Oder aber sie hätten sie unmittelbar verkaufen können, taten dies jedoch nicht mit dem Ziel, sie alternativ später einzusetzen (Verkauf bei höheren Preisen bzw. Abrechnung von späteren anspruchsvolleren Minderungsverpflichtungen). 16 Dabei soll der CBAM hinsichtlich des Schutzes vor Carbon Leakage die Alternative zur kostenlosen Zuteilung sein und sie daher im Laufe der Zeit ersetzen. 15
– Importeure müssen Importgenehmigungen bean- kostenlose Zuteilung bis ins Jahr 2035 verlängert tragen und darlegen, wie sie eingebettete Emissio- werde. Zudem entfielen nur 47 Prozent der kosten- nen ermitteln wollen. losen Zertifikate auf die Industriesektoren, die bei der – Der Preis der CBAM-Zertifikate wird an den Preis ersten Einführung des CBAM berücksichtigt wer- der EUA aus dem EU-ETS 1 gekoppelt (durch den sollen und bei denen die kostenlose Zuteilung wöchentlich aus Auktionen berechnete Durch- abschmelzen soll. Das bedeute, dass 53 Prozent der schnittswerte). Es entsteht dadurch eine Art «fikti- gesamten Zertifikate von der neuen Gesetzgebung ves ETS», aber kein gemeinsames. unberührt blieben. Für Glas, Chemikalien und Raffi- – Um eine WTO-Kompatibilität herzustellen, ist die nerieprodukte etwa würde sich hinsichtlich der Gra- Anrechnung von im Ursprungsland gezahlten Koh- tiszuteilung nichts verändern, diese Sektoren würden lenstoffpreisen vorgesehen. somit keinen Druck zur Dekarbonisierung verspüren – Die Möglichkeiten, CBAM-Zertifikate zu handeln (bis zum Auslaufen der freien Zuteilung im Jahr 2030 und zeitlich zu übertragen, werden begrenzt (Zer- nach geltender ETS-Richtlinie) (Taylor 2021). tifikate nur zwei Jahre gültig, Überschüsse nur zu Die Partei DIE LINKE befürwortet im Bundestags- einem Drittel zum alten Preis erwerbbar). wahlprogramm einen europäischen CO2-Grenzaus- – Es wird ein spezieller Markstabilitätsreserve-Me- gleichsmechanismus, der den Import CO2-intensiver chanismus für CBAM-Zertifikate eingerichtet, um Produkte bepreist. So solle verhindert werden, dass möglichen Überschüssen oder einer Unterversor- die Dekarbonisierung der Industrie in Deutschland gung entgegenzuwirken. und der EU zulasten der hiesigen Beschäftigten geht – Der CBAM soll keine mengenmäßigen Einfuhrbe- und zur Verlagerung von CO2-intensiver Produktion in schränkungen für eingebettete Emissionen festle- Drittstaaten führt. Ein Arbeitskreis zum «Fit for 55»- gen. Paket bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung begrüßt den Die EU-Kommission erwartet durch die Etablierung CBAM im Grundsatz ebenfalls, prüft aber auch in der des Instruments Anreize für in die EU exportierende Diskussion stehende alternative Instrumente. Zudem Länder, eigenständig CO 2-Bepreisungssysteme bedürfe es einer Reform der unterschiedlichen Car- zu entwickeln, und rechnet durch den Verkauf der bon-Leakage-Instrumente auf EU- und auch auf CBAM-Zertifikate mit Einnahmen von neun Milliarden nationaler Ebene, damit entsprechende Industriepri- Euro im Jahr 2030, die in den EU-Haushalt fließen sol- vilegien tatsächlich nur jenen Unternehmen zugute- len. kommen, die von Carbon Leakage bedroht sind, und Änderungsanträge zum Vorschlag der EU-Kommis- dies auch nur in angemessenem Umfang. Ferner solle sion wurden dem EU-Umweltausschuss Anfang das Ende der kostenlosen Zuteilung schon zum Start Januar 2022 übermittelt. Der zuständige Berichter- des CBAM umgesetzt werden. statter Mohammed Chahim will mit seinem Doku- Etwa von Germanwatch wird die Einnahmeverwen- ment unter anderem die Anwendungsbereiche des dung (für den allgemeinen EU-Haushalt) kritisiert: Der CBAM auf organische Chemikalien, Wasserstoff und EU-CBAM trage wenig zur Besänftigung der Handel- Polymere ausweiten (Chahim 2021). Die Probephase spartner bei. Im Gegenteil verstärke die EU mit die- für den CBAM soll nur von 2023 bis 2024 gelten. Die sem Vorschlag die weitverbreitete Wahrnehmung, Zuteilung kostenloser Zertifikate soll schneller sin- der CBAM sei ein konfrontatives, protektionistisches ken, und zwar 2025 auf 90 Prozent, 2026 auf 70 Pro- Instrument. Die Verwendung der Einnahmen sei einer zent, 2027 auf 40 Prozent und bis Ende 2028 auf null. der Schlüssel für die internationale Akzeptanz eines Zudem schlägt Chahim ein zentralisiertes System EU-CBAM. Die EU solle diese Einnahmen nutzen, um mit einer EU-CBAM-Behörde statt vieler dezentraler die gerechte Transformation in weniger wohlhaben- Behörden vor. Dies würde Skaleneffekte bieten und den Ländern zu unterstützen, einschließlich der vom die Gefahr eines systematischen Ausnutzens neben- CBAM betroffenen Handelspartner. Die EU solle den einander bestehender Zuständigkeiten vermeiden größten Teil der Einnahmen den vom CBAM betroffe- (forum shopping), die aufgrund von Diskrepanzen nen Ländern als Unterstützung für die Transformation zwischen den Mitgliedstaaten entstehen könnten, so ihrer Industrien zur Verfügung stellen, zum Beispiel der niederländische Abgeordnete der sozialdemokra- durch einen internationalen Investitionsfonds. Die tischen Fraktion im Europaparlament. Nach den Ver- restlichen Mittel sollten zur Aufstockung der inter- handlungen im dortigen Umweltausschuss geht der nationalen Klimafinanzierung verwendet werden. (ggf. abgeänderte) Bericht im Mai 2022 ins Plenum. Außerdem solle die EU den vom CBAM betroffenen In der öffentlichen Debatte um den Verordnungsvor- Handelspartnern eine umfassende Kooperation bei schlag können folgende Positionen hervorgehoben Klimaschutzmaßnahmen anbieten, zum Beispiel werden: beim industriellen Strukturwandel oder für Forschung Umweltverbände und ihnen nahestehende Think und Entwicklung im Klimaschutz (Gläser/Caspar tanks, die den CBAM mehrheitlich im Grundsatz 2021). begrüßen, kritisierten, dass mit dem Vorschlag die 16
Sie können auch lesen