MEHR TRANSFER ALS STABILITÄT? - BEWERTUNG AKTUELLER REFORMVORSCHLÄGE FÜR DIE EUROZONE - Stiftung Marktwirtschaft
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MEHR TRANSFER ALS STABILITÄT? BEWERTUNG AKTUELLER REFORMVORSCHLÄGE FÜR DIE EUROZONE Argumente zu Marktwirtschaft und Politik Nr. 140 | März 2018 Jörg König
MEHR TRANSFER ALS STABILITÄT? BEWERTUNG AKTUELLER REFORMVORSCHLÄGE FÜR DIE EUROZONE Jörg König Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, Nr. 140 Inhaltsverzeichnis Vorwort 03 1 Trügerische Schönwetterlage in Europa 04 2 Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand 05 3 Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion 13 3.1 Haftungsprinzip 13 3.2 Binnenmarktprinzip 14 3.3 Subsidiaritätsprinzip 15 4 Aktuelle Reformvorschläge 18 4.1 Vorschläge der Europäischen Kommission 18 4.2 Vorschläge des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron 19 4.3 Vorschläge aus dem Koalitionsvertrag 2018 zwischen CDU, CSU und SPD 20 5 Bewertung der Vorschläge aus Brüssel, Paris und Berlin 21 5.1 Europäischer Haushalt 21 5.2 Europäischer Finanzminister 23 5.3 Europäischer Währungsfonds 24 5.4 Europäische Einlagensicherung 27 5.5 Europäische Anleihen 28 6 Fazit – Zielführende Reformen für eine stabile Eurozone 29 Literatur 30 Executive Summary – Reformvorschläge im Schnell-Check 32 © 2018 Stiftung Marktwirtschaft (Hrsg.) Charlottenstraße 60 10117 Berlin Telefon: +49 (0)30 206057-0 Telefax: +49 (0)30 206057-57 www.stiftung-marktwirtschaft.de Die Publikation ist auch über den QR-Code kostenlos abrufbar. ISSN: 1612 – 7072 Titelzeichnung: Julia Stone
Mehr Transfer als Stabilität? Vorwort Vorwort „The time to repair the roof is when the sun is shining.“ Nun ist aus Brüssel, südlich und westlich davon sowie Dieser grundsätzlich richtige Satz John F. Kennedys wird ger- aus dem Turm zu Frankfurt zu vernehmen: Wenn der euro- ne vom EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker päische Norden weniger „austeritär“ aufträte, der eigentlich wiedergegeben, um Forderungen nach mehr europäischer als nur vorübergehende Notfallhilfe schmackhaft gemachte „Solidarität“ in Form der Vergemeinschaftung von Risiken und zwischenstaatliche Fonds ESM nun zu einer dauernden EU- Haftung zu untermauern. Im Hinblick auf den Euro führt das Institution würde, ein Europäischer Finanzminister käme, die Zitat aber in die Irre. Denn erstens scheint bekanntermaßen Bankenunion mit der gemeinsamen Einlagensicherung ihre in Europa auch die konjunkturelle Sonne in unterschiedlichem vermeintliche Abrundung fände und schließlich noch die „So- Maße und zweitens sind teure Dachausbauten sinnlos, wenn zialunion“, z.B. über eine Europäische Arbeitslosenversiche- dabei oder vielleicht sogar dadurch Stützen wegbrechen und rung, umverteilend segnete, dann, ja dann, würden sich alle das Fundament geschwächt wird. in Zukunft nun wirklich an alle Regeln halten… Die Botschaft „Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fun- hört man wohl, allein: es fehlt inzwischen jeder Glaube. Am dament verweilen“. Die noch ältere Sentenz Anton Bruck- Ende wird wieder zu teuer Zeit gekauft, in der zu wenig pas- ners eignet sich 2018 zur Beschreibung des Handlungsbe- siert, werden weitere Fehlanreize gesetzt sowie Bequemlich- darfs in der Europäischen Währungsunion wesentlich besser keit und Reformscheu im Ergebnis belohnt. – der österreichische Komponist traf auch damit den richtigen Geht es dem Brüsseler Apparat vor allem um sich selbst, Ton. der EZB um Italien und denjenigen in den Nationalstaaten, die Ganz offensichtlich ist das Fundament der Währungs- ständig nach „mehr Europa“ rufen, um frisches Geld? Diesen union vor der Einführung des Euro eben nicht ausreichend ge- Eindruck zu haben, kann man versucht sein. Die Kommissi- sichert worden. Die Hoffnung auf den „Genius loci“ Frankfurts on als „Hüterin der Verträge“ scheint alles zu behüten, aber als EZB-Sitz hat ebenso getrogen wie die Versprechen des kaum die Verträge. Der oberste europäische Notenbanker „Stabilitätspakts“ und die Verheißung eines starken, soliden erfüllt allem Anschein nach weniger seinen Auftrag der Wäh- und verlässlichen Euro. Tragende Säulen wie Wettbewerb, rungsstabilität als ohne demokratische Legitimation regionale Marktdisziplin, Eigenverantwortung und das Zusammenfallen Wirtschaftsförderung, europäische Umverteilung und Staats- von Handlung und Haftung wurden in dem Währungsver- finanzierung zu betreiben. Und wohl in keinem Nationalstaat bund und bei der Handhabung oder besser Ignoranz seiner besteht derzeit eine ehrliche Bereitschaft zu Souveränitäts- Prinzipien und Regeln missachtet und erschüttert. Erschüt- verzicht, z.B. für ein subsidiäres Europa der Regionen und ternd ist diese Bilanz: Kommunen, aber mit einer voll verantwortlichen Regierung in Brüssel und einem echten Parlament, frei gewählt nach dem • 1999–2017 überschritten die Mitglieder der Eurozone 109 urdemokratischen Grundsatz „one man, one vote“. Mal die dreiprozentige Defizitgrenze – ohne eine einzige Umso mehr ist angesichts von viel euromantischer Se- Sanktion. mantik bei gleichzeitiger, möglichst intransparent gehaltener • Seit 2010 wurden die Nicht-Beistandsklausel und das Ver- nationaler Profitmaximierung ein „weiter so“ völlig inakzepta- bot der monetären Staatsfinanzierung faktisch außer Kraft bel. Besonders gilt dies bei den öffentlichen Finanzen und gesetzt: Durch Hilfskredite, EZB-Anleihekäufe und Target- für das langjährige, bequeme Muster: Verfügung und Nutzen salden entstanden Haftungsrisiken von weit über einer Bil- national, Finanzierung und Haftung zunehmend supranatio- lion Euro; allein für das trotz eines ersten, 2012 erfolgten nal. Jeder Schritt, der Entscheidung und Verantwortung in Schuldenschnitts im Juli 2015 zahlungsunfähige Grie- Europa noch mehr voneinander entfernt, führt am Ende nur chenland haften europäische Steuerzahler mit über 300 ins gemeinsame Elend aller. Europa kann es besser und sollte Milliarden Euro. es besser wissen, wie diese Publikation unterstreicht. Der in- • Im Rahmen des sogenannten „Europäischen Semesters“, formedia-Stiftung danken wir für deren Förderung. das zum zweiten Stützpfeiler der Währungsunion werden sollte, sprach die EU-Kommission zwischen 2011 und 2017 823 länderspezifische Reformempfehlungen aus. Vollständig umgesetzt wurden elf (1,3 Prozent). • Mit dem seit 2016 gültigen Abwicklungsmechanismus der 2014 eingeführten Bankenunion sollte der „Bail-in“ die Be- lastung des Steuerzahlers ersetzen. Bislang trat der ent- Prof. Dr. Michael Eilfort Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen sprechende Fall viermal ein. In den drei italienischen Fällen Vorstand Vorstand half am Ende … der Steuerzahler aus. der Stiftung Marktwirtschaft der Stiftung Marktwirtschaft 3
Trügerische Schönwetterlage in Europa Mehr Transfer als Stabilität? 1 Trügerische Schönwetterlage in Europa Aktuelle volkswirtschaftliche Kennzahlen lassen die euro- solider Staatsfinanzen und nachhaltigem Wirtschaftswachs- päische Wirtschafts- und Währungsunion zehn Jahre nach tum die Umverteilung des Erwirtschafteten einiger Staaten in Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise wieder in einem hel- den Vordergrund rückt – mit den entsprechenden politökono- leren Licht erscheinen: Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) mischen Fehlanreizen auf nationaler Ebene. pro Kopf ist das vierte Quartal in Folge um mehr als zwei Europas Augen sind nun auf Berlin gerichtet, den Träu- Prozent gewachsen, die Arbeitslosenquote hat sich mit 8,6 men und Visionen aus Paris und Brüssel eine eigene Antwort Prozent annähernd auf das Vorkrisenniveau reduziert und die zu geben. Bis zu den EU-Ratssitzungen im Juni und Okto- Inflation bewegt sich seit mittlerweile mehr als einem Jahr mit ber 2018 sollen gemeinsame Vorstöße mit Frankreich folgen, Werten zwischen 1,3 und zwei Prozent nahe am offiziellen um in den verbleibenden Monaten bis zur Europawahl im Preisniveaustabilitätsziel. Mai 2019 diejenigen Reformvorschläge anzugehen, die den Vor allem in Deutschland ist die konjunkturelle Entwick- Mehrwert der EU und ihrer Währungsunion herausstellen. In lung anhaltend positiv. Die Zahl der Erwerbstätigen befindet der Tat sollten die positive Grundstimmung zu Europa und sich mit knapp 45 Millionen Menschen auf einem Rekord- die gute Konjunktur dazu genutzt werden, die systemimma- hoch, in manchen Regionen herrscht nahezu Vollbeschäfti- nenten Schwächen der europäischen Wirtschafts- und Wäh- gung. Der Staatshaushalt erzielt die höchsten Überschüsse rungsunion zu überwinden und die Eurozone krisenfester zu seit der Wiedervereinigung. Auch der Außenhandel übertrifft machen. Ökonomische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) und jahrzehntelange Höchststände: „Made in Germany“ ist auf fiskalische Nachhaltigkeit sollten – wie alle politischen Lager den Weltmärkten gefragt. Die deutsche Wirtschaft befindet stets betonen – gestärkt werden. sich dabei zunehmend in einer Überauslastung.1 Die neue Bundesregierung muss nun Wege aufzeigen, Politisch scheinen die größten Sorgen ebenfalls bei- wie die Eurozone zu der einst versprochenen Stabilitäts- seite geräumt, nachdem in den jüngsten nationalen Parla- union werden kann. Voraussetzung hierfür ist, dass sich die mentswahlen zentraler Euro- und EU-Gründerstaaten Re- Entscheidungsträger auf grundlegende marktwirtschaftliche gierungsbeteiligungen von extrem populistischen Parteien Regeln und Prinzipien besinnen, die eine nachhaltige Stär- weitestgehend abgewendet werden konnten. Inwieweit die kung der Wirtschafts- und Währungsunion erwarten lassen. neue italienische Regierung eine Sonderrolle einnehmen wird, Die aktuelle wirtschaftliche „Schönwetterlage“ sollte nicht da- muss sich allerdings noch zeigen. Insbesondere die Wahl rüber hinwegtäuschen, dass die Eurozone ein gravierendes Emmanuel Macrons zum französischen Staatspräsidenten Strukturproblem hat. Politökonomische Fehlanreize prägen aber hat vielerlei Hoffnungen geweckt, Frankreich und Eu- nach wie vor die Konstruktion der Währungsunion. ropa mit neuem Wagemut in ein besseres Zeitalter zu führen. Es ist jedoch nicht das in jüngster Zeit besonders von Von einem „goldenen Jahrzehnt“ für Frankreich ist bereits die Jean-Claude Juncker viel und gern zitierte „europäische Rede. Dach“, das bei guter Wetterlage einer kostspieligen Repara- Die französische Regierung um Emmanuel Macron und tur bedarf. Krisenpolitik und Schönheitsreparaturen verspre- die Europäische Kommission um Jean-Claude Juncker haben chen keine langfristig tragfähigen Lösungen und werden nur ihre weitreichenden Vorstellungen und Interessen zur zukünf- wiederholt neue staatliche Ausgaben nach sich ziehen. Es tigen Ausgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion be- sind vielmehr die Grundfesten der Währungsunion, die ins reits deutlich gemacht. Sie setzen dabei im Wesentlichen auf Wanken geraten sind und die Union perspektivisch einstür- „mehr Europa“ und zwar – wie in dieser Studie gezeigt wird zen lassen könnten. Macht es Sinn, am Dach umtriebig zu ar- – auf mehr europäische Kompetenzen, mehr Koordinierung beiten, wenn nicht einmal das Fundament gesichert ist? Die und Harmonisierung, mehr Risikoteilung und mehr gemein- neue Bundesregierung wäre gut beraten, in ihrer künftigen same Finanzmittel. Entgegen aller Beteuerungen laufen die Europapolitik stabilitätsfördernde Grundprinzipien zu beach- dabei vorgesehenen institutionellen Neuerungen eher auf die ten und sich von einem fehlgeleiteten Aktionismus nicht trei- Etablierung einer permanenten Transferunion hinaus, die statt ben zu lassen. 1 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2017). 4
Mehr Transfer als Stabilität? Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand 2 Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand Von einer nachhaltig stabilen Wirtschafts- und Währungsunion Mitgliedstaaten verdeutlichen. Einige dieser Staaten wie ist die Eurozone weit entfernt. Wesentliche Ursache hierfür sind Spanien oder Portugal haben zwar im Zuge ihrer finanziellen die nach wie vor nicht überwundenen Konstruktionsschwä- Hilfsprogramme auch positive Reformschritte unternommen, chen der Währungsunion. In den vergangenen Jahren hat es jedoch sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vieler zwar verschiedene Anstrengungen gegeben, jedoch sind: Mitgliedstaaten nach wie vor nicht ausreichend wettbewerbs- fähig. Verschiedene Indizes zur Messung der internationalen • die Volkswirtschaften der Euro-Staaten immer noch zu Wettbewerbsfähigkeit und der Qualität nationaler Instituti- heterogen für eine effizient wirkende gemeinsame Geld- onen zeigen, dass vor allem die südeuropäischen Staaten politik, besonders schlecht abschneiden. • die fiskalischen Regeln der Eurozone, gemessen an der Im aktuellen Global Competitiveness Report 2017–2018 Rechtseinhaltung und Regeldurchsetzung, unglaubwürdig, rangiert beispielsweise Griechenland auf Platz 87 zwischen • die Beweggründe der Nicht-Beistandsklausel und des Algerien und Nepal, während die Niederlande und Deutsch- Verbots der monetären Staatsfinanzierung einer ständigen land die Plätze vier und fünf einnehmen.3 Auch bei Schät- Missachtung ausgesetzt, zungen zu Schattenwirtschaft und Korruption belegen die • die Risiken für die Finanzstabilität und die gegenseitige südeuropäischen Euro-Staaten um Griechenland und Ita- Abhängigkeit von Banken und Staaten nicht gebannt.2 lien mit großem Abstand zu Deutschland, den Niederlanden oder Österreich die hinteren Plätze.4 Messungen des Eco- Ökonomische Heterogenität nomic Freedom Index bestätigen außerdem, dass der Grad der wirtschaftlichen Freiheit in den südlichen Mitgliedstaaten Politökonomische Fehlanreize der Wirtschafts- und Wäh- nicht nur wesentlich geringer ausfällt als im nördlicheren Teil rungsunion sowie die ökonomische Heterogenität in der der Eurozone, sondern seit 2001 sogar rückläufig ist (vgl. Ab- Eurozone lassen sich gut am Beispiel der südeuropäischen bildung 1). Abbildung 1: Ökonomische Freiheit Index 75 in der Eurozone Die Heritage Foundation misst ökonomische Freiheit anhand von 12 quantitativen und qualitativen 70 Indikatoren, die den Economic Freedom Index bilden. Die Skala der Indexwerte reicht von 0 bis 100, wobei 100 den größtmög- 65 lichen Freiheitsgrad einer Volks- wirtschaft anzeigt. Nördliche Euro-Staaten: Öster- reich, Belgien, Finnland, Deutsch- 60 land, Niederlande. Südliche Euro-Staaten: Griechen- land, Italien, Portugal, Spanien. 55 Quelle: Heritage Foundation. 2000 2005 2010 2015 Nördliche Euro-Staaten Südliche Euro-Staaten 2 Für eine ausführliche Analyse der Konstruktionsschwächen und deren Folgen siehe u.a. König (2016a). 3 Vgl. Schwab und Sala-i-Martin (2017). 4 Vgl. Transparency International (2018), Schneider und Boockmann (2018). 5
Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand Mehr Transfer als Stabilität? Abbildung 2: Wirtschaftliche Lage in ausgewählten Mitgliedstaaten * Prognosewerte Quelle: Europäische Kommission. 210 2,0 Staatliche Schuldenquote (2017) Staatlicher Finanzierungssaldo (2017) 180 (in Prozent des BIP) 1,0 (in Prozent des BIP) 150 0,0 Maastricht-Kriterium 120 -1,0 90 -2,0 60 -3,0 30 -4,0 Maastricht-Kriterium 0 -5,0 Deutschland Frankreich Spanien Portugal Italien Griechenland Deutschland Griechenl. * Portugal* * Italien Frankreich * Spanien * 30 25 Produktivitätswachstum (1999–2017) Arbeitslosenquote (2017) 25 (je Arbeitsstunde, kumulative Veränderung in Prozent) 20 (in Prozent der Erwerbspersonen) 20 15 15 10 10 5 5 0 0 Deutschland Frankreich Spanien Portugal Griechenl. Italien Deutschland Portugal Frankreich Italien Spanien Griechenl. Auch ökonomische Indikatoren wie die Arbeitslosenquo- entgegen der Hoffnung, mit der Euro-Einführung würden sich te oder das Produktivitätswachstum nehmen in den südeu- die Mitgliedstaaten wirtschaftlich stärker einander annähern ropäischen Mitgliedstaaten kritische Größen an (vgl. Abbil- – kein Catching-up-Prozess statt.6 dung 2). Wirtschaftliche Konvergenz und eine Angleichung Studien zur Entwicklung der ökonomischen Integrati- der Konjunkturzyklen werden hierdurch erschwert. Berech- onstiefe der Mitgliedstaaten, die neben der ökonomischen nungen der Europäischen Zentralbank (EZB) belegen, dass Konvergenz auch die wirtschaftlichen Verflechtungen, die in den „alten“ Mitgliedstaaten der Eurozone die reale Konver- Symmetrie der Konjunkturzyklen und die Regeleinhaltung der genz der Pro-Kopf-Einkommen seit Anfang der 1990er Jahre Mitgliedstaaten berücksichtigen und in einem Indikator – dem stagniert und seit Beginn der Krise insgesamt sogar rückläu- EU-Integrationsindex – zusammenfassen, zeichnen gleichsam fig ist (vgl. Abbildung 3).5 Der Internationale Währungsfonds ein ernüchterndes Bild der europäischen Integration. Hier- (IWF) kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es zwischen bei wird deutlich, dass sich eine als „Kerneuropa“ geltende den Mitgliedstaaten, die bis 2002 dem Euro beigetreten sind, Ländergruppe von sechs Staaten (Deutschland, Österreich, insgesamt keine Angleichung in der Wirtschaftsleistung und Finnland, Niederlande sowie mit etwas Abstand Belgien und der Produktivität gegeben hat, sondern dass innerhalb dieser Frankreich) von den südeuropäischen Mitgliedstaaten wirt- Gruppe divergierende Entwicklungen eingetreten sind. In Ita- schaftlich und integrationsspezifisch entfernt hat. Ein Europa lien beispielsweise ist das reale Pro-Kopf-Einkommen aktuell der „mehreren Geschwindigkeiten“ scheint längst Realität ge- sogar niedriger als vor 20 Jahren und die reale Arbeitspro- worden zu sein. Dies stellt sowohl vergangene als auch künf- duktivität ist seit 1999 kaum gewachsen. Auch hier fand – tige Integrationsschritte für einige Mitgliedstaaten in Frage.7 5 Vgl. Diaz del Hoyo et al. (2017). 6 Vgl. Franks et al. (2018). 7 Vgl. König und Ohr (2013), König (2017). 6
Mehr Transfer als Stabilität? Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand Fiskalische Belastungen durch kommt im Durchschnitt nochmals etwa das 1,5-fache der offiziell ausgewiesenen Schulden auf einen Staat hinzu. Insbesondere die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen ist in In einigen Mitgliedstaaten wie Spanien beträgt die implizite den südeuropäischen Mitgliedstaaten bedroht. Die staatliche Verschuldung gar das Fünffache der expliziten Schuldenquo- Verschuldung beträgt in Portugal, Italien und Griechenland te.9 Italien hat sich in diesem Aspekt zwar durch Rentenre- sogar das Zwei- bis Dreifache dessen, was gemäß der Ver- formen in den vergangenen Jahrzehnten positiv hervorgetan. einbarung im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt Jedoch legen die vollmundigen Wahlversprechen der italie- vereinbart ist (vgl. Abbildung 2). Mit einer öffentlichen Schul- nischen Parteien nahe, dass die Reformen wieder rückgängig denquote von über 130 Prozent des BIP und einem Volumen gemacht und weitere Ausgaben auf den italienischen Staat von rund 2,3 Billionen Euro stellt Italien das vermutlich größte zukommen werden.10 Stabilitätsrisiko für die Eurozone dar. Nur mithilfe künstlich An der kurzfristigen Bedienung von Wählerinteressen gedrückter Refinanzierungskosten oder einkalkulierter Um- zulasten der fiskalischen Nachhaltigkeit haben auch die wei- schuldungsszenarien können hochverschuldete Staaten wie terentwickelten europäischen Fiskalregeln nichts ändern kön- Italien oder Griechenland offiziell langfristig tragfähig gerech- nen. Im Gegenteil: Die Regeln wurden in den vergangenen net werden.8 Jahren immer komplexer und es wurden beträchtliche Er- Hinzu kommen in fast allen europäischen Staaten fis- messensspielräume eröffnet. Die Implementierung ist kaum kalische Belastungen durch die Bevölkerungsalterung. Hier- noch nachvollziehbar und es besteht der Eindruck, dass die Abbildung 3: Maastricht- Euro- Beginn der Reale Konvergenz Vertrag Enführung Finanzkrise 30 in den „alten“ Euro- und EU-Staaten 28 Quelle: Diaz del Hoyo et al. (2017). 26 24 22 20 Stagnation 18 16 Divergenz 14 Konvergenz 12 10 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 Standardabweichung des BIP pro Kopf für die Eurozone-12 Standardabweichung des BIP pro Kopf für die EU-15 8 Vgl. Internationaler Währungsfonds (2017a, 2017b). 9 Vgl. Peters, Raffelhüschen und Reeker (2018). Grob gesprochen geben implizite Staatsschulden an, in welchem Umfang die in der Zukunft liegenden, maßgeb- lich durch heutige (ungedeckte) Leistungsversprechen determinierte, Staatsausgaben zu Haushaltsdefiziten führen werden, wenn das gegenwärtige Steuer- und Abgabenniveau beibehalten wird. 10 Vgl. Spiegel Online vom 01.03.2018: „Wahl in Italien – Mit den Clowns kommen die Schulden“. 7
Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand Mehr Transfer als Stabilität? Abbildung 4: 157 Umsetzung des 160 141 Europäischen Semesters 138 140 Quelle: Europäische Kommission. 118 120 102 100 89 78 80 60 40 20 12 12 10 7 4 n.a. 3 1 0 0 2 0 1 0 0 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Länderspezifische Empfehlungen „Substantieller Fortschritt“ „Vollständig umgesetzt“ Regelauslegung aus einem politischen Verhandlungsprozess Steigende Haftungsrisiken zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kom- mission resultiert.11 Seit Bestehen der Eurozone hat es weit Im Zuge der Finanz- und Schuldenkrise sind innerhalb der mehr als 100 Überschreitungen der Defizitgrenze des Sta- Wirtschafts- und Währungsunion erhebliche Haftungsrisiken bilitäts- und Wachstumspaktes gegeben. Sanktioniert wurde entstanden. Dies ist einerseits durch die internationalen Hilfs- jedoch kein einziges Mal, obwohl etwa zwei Drittel der Über- kredite begründet, die seit 2010 an fünf Euro-Staaten gezahlt schreitungen nicht konjunkturell bedingt und somit prinzipiell wurden – zunächst unter der temporären Europäischen Fi- sanktionsfähig gewesen wären. Diese gering ausgeprägte nanzstabilisierungsfazilität (EFSF) sowie dem nachgefolgten Staatscompliance auf europäischer Ebene führt dazu, dass und dauerhaft eingesetzten Europäischen Stabilitätsmecha- die Glaubwürdigkeit und Bindungswirkung der Regeln massiv nismus (ESM). Der größte Anteil der bislang ausgezahlten beschädigt werden. 389 Milliarden Euro hat die EFSF mit Darlehen von insgesamt Gleichsam unmotiviert zeigen sich die Mitgliedstaaten 185,5 Milliarden Euro an die Programmländer Griechenland, bei der Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen im Portugal und Irland zwischen 2011 und 2014 ausgezahlt (vgl. Rahmen des Europäischen Semesters. Von den seit 2011 Abbildung 5). Davon gingen mehr als 140 Milliarden Euro al- insgesamt 823 ausgesprochenen länderspezifischen Emp- lein nach Griechenland, das seine EFSF-Kredite erst bis zum fehlungen haben die Mitgliedstaaten lediglich 11 Empfeh- Jahr 2056 vollständig zurückgezahlt haben muss. lungen (oder 1,3 Prozent) vollständig umgesetzt, davon in Der im Jahr 2013 entgegen ursprünglicher Verspre- den vergangenen vier Jahren sogar keine einzige. Daneben chungen dauerhaft implementierte ESM hat seither weitere sank auch stetig die Anzahl der jährlich erreichten „substanti- 87,8 Milliarden Euro an Hilfsgeldern ausgezahlt, wovon 41,3 ellen Fortschritte“ (vgl. Abbildung 4). Milliarden Euro an Spanien, 40,2 Milliarden Euro an Grie- 11 Vgl. Deutsche Bundesbank (2017). 8
Mehr Transfer als Stabilität? Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand chenland und 6,3 Milliarden Euro an Zypern gingen. Die EZB teuer erkauft. Durch historisch niedrige Zinsen und „un- Finanzierungsanteile am Kapital des ESM ergeben sich für konventionelle geldpolitische Maßnahmen“ sind mindestens die Mitgliedstaaten aus ihrem Anteil am Kapital der EZB. drei erhebliche Nebenwirkungen entstanden. Erstens hat Deutschland haftet entsprechend für 27 Prozent der ausste- die EZB die bislang gekannte Lenkungsfunktion des Zinses henden Kredite und ist somit den größten Risiken ausgesetzt. auf den Kopf gestellt: Sparen wird durch Null- und Negativ- Insbesondere dem aktuellen ESM-Programm für Grie- zinsen tendenziell „bestraft“, während Verschulden finanziell chenland ist im ersten Halbjahr 2015 eine politische Farce „belohnt“ wird. Dies führt nicht nur zu Schwierigkeiten bei vorausgegangen.12 Vorübergehender „Höhepunkt“ war die Sparern, die allein in Deutschland zwischen 2010 und 2016 offizielle Zahlungsunfähigkeit Griechenlands gegenüber dem entgangenen Zinseinkünfte in Höhe von 344 Milliarden Euro IWF im Sommer 2015. Trotz des Zahlungsausfalls, der auf- zu beklagen hatten,13 sondern auch zu steigenden Gefahren grund der strukturellen Probleme in Griechenland weit mehr für die Finanzstabilität. Anhaltend niedrige Zinsen höhlen die als ein vorübergehender Liquiditätsengpass war, haben die Ertragslage von Banken und Versicherungen aus, führen zu Euro-Staaten dem griechischen Staat ein weiteres ESM-Pro- einer Erosion des Eigenkapitals und setzen den Marktteilneh- gramm bis August 2018 gewährt. Seit diesem Vertrauens- mern falsche Anreize zu einer erhöhten Risikoübernahme. Je verlust steht eine finanzielle Beteiligung seitens des IWF am länger diese Phase anhält, desto höher sind die Risiken einer ESM-Programm nach wie vor aus, obwohl dies dem Deut- erneuten Finanzkrise.14 schen Bundestag von der Bundesregierung als Bedingung für Zweitens bewirken die massiven Anleihekäufe der EZB weitere Hilfszahlungen an Griechenland zugesichert wurde. im Rahmen ihres laufenden „Public Sector Purchase Pro- Andererseits haben sich enorme Risiken durch die an- grammes“ (PSPP), dass innerhalb des Eurosystems erheb- haltende Krisenpolitik der EZB gebildet. Einen erheblichen liche Haftungsrisiken aufgebaut werden. Das Volumen der Anteil am eingangs gezeigten konjunkturellen Aufschwung Zentralbankbilanz der EZB hat sich gegenüber Ende 2014 hat sich die Eurozone durch die ultra-lockere Geldpolitik der auf inzwischen fast 4,5 Billionen Euro mehr als verdoppelt, Abbildung 5: Ausgezahlte Finanzhilfen für die Euro-Staaten 15,9 seit 2010 (in Mrd. Euro) 52,9 87,8 Quellen: ESM, BMF, ifo Institut. ESM EFSF 46,8 Insgesamt: EFSM 389 Mrd. € Bilateral IWF 185,5 12 Vgl. König (2016a). 13 Vgl. DZ Bank AG (2017). 14 Vgl. Stiftung Marktwirtschaft (2017). 9
Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand Mehr Transfer als Stabilität? Abbildung 6: 5.000 Bilanzsumme der Mai 2010: Juli 2012: März 2015: Beginn der SMP- „whatever it takes“- Beginn der PSPP- Europäischen Zentralbank Anleihekäufe Rede von Mario Draghi Anleihekäufe (in Mrd. Euro) 4.000 Quelle: Europäische Zentralbank. 3.000 2.000 1.000 0 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Bilanzsumme insgesamt Wertpapiere für „geldpolitische Zwecke“ der Bestand an Wertpapieren für „geldpolitische Zwecke“ be- roraum sind die TARGET-Verbindlichkeiten vor allem in den trägt mittlerweile rund 2,3 Billionen Euro (vgl. Abbildung 6). südeuropäischen Mitgliedstaaten enorm gestiegen. Die Ver- Nach aktuellen Studien handelt es sich dabei zunehmend um bindlichkeiten haben in einigen Staaten wie Italien und Spani- Anleihen hoch verschuldeter Staaten wie Italien, das beson- en mit jeweils rund 400 Milliarden Euro inzwischen eine Höhe ders stark durch die Anleihekäufe begünstigt und in seiner erreicht, die diesen Staaten ein erhebliches Ausfall-Erpres- Finanzierung davon abhängig geworden ist.15 Die Anleihe- sungspotential einräumen. Denn die den Verbindlichkeiten käufe werden nicht proportional zum EZB-Kapitalschlüssel gegenüberstehenden Forderungen müssten bei einem Euro- auf die Mitgliedstaaten verteilt. Durch die Anleihekäufe sind Austritt oder Staatsbankrott vom betroffenen Staat geltend die Notenbanken des Eurosystems inzwischen zu den größ- gemacht werden. Die Erfolgsaussichten auf eine Rückzah- ten Gläubigern der Euro-Staaten geworden. Somit steigt das lung der unverzinslichen TARGET-Kredite dürften in einem Risiko, dass bei idiosynkratischen Schocks künftig das ge- solchen Fall sehr begrenzt sein. Am meisten zu verlieren hat samte Eurosystem von einem Zahlungsausfall betroffen sein diesbezüglich Deutschland mit ausstehenden Forderungen könnte. Die EZB steht zunehmend im Verdacht, auf Kosten von mehr als 900 Milliarden Euro (vgl. Abbildung 7). ihrer politischen Unabhängigkeit sowie entgegen ihrem Man- Drittens können Anleihekäufe der EZB zu fatalen Anreiz- dat monetäre Staatsfinanzierung zu betreiben.16 wirkungen in den Reform- und Konsolidierungsbemühungen Die Risikoschieflage im Eurosystem spiegelt sich auch der Euro-Staaten führen. Modellrechnungen der EZB zeigen, in den TARGET-Salden der Mitgliedstaaten wider. Über das dass sowohl die Anleihekäufe als auch deren Ankündigung TARGET-System werden grenzüberschreitende Zahlungen einen merklich reduzierenden (d.h. marktverzerrenden) Effekt zwischen den Notenbanken abgewickelt. TARGET-Verbind- auf die langfristigen Zinsen für Staatsanleihen der Eurozone lichkeiten entstehen beispielsweise durch Leistungsbilanz- haben.18 Die wohl bekannteste Ankündigung in diesem Zu- defizite, denen nicht mehr genügend private Kapitalflüsse sammenhang ist diejenige von EZB-Präsident Mario Draghi gegenüberstehen (z.B. durch Kapitalflucht) sondern neu vom 26. Juli 2012, dass der Euro mit allen Mitteln („whatever geschaffene Zentralbankgelder die Kapitalbereitstellung it takes“) geschützt wird. Europaweit sind die Langfristzinsen übernehmen. Dies wird auch als Kreditersatzpolitik der EZB von damals durchschnittlich über vier Prozent auf etwa ein kritisiert.17 Seit Beginn der Finanz- und Schuldenkrise im Eu- Prozent Anfang 2018 gesunken. Künstlich gedrückte Refi- 15 Vgl. Heinemann (2018). 16 Vgl. Kronberger Kreis (2016). 17 Vgl. Sinn und Wollmershäuser (2011). 18 Vgl. Europäische Zentralbank (2017), Praet (2017). 10
Mehr Transfer als Stabilität? Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand Abbildung 7: 1.000 Entwicklung ausgewählter TARGET-Salden im Euro- system (in Mrd. Euro) 800 Quelle: Europäische Zentralbank. 600 400 200 0 08 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 -200 -400 Deutschland -600 Italien Spanien -800 Portugal Griechenland -1.000 nanzierungskosten verzerren jedoch die länderspezifische Ri- zeigen in der Tat, dass der Reformeifer der Mitgliedstaaten sikobepreisung und setzen die marktdisziplinierende Wirkung seit 2012 stark nachgelassen hat und inzwischen so niedrig des Kapitalmarkts außer Kraft. Aktuelle Analysen der OECD ist wie vor der Krise (vgl. Abbildung 8).19 Abbildung 8: 50 Reformeifer in den Mitgliedstaaten 40 (in Prozent) Der Reformeifer in den Mitglied- 30 staaten wird von der OECD ge- messen als Anteil verabschiedeter Gesetze an zuvor identifizierten 20 Reformempfehlungen. Quelle: OECD (2017). 10 0 Reformeifer insgesamt Reformeifer zu Stärkung Reformeifer zu Stärkung der Arbeitsproduktivität der Arbeitsauslastung 2007-08 2011-12 2013-14 2015-16 19 Vgl. OECD (2017). 11
Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand Mehr Transfer als Stabilität? Risiken im Finanzsektor diese als systemrelevant gelten. Fällt die finanzielle Rettungs- aktion entsprechend groß aus, schlägt sich dies negativ in Schließlich stellen auch die Bilanzen europäischer Privat- den Anleihebedingungen des Staates nieder. Wenn anders- banken ein erhöhtes Stabilitätsrisiko für die Eurozone dar. Die herum Staaten in finanzielle Nöte geraten, beispielsweise auf- Bankensektoren vor allem in Südeuropa werden nach wie vor grund einer zu hohen staatlichen Verschuldung, dann sind durch hohe Bestände an notleidenden Krediten (Non-Perfor- zeitgleich diejenigen Banken von Ausfallrisiken betroffen, die ming Loans, NPL) belastet (vgl. Abbildung 9). Griechenland große Bestände von Anleihen dieser Staaten besitzen und weist dabei die höchste Rate an NPL auf. Fast die Hälfte der somit „Klumpenrisiken“ aufweisen. In der Regel trifft dies griechischen Kredite im Privatbankenbereich sind notleidend, durch den sogenanntenn „Home-Bias“-Effekt auf die jewei- da sie mehr als 90 Tage überfällig sind und eine vollständige ligen heimischen Akteure besonders stark zu. Rückzahlung ohne Verwertung von Sicherheiten unwahr- Problematisch ist diese enge Verflechtung auch, weil das scheinlich ist. Die italienischen Banken haben rund 200 Mil- neue Abwicklungsregime für Banken im Euroraum erste Be- liarden Euro an ausfallgefährdeten Krediten in ihren Bilanzen währungsproben nur bedingt bestanden hat. Von mehreren – das ist knapp ein Viertel aller NPL der gesamten Eurozo- insolventen Banken in Südeuropa wurde nur die spanische ne. Zwar hat sich die Situation in Italien in den vergangenen Banco Popular Espanol auf europäischer Ebene wie in den Monaten verbessert, dies ist jedoch vor allem auf einmalige Regeln vorgesehen abgewickelt. Die italienische Bank Monte Abschreibungen in den Bankbilanzen zurückzuführen. Die dei Paschi di Siena wurde hingegen mit Hilfe einer Rekapi- jüngste positive Entwicklung der NPL in den italienischen talisierung durch den italienischen Staat am Leben erhalten. Bankbilanzen ist demzufolge trügerisch.20 Italien hatte vor einem Bail-in der Anteilseigner zurückge- Dies ist insofern problematisch, als dass der seit Beginn schreckt, unter anderem weil dies überwiegend Kleinanleger der Finanzkrise deutlich gewordene Staaten-Banken-Nexus getroffen hätte. Zwei venezianische Banken wurden zudem trotz der Errichtung einer Europäischen Bankenunion noch auf Basis des italienischen Rechts behandelt, wodurch ein nicht durchbrochen ist. Bei diesem Nexus besteht eine sehr ansonsten erforderlicher Bail-in vorrangiger Gläubiger ver- enge finanzielle Verflechtung von Staaten und Banken, die mieden wurde.21 Auch hier zeigt sich wieder einmal, dass einen möglichen Teufelskreis impliziert. In einer Krise werden zuvor vereinbarte europäische Regeln im Ernstfall aus nati- private Banken beispielsweise aufgrund einer zu geringen Ei- onalen politökonomischen Beweggründen gebrochen oder genkapitalausstattung mit staatlichen Geldern gerettet, wenn zumindest extrem strapaziert werden. 46,6% Abbildung 9: 50 (106,3 Mrd. €) Notleidende Kredite im Euroraum Notleidende Kredite in Prozent 40 des Kreditportfolios. Quelle: EBA, Risk Dashboard, 30 Data as of Q3 2017. 16,7% 20 (33,0 Mrd. €) 11,8% (196,0 Mrd. €) 10 4,8% 3,2% 2,1% (111,8 Mrd. €) (137,8 Mrd. €) (54,4 Mrd. €) 0 Deutschland Frankreich Spanien Italien Portugal Griechenland 20 Vgl. Gehringer (2018). 21 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2017). 12
Mehr Transfer als Stabilität? Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion 3 Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion Eine stabilitätsorientierte Europapolitik sollte sich an beste- rufen sowie eine Lohn-Preis-Spirale mit destabilisierenden henden europäischen Regeln und grundlegenden marktwirt- Folgen in Gang setzen kann. Insofern ist es für den bestän- schaftlichen Prinzipien orientieren. Hervorzuheben sind vor digen Erfolg einer Währungsunion entscheidend, dass allem: • die Sicherung der Geldwertstabilität oberstes Ziel der Zen- • das Haftungsprinzip, tralbank ist, • das Binnenmarktprinzip, • die Unabhängigkeit der Zentralbank von der Politik stets • das Subsidiaritätsprinzip. gewährleistet wird, • eine monetäre Staatsfinanzierung durch die Zentralbank verboten ist. 3.1 Haftungsprinzip In der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion So wie eine freie Marktwirtschaft nur funktionieren kann, sind zwar formal alle drei Bedingungen klar geregelt. Die Er- wenn Unternehmer für die Folgen ihrer Handlungen einste- fahrungen der vergangenen Jahre haben jedoch erhebliche hen, kann eine Währungsunion mit souveränen Staaten dau- Zweifel an einer strikten Einhaltung der Regeln durch die erhaft nur Bestand haben, wenn Staaten die Verantwortung EZB aufkommen lassen.23 Eine bloße de jure Erfüllung der für ihre Entscheidungen selbst tragen. Andernfalls führt eine Bedingungen reicht jedoch nicht aus, da für die Wirkung der Mithaftung der anderen Staaten langfristig zu wenig ver- Regeln die de facto Einhaltung von zentraler Bedeutung ist. antwortungsbewussten, fiskalisch nicht nachhaltigen und Dadurch würde das Haftungsprinzip gestärkt werden. Eine gegenüber der Staatengemeinschaft unsolidarischen natio- Verlagerung fiskalischer Probleme auf die Geld- und Wäh- nalen Politiken. Die Gewährleistung des Haftungsprinzips als rungspolitik der Zentralbank wäre dann nicht mehr möglich ein konstituierendes Element der sozialen Marktwirtschaft und die Mitgliedstaaten müssten die Folgen ihrer Politik ei- sorgt somit für verantwortungsvolle Entscheidungen in den genverantwortlich tragen. Mitgliedstaaten.22 Abwälzungsmöglichkeiten einer nationalen Verschul- Der erforderliche Einklang von Handlung und Haftung dungspolitik sind zum anderen auch dann gegeben, wenn gilt in besonderem Maße für die Solidität und Stabilität der von der Staatengemeinschaft attestiert wird, dass das Staatsfinanzen. Die bei Staaten ohnehin bestehende Ver- Fortbestehen der gesamten Währungsunion durch den schuldungsneigung ist in einer Währungsunion noch stär- Einzelfall in Gefahr sei. Darauffolgende finanzielle Rettungs- ker ausgeprägt, da sich die negativen Folgen übermäßiger programme für die betroffenen Staaten (und Banken) neh- Verschuldung einfacher auf die anderen Mitgliedstaaten ab- men die Steuerzahler der übrigen Mitgliedstaaten in eine wälzen lassen. Der Druck zu eigenverantwortlichem Handeln erpresserische Solidarhaftung. Insofern ist es entscheidend, wird hierdurch reduziert. Die Abwälzungsmöglichkeit national dass solche Rettungsmaßnahmen, wenn überhaupt, nur bei bedingter Kosten und Risiken auf die Gemeinschaft ist zum einem kurzfristigen Liquiditätsproblem des Mitgliedstaates einen dann gegeben, wenn politischer Druck einiger Mitglied- sowie zeitlich begrenzt und mit Auflagen versehen vergeben staaten dazu führt, dass die gemeinsame Zentralbank ihre werden. Erfolgt ein Rettungsprogramm hingegen zugunsten Geld- und Währungspolitik nicht mehr am Durchschnitt der eines Mitgliedstaates, dessen Schuldenlast langfristig nicht Mitgliedstaaten, sondern an einzelstaatlichen Entwicklungen tragfähig erscheint, läuft die Kreditvergabe auf einen dauer- orientiert. Im Überschuldungsfall einzelner Staaten führt dies haften Transfer hinaus, das dem Haftungsprinzip entgegen- zu einer extrem expansiven Politik der Zentralbank, die mit läuft und die Anreize für wirkungsvolle Reformmaßnahmen ausgeprägten und lang anhaltenden Zinssenkungen, Anlei- senkt. Solche Hilfen verstoßen gegen die Nicht-Beistands- hekäufen und Währungsabwertungen zwar die fiskalische klausel (Art. 125 AEUV) der EU, die es den europäischen In- Last der hochverschuldeten Staaten reduziert, für die mit- stitutionen sowie den Mitgliedstaaten verbietet, für Verbind- tel- und langfristige Preisniveaustabilität der fiskalisch solide lichkeiten eines anderen Mitgliedstaates zu haften. Dies soll handelnden Mitgliedstaaten aber kontraproduktiv wirkt und den Staaten einen Anreiz zu verantwortungsvoller Finanz- gefährliche Blasenbildungen an den Finanzmärkten hervor- politik setzen. 22 Zu den konstituierenden Prinzipien einer Marktwirtschaft siehe Eucken (1952). 23 Vgl. Kronberger Kreis (2016). 13
Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion Mehr Transfer als Stabilität? Hilfsmaßnahmen im Rahmen eines ESM-Programms lungsstärkendes Argument für die potentiell mithaftenden sehen deshalb vor, dass die Kredithilfen nur als Übergangsfi- Mitgliedstaaten und zum anderen als effektive Möglichkeit für nanzierung gewährt und grundsätzlich nur an langfristig sol- den überschuldeten Staat, über eine Abwertung der eigenen vente Staaten vergeben werden dürfen – und dies auch nur Währung die preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und dann, sofern das Eurosystem als Ganzes gefährdet ist. Ins- die Folgen der Krise kurzfristig abzumildern.25 besondere die Erfahrungen in der Griechenlandkrise haben Im besten Fall würde durch die genannten Maßnahmen jedoch gezeigt, dass von den selbst auferlegten ESM-Kondi- und weitere Maßnahmen zur Stärkung des Haftungsprinzips tionen abgewichen und die Nicht-Beistandsklausel unterlau- eine markt- und wählerdisziplinierende Wirkung einsetzen, fen wird.24 So hatte der griechische Staat bei der Gewährung die eine selbst verantwortete extreme Verschuldung von des dritten Hilfsprogramms im Sommer 2015 Staaten ausschließt und eigenverantwortliches Handeln in den Vordergrund rückt. • schon seit fünf Jahren an diversen finanziellen Rettungs- maßnahmen teilgenommen, 3.2 Binnenmarktprinzip • bereits einen Schuldenschnitt im Frühjahr 2012 ohne blei- bende Wirkung erhalten, • seine Kreditzahlungen an den Internationalen Währungs- Gemäß der Theorie optimaler Währungsräume ist es für die fonds (IWF) nicht mehr leisten können, Effizienz einer Währungsunion entscheidend, dass zur Ab- • vom IWF attestiert bekommen, dass seine Schuldentrag- federung makroökonomischer Schocks voll integrierte Fak- fähigkeit nicht mehr gegeben ist, tormärkte vorhanden sind.26 Aufgrund des Wegfalls der na- • in seiner Schuldenstruktur keine Anzeichen auf mögliche tionalen Geldpolitik sowie des Wechselkurses als ein schnell Ansteckungseffekte für die Eurozone. reagierender Anpassungsmechanismus sollte sichergestellt sein, dass sich notwendige Anpassungen über andere Markt- Vor diesem Hintergrund sollte für eine Stärkung des Haf- mechanismen vollziehen können. Eine flexible Lohn- und tungsprinzips eine staatliche Insolvenzordnung in die Wirt- Preisbildung sowie eine freie grenzüberschreitende Arbeits- schaftsordnung des Eurosystems integriert werden. Eine für und Kapitalmobilität sind hierbei maßgeblich. alle Seiten vorab verlässliche Regelung würde einerseits den Für die Theorie der Endogenität optimaler Währungs- Regierungen und Wählern in den Schuldnerstaaten signali- räume ist es zudem entscheidend, dass ein höherer Grad der sieren, dass eine verschwenderische Politik langfristig zu er- Konjunktursymmetrie über eine verstärkte Verflechtung der heblichen nationalen Einschnitten führen kann. Andererseits handelbaren Gütermärkte erreicht wird.27 Dem europäischen würde es den Gläubigern verdeutlichen, dass auch sie eigen- Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten – freier Verkehr verantwortlich die Ausfallrisiken in ihrer Investitionsentschei- von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital – kommt dung berücksichtigen müssen. Gleichzeitig sollten Staatsan- dabei eine besondere Bedeutung zu. Ein freier Handel und leihen von den Regularien her als grundsätzlich risikobehaftet eine unbeschränkte Mobilität der Produktionsfaktoren si- eingeschätzt werden und zur Folge haben, dass sie mit risi- chern die wohlfahrtsfördernden Effekte der internationalen koadäquatem Eigenkapital unterlegt werden müssen. In letz- Arbeitsteilung und Spezialisierung auf komparative Vorteile. ter Konsequenz sollte auch ein Austritt aus der Währungs- Eine effiziente Wettbewerbsordnung sollte zudem gewähr- union für den stets unsolidarisch handelnden Mitgliedstaat leisten, dass freiheitliche Märkte vor Marktmacht geschützt als umsetzbare Option bestehen – zum einen als verhand- werden. 24 Vgl. König (2016a). 25 Vgl. König (2016b). 26 Vgl. Mundell (1961), McKinnon (1963). 27 Vgl. Frankel und Rose (1997). 14
Mehr Transfer als Stabilität? Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion Gleichwohl lassen sich vom Binnenmarktprinzip keine Gemäß der ökonomischen Theorie des Fiskalföde- Notwendigkeit von umfangreichen Harmonisierungen und ralismus sollte eine dezentrale Bereitstellung öffentlicher Vereinheitlichungen von Politikbereichen ableiten. Dies käme Leistungen angestrebt werden, wenn die politischen Prä- einer Pervertierung des Binnenmarktprinzips gleich, wie ferenzen zwischen den Mitgliedstaaten stark voneinander der ehemalige EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein abweichen.29 Unterschiedliche Präferenzen lassen sich mahnt.28 Die Praxis sieht jedoch anders aus. Statt den Ab- schließlich nicht politisch homogenisieren. So kann die wirt- bau von Handelshemmnissen weiter voranzutreiben, werden schaftliche, politische und kulturelle Vielfalt der Regionen missbräuchlich im Namen des Binnenmarktes durch immer besser berücksichtigt und das staatliche Handeln an den stärkere Regulierungen und Mindeststandards erneut nicht- lokalen Präferenzen adäquat ausgerichtet werden. Zugleich tarifäre Handelshemmnisse errichtet. Dies gefährdet vor allem gewährleisten dezentrale Entscheidungen – bei Abwesenheit den ökonomischen Aufholprozess der wirtschaftlich schwä- regionaler externer Effekte (regionaler Spillover) und Ska- cheren Mitgliedstaaten, da die meisten Regulierungsschritte lenerträge –, dass Nutznießer, Zahler und politische Entschei- den preislichen Standortvorteil dieser Staaten einschränken der (bzw. Wähler) der staatlichen Leistung übereinstimmen und als protektionistische Maßnahmen zum Vorteil der wohl- und eine Leistungsgerechte Finanzierung stattfindet (Prinzip habenden Länder interpretiert werden können (vgl. Entsen- der fiskalischen Äquivalenz). Bürgernähe und demokratische derichtlinie). Europäische Harmonisierungsbestrebungen, Kontrolle werden gestärkt und Moral-Hazard-Probleme ge- wie sie derzeit bei der Körperschaftsteuer angestrebt wer- mindert. Zudem geht von einem dezentralen Ansatz ein Sys- den, beeinträchtigen aber auch den Standortwettbewerb und temwettbewerb aus, bei dem ein gegenseitiges voneinander die nationalen Handlungsmöglichkeiten wirtschaftlich starker Lernen gefördert wird. Beispielhaft für eine sinnvolle dezen- Staaten wie Deutschland. trale Bereitstellung in der EU sind die Arbeits- und Sozialpoli- Insofern wäre es von zentraler Bedeutung, den euro- tik sowie die Fiskalpolitik, aber auch die seit Jahrzehnten auf päischen Binnenmarkt als Fundament der europäischen europäischer Ebene praktizierte Agrarpolitik. Integration wieder stärker in den Fokus der europäischen Wenn hingegen grenzüberschreitende externe Effekte Integrationsdebatte zu stellen und von übereilten Regulie- auftreten oder Kostenreduktionen durch Skaleneffekte reali- rungsschritten abzusehen. sierbar sind, sollte die Bereitstellung öffentlicher Leistungen auf zentraler bzw. supranationaler Ebene erfolgen. Durch Kooperation sollten grenzüberschreitende externe Effekte 3.3 Subsidiaritätsprinzip entsprechend internalisiert werden, sodass der Verursacher die Kosten der Externalität in der Produktion berücksichtigen Bei der Verlagerung von politischen Kompetenzen auf die muss. Dies kann beispielsweise in der Klimapolitik ange- europäische Ebene sollte das Prinzip der Subsidiarität hand- bracht sein. Soweit öffentliche Leistungen ohne Rivalisierung lungsleitend sein, wie es in Art. 5 des EU-Vertrages als Grund- im Konsum genutzt werden können, lassen sich grenzüber- prinzip verankert ist. Demnach darf die EU in den Bereichen, schreitende Kostenreduktionen durch Skaleneffekte erzielen. die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur dann Dies ist beispielsweise in der Verteidigungspolitik der Fall. Da tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht die Vorteilhaftigkeit eines gemeinsamen Binnenmarktes auch gezogenen Maßnahmen weder auf nationaler noch auf re- von den grenzüberschreitenden Freiheitsgraden der Märkte gionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden abhängt, ist eine den freien Wettbewerb schützende Binnen- können und auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. marktpolitik auf zentraler Ebene anzusiedeln. 28 Vgl. Bolkestein und Gerken (2007). 29 Vgl. Oates (1972). 15
Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion Mehr Transfer als Stabilität? Abbildung 10: Grenzüberschreitende Externalitäten, Wann sich Koordination Skaleneffekte in Europa lohnt Koordination erstrebenswert Koordination bedingt erstrebenswert Quelle: Eigene Darstellung in An- lehnung an Alesina et al. (2005), Wettbewerbspolitik, Sachverständigenrat (2016) und Handelspolitik, Regional- und Strukturpolitik, Berthold (2017). Klimapolitik, Verteidigungs- Währungspolitik und Sicherheitspolitik Heterogene Präferenzen, Systemwettbewerb Arbeitsmarktpolitik, übrige Politikbereiche Sozialpolitik, wie Agrarpolitik Transferpolitik Koordination überflüssig Koordination wenig erstrebenswert Abbildung 10 gibt einen Überblick darüber, welche Po- durch die Europäische Kommission zu erkennen. Aufschluss- litikbereiche eher auf europäischer Ebene anzusiedeln sind reich ist hierbei im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren das und welche Bereiche besser in der Kompetenz der Mitglied- Verhältnis von Richtlinien zu Verordnungen. Richtlinien bedür- staaten verbleiben sollten. Innerhalb der einzelnen Bereiche fen der Umsetzung in nationales Recht und beinhalten folg- muss jedoch stets differenziert werden, da beispielsweise lich einen gewissen Umsetzungsspielraum für die nationalen weder lokale Gewaltakte noch regionale Umwelteffekte eine Parlamente, während Verordnungen für die Nationalstaaten internationale Koordinierung oder gar Bereitstellung notwen- unmittelbar gelten und somit für die Kommission, die das digerweise erforderlich machen. Die im EU-Vertrag formu- Initiativrecht besitzt, wirkmächtiger sind. Während vor zwei lierte Absicht, eine „immer engere Union der Völker Europas“ Jahrzehnten Richtlinien das Gesetzgebungsverfahren domi- herbeizuführen, sollte daher nicht dahingehend ausgelegt nierten, ist seit dem Jahr 2010 ein Trend zu wesentlich mehr werden, im Zweifel immer mehr Kompetenzen auf die euro- Verordnungen in Relation zu den Richtlinien zu erkennen. Der päische Ebene zu verlagern. Verordnungsanteil ist seit dem Jahr 2000 von etwa 30 Prozent Es ist allerdings eine Tendenz zur Kompetenzaneignung auf inzwischen über 80 Prozent gestiegen (vgl. Abbildung 11). Abbildung 11: 100 Anteil der Verordnungen 90 und Richtlinien im 80 ordentlichen Gesetz- gebungsverfahren 70 (in Prozent) 60 Quellen: Centrum für Europä- 50 ische Politik (2017), Europäische 40 Kommission. 30 20 10 0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Verordnungsanteil Richtlinienanteil 16
Mehr Transfer als Stabilität? Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion Entsprechend kommt der Wahrung des Subsidiaritäts- züglich große Unterschiede auftreten. Während Schweden prinzips eine zentrale Bedeutung zu. Den nationalen Parla- in den vergangenen acht Jahren rund 140 Mal Subsidiari- menten steht diesbezüglich das Mittel der sogenannten Sub- tätsrügen ausgesprochen hat, kommt Deutschland lediglich sidiaritätsrüge zu. Die Subsidiaritätsrüge räumt den nationalen auf rund 20 Fälle. Davon wurden die meisten Rügen jedoch Parlamenten (in Deutschland jeweils eine Stimme für Bundes- vom Bundesrat ausgesprochen. Eine Untersuchung der tag und Bundesrat) zwar kein rechtsverbindliches Veto gegen Bundestagsverwaltung kommt zu dem Schluss, dass der einen Gesetzgebungsvorschlag der EU ein, jedoch bewirkt Bundestag nur zurückhaltend von der Möglichkeit der Sub- beispielsweise eine von der Mehrheit aller mitgliedstaatlichen sidiaritätsrüge Gebrauch macht. Bei 441 Legislativvorschlä- Parlamente ausgesprochene Subsidiaritätsrüge (sog. „oran- gen im Untersuchungszeitraum gab der Bundestag lediglich ge Karte“), dass der Entwurf vom Unionsgesetzgeber (Rat drei Subsidiaritätsrügen ab, obwohl es in 157 Fällen Hinwei- und Europäisches Parlament) nochmals untersucht werden se auf eine potentielle Verletzung des Subsidiaritätsprinzips muss und gegebenenfalls verworfen wird. Für eine Subsidiari- gegeben hat.30 tätsrüge ist den nationalen Parlamenten jedoch nur eine Frist Um das Subsidiaritätsprinzip besser zu wahren, sollte von acht Wochen ab dem Zeitpunkt der Übermittlung des einerseits das Bewusstsein der nationalen Parlamente für die Gesetzgebungsvorschlags eingeräumt. Rügemöglichkeit geschärft werden. Andererseits könnte die Abbildung 12 verdeutlicht, dass die nationalen Par- Etablierung eines Subsidiaritätsgerichts bestehend aus rotie- lamente von Subsidiaritätsrügen nur relativ geringen Ge- renden nationalen Verfassungsrichtern helfen, dem Subsidia- brauch machen und zwischen den Mitgliedstaaten diesbe- ritätsprinzip wieder mehr Geltung zu verschaffen.31 Abbildung 12: Subsidiaritätsrügen nationaler Parlamente, 2010–2017 Quellen: Centrum für Europäische Politik (2017), Europäische Kommission. 140 120 100 80 60 40 20 0 Kr n n Le d Fin d he d Po d l n en rn Un i rn en ien nd n EU utsc n nd Sp tt Ös ien Dä ich k UK an a ich len ed urg Sc nde en ga e ar alt ie tie rie hie De itaue n n n n i ak hn pe ga lgi i ed tla ttla nla nla Irla hla en l än an rre kre Po rtu m b Ita M oa lga la ow ec sc Zy Be m Es hw ne ow m er te L Bu ch xe ch Sl Ru iec Sl Fr Lu Ts ur Ni Gr -D 30 Vgl. Deutscher Bundestag (2017). 31 Vgl. Sinn (2016). 17
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