MEHR TRANSFER ALS STABILITÄT? - BEWERTUNG AKTUELLER REFORMVORSCHLÄGE FÜR DIE EUROZONE - Stiftung Marktwirtschaft

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MEHR TRANSFER ALS STABILITÄT? - BEWERTUNG AKTUELLER REFORMVORSCHLÄGE FÜR DIE EUROZONE - Stiftung Marktwirtschaft
MEHR TRANSFER ALS STABILITÄT?
BEWERTUNG AKTUELLER REFORMVORSCHLÄGE FÜR DIE EUROZONE

Argumente
zu Marktwirtschaft
und Politik

Nr. 140 | März 2018

Jörg König
MEHR TRANSFER ALS STABILITÄT?
BEWERTUNG AKTUELLER REFORMVORSCHLÄGE FÜR DIE EUROZONE

Jörg König
Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, Nr. 140

Inhaltsverzeichnis

    Vorwort 03

1   Trügerische Schönwetterlage in Europa 04
2   Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand 05
3   Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion 13
        3.1 Haftungsprinzip 13
        3.2 Binnenmarktprinzip 14
        3.3 Subsidiaritätsprinzip 15
4   Aktuelle Reformvorschläge 18
        4.1 Vorschläge der Europäischen Kommission 18
        4.2 Vorschläge des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron 19
        4.3 Vorschläge aus dem Koalitionsvertrag 2018 zwischen CDU, CSU und SPD 20
5   Bewertung der Vorschläge aus Brüssel, Paris und Berlin 21
        5.1 Europäischer Haushalt 21
        5.2 Europäischer Finanzminister 23
        5.3 Europäischer Währungsfonds 24
        5.4 Europäische Einlagensicherung 27
        5.5 Europäische Anleihen 28
6   Fazit – Zielführende Reformen für eine stabile Eurozone 29

    Literatur 30

    Executive Summary – Reformvorschläge im Schnell-Check 32

© 2018

Stiftung Marktwirtschaft (Hrsg.)
Charlottenstraße 60
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Telefon: +49 (0)30 206057-0
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                      Die Publikation ist auch über den QR-Code kostenlos abrufbar.

ISSN: 1612 – 7072
Titelzeichnung: Julia Stone
Mehr Transfer als Stabilität?                                                                                                    Vorwort

Vorwort

„The time to repair the roof is when the sun is shining.“                   Nun ist aus Brüssel, südlich und westlich davon sowie
Dieser grundsätzlich richtige Satz John F. Kennedys wird ger-         aus dem Turm zu Frankfurt zu vernehmen: Wenn der euro-
ne vom EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker                  päische Norden weniger „austeritär“ aufträte, der eigentlich
wiedergegeben, um Forderungen nach mehr europäischer                  als nur vorübergehende Notfallhilfe schmackhaft gemachte
„Solidarität“ in Form der Vergemeinschaftung von Risiken und          zwischenstaatliche Fonds ESM nun zu einer dauernden EU-
Haftung zu untermauern. Im Hinblick auf den Euro führt das            Institution würde, ein Europäischer Finanzminister käme, die
Zitat aber in die Irre. Denn erstens scheint bekanntermaßen           Bankenunion mit der gemeinsamen Einlagensicherung ihre
in Europa auch die konjunkturelle Sonne in unterschiedlichem          vermeintliche Abrundung fände und schließlich noch die „So-
Maße und zweitens sind teure Dachausbauten sinnlos, wenn              zialunion“, z.B. über eine Europäische Arbeitslosenversiche-
dabei oder vielleicht sogar dadurch Stützen wegbrechen und            rung, umverteilend segnete, dann, ja dann, würden sich alle
das Fundament geschwächt wird.                                        in Zukunft nun wirklich an alle Regeln halten… Die Botschaft
     „Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fun-                 hört man wohl, allein: es fehlt inzwischen jeder Glaube. Am
dament verweilen“. Die noch ältere Sentenz Anton Bruck-               Ende wird wieder zu teuer Zeit gekauft, in der zu wenig pas-
ners eignet sich 2018 zur Beschreibung des Handlungsbe-               siert, werden weitere Fehlanreize gesetzt sowie Bequemlich-
darfs in der Europäischen Währungsunion wesentlich besser             keit und Reformscheu im Ergebnis belohnt.
– der österreichische Komponist traf auch damit den richtigen               Geht es dem Brüsseler Apparat vor allem um sich selbst,
Ton.                                                                  der EZB um Italien und denjenigen in den Nationalstaaten, die
     Ganz offensichtlich ist das Fundament der Währungs-              ständig nach „mehr Europa“ rufen, um frisches Geld? Diesen
union vor der Einführung des Euro eben nicht ausreichend ge-          Eindruck zu haben, kann man versucht sein. Die Kommissi-
sichert worden. Die Hoffnung auf den „Genius loci“ Frankfurts         on als „Hüterin der Verträge“ scheint alles zu behüten, aber
als EZB-Sitz hat ebenso getrogen wie die Versprechen des              kaum die Verträge. Der oberste europäische Notenbanker
„Stabilitätspakts“ und die Verheißung eines starken, soliden          erfüllt allem Anschein nach weniger seinen Auftrag der Wäh-
und verlässlichen Euro. Tragende Säulen wie Wettbewerb,               rungsstabilität als ohne demokratische Legitimation regionale
Marktdisziplin, Eigenverantwortung und das Zusammenfallen             Wirtschaftsförderung, europäische Umverteilung und Staats-
von Handlung und Haftung wurden in dem Währungsver-                   finanzierung zu betreiben. Und wohl in keinem Nationalstaat
bund und bei der Handhabung oder besser Ignoranz seiner               besteht derzeit eine ehrliche Bereitschaft zu Souveränitäts-
Prinzipien und Regeln missachtet und erschüttert. Erschüt-            verzicht, z.B. für ein subsidiäres Europa der Regionen und
ternd ist diese Bilanz:                                               Kommunen, aber mit einer voll verantwortlichen Regierung in
                                                                      Brüssel und einem echten Parlament, frei gewählt nach dem
• 1999–2017 überschritten die Mitglieder der Eurozone 109             urdemokratischen Grundsatz „one man, one vote“.
  Mal die dreiprozentige Defizitgrenze – ohne eine einzige                  Umso mehr ist angesichts von viel euromantischer Se-
  Sanktion.                                                           mantik bei gleichzeitiger, möglichst intransparent gehaltener
• Seit 2010 wurden die Nicht-Beistandsklausel und das Ver-            nationaler Profitmaximierung ein „weiter so“ völlig inakzepta-
  bot der monetären Staatsfinanzierung faktisch außer Kraft           bel. Besonders gilt dies bei den öffentlichen Finanzen und
  gesetzt: Durch Hilfskredite, EZB-Anleihekäufe und Target-           für das langjährige, bequeme Muster: Verfügung und Nutzen
  salden entstanden Haftungsrisiken von weit über einer Bil-          national, Finanzierung und Haftung zunehmend supranatio-
  lion Euro; allein für das trotz eines ersten, 2012 erfolgten        nal. Jeder Schritt, der Entscheidung und Verantwortung in
  Schuldenschnitts im Juli 2015 zahlungsunfähige Grie-                Europa noch mehr voneinander entfernt, führt am Ende nur
  chenland haften europäische Steuerzahler mit über 300               ins gemeinsame Elend aller. Europa kann es besser und sollte
  Milliarden Euro.                                                    es besser wissen, wie diese Publikation unterstreicht. Der in-
• Im Rahmen des sogenannten „Europäischen Semesters“,                 formedia-Stiftung danken wir für deren Förderung.
  das zum zweiten Stützpfeiler der Währungsunion werden
  sollte, sprach die EU-Kommission zwischen 2011 und
  2017 823 länderspezifische Reformempfehlungen aus.
  Vollständig umgesetzt wurden elf (1,3 Prozent).
• Mit dem seit 2016 gültigen Abwicklungsmechanismus der
  2014 eingeführten Bankenunion sollte der „Bail-in“ die Be-
  lastung des Steuerzahlers ersetzen. Bislang trat der ent-           Prof. Dr. Michael Eilfort        Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen
  sprechende Fall viermal ein. In den drei italienischen Fällen       Vorstand                         Vorstand
  half am Ende … der Steuerzahler aus.                                der Stiftung Marktwirtschaft     der Stiftung Marktwirtschaft

                                                                  3
Trügerische Schönwetterlage in Europa                                                                               Mehr Transfer als Stabilität?

1          Trügerische Schönwetterlage in Europa

Aktuelle volkswirtschaftliche Kennzahlen lassen die euro-                       solider Staatsfinanzen und nachhaltigem Wirtschaftswachs-
päische Wirtschafts- und Währungsunion zehn Jahre nach                          tum die Umverteilung des Erwirtschafteten einiger Staaten in
Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise wieder in einem hel-                     den Vordergrund rückt – mit den entsprechenden politökono-
leren Licht erscheinen: Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP)                    mischen Fehlanreizen auf nationaler Ebene.
pro Kopf ist das vierte Quartal in Folge um mehr als zwei                            Europas Augen sind nun auf Berlin gerichtet, den Träu-
Prozent gewachsen, die Arbeitslosenquote hat sich mit 8,6                       men und Visionen aus Paris und Brüssel eine eigene Antwort
Prozent annähernd auf das Vorkrisenniveau reduziert und die                     zu geben. Bis zu den EU-Ratssitzungen im Juni und Okto-
Inflation bewegt sich seit mittlerweile mehr als einem Jahr mit                 ber 2018 sollen gemeinsame Vorstöße mit Frankreich folgen,
Werten zwischen 1,3 und zwei Prozent nahe am offiziellen                        um in den verbleibenden Monaten bis zur Europawahl im
Preisniveaustabilitätsziel.                                                     Mai 2019 diejenigen Reformvorschläge anzugehen, die den
      Vor allem in Deutschland ist die konjunkturelle Entwick-                  Mehrwert der EU und ihrer Währungsunion herausstellen. In
lung anhaltend positiv. Die Zahl der Erwerbstätigen befindet                    der Tat sollten die positive Grundstimmung zu Europa und
sich mit knapp 45 Millionen Menschen auf einem Rekord-                          die gute Konjunktur dazu genutzt werden, die systemimma-
hoch, in manchen Regionen herrscht nahezu Vollbeschäfti-                        nenten Schwächen der europäischen Wirtschafts- und Wäh-
gung. Der Staatshaushalt erzielt die höchsten Überschüsse                       rungsunion zu überwinden und die Eurozone krisenfester zu
seit der Wiedervereinigung. Auch der Außenhandel übertrifft                     machen. Ökonomische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) und
jahrzehntelange Höchststände: „Made in Germany“ ist auf                         fiskalische Nachhaltigkeit sollten – wie alle politischen Lager
den Weltmärkten gefragt. Die deutsche Wirtschaft befindet                       stets betonen – gestärkt werden.
sich dabei zunehmend in einer Überauslastung.1                                       Die neue Bundesregierung muss nun Wege aufzeigen,
      Politisch scheinen die größten Sorgen ebenfalls bei-                      wie die Eurozone zu der einst versprochenen Stabilitäts-
seite geräumt, nachdem in den jüngsten nationalen Parla-                        union werden kann. Voraussetzung hierfür ist, dass sich die
mentswahlen zentraler Euro- und EU-Gründerstaaten Re-                           Entscheidungsträger auf grundlegende marktwirtschaftliche
gierungsbeteiligungen von extrem populistischen Parteien                        Regeln und Prinzipien besinnen, die eine nachhaltige Stär-
weitestgehend abgewendet werden konnten. Inwieweit die                          kung der Wirtschafts- und Währungsunion erwarten lassen.
neue italienische Regierung eine Sonderrolle einnehmen wird,                    Die aktuelle wirtschaftliche „Schönwetterlage“ sollte nicht da-
muss sich allerdings noch zeigen. Insbesondere die Wahl                         rüber hinwegtäuschen, dass die Eurozone ein gravierendes
Emmanuel Macrons zum französischen Staatspräsidenten                            Strukturproblem hat. Politökonomische Fehlanreize prägen
aber hat vielerlei Hoffnungen geweckt, Frankreich und Eu-                       nach wie vor die Konstruktion der Währungsunion.
ropa mit neuem Wagemut in ein besseres Zeitalter zu führen.                          Es ist jedoch nicht das in jüngster Zeit besonders von
Von einem „goldenen Jahrzehnt“ für Frankreich ist bereits die                   Jean-Claude Juncker viel und gern zitierte „europäische
Rede.                                                                           Dach“, das bei guter Wetterlage einer kostspieligen Repara-
      Die französische Regierung um Emmanuel Macron und                         tur bedarf. Krisenpolitik und Schönheitsreparaturen verspre-
die Europäische Kommission um Jean-Claude Juncker haben                         chen keine langfristig tragfähigen Lösungen und werden nur
ihre weitreichenden Vorstellungen und Interessen zur zukünf-                    wiederholt neue staatliche Ausgaben nach sich ziehen. Es
tigen Ausgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion be-                      sind vielmehr die Grundfesten der Währungsunion, die ins
reits deutlich gemacht. Sie setzen dabei im Wesentlichen auf                    Wanken geraten sind und die Union perspektivisch einstür-
„mehr Europa“ und zwar – wie in dieser Studie gezeigt wird                      zen lassen könnten. Macht es Sinn, am Dach umtriebig zu ar-
– auf mehr europäische Kompetenzen, mehr Koordinierung                          beiten, wenn nicht einmal das Fundament gesichert ist? Die
und Harmonisierung, mehr Risikoteilung und mehr gemein-                         neue Bundesregierung wäre gut beraten, in ihrer künftigen
same Finanzmittel. Entgegen aller Beteuerungen laufen die                       Europapolitik stabilitätsfördernde Grundprinzipien zu beach-
dabei vorgesehenen institutionellen Neuerungen eher auf die                     ten und sich von einem fehlgeleiteten Aktionismus nicht trei-
Etablierung einer permanenten Transferunion hinaus, die statt                   ben zu lassen.

1   Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2017).

                                                                            4
Mehr Transfer als Stabilität?                                                                             Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand

2            Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand

Von einer nachhaltig stabilen Wirtschafts- und Währungsunion                    Mitgliedstaaten verdeutlichen. Einige dieser Staaten wie
ist die Eurozone weit entfernt. Wesentliche Ursache hierfür sind                Spanien oder Portugal haben zwar im Zuge ihrer finanziellen
die nach wie vor nicht überwundenen Konstruktionsschwä-                         Hilfsprogramme auch positive Reformschritte unternommen,
chen der Währungsunion. In den vergangenen Jahren hat es                        jedoch sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vieler
zwar verschiedene Anstrengungen gegeben, jedoch sind:                           Mitgliedstaaten nach wie vor nicht ausreichend wettbewerbs-
                                                                                fähig. Verschiedene Indizes zur Messung der internationalen
• die Volkswirtschaften der Euro-Staaten immer noch zu                          Wettbewerbsfähigkeit und der Qualität nationaler Instituti-
  heterogen für eine effizient wirkende gemeinsame Geld-                        onen zeigen, dass vor allem die südeuropäischen Staaten
  politik,                                                                      besonders schlecht abschneiden.
• die fiskalischen Regeln der Eurozone, gemessen an der                              Im aktuellen Global Competitiveness Report 2017–2018
  Rechtseinhaltung und Regeldurchsetzung, unglaubwürdig,                        rangiert beispielsweise Griechenland auf Platz 87 zwischen
• die Beweggründe der Nicht-Beistandsklausel und des                            Algerien und Nepal, während die Niederlande und Deutsch-
  Verbots der monetären Staatsfinanzierung einer ständigen                      land die Plätze vier und fünf einnehmen.3 Auch bei Schät-
  Missachtung ausgesetzt,                                                       zungen zu Schattenwirtschaft und Korruption belegen die
• die Risiken für die Finanzstabilität und die gegenseitige                     südeuropäischen Euro-Staaten um Griechenland und Ita-
  Abhängigkeit von Banken und Staaten nicht gebannt.2                           lien mit großem Abstand zu Deutschland, den Niederlanden
                                                                                oder Österreich die hinteren Plätze.4 Messungen des Eco-
Ökonomische Heterogenität                                                       nomic Freedom Index bestätigen außerdem, dass der Grad
                                                                                der wirtschaftlichen Freiheit in den südlichen Mitgliedstaaten
Politökonomische Fehlanreize der Wirtschafts- und Wäh-                          nicht nur wesentlich geringer ausfällt als im nördlicheren Teil
rungsunion sowie die ökonomische Heterogenität in der                           der Eurozone, sondern seit 2001 sogar rückläufig ist (vgl. Ab-
Eurozone lassen sich gut am Beispiel der südeuropäischen                        bildung 1).

                                                                                                                      Abbildung 1:
                                                                                                                      Ökonomische Freiheit
         Index
    75                                                                                                                in der Eurozone
                                                                                                                      Die Heritage Foundation misst
                                                                                                                      ökonomische Freiheit anhand von
                                                                                                                      12 quantitativen und qualitativen
    70                                                                                                                Indikatoren, die den Economic
                                                                                                                      Freedom Index bilden. Die Skala
                                                                                                                      der Indexwerte reicht von 0 bis
                                                                                                                      100, wobei 100 den größtmög-
    65                                                                                                                lichen Freiheitsgrad einer Volks-
                                                                                                                      wirtschaft anzeigt.

                                                                                                                      Nördliche Euro-Staaten: Öster-
                                                                                                                      reich, Belgien, Finnland, Deutsch-
    60                                                                                                                land, Niederlande.
                                                                                                                      Südliche Euro-Staaten: Griechen-
                                                                                                                      land, Italien, Portugal, Spanien.

    55                                                                                                                Quelle: Heritage Foundation.
             2000                      2005                         2010                        2015

                                                 Nördliche Euro-Staaten
                                                 Südliche Euro-Staaten

2   Für eine ausführliche Analyse der Konstruktionsschwächen und deren Folgen siehe u.a. König (2016a).
3   Vgl. Schwab und Sala-i-Martin (2017).
4   Vgl. Transparency International (2018), Schneider und Boockmann (2018).

                                                                            5
Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand                                                                                                      Mehr Transfer als Stabilität?

    Abbildung 2:
    Wirtschaftliche Lage in ausgewählten Mitgliedstaaten

    * Prognosewerte
    Quelle: Europäische Kommission.

    210                                                                                     2,0
                        Staatliche Schuldenquote (2017)                                                       Staatlicher Finanzierungssaldo (2017)
    180                              (in Prozent des BIP)                                   1,0                                (in Prozent des BIP)
    150                                                                                     0,0
              Maastricht-Kriterium
    120                                                                                     -1,0
     90                                                                                     -2,0
     60                                                                                     -3,0
     30                                                                                     -4,0       Maastricht-Kriterium
      0                                                                                     -5,0
          Deutschland Frankreich     Spanien    Portugal      Italien    Griechenland              Deutschland Griechenl. *    Portugal*         *
                                                                                                                                           Italien    Frankreich   *   Spanien *
     30                                                                                      25
                     Produktivitätswachstum (1999–2017)                                                               Arbeitslosenquote (2017)
     25            (je Arbeitsstunde, kumulative Veränderung in Prozent)                     20                      (in Prozent der Erwerbspersonen)

     20
                                                                                             15
     15
                                                                                             10
     10

      5                                                                                       5

      0                                                                                       0
          Deutschland Frankreich     Spanien    Portugal    Griechenl.      Italien                Deutschland Portugal       Frankreich    Italien    Spanien         Griechenl.

      Auch ökonomische Indikatoren wie die Arbeitslosenquo-                                 entgegen der Hoffnung, mit der Euro-Einführung würden sich
te oder das Produktivitätswachstum nehmen in den südeu-                                     die Mitgliedstaaten wirtschaftlich stärker einander annähern
ropäischen Mitgliedstaaten kritische Größen an (vgl. Abbil-                                 – kein Catching-up-Prozess statt.6
dung 2). Wirtschaftliche Konvergenz und eine Angleichung                                          Studien zur Entwicklung der ökonomischen Integrati-
der Konjunkturzyklen werden hierdurch erschwert. Berech-                                    onstiefe der Mitgliedstaaten, die neben der ökonomischen
nungen der Europäischen Zentralbank (EZB) belegen, dass                                     Konvergenz auch die wirtschaftlichen Verflechtungen, die
in den „alten“ Mitgliedstaaten der Eurozone die reale Konver-                               Symmetrie der Konjunkturzyklen und die Regeleinhaltung der
genz der Pro-Kopf-Einkommen seit Anfang der 1990er Jahre                                    Mitgliedstaaten berücksichtigen und in einem Indikator – dem
stagniert und seit Beginn der Krise insgesamt sogar rückläu-                                EU-Integrationsindex – zusammenfassen, zeichnen gleichsam
fig ist (vgl. Abbildung 3).5 Der Internationale Währungsfonds                               ein ernüchterndes Bild der europäischen Integration. Hier-
(IWF) kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es zwischen                                     bei wird deutlich, dass sich eine als „Kerneuropa“ geltende
den Mitgliedstaaten, die bis 2002 dem Euro beigetreten sind,                                Ländergruppe von sechs Staaten (Deutschland, Österreich,
insgesamt keine Angleichung in der Wirtschaftsleistung und                                  Finnland, Niederlande sowie mit etwas Abstand Belgien und
der Produktivität gegeben hat, sondern dass innerhalb dieser                                Frankreich) von den südeuropäischen Mitgliedstaaten wirt-
Gruppe divergierende Entwicklungen eingetreten sind. In Ita-                                schaftlich und integrationsspezifisch entfernt hat. Ein Europa
lien beispielsweise ist das reale Pro-Kopf-Einkommen aktuell                                der „mehreren Geschwindigkeiten“ scheint längst Realität ge-
sogar niedriger als vor 20 Jahren und die reale Arbeitspro-                                 worden zu sein. Dies stellt sowohl vergangene als auch künf-
duktivität ist seit 1999 kaum gewachsen. Auch hier fand –                                   tige Integrationsschritte für einige Mitgliedstaaten in Frage.7

5    Vgl. Diaz del Hoyo et al. (2017).
6    Vgl. Franks et al. (2018).
7    Vgl. König und Ohr (2013), König (2017).

                                                                                        6
Mehr Transfer als Stabilität?                                                                               Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand

Fiskalische Belastungen                                                         durch kommt im Durchschnitt nochmals etwa das 1,5-fache
                                                                                der offiziell ausgewiesenen Schulden auf einen Staat hinzu.
Insbesondere die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen ist in                       In einigen Mitgliedstaaten wie Spanien beträgt die implizite
den südeuropäischen Mitgliedstaaten bedroht. Die staatliche                     Verschuldung gar das Fünffache der expliziten Schuldenquo-
Verschuldung beträgt in Portugal, Italien und Griechenland                      te.9 Italien hat sich in diesem Aspekt zwar durch Rentenre-
sogar das Zwei- bis Dreifache dessen, was gemäß der Ver-                        formen in den vergangenen Jahrzehnten positiv hervorgetan.
einbarung im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt                        Jedoch legen die vollmundigen Wahlversprechen der italie-
vereinbart ist (vgl. Abbildung 2). Mit einer öffentlichen Schul-                nischen Parteien nahe, dass die Reformen wieder rückgängig
denquote von über 130 Prozent des BIP und einem Volumen                         gemacht und weitere Ausgaben auf den italienischen Staat
von rund 2,3 Billionen Euro stellt Italien das vermutlich größte                zukommen werden.10
Stabilitätsrisiko für die Eurozone dar. Nur mithilfe künstlich                        An der kurzfristigen Bedienung von Wählerinteressen
gedrückter Refinanzierungskosten oder einkalkulierter Um-                       zulasten der fiskalischen Nachhaltigkeit haben auch die wei-
schuldungsszenarien können hochverschuldete Staaten wie                         terentwickelten europäischen Fiskalregeln nichts ändern kön-
Italien oder Griechenland offiziell langfristig tragfähig gerech-               nen. Im Gegenteil: Die Regeln wurden in den vergangenen
net werden.8                                                                    Jahren immer komplexer und es wurden beträchtliche Er-
      Hinzu kommen in fast allen europäischen Staaten fis-                      messensspielräume eröffnet. Die Implementierung ist kaum
kalische Belastungen durch die Bevölkerungsalterung. Hier-                      noch nachvollziehbar und es besteht der Eindruck, dass die

                                                                                                                          Abbildung 3:
                    Maastricht-              Euro-                      Beginn der                                        Reale Konvergenz
                     Vertrag               Enführung                    Finanzkrise
    30                                                                                                                    in den „alten“ Euro-
                                                                                                                          und EU-Staaten
    28
                                                                                                                          Quelle: Diaz del Hoyo et al. (2017).
    26

    24

    22

    20
                                                       Stagnation
    18

    16
                                                                                               Divergenz
    14
          Konvergenz
    12

    10
         1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017

                                  Standardabweichung des BIP pro Kopf für die Eurozone-12
                                  Standardabweichung des BIP pro Kopf für die EU-15

8  Vgl. Internationaler Währungsfonds (2017a, 2017b).
9  Vgl. Peters, Raffelhüschen und Reeker (2018). Grob gesprochen geben implizite Staatsschulden an, in welchem Umfang die in der Zukunft liegenden, maßgeb-
   lich durch heutige (ungedeckte) Leistungsversprechen determinierte, Staatsausgaben zu Haushaltsdefiziten führen werden, wenn das gegenwärtige Steuer-
   und Abgabenniveau beibehalten wird.
10 Vgl. Spiegel Online vom 01.03.2018: „Wahl in Italien – Mit den Clowns kommen die Schulden“.

                                                                            7
Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand                                                                                    Mehr Transfer als Stabilität?

                                                                                                                           Abbildung 4:
                                                          157                                                              Umsetzung des
  160
                                         141
                                                                                                                           Europäischen Semesters
                          138
  140                                                                                                                      Quelle: Europäische Kommission.
         118
  120
                                                                         102
  100
                                                                                           89
                                                                                                           78
    80

    60

    40

    20                          12             12               10
                      7                                                        4
               n.a.                  3              1                0              0            2     0         1     0
     0
            2011            2012           2013              2014            2015               2016            2017

         Länderspezifische Empfehlungen                 „Substantieller Fortschritt“             „Vollständig umgesetzt“

Regelauslegung aus einem politischen Verhandlungsprozess                                Steigende Haftungsrisiken
zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kom-
mission resultiert.11 Seit Bestehen der Eurozone hat es weit                            Im Zuge der Finanz- und Schuldenkrise sind innerhalb der
mehr als 100 Überschreitungen der Defizitgrenze des Sta-                                Wirtschafts- und Währungsunion erhebliche Haftungsrisiken
bilitäts- und Wachstumspaktes gegeben. Sanktioniert wurde                               entstanden. Dies ist einerseits durch die internationalen Hilfs-
jedoch kein einziges Mal, obwohl etwa zwei Drittel der Über-                            kredite begründet, die seit 2010 an fünf Euro-Staaten gezahlt
schreitungen nicht konjunkturell bedingt und somit prinzipiell                          wurden – zunächst unter der temporären Europäischen Fi-
sanktionsfähig gewesen wären. Diese gering ausgeprägte                                  nanzstabilisierungsfazilität (EFSF) sowie dem nachgefolgten
Staatscompliance auf europäischer Ebene führt dazu, dass                                und dauerhaft eingesetzten Europäischen Stabilitätsmecha-
die Glaubwürdigkeit und Bindungswirkung der Regeln massiv                               nismus (ESM). Der größte Anteil der bislang ausgezahlten
beschädigt werden.                                                                      389 Milliarden Euro hat die EFSF mit Darlehen von insgesamt
      Gleichsam unmotiviert zeigen sich die Mitgliedstaaten                             185,5 Milliarden Euro an die Programmländer Griechenland,
bei der Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen im                                Portugal und Irland zwischen 2011 und 2014 ausgezahlt (vgl.
Rahmen des Europäischen Semesters. Von den seit 2011                                    Abbildung 5). Davon gingen mehr als 140 Milliarden Euro al-
insgesamt 823 ausgesprochenen länderspezifischen Emp-                                   lein nach Griechenland, das seine EFSF-Kredite erst bis zum
fehlungen haben die Mitgliedstaaten lediglich 11 Empfeh-                                Jahr 2056 vollständig zurückgezahlt haben muss.
lungen (oder 1,3 Prozent) vollständig umgesetzt, davon in                                     Der im Jahr 2013 entgegen ursprünglicher Verspre-
den vergangenen vier Jahren sogar keine einzige. Daneben                                chungen dauerhaft implementierte ESM hat seither weitere
sank auch stetig die Anzahl der jährlich erreichten „substanti-                         87,8 Milliarden Euro an Hilfsgeldern ausgezahlt, wovon 41,3
ellen Fortschritte“ (vgl. Abbildung 4).                                                 Milliarden Euro an Spanien, 40,2 Milliarden Euro an Grie-

11 Vgl. Deutsche Bundesbank (2017).

                                                                                   8
Mehr Transfer als Stabilität?                                                                           Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand

chenland und 6,3 Milliarden Euro an Zypern gingen. Die                         EZB teuer erkauft. Durch historisch niedrige Zinsen und „un-
Finanzierungsanteile am Kapital des ESM ergeben sich für                       konventionelle geldpolitische Maßnahmen“ sind mindestens
die Mitgliedstaaten aus ihrem Anteil am Kapital der EZB.                       drei erhebliche Nebenwirkungen entstanden. Erstens hat
Deutschland haftet entsprechend für 27 Prozent der ausste-                     die EZB die bislang gekannte Lenkungsfunktion des Zinses
henden Kredite und ist somit den größten Risiken ausgesetzt.                   auf den Kopf gestellt: Sparen wird durch Null- und Negativ-
      Insbesondere dem aktuellen ESM-Programm für Grie-                        zinsen tendenziell „bestraft“, während Verschulden finanziell
chenland ist im ersten Halbjahr 2015 eine politische Farce                     „belohnt“ wird. Dies führt nicht nur zu Schwierigkeiten bei
vorausgegangen.12 Vorübergehender „Höhepunkt“ war die                          Sparern, die allein in Deutschland zwischen 2010 und 2016
offizielle Zahlungsunfähigkeit Griechenlands gegenüber dem                     entgangenen Zinseinkünfte in Höhe von 344 Milliarden Euro
IWF im Sommer 2015. Trotz des Zahlungsausfalls, der auf-                       zu beklagen hatten,13 sondern auch zu steigenden Gefahren
grund der strukturellen Probleme in Griechenland weit mehr                     für die Finanzstabilität. Anhaltend niedrige Zinsen höhlen die
als ein vorübergehender Liquiditätsengpass war, haben die                      Ertragslage von Banken und Versicherungen aus, führen zu
Euro-Staaten dem griechischen Staat ein weiteres ESM-Pro-                      einer Erosion des Eigenkapitals und setzen den Marktteilneh-
gramm bis August 2018 gewährt. Seit diesem Vertrauens-                         mern falsche Anreize zu einer erhöhten Risikoübernahme. Je
verlust steht eine finanzielle Beteiligung seitens des IWF am                  länger diese Phase anhält, desto höher sind die Risiken einer
ESM-Programm nach wie vor aus, obwohl dies dem Deut-                           erneuten Finanzkrise.14
schen Bundestag von der Bundesregierung als Bedingung für                           Zweitens bewirken die massiven Anleihekäufe der EZB
weitere Hilfszahlungen an Griechenland zugesichert wurde.                      im Rahmen ihres laufenden „Public Sector Purchase Pro-
      Andererseits haben sich enorme Risiken durch die an-                     grammes“ (PSPP), dass innerhalb des Eurosystems erheb-
haltende Krisenpolitik der EZB gebildet. Einen erheblichen                     liche Haftungsrisiken aufgebaut werden. Das Volumen der
Anteil am eingangs gezeigten konjunkturellen Aufschwung                        Zentralbankbilanz der EZB hat sich gegenüber Ende 2014
hat sich die Eurozone durch die ultra-lockere Geldpolitik der                  auf inzwischen fast 4,5 Billionen Euro mehr als verdoppelt,

                                                                                                                    Abbildung 5:
                                                                                                                    Ausgezahlte Finanzhilfen
                                                                                                                    für die Euro-Staaten
                                                     15,9
                                                                                                                    seit 2010 (in Mrd. Euro)
                                              52,9                  87,8
                                                                                                                    Quellen: ESM, BMF, ifo Institut.
                                                                                            ESM
                                                                                            EFSF
                                       46,8          Insgesamt:                             EFSM
                                                     389 Mrd. €
                                                                                            Bilateral
                                                                                            IWF

                                                            185,5

12 Vgl. König (2016a).
13 Vgl. DZ Bank AG (2017).
14 Vgl. Stiftung Marktwirtschaft (2017).

                                                                           9
Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand                                                                                Mehr Transfer als Stabilität?

                                                                                                                       Abbildung 6:
     5.000                                                                                                             Bilanzsumme der
                                     Mai 2010:               Juli 2012:                 März 2015:
                                     Beginn der SMP-         „whatever it takes“-       Beginn der PSPP-               Europäischen Zentralbank
                                     Anleihekäufe            Rede von Mario Draghi      Anleihekäufe                   (in Mrd. Euro)
     4.000                                                                                                             Quelle: Europäische Zentralbank.

     3.000

     2.000

     1.000

         0
              2008       2009      2010      2011         2012    2013      2014       2015     2016       2017

                           Bilanzsumme insgesamt                 Wertpapiere für „geldpolitische Zwecke“

der Bestand an Wertpapieren für „geldpolitische Zwecke“ be-                          roraum sind die TARGET-Verbindlichkeiten vor allem in den
trägt mittlerweile rund 2,3 Billionen Euro (vgl. Abbildung 6).                       südeuropäischen Mitgliedstaaten enorm gestiegen. Die Ver-
Nach aktuellen Studien handelt es sich dabei zunehmend um                            bindlichkeiten haben in einigen Staaten wie Italien und Spani-
Anleihen hoch verschuldeter Staaten wie Italien, das beson-                          en mit jeweils rund 400 Milliarden Euro inzwischen eine Höhe
ders stark durch die Anleihekäufe begünstigt und in seiner                           erreicht, die diesen Staaten ein erhebliches Ausfall-Erpres-
Finanzierung davon abhängig geworden ist.15 Die Anleihe-                             sungspotential einräumen. Denn die den Verbindlichkeiten
käufe werden nicht proportional zum EZB-Kapitalschlüssel                             gegenüberstehenden Forderungen müssten bei einem Euro-
auf die Mitgliedstaaten verteilt. Durch die Anleihekäufe sind                        Austritt oder Staatsbankrott vom betroffenen Staat geltend
die Notenbanken des Eurosystems inzwischen zu den größ-                              gemacht werden. Die Erfolgsaussichten auf eine Rückzah-
ten Gläubigern der Euro-Staaten geworden. Somit steigt das                           lung der unverzinslichen TARGET-Kredite dürften in einem
Risiko, dass bei idiosynkratischen Schocks künftig das ge-                           solchen Fall sehr begrenzt sein. Am meisten zu verlieren hat
samte Eurosystem von einem Zahlungsausfall betroffen sein                            diesbezüglich Deutschland mit ausstehenden Forderungen
könnte. Die EZB steht zunehmend im Verdacht, auf Kosten                              von mehr als 900 Milliarden Euro (vgl. Abbildung 7).
ihrer politischen Unabhängigkeit sowie entgegen ihrem Man-                                 Drittens können Anleihekäufe der EZB zu fatalen Anreiz-
dat monetäre Staatsfinanzierung zu betreiben.16                                      wirkungen in den Reform- und Konsolidierungsbemühungen
      Die Risikoschieflage im Eurosystem spiegelt sich auch                          der Euro-Staaten führen. Modellrechnungen der EZB zeigen,
in den TARGET-Salden der Mitgliedstaaten wider. Über das                             dass sowohl die Anleihekäufe als auch deren Ankündigung
TARGET-System werden grenzüberschreitende Zahlungen                                  einen merklich reduzierenden (d.h. marktverzerrenden) Effekt
zwischen den Notenbanken abgewickelt. TARGET-Verbind-                                auf die langfristigen Zinsen für Staatsanleihen der Eurozone
lichkeiten entstehen beispielsweise durch Leistungsbilanz-                           haben.18 Die wohl bekannteste Ankündigung in diesem Zu-
defizite, denen nicht mehr genügend private Kapitalflüsse                            sammenhang ist diejenige von EZB-Präsident Mario Draghi
gegenüberstehen (z.B. durch Kapitalflucht) sondern neu                               vom 26. Juli 2012, dass der Euro mit allen Mitteln („whatever
geschaffene Zentralbankgelder die Kapitalbereitstellung                              it takes“) geschützt wird. Europaweit sind die Langfristzinsen
übernehmen. Dies wird auch als Kreditersatzpolitik der EZB                           von damals durchschnittlich über vier Prozent auf etwa ein
kritisiert.17 Seit Beginn der Finanz- und Schuldenkrise im Eu-                       Prozent Anfang 2018 gesunken. Künstlich gedrückte Refi-

15   Vgl. Heinemann (2018).
16   Vgl. Kronberger Kreis (2016).
17   Vgl. Sinn und Wollmershäuser (2011).
18   Vgl. Europäische Zentralbank (2017), Praet (2017).

                                                                              10
Mehr Transfer als Stabilität?                                                                                   Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand

                                                                                                                            Abbildung 7:
   1.000                                                                                                                    Entwicklung ausgewählter
                                                                                                                            TARGET-Salden im Euro-
                                                                                                                            system (in Mrd. Euro)
    800
                                                                                                                            Quelle: Europäische Zentralbank.

    600

    400

    200

        0
            08        2009          2010   2011       2012       2013         2014     2015      2016      2017

    -200

    -400

                          Deutschland
    -600
                          Italien
                          Spanien
    -800
                          Portugal
                          Griechenland
  -1.000

nanzierungskosten verzerren jedoch die länderspezifische Ri-                         zeigen in der Tat, dass der Reformeifer der Mitgliedstaaten
sikobepreisung und setzen die marktdisziplinierende Wirkung                          seit 2012 stark nachgelassen hat und inzwischen so niedrig
des Kapitalmarkts außer Kraft. Aktuelle Analysen der OECD                            ist wie vor der Krise (vgl. Abbildung 8).19

                                                                                                                            Abbildung 8:
   50                                                                                                                       Reformeifer in den
                                                                                                                            Mitgliedstaaten
   40                                                                                                                       (in Prozent)
                                                                                                                            Der Reformeifer in den Mitglied-
   30                                                                                                                       staaten wird von der OECD ge-
                                                                                                                            messen als Anteil verabschiedeter
                                                                                                                            Gesetze an zuvor identifizierten
   20                                                                                                                       Reformempfehlungen.

                                                                                                                            Quelle: OECD (2017).
   10

    0
                 Reformeifer insgesamt             Reformeifer zu Stärkung            Reformeifer zu Stärkung
                                                   der Arbeitsproduktivität            der Arbeitsauslastung

                         2007-08                  2011-12                2013-14                2015-16

19 Vgl. OECD (2017).

                                                                                11
Stabilität der Eurozone auf dem Prüfstand                                                                             Mehr Transfer als Stabilität?

Risiken im Finanzsektor                                                          diese als systemrelevant gelten. Fällt die finanzielle Rettungs-
                                                                                 aktion entsprechend groß aus, schlägt sich dies negativ in
Schließlich stellen auch die Bilanzen europäischer Privat-                       den Anleihebedingungen des Staates nieder. Wenn anders-
banken ein erhöhtes Stabilitätsrisiko für die Eurozone dar. Die                  herum Staaten in finanzielle Nöte geraten, beispielsweise auf-
Bankensektoren vor allem in Südeuropa werden nach wie vor                        grund einer zu hohen staatlichen Verschuldung, dann sind
durch hohe Bestände an notleidenden Krediten (Non-Perfor-                        zeitgleich diejenigen Banken von Ausfallrisiken betroffen, die
ming Loans, NPL) belastet (vgl. Abbildung 9). Griechenland                       große Bestände von Anleihen dieser Staaten besitzen und
weist dabei die höchste Rate an NPL auf. Fast die Hälfte der                     somit „Klumpenrisiken“ aufweisen. In der Regel trifft dies
griechischen Kredite im Privatbankenbereich sind notleidend,                     durch den sogenanntenn „Home-Bias“-Effekt auf die jewei-
da sie mehr als 90 Tage überfällig sind und eine vollständige                    ligen heimischen Akteure besonders stark zu.
Rückzahlung ohne Verwertung von Sicherheiten unwahr-                                   Problematisch ist diese enge Verflechtung auch, weil das
scheinlich ist. Die italienischen Banken haben rund 200 Mil-                     neue Abwicklungsregime für Banken im Euroraum erste Be-
liarden Euro an ausfallgefährdeten Krediten in ihren Bilanzen                    währungsproben nur bedingt bestanden hat. Von mehreren
– das ist knapp ein Viertel aller NPL der gesamten Eurozo-                       insolventen Banken in Südeuropa wurde nur die spanische
ne. Zwar hat sich die Situation in Italien in den vergangenen                    Banco Popular Espanol auf europäischer Ebene wie in den
Monaten verbessert, dies ist jedoch vor allem auf einmalige                      Regeln vorgesehen abgewickelt. Die italienische Bank Monte
Abschreibungen in den Bankbilanzen zurückzuführen. Die                           dei Paschi di Siena wurde hingegen mit Hilfe einer Rekapi-
jüngste positive Entwicklung der NPL in den italienischen                        talisierung durch den italienischen Staat am Leben erhalten.
Bankbilanzen ist demzufolge trügerisch.20                                        Italien hatte vor einem Bail-in der Anteilseigner zurückge-
      Dies ist insofern problematisch, als dass der seit Beginn                  schreckt, unter anderem weil dies überwiegend Kleinanleger
der Finanzkrise deutlich gewordene Staaten-Banken-Nexus                          getroffen hätte. Zwei venezianische Banken wurden zudem
trotz der Errichtung einer Europäischen Bankenunion noch                         auf Basis des italienischen Rechts behandelt, wodurch ein
nicht durchbrochen ist. Bei diesem Nexus besteht eine sehr                       ansonsten erforderlicher Bail-in vorrangiger Gläubiger ver-
enge finanzielle Verflechtung von Staaten und Banken, die                        mieden wurde.21 Auch hier zeigt sich wieder einmal, dass
einen möglichen Teufelskreis impliziert. In einer Krise werden                   zuvor vereinbarte europäische Regeln im Ernstfall aus nati-
private Banken beispielsweise aufgrund einer zu geringen Ei-                     onalen politökonomischen Beweggründen gebrochen oder
genkapitalausstattung mit staatlichen Geldern gerettet, wenn                     zumindest extrem strapaziert werden.

                                                                                                    46,6%
                                                                                                                    Abbildung 9:
   50                                                                                            (106,3 Mrd. €)     Notleidende Kredite
                                                                                                                    im Euroraum
                                                                                                                    Notleidende Kredite in Prozent
   40
                                                                                                                    des Kreditportfolios.

                                                                                                                    Quelle: EBA, Risk Dashboard,
   30                                                                                                               Data as of Q3 2017.

                                                                                    16,7%
   20                                                                            (33,0 Mrd. €)
                                                              11,8%
                                                           (196,0 Mrd. €)
   10                                         4,8%
                             3,2%
             2,1%                         (111,8 Mrd. €)
                         (137,8 Mrd. €)
         (54,4 Mrd. €)
    0
          Deutschland      Frankreich        Spanien           Italien             Portugal      Griechenland

20 Vgl. Gehringer (2018).
21 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2017).

                                                                            12
Mehr Transfer als Stabilität?                                            Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion

3          Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion

Eine stabilitätsorientierte Europapolitik sollte sich an beste-                rufen sowie eine Lohn-Preis-Spirale mit destabilisierenden
henden europäischen Regeln und grundlegenden marktwirt-                        Folgen in Gang setzen kann. Insofern ist es für den bestän-
schaftlichen Prinzipien orientieren. Hervorzuheben sind vor                    digen Erfolg einer Währungsunion entscheidend, dass
allem:
                                                                               • die Sicherung der Geldwertstabilität oberstes Ziel der Zen-
• das Haftungsprinzip,                                                           tralbank ist,
• das Binnenmarktprinzip,                                                      • die Unabhängigkeit der Zentralbank von der Politik stets
• das Subsidiaritätsprinzip.                                                     gewährleistet wird,
                                                                               • eine monetäre Staatsfinanzierung durch die Zentralbank
                                                                                 verboten ist.
3.1        Haftungsprinzip
                                                                                     In der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
So wie eine freie Marktwirtschaft nur funktionieren kann,                      sind zwar formal alle drei Bedingungen klar geregelt. Die Er-
wenn Unternehmer für die Folgen ihrer Handlungen einste-                       fahrungen der vergangenen Jahre haben jedoch erhebliche
hen, kann eine Währungsunion mit souveränen Staaten dau-                       Zweifel an einer strikten Einhaltung der Regeln durch die
erhaft nur Bestand haben, wenn Staaten die Verantwortung                       EZB aufkommen lassen.23 Eine bloße de jure Erfüllung der
für ihre Entscheidungen selbst tragen. Andernfalls führt eine                  Bedingungen reicht jedoch nicht aus, da für die Wirkung der
Mithaftung der anderen Staaten langfristig zu wenig ver-                       Regeln die de facto Einhaltung von zentraler Bedeutung ist.
antwortungsbewussten, fiskalisch nicht nachhaltigen und                        Dadurch würde das Haftungsprinzip gestärkt werden. Eine
gegenüber der Staatengemeinschaft unsolidarischen natio-                       Verlagerung fiskalischer Probleme auf die Geld- und Wäh-
nalen Politiken. Die Gewährleistung des Haftungsprinzips als                   rungspolitik der Zentralbank wäre dann nicht mehr möglich
ein konstituierendes Element der sozialen Marktwirtschaft                      und die Mitgliedstaaten müssten die Folgen ihrer Politik ei-
sorgt somit für verantwortungsvolle Entscheidungen in den                      genverantwortlich tragen.
Mitgliedstaaten.22                                                                   Abwälzungsmöglichkeiten einer nationalen Verschul-
      Der erforderliche Einklang von Handlung und Haftung                      dungspolitik sind zum anderen auch dann gegeben, wenn
gilt in besonderem Maße für die Solidität und Stabilität der                   von der Staatengemeinschaft attestiert wird, dass das
Staatsfinanzen. Die bei Staaten ohnehin bestehende Ver-                        Fortbestehen der gesamten Währungsunion durch den
schuldungsneigung ist in einer Währungsunion noch stär-                        Einzelfall in Gefahr sei. Darauffolgende finanzielle Rettungs-
ker ausgeprägt, da sich die negativen Folgen übermäßiger                       programme für die betroffenen Staaten (und Banken) neh-
Verschuldung einfacher auf die anderen Mitgliedstaaten ab-                     men die Steuerzahler der übrigen Mitgliedstaaten in eine
wälzen lassen. Der Druck zu eigenverantwortlichem Handeln                      erpresserische Solidarhaftung. Insofern ist es entscheidend,
wird hierdurch reduziert. Die Abwälzungsmöglichkeit national                   dass solche Rettungsmaßnahmen, wenn überhaupt, nur bei
bedingter Kosten und Risiken auf die Gemeinschaft ist zum                      einem kurzfristigen Liquiditätsproblem des Mitgliedstaates
einen dann gegeben, wenn politischer Druck einiger Mitglied-                   sowie zeitlich begrenzt und mit Auflagen versehen vergeben
staaten dazu führt, dass die gemeinsame Zentralbank ihre                       werden. Erfolgt ein Rettungsprogramm hingegen zugunsten
Geld- und Währungspolitik nicht mehr am Durchschnitt der                       eines Mitgliedstaates, dessen Schuldenlast langfristig nicht
Mitgliedstaaten, sondern an einzelstaatlichen Entwicklungen                    tragfähig erscheint, läuft die Kreditvergabe auf einen dauer-
orientiert. Im Überschuldungsfall einzelner Staaten führt dies                 haften Transfer hinaus, das dem Haftungsprinzip entgegen-
zu einer extrem expansiven Politik der Zentralbank, die mit                    läuft und die Anreize für wirkungsvolle Reformmaßnahmen
ausgeprägten und lang anhaltenden Zinssenkungen, Anlei-                        senkt. Solche Hilfen verstoßen gegen die Nicht-Beistands-
hekäufen und Währungsabwertungen zwar die fiskalische                          klausel (Art. 125 AEUV) der EU, die es den europäischen In-
Last der hochverschuldeten Staaten reduziert, für die mit-                     stitutionen sowie den Mitgliedstaaten verbietet, für Verbind-
tel- und langfristige Preisniveaustabilität der fiskalisch solide              lichkeiten eines anderen Mitgliedstaates zu haften. Dies soll
handelnden Mitgliedstaaten aber kontraproduktiv wirkt und                      den Staaten einen Anreiz zu verantwortungsvoller Finanz-
gefährliche Blasenbildungen an den Finanzmärkten hervor-                       politik setzen.

22 Zu den konstituierenden Prinzipien einer Marktwirtschaft siehe Eucken (1952).
23 Vgl. Kronberger Kreis (2016).

                                                                          13
Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion                                      Mehr Transfer als Stabilität?

     Hilfsmaßnahmen im Rahmen eines ESM-Programms                       lungsstärkendes Argument für die potentiell mithaftenden
sehen deshalb vor, dass die Kredithilfen nur als Übergangsfi-           Mitgliedstaaten und zum anderen als effektive Möglichkeit für
nanzierung gewährt und grundsätzlich nur an langfristig sol-            den überschuldeten Staat, über eine Abwertung der eigenen
vente Staaten vergeben werden dürfen – und dies auch nur                Währung die preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und
dann, sofern das Eurosystem als Ganzes gefährdet ist. Ins-              die Folgen der Krise kurzfristig abzumildern.25
besondere die Erfahrungen in der Griechenlandkrise haben                     Im besten Fall würde durch die genannten Maßnahmen
jedoch gezeigt, dass von den selbst auferlegten ESM-Kondi-              und weitere Maßnahmen zur Stärkung des Haftungsprinzips
tionen abgewichen und die Nicht-Beistandsklausel unterlau-              eine markt- und wählerdisziplinierende Wirkung einsetzen,
fen wird.24 So hatte der griechische Staat bei der Gewährung            die eine selbst verantwortete extreme Verschuldung von
des dritten Hilfsprogramms im Sommer 2015                               Staaten ausschließt und eigenverantwortliches Handeln in
                                                                        den Vordergrund rückt.
• schon seit fünf Jahren an diversen finanziellen Rettungs-
  maßnahmen teilgenommen,
                                                                        3.2      Binnenmarktprinzip
• bereits einen Schuldenschnitt im Frühjahr 2012 ohne blei-
  bende Wirkung erhalten,
• seine Kreditzahlungen an den Internationalen Währungs-                Gemäß der Theorie optimaler Währungsräume ist es für die
  fonds (IWF) nicht mehr leisten können,                                Effizienz einer Währungsunion entscheidend, dass zur Ab-
• vom IWF attestiert bekommen, dass seine Schuldentrag-                 federung makroökonomischer Schocks voll integrierte Fak-
  fähigkeit nicht mehr gegeben ist,                                     tormärkte vorhanden sind.26 Aufgrund des Wegfalls der na-
• in seiner Schuldenstruktur keine Anzeichen auf mögliche               tionalen Geldpolitik sowie des Wechselkurses als ein schnell
  Ansteckungseffekte für die Eurozone.                                  reagierender Anpassungsmechanismus sollte sichergestellt
                                                                        sein, dass sich notwendige Anpassungen über andere Markt-
     Vor diesem Hintergrund sollte für eine Stärkung des Haf-           mechanismen vollziehen können. Eine flexible Lohn- und
tungsprinzips eine staatliche Insolvenzordnung in die Wirt-             Preisbildung sowie eine freie grenzüberschreitende Arbeits-
schaftsordnung des Eurosystems integriert werden. Eine für              und Kapitalmobilität sind hierbei maßgeblich.
alle Seiten vorab verlässliche Regelung würde einerseits den                  Für die Theorie der Endogenität optimaler Währungs-
Regierungen und Wählern in den Schuldnerstaaten signali-                räume ist es zudem entscheidend, dass ein höherer Grad der
sieren, dass eine verschwenderische Politik langfristig zu er-          Konjunktursymmetrie über eine verstärkte Verflechtung der
heblichen nationalen Einschnitten führen kann. Andererseits             handelbaren Gütermärkte erreicht wird.27 Dem europäischen
würde es den Gläubigern verdeutlichen, dass auch sie eigen-             Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten – freier Verkehr
verantwortlich die Ausfallrisiken in ihrer Investitionsentschei-        von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital – kommt
dung berücksichtigen müssen. Gleichzeitig sollten Staatsan-             dabei eine besondere Bedeutung zu. Ein freier Handel und
leihen von den Regularien her als grundsätzlich risikobehaftet          eine unbeschränkte Mobilität der Produktionsfaktoren si-
eingeschätzt werden und zur Folge haben, dass sie mit risi-             chern die wohlfahrtsfördernden Effekte der internationalen
koadäquatem Eigenkapital unterlegt werden müssen. In letz-              Arbeitsteilung und Spezialisierung auf komparative Vorteile.
ter Konsequenz sollte auch ein Austritt aus der Währungs-               Eine effiziente Wettbewerbsordnung sollte zudem gewähr-
union für den stets unsolidarisch handelnden Mitgliedstaat              leisten, dass freiheitliche Märkte vor Marktmacht geschützt
als umsetzbare Option bestehen – zum einen als verhand-                 werden.

24   Vgl. König (2016a).
25   Vgl. König (2016b).
26   Vgl. Mundell (1961), McKinnon (1963).
27   Vgl. Frankel und Rose (1997).

                                                                   14
Mehr Transfer als Stabilität?                                  Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion

      Gleichwohl lassen sich vom Binnenmarktprinzip keine                     Gemäß der ökonomischen Theorie des Fiskalföde-
Notwendigkeit von umfangreichen Harmonisierungen und                    ralismus sollte eine dezentrale Bereitstellung öffentlicher
Vereinheitlichungen von Politikbereichen ableiten. Dies käme            Leistungen angestrebt werden, wenn die politischen Prä-
einer Pervertierung des Binnenmarktprinzips gleich, wie                 ferenzen zwischen den Mitgliedstaaten stark voneinander
der ehemalige EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein                  abweichen.29 Unterschiedliche Präferenzen lassen sich
mahnt.28 Die Praxis sieht jedoch anders aus. Statt den Ab-              schließlich nicht politisch homogenisieren. So kann die wirt-
bau von Handelshemmnissen weiter voranzutreiben, werden                 schaftliche, politische und kulturelle Vielfalt der Regionen
missbräuchlich im Namen des Binnenmarktes durch immer                   besser berücksichtigt und das staatliche Handeln an den
stärkere Regulierungen und Mindeststandards erneut nicht-               lokalen Präferenzen adäquat ausgerichtet werden. Zugleich
tarifäre Handelshemmnisse errichtet. Dies gefährdet vor allem           gewährleisten dezentrale Entscheidungen – bei Abwesenheit
den ökonomischen Aufholprozess der wirtschaftlich schwä-                regionaler externer Effekte (regionaler Spillover) und Ska-
cheren Mitgliedstaaten, da die meisten Regulierungsschritte             lenerträge –, dass Nutznießer, Zahler und politische Entschei-
den preislichen Standortvorteil dieser Staaten einschränken             der (bzw. Wähler) der staatlichen Leistung übereinstimmen
und als protektionistische Maßnahmen zum Vorteil der wohl-              und eine Leistungsgerechte Finanzierung stattfindet (Prinzip
habenden Länder interpretiert werden können (vgl. Entsen-               der fiskalischen Äquivalenz). Bürgernähe und demokratische
derichtlinie). Europäische Harmonisierungsbestrebungen,                 Kontrolle werden gestärkt und Moral-Hazard-Probleme ge-
wie sie derzeit bei der Körperschaftsteuer angestrebt wer-              mindert. Zudem geht von einem dezentralen Ansatz ein Sys-
den, beeinträchtigen aber auch den Standortwettbewerb und               temwettbewerb aus, bei dem ein gegenseitiges voneinander
die nationalen Handlungsmöglichkeiten wirtschaftlich starker            Lernen gefördert wird. Beispielhaft für eine sinnvolle dezen-
Staaten wie Deutschland.                                                trale Bereitstellung in der EU sind die Arbeits- und Sozialpoli-
      Insofern wäre es von zentraler Bedeutung, den euro-               tik sowie die Fiskalpolitik, aber auch die seit Jahrzehnten auf
päischen Binnenmarkt als Fundament der europäischen                     europäischer Ebene praktizierte Agrarpolitik.
Integration wieder stärker in den Fokus der europäischen                      Wenn hingegen grenzüberschreitende externe Effekte
Integrationsdebatte zu stellen und von übereilten Regulie-              auftreten oder Kostenreduktionen durch Skaleneffekte reali-
rungsschritten abzusehen.                                               sierbar sind, sollte die Bereitstellung öffentlicher Leistungen
                                                                        auf zentraler bzw. supranationaler Ebene erfolgen. Durch
                                                                        Kooperation sollten grenzüberschreitende externe Effekte
3.3        Subsidiaritätsprinzip
                                                                        entsprechend internalisiert werden, sodass der Verursacher
                                                                        die Kosten der Externalität in der Produktion berücksichtigen
Bei der Verlagerung von politischen Kompetenzen auf die                 muss. Dies kann beispielsweise in der Klimapolitik ange-
europäische Ebene sollte das Prinzip der Subsidiarität hand-            bracht sein. Soweit öffentliche Leistungen ohne Rivalisierung
lungsleitend sein, wie es in Art. 5 des EU-Vertrages als Grund-         im Konsum genutzt werden können, lassen sich grenzüber-
prinzip verankert ist. Demnach darf die EU in den Bereichen,            schreitende Kostenreduktionen durch Skaleneffekte erzielen.
die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur dann        Dies ist beispielsweise in der Verteidigungspolitik der Fall. Da
tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht               die Vorteilhaftigkeit eines gemeinsamen Binnenmarktes auch
gezogenen Maßnahmen weder auf nationaler noch auf re-                   von den grenzüberschreitenden Freiheitsgraden der Märkte
gionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden             abhängt, ist eine den freien Wettbewerb schützende Binnen-
können und auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.                marktpolitik auf zentraler Ebene anzusiedeln.

28 Vgl. Bolkestein und Gerken (2007).
29 Vgl. Oates (1972).

                                                                   15
Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion                                                Mehr Transfer als Stabilität?

                                                                                                                   Abbildung 10:
                          Grenzüberschreitende Externalitäten,                                                     Wann sich Koordination
                                    Skaleneffekte                                                                  in Europa lohnt
       Koordination erstrebenswert                Koordination bedingt erstrebenswert
                                                                                                                   Quelle: Eigene Darstellung in An-
                                                                                                                   lehnung an Alesina et al. (2005),
           Wettbewerbspolitik,                                                                                     Sachverständigenrat (2016) und
             Handelspolitik,                         Regional- und Strukturpolitik,                                Berthold (2017).
       Klimapolitik, Verteidigungs-                        Währungspolitik
          und Sicherheitspolitik
                                                                                        Heterogene Präferenzen,
                                                                                          Systemwettbewerb

                                                          Arbeitsmarktpolitik,
          übrige Politikbereiche                             Sozialpolitik,
             wie Agrarpolitik                               Transferpolitik

        Koordination überflüssig                   Koordination wenig erstrebenswert

      Abbildung 10 gibt einen Überblick darüber, welche Po-                      durch die Europäische Kommission zu erkennen. Aufschluss-
litikbereiche eher auf europäischer Ebene anzusiedeln sind                       reich ist hierbei im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren das
und welche Bereiche besser in der Kompetenz der Mitglied-                        Verhältnis von Richtlinien zu Verordnungen. Richtlinien bedür-
staaten verbleiben sollten. Innerhalb der einzelnen Bereiche                     fen der Umsetzung in nationales Recht und beinhalten folg-
muss jedoch stets differenziert werden, da beispielsweise                        lich einen gewissen Umsetzungsspielraum für die nationalen
weder lokale Gewaltakte noch regionale Umwelteffekte eine                        Parlamente, während Verordnungen für die Nationalstaaten
internationale Koordinierung oder gar Bereitstellung notwen-                     unmittelbar gelten und somit für die Kommission, die das
digerweise erforderlich machen. Die im EU-Vertrag formu-                         Initiativrecht besitzt, wirkmächtiger sind. Während vor zwei
lierte Absicht, eine „immer engere Union der Völker Europas“                     Jahrzehnten Richtlinien das Gesetzgebungsverfahren domi-
herbeizuführen, sollte daher nicht dahingehend ausgelegt                         nierten, ist seit dem Jahr 2010 ein Trend zu wesentlich mehr
werden, im Zweifel immer mehr Kompetenzen auf die euro-                          Verordnungen in Relation zu den Richtlinien zu erkennen. Der
päische Ebene zu verlagern.                                                      Verordnungsanteil ist seit dem Jahr 2000 von etwa 30 Prozent
      Es ist allerdings eine Tendenz zur Kompetenzaneignung                      auf inzwischen über 80 Prozent gestiegen (vgl. Abbildung 11).

                                                                                                                   Abbildung 11:
 100                                                                                                               Anteil der Verordnungen
  90                                                                                                               und Richtlinien im
  80
                                                                                                                   ordentlichen Gesetz-
                                                                                                                   gebungsverfahren
  70
                                                                                                                   (in Prozent)
  60
                                                                                                                   Quellen: Centrum für Europä-
  50                                                                                                               ische Politik (2017), Europäische
  40                                                                                                               Kommission.

  30
  20
  10
   0
   2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

                                      Verordnungsanteil                 Richtlinienanteil

                                                                           16
Mehr Transfer als Stabilität?                                                Grundlegende Prinzipien einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion

     Entsprechend kommt der Wahrung des Subsidiaritäts-                           züglich große Unterschiede auftreten. Während Schweden
prinzips eine zentrale Bedeutung zu. Den nationalen Parla-                        in den vergangenen acht Jahren rund 140 Mal Subsidiari-
menten steht diesbezüglich das Mittel der sogenannten Sub-                        tätsrügen ausgesprochen hat, kommt Deutschland lediglich
sidiaritätsrüge zu. Die Subsidiaritätsrüge räumt den nationalen                   auf rund 20 Fälle. Davon wurden die meisten Rügen jedoch
Parlamenten (in Deutschland jeweils eine Stimme für Bundes-                       vom Bundesrat ausgesprochen. Eine Untersuchung der
tag und Bundesrat) zwar kein rechtsverbindliches Veto gegen                       Bundestagsverwaltung kommt zu dem Schluss, dass der
einen Gesetzgebungsvorschlag der EU ein, jedoch bewirkt                           Bundestag nur zurückhaltend von der Möglichkeit der Sub-
beispielsweise eine von der Mehrheit aller mitgliedstaatlichen                    sidiaritätsrüge Gebrauch macht. Bei 441 Legislativvorschlä-
Parlamente ausgesprochene Subsidiaritätsrüge (sog. „oran-                         gen im Untersuchungszeitraum gab der Bundestag lediglich
ge Karte“), dass der Entwurf vom Unionsgesetzgeber (Rat                           drei Subsidiaritätsrügen ab, obwohl es in 157 Fällen Hinwei-
und Europäisches Parlament) nochmals untersucht werden                            se auf eine potentielle Verletzung des Subsidiaritätsprinzips
muss und gegebenenfalls verworfen wird. Für eine Subsidiari-                      gegeben hat.30
tätsrüge ist den nationalen Parlamenten jedoch nur eine Frist                           Um das Subsidiaritätsprinzip besser zu wahren, sollte
von acht Wochen ab dem Zeitpunkt der Übermittlung des                             einerseits das Bewusstsein der nationalen Parlamente für die
Gesetzgebungsvorschlags eingeräumt.                                               Rügemöglichkeit geschärft werden. Andererseits könnte die
     Abbildung 12 verdeutlicht, dass die nationalen Par-                          Etablierung eines Subsidiaritätsgerichts bestehend aus rotie-
lamente von Subsidiaritätsrügen nur relativ geringen Ge-                          renden nationalen Verfassungsrichtern helfen, dem Subsidia-
brauch machen und zwischen den Mitgliedstaaten diesbe-                            ritätsprinzip wieder mehr Geltung zu verschaffen.31

  Abbildung 12:
  Subsidiaritätsrügen nationaler Parlamente, 2010–2017
  Quellen: Centrum für Europäische Politik (2017), Europäische Kommission.

   140

   120

   100

    80

    60

    40

    20

     0
             Kr n
                          n

             Le d

            Fin d

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            Po d

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          Dä ich

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                                                                                                                    an a
                                                                                                                            ich

                                                                                                                            len

                                                                                                                   ed urg

                                                                                                                  Sc nde

                                                                                                                             en
                      ga

                         e

                     ar

                                                                                                                           alt
                      ie

                    tie

                    rie

                   hie

       De itaue
                       n

                       n

                       n

                       n

                        i
                    ak

                   hn
                   pe

                   ga
                  lgi

                      i

                                                                                                                         ed
                  tla

                ttla

                nla

                 nla

                 Irla

                hla
                 en

                     l
                 än

                 an

                rre

                                                                                                                       kre

                                                                                                                        Po
                rtu

                  m

                                                                                                                         b
                Ita

                                                                                                                        M
                oa

               lga

                                                                                                                        la
               ow

               ec

               sc
               Zy
              Be

                                                                                                                       m
              Es

                                                                                                                     hw
             ne
            ow

              m

                                                                                                                      er
              te
              L
           Bu

           ch

                                                                                                                    xe
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         iec
          Sl

                                                                                                                  Fr

                                                                                                                 Lu
        Ts

        ur

                                                                                                                 Ni
      Gr

      -D

30 Vgl. Deutscher Bundestag (2017).
31 Vgl. Sinn (2016).

                                                                             17
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