Frau geht vor 01 - DGB Frauen

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Frau geht vor 01 - DGB Frauen
frau geht vor                                                                              01
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 Europa auf Kurswechsel
 Abschied von der Gleichstellungspolitik?

 DGB-Bundesvorstand | Abteilung Frauen, Gleichstellungs- und Familienpolitik | März 2016
Frau geht vor 01 - DGB Frauen
Inhalt

    Editorial ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------- 3

    Heute für morgen Zeichen setzen
    Aufruf zum Internationalen Frauentag -------------------------------------------------------------------------------- 4

    „Sisypha“ – gescheit, pragmatisch, ausdauernd
    Aktuelle Herausforderungen und Tendenzen der EU-Gleichstellungspolitik ------------------------------------ 5

    Auf halbem Weg stecken geblieben
    Europa tut sich schwer mit der Geschlechtergerechtigkeit -------------------------------------------------------- 8

    Unbezahlte Arbeit ist immer noch Frauensache
    Erwerbsbeteiligung und Arbeitsbedingungen von Frauen in Europa ------------------------------------------- 10

    Ein schwieriges Unterfangen
    Gleichstellung im Europäischen makroökonomischen Finanzwesen ------------------------------------------- 13

    Krisenpolitik auf Kosten von Frauen
    Der Einfluss der europäischen Geld- und Fiskalpolitik auf die Geschlechtergerechtigkeit ------------------ 16

    Frankreich
    Avantgarde oder Trugbild in der beruflichen Gleichstellung? --------------------------------------------------- 18

    Meldungen
    DGB Appell an die Kanzlerin / Entgeltgleichheit auf dem Prüfstand ------------------------------------------- 20

    EU beerdigt Gleichstellungsstrategie
    Proteste gegen unverbindliches Arbeitspapier -------------------------------------------------------------------- 21

    Wir machen Fortschritte
    Der neue EGB Generalsekretär Luca Visentini setzt auf Gleichstellung --------------------------------------- 22

    Charta der Gleichstellung auf EU Ebene
    IG BCE setzt auch international auf Nachhaltigkeit -------------------------------------------------------------- 24

    Meldungen
    Honoriert, was Frauen leisten / Gleichberechtigung an Hochschulen /
    Deutscher Personalräte-Preis 2016
    Girls‘Day – Mädchen-Zukunftstag / Buchtipp: Mehr Zeit für die Familie! ------------------------------------ 25

    „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“
    Elisabeth Selbert und der gleichstellungspolitische Coup im Grundgesetz------------------------------------ 27

2   DGB Frau geht vor
Frau geht vor 01 - DGB Frauen
Editorial
                                  Europa auf Kurswechsel
                                  Gleichstellungspolitik auf dem Rückmarsch
                                  Von Anja Weusthoff

                                  Liebe Kolleginnen, liebe Frauen,                      nach, wie schwer sich Europa mit der Geschlech-
                                  von Beginn an stand die Europäische Union             tergerechtigkeit tut: Auf halbem Weg stecken
                                  für die tatsächliche Gleichstellung von               geblieben (Seite 8). Wie es um die Erwerbsbe-
                                  Frauen und Männern. Sie gehört zu den                 teiligung und Arbeitsbedingungen von Frauen in
                                  Grundwerten der Europäischen Union,                   der EU bestellt ist, erläutern Erika Mezger und
                                  seit 1957 der Grundsatz gleicher Lohn für             Barbara Gerstenberger, wenn sie als Fachfrauen
                                  gleiche Arbeit in den Römischen Verträgen             von Eurofound feststellen: Unbezahlte Arbeit ist
                                  verankert wurde. Für die Gleichstellung               immer noch Frauensache (Seite 10).
Anja Weusthoff leitet die         auf dem Arbeitsmarkt durch mehr Frauen
Abteilung Frauen, Gleich-
stellungs- und Familien­politik
                                  in Führungspositionen oder durch eine                 Brigitte Young geht für uns der Frage nach,
beim DGB-Bundesvorstand.          bessere Vereinbarkeit von Beruf und                   warum so wenige Frauen auf die wirklich
                                  Familie, hat Europa unverzichtbare Impulse            wichtigen wirtschafts- und finanzpolitischen
www.frauen.dgb.de
                                  geliefert, die wir auch in Zukunft brauchen.          Entscheidungen Einfluss nehmen und die Gender
                                                                                        Studies Ungleichheit in erster Linie als Problem
                                  Mit ihrer Strategie für die Gleichstellung von        der Arbeitsmärkte, Sozial- und Familienpolitik
                                  Frauen und Männern hat die Europäische Union          analysieren – obwohl gerade Geldpolitik eine
                                  2010–2015 das Ziel verfolgt, die wirtschaftliche      zentrale Voraussetzung der Sozialpolitik ist
                                  Unabhängigkeit von Frauen zu fördern. Doch mit        (Seite 8). Und Helene Schuberth ist sicher: Die
                                  der Gleichstellungsstrategie ist nun Schluss – und    europäische Krisenpolitik wird auf Kosten von
                                  eine neue ist gegen den erklärten Willen des          Frauen gemacht, denn die europäische Geld-
                                  EU-Ministerrates und des Europäischen Parla-          und Fiskalpolitik hat erheblichen Einfluss auf die
                                  mentes nicht in Sicht. Es mangelt ganz offensicht-    Geschlechtergerechtigkeit (Seite 16).
                                  lich am politischen Willen der Kommission!
                                                                                        Die Gewerkschaften werben für ein politisch
                                  Darum zeigen wir in diesem Heft auf, wie es um        vereintes, demokratisches, wirtschaftlich starkes
                                  die Gleichstellung in Europa bestellt ist. Gabriele   und sozial gerechtes Europa, das auch seine
                                  Bischoff und Barbara Helfferich bilanzieren           gleichstellungspolitischen Ziele umsetzt. Darum
                                  politische Erfolge und klagen rückschrittliche        engagiert sich auch der Europäische Gewerk-
                                  Tendenzen an: So wird die auf Frauen zielende         schaftsbund (EGB) für eine Europäische Gleich-
                                  „Gleichberechtigungspolitik“ einer Politik der        stellungstrategie. Im EGB-Generalsekretariat
                                  „Chancengleichheit für alle“ untergeordnet. Die       kümmert sich darum vor allem Montserrat Mir
                                  gesamte Rechtsetzung erhält einen Prüfvorbe-          Roca (Seite 21). Aber auch der EGB-General-
                                  halt und das Gender-Programm „Strategisches           sekretär Luca Visentini kritisiert die Lücken der
                                  Engagement für Gendergleichheit (2016–2019)“          Gleichstellungspolitik in Europa und erläutert im
                                  mit dem Status eines Arbeitsdokuments, dass die       Interview mit „frau geht vor!“ die Schlüsselrolle
                                  Gleichstellungsstrategie ablösen soll (Seite 5).      der Gewerkschaften bei der Überwindung der
                                                                                        tiefsitzenden und strukturellen Geschlechterun-
                                  Den Gender-Equality-Index des Europäischen            gleichheiten sowie deren Bedeutung für den EGB
                                  Instituts für Geschlechterfragen (EIGE) verortet      (Seite 22).
                                  den Stand der Gleichstellung auf einer Skala von
                                  1 bis 100 bei gerade mal 52,9. An konkreten
                                  Bespielen dafür weist Inge von Bönninghausen

                                                                                                               Ausgabe Nr. 1 – März 2016     3
Frau geht vor 01 - DGB Frauen
Schwerpunkt

              2016

    Liebe Kolleginnen und Kollegen,

    Frauen in Deutschland sind immer häufiger erwerbstätig. Aber fast jede zweite arbeitet in Teilzeit - oft ihr gesamtes
    Erwerbsleben lang. Damit ist Deutschland im europäischen Vergleich Spitzenreiter. Und wird es wohl auch bleiben:
    Während Männer weiterhin überwiegend Vollzeit arbeiten, steigt der Anteil an erwerbstätigen Frauen in Teilzeit.

    Meistens ist es die Frau, die zusätzlich zur Arbeit für Kind und Haushalt sorgt - für viele Frauen nur mit einem Teilzeit- oder
    Minijob möglich. Dabei ist vor allem Teilzeit mit wenigen Arbeitsstunden mit Nachteilen verbunden: beim Einkommen, bei
    der Karriere und der sozialen Sicherung.

    Der Trend bei den Wunscharbeitszeiten von Unter- und Überbeschäftigten ist ungebrochen: Vor allem Frauen in
    geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen und in Teilzeit möchten ihre Arbeitszeit gerne ausweiten, immer mehr Männer
    ihre Stundenzahl reduzieren. Aber starre Arbeitszeitregelungen und Präsenzkultur machen es beiden – Frauen und
    Männern – unmöglich, Erwerbstätigkeit, Hausarbeit und Familienpflichten miteinander zu vereinbaren. Sie haben keine
    Chance, über Dauer, Lage und Takt ihrer Arbeitszeiten mitzubestimmen.

    Für eine geschlechtergerechte Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben brauchen alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
    Arbeitszeitsouveränität. Ohne einen gesetzlichen Rahmen lässt sich das nicht verwirklichen. Deswegen setzen
    Gewerkschaften am internationalen Frauentag 2016 ein Zeichen und fordern:

            das im Teilzeit- und Befristungsgesetz enthaltene Recht auf Teilzeit auf alle Beschäftigten auszuweiten
             unabhängig davon, wie groß der Betrieb ist, indem sie arbeiten.
            ein Recht auf befristete Teilzeit. Damit Beschäftigte ihre Arbeitszeit nach Bedarf auch wieder aufstocken können
             und auch Männer sich trauen, in bestimmten Lebensphasen ihre Arbeitszeit zu reduzieren.
            ein Recht, aus der Teilzeit wieder zurück zu kehren. Wer raus will aus der Teilzeitfalle, soll auch einen gesetzlichen
             Anspruch darauf haben.

    Die Frauen im DGB machen sich stark für eine geschlechtergerechte Verteilung der Arbeitszeit und eine eigenständige
    Existenzsicherung von Frauen über alle Lebensphasen hinweg. Deshalb lasst uns gemeinsam:

                                             Heute für morgen Zeichen setzen!

    Elke Hannack, Stellvertretende DGB-Vorsitzende

4   DGB Frau geht vor                                                                           WWW.FRAUEN.DGB.DE
Frau geht vor 01 - DGB Frauen
„Sisypha“ – gescheit, pragmatisch, ausdauernd
                                          Aktuelle Herausforderungen und Tendenzen der EU-Gleichstellungspolitik
                                          Von Gabriele Bischoff und Barbara Helfferich

                                          Das Bemühen um Gendergleichheit in                    ist die Zahl der wirtschaftlich inaktiven Frauen
                           Foto: EU2015

                                          der Europäischen Union mutet an wie die               noch zweimal so hoch wie die der Männer. Bisher
                                          Arbeit des Sisyphos. Seit der Verankerung             sind nur 29 Prozent der Selbstständigen Frauen.
                                          des Grundsatzes von gleichem Lohn für                 Frauen verdienen immer noch 16 bis 19 Prozent
                                          gleiche Arbeit in den Römischen Verträgen             weniger Lohn als Männer. Sie arbeiten oft halbtags
                                          versuchen die „Schwestern“ des Sisyphos,              und/oder in niedrig bezahlten Stellungen. Deshalb
                                          den Stein der Gleichheit über die Berg-               liegt der allgemeine Lohnunterschied in der EU bei
                                          kuppe hinaus zu rollen. Gescheiter als ihr            durchschnittlich 16 Prozent (in Deutschland bei
Gabriele Bischoff ist seit                berühmter Bruder und überzeugt davon,                 21 Prozent), was fatale Folgen für die Rente und
2015 Präsidentin der
Arbeitnehmergruppe im
                                          dass man es nur gemeinsam schaffen                    soziale Sicherheit hat. Heute liegen die Rentenan-
Europäischen Wirtschafts- und             kann, arbeiten Gewerkschaften, Frauen-                sprüche der Frauen fast 50 Prozent unter denen der
Sozialausschuss (EWSA). Die               organisationen und Teile der Europäischen             Männer und hier liegen Deutschland und Luxem-
Politologin leitete von 2008 bis
2014 die Europa-Abteilung beim            Institutionen an diesem Ziel.                         burg an der Spitze mit stolzen 44 und 47 Prozent.
DGB-Bundesvorstand.                                                                             Da ist die Altersarmut der Frauen vorprogrammiert.
                                          „Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen
www.eesc.europa.eu                        Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen              Trotz besserer Gesetze und steigenden sozialen
                                          Felsblock, einen ungeheuren, fortschaffen
                                                                                                Bewusstseins für die Gewalt an Frauen sind die
                                          wollte. Ja, und mit Händen und Füßen
                                          stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen         Zahlen Zeugen einer traurigen Bilanz. Gewalt an
                                          Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe                Frauen ist immer noch ein Allgemeinplatz und
                           Foto: privat

                                          werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht          nimmt die verschiedensten Formen an: Eine Frau
                                          zurück: von neuem rollte dann der Block, der          unter dreien hat schon mal physische oder sexuelle
                                          schamlose, ins Feld hinunter. Er aber stieß ihn       Gewalt erfahren. Fünf Prozent der Frauen in der
                                          immer wieder zurück, sich anspannend, und es
                                                                                                EU sind schon mal vergewaltigt worden und viele
                                          rann der Schweiß ihm von den Gliedern, und
                                          der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus.“         haben Gewalterfahrung im Internet gemacht. Es
                                                                                                wird geschätzt, dass mehr als 500.000 Frauen und
                                                        Homer: Odyssee 11. Gesang, 593–600.     Mädchen in der EU dem Risiko einer Genitalver-
                                                          Übersetzung Wolfgang Schadewaldt
Dr. Barbara Helfferich                                                                          stümmelung ausgesetzt sind.
ist Schatzmeisterin und
Gründungsmitglied von
Gender 5 plus – the European              Es gibt keinen Zweifel, dass viel geschafft worden    Gleichstellungspolitische Fortschritte –
Feminist Think Tank.                      ist in den letzten 58 Jahren: Der Gleichheitsgrund-   EU übernimmt Vorreiterrolle
                                          satz, Gender Mainstreaming und Anti-Diskrimi-         Die EU hat sich über viele Jahre als Champion
www.gender5plus.eu
                                          nierung sind festgeschriebene Werte und Gesetze       der Gleichstellung von Frauen und Männern
                                          in der Europäischen Union – und das nicht nur im      hervorgetan, vor allem aber auch die Europäische
                                          Bereich Arbeit, sondern auch im Zugang zu Sozial-     Kommission, die durch ihre Aktionsprogramme,
                                          versicherung, Gesundheit und Rentenansprüchen.        Genderstrategien und Gesetzesvorschläge neue
                                          Sind dies nicht konkrete Gründe zu feiern; ist der    Realitäten für Mitgliedsstaaten geschaffen hat.
                                          Stein nicht schon oben und brauchen wir ihn nur       Viele dieser Vorschläge wurden vom Europäischen
                                          noch zu sichern?                                      Parlament angestoßen und von den Parlamenta-
                                                                                                rier/innen weiter verbessert. Durch EU Richtlinien,
                                          Viel geschafft, aber mehr noch zu tun                 und insbesondere durch die Kodifizierung der
                                          Ein Blick auf die aktuellen Fakten muss diesen        einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen
                                          positiven Eindruck revidieren: Trotz hoher Investi-   Gerichtshofes, haben jetzt Frauen die Möglichkeit,
                                          tionen im Bildungsbereich und allgemein besserer      ihre Rechte einzuklagen (auch wenn sie das bisher
                                          Abschlussnoten von Frauen an den Universitäten,       nicht oft genug tun).

                                                                                                                       Ausgabe Nr. 1 – März 2016      5
Frau geht vor 01 - DGB Frauen
Gleichwohl ist eine gute EU-Rechtsetzung die          REFIT-Plattform eingerichtet, um sich regelmäßig      REFIT-Plattform
                                                                                                                (REgulatory FITness and Performance)
    Grundvoraussetzung dafür, dass die nationalen         mit den Mitgliedstaaten u.a. über Verbesserungen
                                                                                                                www.ec.europa.eu/smart-regulation/
    Gesetzgeber verpflichtet werden, die EU-weite         der EU-Rechtsvorschriften auszutauschen. Die          refit/index_de.htm
    Gleichbehandlung auch in ihrem Land umzusetzen.       REFIT-Plattform besteht aus zwei ständigen
                                                                                                                Neben der REFIT-Plattform wurde
    Gerade in Deutschland haben Frauen davon              Gruppen, einer Gruppe mit Regierungsvertreter/        im Juli 2015 ein Ausschuss für
    profitiert, weil diese gleichstellungspolitischen     innen und einer Gruppe mit Vertreter/innen der        Regulierungskontrolle eingerichtet,
    Fortschritte ohne die EU-Gesetzgebung kaum            Wirtschaft, der Sozialpartner und der Zivilge-        der die Qualitätssicherung
                                                                                                                und die Unterstützung für die
    erreicht worden wären, insbesondere im Feld der       sellschaft (Gruppe der Interessenträger). Diese       Folgenabschätzungen und
    Antidiskriminierungspolitik.                          20-köpfige Stakeholder-Gruppe besteht überwie-        Evaluierungen der Kommission
                                                          gend aus Vertreter/innen der Arbeitgeber- und         sicherstellen soll.

    Ergänzend lohnt der Blick auf die europäischen        Wirtschaftsverbände, intermediärer Organisationen
    makroökonomischen Strategien. Gleichstellungspo-      oder Nichtregierungsorganisationen (NRO). Den
    litik wird als Teil der übergeordneten, makroöko-     Gewerkschaften wurde ein einziger Platz einge-
    nomischen Politik gesehen. Die zugrundeliegenden      räumt, frauen- oder genderpolitische Nichtregie-
    Ziele waren und sind jedoch nicht die Gleichbe-       rungsorganisationen (NRO) sind überhaupt nicht
    rechtigung – als Wert an sich – sondern soge-         vertreten.
    nannte übergeordnete Ziele wie die Bekämpfung
    von Arbeitslosigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit        EU auf Kurswechsel –
    oder mehr Wachstum. Gleichberechtigung soll           Chancengleichheit für Alle
    diesen Zielen dienen. Wenn sie das tut, finden und    Der mögliche Austritt Großbritanniens aus der
    fanden sich auch Mehrheiten.                          Europäischen Union, die Brexit-Drohung, tat ein
                                                          Übriges, um die EU-Agenda noch businessfreund-
    Krise in Europa – Auswirkungen auf die                licher zu machen, als sie ohnehin schon war. All
    Gleichstellungspolitik                                dies stellt einen ernstzunehmenden Kurswechsel
    Aber die Zeiten sind schwer in Europa; die Finanz-    dar, der allerdings schon von der Europäischen
    und Wirtschaftskrise hat ihre Wunden hinterlassen     Kommission unter Barroso 1 begann. Mit diesem
    und die Entscheidungsträger haben sich auf einen      Präsidenten der Europäischen Kommission wurde
    rigiden Sparkurs geeinigt, der keine Rücksicht auf    aus der spezifischen Gleichberechtigungspolitik,
    die zentralen, sozialen wie gleichstellungspoliti-    die ihre stärksten Wurzeln in den 70er bis 90er
    schen Aufgaben und Ziele nimmt.                       Jahren hatte und auch stark von der interna-
                                                          tionalen Frauenpolitik und der Pekinger Welt-
    Parallel dazu hat die EU-Kommission dem Drängen       frauenpolitik beeinflusst wurde, eine Politik, die
    der Wirtschaft wie auch der Europaskeptiker nach-     die Gleichberechtigung von Frauen unter dem
    gegeben und die gesamte Rechtsetzung                  Oberbegriff – Equal Opportunities for All – also
    unter Prüfvorbehalt gestellt. Dazu wurde eine         „Chancengleichheit für Alle“ einstufte.
    Art Anti-Bürokratiemaschinerie geschaffen, die
    die Europäische Rechtsetzung vereinfachen und         Die ehemaligen, frauenspezifischen Aktions-
    bürokratische Hürden, insbesondere für Unter-         programme in den 80er und 90er Jahren und
    nehmen, abbauen soll. Als Label dient der Begriff     die Gender Strategie in den ersten Jahren des
    „bessere Rechtsetzung“. Eric van den Abeele,          neuen Jahrtausends wurden kurzerhand durch            Europäisches Gewerkschaftsinstitut
                                                                                                                European Trade Union Institute
    Mitarbeiter der Ständigen Vertretung Belgiens bei     ein Anti-Diskriminierungsprogramm abgelöst.
                                                                                                                www.etui.org
    der EU, spricht von einer schleichenden Büro-         Gleichzeitig wurde die einflussreiche Gruppe der
    kratisierung der Rechtsetzung, die insbesondere       Kommissare zum Gendermainstreaming in „Gruppe
    die EU-Kommission selbst trifft. Sie verliert damit   der Kommissare für Fundamentale Rechte, Anti-         Acquis communautaire
                                                                                                                (frz. „gemeinsamer Besitzstand“),
    ihre Rolle als Motor der Gesetzgebung.                Diskriminierung und Chancengleichheit“ umbe-          umfasst alle Rechte und Pflichten,
                                                          nannt, um diesem Trend Rechnung zu tragen. Des        die für alle Mitgliedstaaten der EU
    Gleichberechtigungs- und Anti-                        Weiteren wurde das Chancengleichheitsreferat          verbindlich sind. Dazu gehören zum
                                                                                                                einen der EU- und der EG-Vertrag
    diskriminierungspolitik auf dem Prüfstand             von der Generaldirektion Arbeit und Soziales in die   (Primärrecht), zum anderen
    Unter Prüfvorbehalt stehen nicht nur mögliche         Generaldirektion Justiz verlagert. Dadurch wurde      die Verordnungen, Richtlinien,
                                                                                                                Entscheidungen und Empfehlungen, die
    neue Rechtsetzungen, sondern auch der gesamte         gleichzeitig der Aktionsrahmen für Gendergleich-      von den Organen der EU (Europäische
    bestehende „Acquis Communautaire“, und damit          heit eingeschränkt.                                   Kommission, Rat der Europäischen
    u.a. alle Erfolge der Rechtsetzung im Bereich der                                                           Union und Europäisches Parlament
                                                                                                                (EP)) erlassen werden (Sekundärrecht)
    Gleichberechtigungs- und Antidiskriminierungspo-      Viele Gender Expertinnen und Experten, die            sowie die Entscheidungen des
    litik. Die Kommission hat 2015 eine sogenannte        im Bereich Arbeit und Soziales etabliert waren,       Europäischen Gerichtshofs(EuGH).

6   DGB Frau geht vor
Frau geht vor 01 - DGB Frauen
verloren Stimme und Einfluss. Diesem Trend         spezifische Probleme von Frauen auf dem Arbeits-
                                           konnte auch das FEMM Komitee im Europäischen       markt wurden nicht mehr in der Strategie erwähnt.
                                           Parlament nichts entgegensetzten, dass 1984        Das Beschäftigungsziel drückt sich in nur einer Zahl
FEMM Komitee                               gegründet, immer wieder selber um seine Berechti-  aus: 75 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung
Der Ausschuss für die Rechte der           gung kämpfen muss.                                 sollten in 2020 einer Arbeit nachgehen. In der
Frau und die Gleichstellung der
Geschlechter (FEMM) ist einer der                                                             jetzigen Strategie, Europa 2020, kommen Frauen
20 Ausschüsse des Europäischen             Politischer Wille fehlt – Gendergleichheit         und Gendergleichheit überhaupt nicht mehr vor.
Parlaments.                                wird zum unverbindlichen Ziel                      Während die Lissabon-Strategie Gendermain-
www.europarl.europa.eu/
committees/de/FEMM/home.html               Wie weit der politische Willen auf Gendergleich-   streaming noch erwähnte, existiert dieses Konzept
                                           heit hinzuarbeiten geschwunden ist, zeigt das erst in der gegenwärtigen Strategie nicht mehr
                                           kürzlich veröffentlichte und nach langem Ringen    verbindlich. Gleiches gilt für die Indikatoren, die die
                                           verabschiedete neue Gender-Programm der EU         Strategie begleiten sollen. Daraus folgt auch, dass
                                           (Dezember 2015). Allein der Name – „Strategisches die Evaluierung der nationalen Politiken Ungleich-
                                           Engagement für Gendergleichheit (2016-2019)“ –     heiten, die in den Mitgliedsstaaten existieren, nicht
                                           und nicht etwa „Strategie für Gendergleichheit“    mehr registriert und/oder versucht zu korrigieren.
                                           gibt dem Ganzen einen allzu freiwilligen und       Nationale Aktionsprogramme und länderspezifi-
                                           nebulösen Charakter. Als wäre dies nicht genug     sche Empfehlungen bei der Kommission blenden
                                           an Unverbindlichkeit verzichtete die Kommission    Gendergleichheit komplett aus.
                                           nachfolgend auch darauf, das Dokument, das
Quellen:
Éric Van den Abeele, The EU’s REFIT        nur noch den Status eines Arbeitsdokuments         Europa braucht eine verbindliche
strategy: a new bureaucracy in the         der Europäischen Kommission hat, dem Rat zur       Genderstrategie
service of competitiveness? ETUI
                                           Verabschiedung vorzulegen. Dies war in früheren    Europa – so scheint es – hat den Frauen den
Working Paper 2014.05
                                           Jahren so üblich. Damit düpiert die Europäische    Rücken gekehrt. Der Stein des Sisyphos rollt wieder
Isabelle Schömann, EU REFIT                Kommission auch das Europäische Parlament, das     den Berg hinunter, falls sich dagegen kein breiter
machinery ‘cutting red tape’ at the cost
of the acquis communautaire, in: ETUI      im Juli 2015 die Kommission aufgefordert hat, eine Protest regt. Der Europäische Gewerkschaftsbund
Policy Brief 05/2015                       Gendergleichstellungsstrategie vorzulegen.         zusammen mit vielen Gewerkschaften, genauso
                                                                                              wie Frauenverbände und NRO haben dagegen
                                           Diese Vorgehensweise steht gleichwohl im Einklang protestiert, ohne bisher ausreichend Druck entfa-
                                           mit der Logik des Programms zur „besseren Recht- chen zu können. Dabei lohnt es sich nach wie vor,
                                           setzung“, indem verbindliche Ankündigungen für     für eine echte, verbindliche Gender-Strategie zu
                                           neue Rechtsetzung und Initiativen vermieden und    mobilisieren und die Kräfte zu bündeln. Partner
                                           alles so lang offengehalten wird, bis alle Etappen sind das Europäische Parlament wie auch einige
                                           der neuen Anti-Bürokratiemaschinerie durchlaufen Regierungen. Die Autorinnen sind überzeugt,
                                           sind. Damit kann die Gesetzgebung verzögert,       dass die politischen Kosten einer unterlassenen
                                           entkernt oder ganz verhindert werden.              Gleichberechtigungspolitik für Europa mittel- bis
                                                                                              langfristig zu hoch sind. Die Juncker-Kommission
                                           Strategie Europa 2020 lässt Frauen und             wäre gut beraten, ihre Vorreiterrolle wieder
                                           Gendergleichheit außen vor                         einzunehmen.
                                           Bereits mit der Lissabon-Strategie im Jahr 2002
                                           wurden spezifische Politiken zu Gender und
                                           Gendergleichheit nach und nach aufgeweicht,

Gender equality and economic                                                                                     EIGE
independence: Review of the                                                                                      Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE,
Implementation of the BPFA,                                                                                      englisch European Institute for Gender Equality) ist eine
Report, EIGE, 2014.                                                                                              Agentur der Europäischen Union (EU). Das Institut soll die
                                                   Gender equality and economic independence:                    Institutionen und Mitgliedstaaten der EU dabei unterstützen,
                                                                                                        Report   die Gleichstellung der Geschlechter zu verwirklichen
                                                           part-time work and self-employment
                                             Review of the Implementation of the Beijing Platform for
                                                                   Action in the EU Member States

                                                                                                                 und gegen geschlechtsbezogene Diskriminierung
                                                                                                                 (Sexismus) vorzugehen. Zu den Aufgaben gehören die
                                                                                                                 Erhebung und Analyse von vergleichbaren Daten zur
                                                                                                                 Geschlechtergleichstellung, die Förderung der Einbeziehung
                                                                                                                 des Gleichstellungsaspekts in alle Politikbereiche, die
                                                                                                                 Erleichterung des Austauschs bewährter Verfahren sowie
                                                                                                                 Stärkung des Dialogs zwischen den Beteiligten und die
                                                                                                                 Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Gleichstellungsthemen.

                                                                                                                                             Ausgabe Nr. 1 – März 2016            7
Frau geht vor 01 - DGB Frauen
Schwerpunkt
    Auf halbem Weg stecken geblieben
    Europa tut sich schwer mit der Geschlechtergerechtigkeit
    Von Inge von Bönninghausen

    Lässt sich die Gleichstellung von Frauen               Diskriminierung mehr, aber es besteht die Gefahr,

                                                                                                                                            Foto: privat
    und Männern mit Punkten benoten?                       dass Frauen unhinterfragt in männlich geprägte
    Ja, sagt das Europäische Institut für                  Normen eingepasst werden.
    Geschlechterfragen (EIGE) und hat einen
    Gender-Equality-Index entwickelt, der                  Der Differenz-Ansatz (difference) geht aus von
    zunächst auf Daten von 2005 und 2010                   biologisch bedingten Unterschieden und will
    basierte. Jetzt wurde er für 2012 fortge-              erreichen, dass sie gleich beachtet und gewertet
    schrieben. Die Bilanz ist bitter: Winzig               werden. Zwar wird hier die Dominanz männlicher
    kleine Schritte vorwärts – und auch                    Verhaltens- und Denkmuster kritisiert, nicht aber    Inge von Bönninghausen ist
    rückwärts. In Zahlen ausgedrückt ist der               die Bindung von „weiblich“ und „männlich“ an         Journalistin unter anderem leitete
                                                                                                                sie frauTV des WDR. Von 2000
    EU-Durchschnittswert für die Gleich-                   die Biologie, und es kommt leicht zur Verfestigung   bis 2004 war sie Vorsitzende des
    stellung auf einer Skala von 1 bis 100 um              von Rollenklischees. Ein dritter Ansatz (transfor-   Deutschen Frauenrates.
    ganze 1,6 Punkte auf 52,9 gekrochen.                   mation) sucht nach Wegen, um „beyond gender“
                                                           alle Zuschreibungen zu überwinden. Auf der
    Zunächst stellt sich die Frage, was hier mit „equa-    Punkteskala des EIGE von 1 bis 100 wäre dann der
    lity“ gemeint ist. Das EIGE definiert sie als „equal   höchste Wert erreicht.
    share of assets and equal dignity and integrity
    between women and men“. Das ist nicht einfach          In der Praxis finden sich alle drei Ansätze:
    zu übersetzen, weil „asset“ sowohl monetäres           Frauenförderung, Quoten und Antidiskrimi-
    Einkommen bedeutet als auch Gewinn im ideellen         nierungsgesetze haben „sameness“ zum Ziel.
    Sinn. Gemeint ist mit „equality“ die gleiche           Differenz kommt z.B. im Schwangerenschutz zum
    Teilhabe von Frauen und Männern an materiellen         Ausdruck und zögerlich auch im Gesundheits-
    und immateriellen Gütern sowie gleiche Würde und       wesen. Eine Transformation setzt voraus, dass
    Unversehrtheit. Dieses umgreifende Verständnis         die allen gesellschaftlichen Verhältnissen und
    kann der Begriff „Gleichstellung“ nicht abdecken,      Entscheidungen inhärente Geschlechterdimension
    aber einen passenderen gibt es leider nicht.           erst einmal bewusst gemacht wird. Dazu bietet
                                                           Gender Mainstreaming, zu dem sich die EU 2008
    Der Anspruch des Gender-Equality-Index ist hoch,       im Lissabonner Vertrag verpflichtet hat, die beste   Gender Equality Index
                                                                                                                www.eige.europa.eu/gender-statistics/
    soll doch die Komplexität der Geschlechterverhält-     Strategie. Die messbaren Ergebnisse aller dieser
                                                                                                                gender-equality-index
    nisse abgebildet und gleichzeitig den politischen      Bemühungen, Gleichheit zwischen den Geschlech-
    Akteur/innen ein verständliches Instrument für         tern herzustellen, sind in den Index eingeflossen.
    ihre Gleichstellungspolitik zur Verfügung gestellt
    werden.                                                Sowohl für die EU als auch für die 28 Mitglied-
                                                           staaten wurden alle bereits vorliegenden Statis-
    Drei Konzepte von Gleichheit                           tiken und Untersuchungen ausgewertet, um den
    Dem EIGE-Team war es wichtig, mit Bezug auf die        Gender Gap festzustellen und zu vergleichen.
    bestehenden Gleichstellungspolitiken die unter-        Sechs sowohl individuell als auch gesellschaft-
    schiedlichen Konzepte von Gleichheit und von den       lich wichtige Felder wurden untersucht: Arbeit,
    Wegen zu ihr zu skizzieren. Der Gleichheits-Ansatz     Geld, Wissen, Zeit, Macht und Gesundheit. Dazu
    (sameness) hat zum Ziel, Frauen überall einzu-         kommen Gewalt gegen Frauen und Mehrfachdis-
    beziehen, wo sie bisher ausgeschlossen waren,          kriminierung als sogenannte Satelliten, weil sie
    ihnen alle Möglichkeiten zu öffnen, die bisher         enger definierte Personenkreise betreffen.
    nur Männer haben, und jegliche Benachteiligung
    abzuschaffen. Wenn das gelingt, gibt es keine

8   DGB Frau geht vor
Frau geht vor 01 - DGB Frauen
Jeder Bereich ist wiederum in meist zwei Unter-       und Männer bei den materiellen Gütern (Arbeits-
gruppen aufgeteilt: Wissen zum Beispiel in            markt, Einkommen) ein bisschen gleicher gestellt
Fächerwahl/Hochschulabschluss und lebenslanges        sind, bleiben Männer in Politik und Wirtschaft
Lernen. Die Indikatoren Studium, Abschluss für        eklatant überrepräsentiert. Das immaterielle Gut
das Lehramt, für Gesundheitsberufe oder in den        der Macht in Politik und Wirtschaft wiegt schwer,
Geisteswissenschaften geben Auskunft über             denn es bedeutet, Entscheidungen für eine ganze
geschlechtsspezifische Unterschiede in Bildung und    Bevölkerung und über Landesgrenzen hinaus zu
Ausbildung. Lebenslanges Lernen wird gemessen         treffen. Der Gender Gap ist hier vor allem ein
an der Teilnahme an formeller und informeller         gravierendes Demokratiedefizit.
berufsbegleitender Weiterbildung. Im Ergebnis liegt
die Zahl von Frauen bei den Hochschulabschlüssen      Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen
in den meisten Mitgliedstaaten heute höher als        wertet auch gleiche Würde und Unversehrtheit als
die der Männer, aber die Geschlechtersegregation      wesentliche Bestandteile von Gleichheit zwischen
der Studiengänge besteht weiter wie in Beton          den Geschlechtern. Hier tritt Ungleichheit am
gegossen. Lebenslanges Lernen wird in der EU von      deutlichsten zutage als Gewalt gegen Frauen.
Arbeitgebern kaum angeboten und wenn es sie           Dieser Themenschwerpunkt ist in diesem Jahr
gibt, dann beteiligen sich eher Frauen als Männer.    erstmals berücksichtigt, weil erst jetzt Daten für
                                                      die gesamte Union vorliegen, allerdings auch nur
Demokratiedefizit                                     für direkte physische, sexuelle und psychische
Das Thema Macht ist besonders interessant,            Gewalt (Survey on Violence against Women).
weil hier die Gleichstellung in den allermeisten      Die Statistiken aus den Mitgliedstaaten sind
Mitgliedstaaten noch unter dem sehr niedrigen         nicht vergleichbar, weil lückenhaft und sehr
EU-Wert von 39,7 Punkten liegt und weil die           unterschiedlich. Hier fordert das EIGE wesentlich
Abstände zu den anderen Feldern besonders             größeres Engagement der Mitgliedstaaten. Es
drastisch sind. Macht wird für den Index unterteilt   gibt noch keine handlungsleitenden Ergebnisse,
in politische und wirtschaftliche Macht. Indika-      aber dennoch ist es wichtig, dass hier ein Anfang
toren für politische Macht sind Ministerämter         gemacht ist für ein umfassendes Verständnis von
sowie Parlamentsmandate auf nationaler und            Gleichheit zwischen Frau und Mann.
regionaler Ebene. Die Verteilung wirtschaftlicher
Macht wird an Aufsichtsräten börsennotierter          Der Gender-Equality-Index erreicht seine beiden
Unternehmen und an Entscheidungsträger/innen          Ziele: Akteuren und Akteurinnen der nationalen
in Zentralbanken gemessen. Für Beides zusammen        und europäischen Gleichstellungspolitik hand-
erreicht Deutschland 45,1 Punkte, demgegenüber        habbare Daten für ihre Arbeit zu bieten und
aber beim Geld (Verteilung von Einkommen und          gleichzeitig komplexe Zusammenhänge vertiefend
Armutsrisiko) erstaunliche 78,4 und im Bereich        darzustellen. Sich mit ihnen zu beschäftigen
Arbeit immerhin 62,2 der möglichen 100 Punkte.        verlangt intensive Arbeit, die sich aber wegen ihres
                                                      hohen Erkenntniswertes rundum lohnt.
Italien kommt beim Geld auf 68,0 Punkte, bei der
Macht aber nur auf 21,8 und auch in Großbritan-       Der Artikel erschien in der Zeitschrift „FrauenRat“
nien fällt die Verteilung von Macht auf Frauen und    Ausgabe 05/2015. Nachdruck mit freundlicher
Männer mit 33,2 Punkten weit zurück hinter alle       Genehmigung des Deutschen Frauenrates.
anderen Bereiche. Das heißt, selbst wenn Frauen       www.frauenrat.de

                                                                              Ausgabe Nr. 1 – März 2016      9
Frau geht vor 01 - DGB Frauen
Schwerpunkt
     Unbezahlte Arbeit ist immer noch Frauensache
     Erwerbsbeteiligung und Arbeitsbedingungen von Frauen in Europa
     Von Erika Mezger und Barbara Gerstenberger

     Frauen holen auf dem Arbeitsmarkt auf.               vorläufigen Ergebnisse dieser Studie weiter erläu-

                                                                                                                                          Foto: Eurofound 2016, Conor Healy
     Doch trotz steigender Erwerbsbeteiligung             tert werden, zunächst ein Blick auf die Arbeitswelt
     sind die geschlechtsspezifischen Unter-              von Männern und Frauen.
     schiede, was Beruf, Arbeitsplatz, Arbeits-
     zeiten und Verdienst angeht, groß. Nicht             Geschlechtsspezifische Berufe
     nur für die einzelne Frau, sondern auch              und Arbeitsplätze
     gesamtgesellschaftlich, ist das mit großen           Männer und Frauen erleben ihre Arbeitswelt
     wirtschaftlichen Einbußen verbunden.                 unterschiedlich. Das zeigen die Erhebungen zu
                                                          den Arbeitsbedingungen in Europa, die Eurofound       Barbara Gerstenberger ist
     Die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Europa hat      seit 1990 in regelmäßigen Abständen durchführt.       Koordinatorin im Direktorat
                                                                                                                der Europäischen Stiftung zur
     sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich        Verwunderlich ist das nicht, denn Männer und          Verbesserung der Lebens- und
     erhöht. Während 1994 weniger als die Hälfte der      Frauen arbeiten in unterschiedlichen Sektoren, in     Arbeitsbedingungen (Eurofound).
     Frauen in der EU erwerbstätig waren, waren es        unterschiedlichen Berufen und an unterschied-
                                                                                                                www.eurofound.europa.eu
     zehn Jahre später schon 55,5 Prozent. 2014 lag die   lichen Arbeitsplätzen. Geschlechtsspezifische
     Beschäftigungsquote für Frauen im Alter zwischen     Segregation erfreut sich also bester Gesundheit.
     15 und 64 Jahren im EU Durschnitt bei 59,6           Dabei ist allgemein bekannt, dass Sektoren wie
     Prozent. Die Unterschiede zwischen den Mitglieds-    das Baugewerbe, Transport, das verarbeitende
     staaten sind allerdings groß: in Schweden gingen     Gewerbe und die Landwirtschaft Männerdomänen
     2014 fast drei Viertel aller Frauen (73 Prozent)     sind, während das Gesundheitswesen und das
     einer Erwerbstätigkeit nach, in Griechenland waren   Bildungswesen von Frauen dominiert werden.
     es nur knapp über 40 Prozent.
                                                          Geschlechtertrennung ist die Regel
     Frauen sind seltener                                 Aber Geschlechtertrennung geht weiter: Nur fünf
     erwerbstätig als Männer                              der 20 beschäftigungsintensivsten Berufsgruppen
     Und nach wie vor ist die Erwerbstätigenquote         sind im Hinblick auf männliche und weibliche
     von Frauen niedriger als die von Männern. Auch       Beschäftigte ausgeglichen. Unter kaufmännischen
     im Jahr 2014 gab es – ohne Ausnahme – in allen       Angestellten zum Beispiel oder in personenbezo-
     28 Mitgliedsstaaten eine Beschäftigungslücke. In     genen Dienstleistungsberufen finden sich Männer
     Deutschland klafft diese Lücke um 8,6 Prozent-       und Frauen in etwa gleichen Anteilen. Aber selbst
     punkte auseinander. Obwohl die Beschäftigungs-       in diesen Berufsfeldern ist Geschlechtertrennung
     quote für Frauen hier mit 69,5 Prozent über dem      am Arbeitsplatz häufig die Regel. In der jüngsten
     EU Durchschnitt liegt, sorgt eine sehr hohe Quote    Europäischen Erhebung zu den Arbeitsbedin-
     bei den Männern (78,1 Prozent) dafür, dass der       gungen, die Eurofound 2015 durchgeführt hat,
     „kleine Unterschied“ im Hinblick auf die Erwerbs-    gab mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen an,
     tätigenquote recht eindeutig ausfällt.               dass an ihrem Arbeitsplatz hauptsächlich Kollegen
                                                          ihres eigenen Geschlechts die gleiche Stellenbe-
     Deutschland ist damit zwar besser als der EU         zeichnung haben wie sie selbst. Nur ein Fünftel der
     Durchschnitt (10,5 Prozentpunkte), liegt aber weit   Erwerbstätigen erklärte, dass gleich viele Männer
     hinter dem Klassenbesten, Finnland, wo der Unter-    und Frauen die gleiche Stellenbezeichnung haben
     schied nur 1,5 Prozentpunkte beträgt. Eurofound      wie sie selbst.
     stellt zurzeit Berechnungen an, um herauszufinden,
     welche Kosten mit diesen geschlechterspezifischen    Keine Geschlechterbalance am Arbeitsplatz
     Beschäftigungsdifferenzen verbunden sind, für die    Geschlechterbalance am Arbeitsplatz ist die
     Gesellschaft und für die einzelne Frau. Bevor die    Ausnahme, nicht die Regel. Eine gute Nachricht ist,

10   DGB Frau geht vor
dass der Anteil der Beschäftigten mit einer weibli-               Stunden als Männer. Es ist die unbezahlte Arbeit in
                                                                 chen unmittelbaren Vorgesetzten zwischen 2000                     Familie und Haushalt, die den Unterschied macht:
                                                                 und 2015 gestiegen ist, von 24 Prozent auf 33                     Frauen verbringen wöchentlich durchschnittlich 22
                                                                 Prozent. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass                   Stunden mit unbezahlter Arbeit, Männer neun. Der
                                                                 zwei Drittel der Beschäftigten nach wie vor einen                 größte Unterschied besteht in der Gruppe der 35-
                                                                 männlichen Vorgesetzten haben. Bei Männern ist                    bis 49-Jährigen.
                                                                 das in 85 Prozent aller Fälle so. Der weibliche Chef
                                                                 ist also eher eine Realität für Frauen. Die Hälfte                Die Notwendigkeit, bezahlte Arbeit mit anderen,
                                                                 von ihnen wird von Vorgesetzen ihres Geschlechts                  unbezahlten Verpflichtungen zu vereinbaren, steht
                                                                 angeleitet.                                                       nicht nur in Zusammenhang mit der Summe der
                                                                                                                                   wöchentlichen bezahlten Arbeitsstunden. Eine
                             Foto: Eurofound 2016, Conor Healy

                                                                 Zu den auffälligsten Ergebnissen der 2015 Erhe-                   Verbindung besteht auch im Hinblick auf ihre
                                                                 bung im Hinblick auf Geschlechterunterschiede                     Regelmäßigkeit. Nach wie vor ist es für die meisten
                                                                 gehören die Angaben hinsichtlich der Arbeitszeit.                 Erwerbstätigen normal, regelmäßig pro Tag und
                                                                 Das Geschlechtergefälle hinsichtlich der bezahlten                Woche gleichbleibend viele Arbeitsstunden zu
                                                                 Wochenarbeitsstunden ging in der EU seit 2005                     leisten, jede Woche dieselbe Anzahl von Tagen
                                                                 zwar leicht zurück. Das liegt aber vor allem daran,               zu arbeiten und ihre Arbeit stets zu den gleichen
                                                                 dass die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden bei                    Zeiten zu beginnen und zu beenden.
Dr. Erika Mezger ist seit Juli 2009                              Männern stärker sank als bei Frauen. Ungeachtet
stellvertretende Direktorin von
Eurofound.
                                                                 dessen bleiben die Unterschiede groß: Männer                      Regelmäßige Arbeitszeiten
                                                                 arbeiten im Durchschnitt 39 Stunden in der                        erleichtern Planungen
www.eurofound.europa.eu                                          Woche; Frauen sind durchschnittlich 33 Stunden in                 Eurofound hat einen Index für die Regelmäßigkeit
                                                                 ihrem Hauptberuf tätig. Arbeiten Frauen deshalb                   entwickelt, der zeigt, dass für 43 Prozent der
                                                                 weniger?                                                          Erwerbstätigen sehr regelmäßige Arbeitszeiten und
                                                                                                                                   Arbeitszeitregelungen gelten. Für etwa ein Drittel
                                                                 Unbezahlte Arbeit                                                 gehören unregelmäßige Zeiten und Regelungen
                                                                 ist nach wie vor Frauensache                                      aber zum Arbeitsalltag. Der Anteil der Frauen mit
                                                                 Die Antwort ist eindeutig nein. Die Eurofound                     sehr regelmäßigen Arbeitszeiten ist mit 46 Prozent
                                                                 Erhebung erfasst neben der bezahlten Arbeitszeit                  höher als der entsprechende Anteil der Männer
                                                                 im Hauptberuf auch Arbeitszeit in einem etwaigen                  (40 Prozent). Die Regelmäßigkeit unterstützt die
                                                                 Nebenjob, unbezahlte Arbeit wie Kinderbetreuung,                  Planbarkeit von Aufgaben und Verpflichtungen
                                                                 Hausarbeit oder Pflege sowie Wegezeiten.                          außerhalb der bezahlten Arbeit.
                                                                 Nimmt man bezahlte und unbezahlte Arbeitszeit
                                                                 zusammen, dann ergibt sich folgendes Bild: Frauen, Für die meisten Beschäftigten ist es der Arbeit-
                                                                 ob vollzeit- oder teilzeitbeschäftigt, arbeiten mehr geber, der Arbeitszeitpläne vorgibt. Zwei Drittel der

                                                                    Zusammengesetzter Indikator der bezahlten
                                                                    und unbezahlten Arbeitszeit von Frauen und Männern

                                                                                    Men
                                                                      Full-time

                                                                                  Women

                                                                                    Men
                                                                      Part-time

                                                                                  Women

                                                                                    Men
                                                                      Total

                                                                                  Women

                                                                                          0           10             20            30            40            50                60   70
                                                                                            ain job n S econd job n U npaid working time n C ommuting time
                                                                                          nM

                                                                                                                                                                    Ausgabe Nr. 1 – März 2016   11
Beschäftigten (64 Prozent) haben keine Möglich-       Die Studie schätzt auch die Kosten eines lebens-       Übersicht über die Erhebungen:
     keit, ihren Arbeitszeitplan zu ändern, während nur    langen Ausschluss von Erwerbstätigkeit von             www.eurofound.europa.eu/european-
                                                                                                                  working-conditions-surveys-ewcs
     jeder Zehnte zwischen unterschiedlichen Plänen        Frauen. Was bedeutet es, wenn eine Frau ab ihrem
     wählen kann, die vom Unternehmen festgelegt           20. Lebensjahr und für den Rest ihres Lebens nicht
                                                                                                                  Die Eurofound Studie zu den Kosten
     werden. Dabei ist es interessant festzustellen,       arbeitet? Für eine Frau mit Hochschulabschluss
                                                                                                                  der geschlechterspezifischen
     dass Frauen häufiger als Männer in Firmen             wäre das ein Verlust von fast zwei Millionen Euro.     Beschäftigungslücke: „The gender
     arbeiten, deren Beschäftigte zwischen mehreren        Für eine Frau mit weiterführendem Schulabschluss       employment gap: Challenges and
                                                                                                                  solutions“ (Arbeitstitel) erscheint
     vorgegebenen Arbeitszeitplänen wählen können.         oder niedrigerer Qualifikation beliefen sich die       voraussichtlich im Juni 2016.
     Ein zentraler Punkt bei der Vereinbarkeit von         Kosten auf 1,2 Millionen Euro.
     bezahlter Arbeit und anderen Verpflichtungen
     ist die Möglichkeit, während der Arbeitszeit ein      Beschäftigungsquote von Frauen erhöhen
     bis zwei Stunden frei zu nehmen, um persönliche       Bei diesen Überlegungen geht es nicht darum,
     oder familiäre Angelegenheiten zu erledigen. Zwei     weibliche Arbeitskraft als Ware darzustellen. Eine
     Drittel der Erwerbstätigen (65 Prozent) gibt an,      hohe Erwerbstätigenquote bei Frauen bringt neben
     dies sei „sehr einfach“ oder „ziemlich einfach“ zu    wirtschaftlichem Nutzen auch viele soziale Vorteile.
     arrangieren. In Deutschland sagen das allerdings      Sie ist außerdem Voraussetzung dafür, dass
     nur 55 Prozent.                                       angesichts der sinkenden Zahl und des steigenden
                                                           Alters der Menschen im erwerbsfähigen Alter
     Ungleiche Verteilung von                              in vielen Mitgliedsstaaten ausreichend Arbeits-
     Betreuungspflichten                                   kraft zur Verfügung steht, um eine nachhaltige
     Aus dem bisher gesagten wird deutlich, dass sich      wirtschaftliche Entwicklung sicherzustellen.
     die Bedingungen der Erwerbsbeteiligung von            Andererseits muss auch der gesellschaftliche und
     Frauen und Männern in vieler Hinsicht noch immer      wirtschaftliche Nutzen der von Frauen geleisteten
     deutlich unterscheiden. Die ungleiche Verteilung      unbezahlten Arbeit einbezogen werden, zum
     von Betreuungspflichten und unbezahlter Hausar-       Beispiel der durch Kinderbetreuung und Pflege          Eurofound
                                                                                                                  Die Europäische Stiftung zur
     beit zwischen Frauen und Männern, scheinen der        geleistete Beitrag. Das Eurofound-Projekt versucht,    Verbesserung der Lebens- und
     Schlüssel zur Erklärung geschlechterspezifischer      auch diesen Aspekt miteinzubeziehen und so die         Arbeitsbedingungen (European
                                                                                                                  Foundation for the Improvement of
     Beschäftigungsdifferenzen zu sein. Der Wunsch         Netto-Kosten der Beschäftigungslücke transpa-
                                                                                                                  Living and Working Conditions) ist
     und die Notwendigkeit, unbezahlte Aufgaben in         renter zu machen.                                      eine Einrichtung der Europäischen
     Familie und Haushalt zu übernehmen, dürfte zu                                                                Union, die 1975 gegründet
                                                                                                                  wurde, um zur Konzipierung und
     unterschiedlichen Entscheidungen, was Berufs-         Gerechtere Verteilung                                  Schaffung besserer Lebens- und
     wahl, Arbeitsplatzwahl und das Ausmaß von             von unbezahlter Arbeit notwendig                       Arbeitsbedingungen beizutragen.
     bezahlten Arbeitsstunden betrifft, führen. Aber       Die dadurch gewonnenen Einsichten können               Die Stiftung erfüllt diese Aufgabe in
                                                                                                                  partnerschaftlicher Zusammenarbeit
     ist die daraus resultierende Beschäftigungsschere     helfen, die Bedeutung der Teilnahme von Frauen         mit Regierungen, Arbeitgebern,
     tatsächlich ein Problem?                              am Arbeitsmarkt hervorzuheben und der Diskus-          Gewerkschaften und den Organen
                                                                                                                  der Europäischen Union. Dazu
                                                           sion, wie eine höhere Beschäftigungsquote von
                                                                                                                  beobachtet und analysiert sie
     Beschäftigungslücke mit großen                        Frauen zu erreichen ist, neue Impulse zu geben.        den gesellschaftlichen und
     wirtschaftlichen Einbußen                             Die Erkenntnisse aus der Europäischen Erhebung         ökonomischen Wandel, untersucht
                                                                                                                  Lösungsmöglichkeiten für Probleme
     Die Eurofound Studie zu den Kosten der geschlech-     zu den Arbeitsbedingungen weisen darauf hin,           und versucht den Austausch zwischen
     terspezifischen Beschäftigungslücke schätzt,          dass eine gerechtere Verteilung von unbezahlter        Experten, Verantwortungsträgern
     dass sich die wirtschaftlichen Einbußen – durch       Arbeit zwischen Männern und Frauen einer der           und Betroffenen zu fördern mit
                                                                                                                  folgenden drei Schwerpunkten:
     Einkommensverlust, geringeres Steueraufkommen,        wichtigsten Ansatzpunkte ist. Gleichstellungspolitik   Arbeitsbedingungen (z. B.
     fehlende Sozialbeiträge und erhöhte Transfer-         sollte deshalb mehr Augenmerk auf Männer und           Organisation von Arbeit
     leistungen – für die gesamte EU im Jahr 2013 auf      Väter richten, um die Veränderung von Verhaltens-      und Arbeitszeitgestaltung),
                                                                                                                  Lebensbedingungen der europäischen
     370 Milliarden Euro beliefen. Das sind 2,8 Prozent    mustern zu ermutigen und zu unterstützen. Das          Bürger (Verhältnis von Beruf und
     des EU Bruttoinlandproduktes. Selbst wenn man         setzt auch eine Verbesserung der Möglichkeiten,        Familie, staatliche Sozialleistungen
                                                                                                                  etc.), Arbeitsbeziehungen (u.a. die
     in die Berechnungen nur Frauen einbezieht, die        Beruf und außerberufliche Verpflichtungen mitein-      Europäisierung der Beziehungen,
     nicht arbeiten aber gerne arbeiten möchten (also      ander zu verbinden, voraus. Kürzere und im Sinne       Arbeitnehmerbeteiligung). Die
     nicht diejenigen, die auf eigenen Wunsch auf          des Arbeitnehmers /der Arbeitnehmerin flexible         Ergebnisse der Forschungen werden
                                                                                                                  Schlüsselfiguren auf dem Feld
     eine Erwerbstätigkeit verzichten), beliefe sich der   Arbeitszeiten sind ein wichtiger Punkt. Finanzier-     der europäischen Sozialpolitik zur
     Verlust immer noch auf 169 Milliarden Euro.           bare, gute Kinderbetreuung ist ein weiterer Faktor.    Verfügung gestellt.

12   DGB Frau geht vor
Ein schwieriges Unterfangen
                                            Gleichstellung im Europäischen makroökonomischen Finanzwesen
                                            Von Brigitte Young

                                            Männer geben im Finanzwesen immer                       der weiblichen Integration in Spitzenpositionen ist
                             Foto: privat

                                            noch den Ton an. Frauen sind in Spitzen-                die Eurogruppe weit entfernt, da Entscheidungen
                                            gremien des Finanzsektors Mangelware.                   in Hinterzimmern ohne Protokolle und demokrati-
                                            Doch gerade in der Makroökonomie sind                   sche Kontrolle vonstattengehen.
                                            Genderthemen und alternative feministi-
                                            sche Finanzkonzepte notwendig.                          Dies gilt übrigens auch für die wichtigen, vorbe-
                                                                                                    reitenden Eurozone Working Groups. Ein kleiner
                                            Die ausgeprägten Frauendefizite in Spitzengre-          Lichtblick ist die Ankündigung von Eurogruppen-
Prof. Dr. Brigitte Young ist                mien im deutschen Finanzsektor, die sich auch           Präsident Jeroen Dijsselbloem, der mehr Trans-
Professorin (em.) für Internationale
Politische Ökonomie am Institut
                                            auf andere Mitgliedsstaaten der EU übertragen           parenz ihrer bisher geheimen Sitzungen bekannt
für Politikwissenschaft an der              lassen, zeigt der jüngste Bericht des Deutschen         gab. Von einer vollständigen Transparenz und
Universität Münster.                        Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)         demokratischen Kontrolle ist die Eurogruppe, wie
http://e-education.uni-muenster.de/         von Elke Holst/Anjua Kirsch. Zwar lag in den 100        Sven Giegold, wirtschafts- und finanzpolitischer
Team/byoung.php                             größten Banken in Deutschland der Frauenanteil          Sprecher für die Grünen im EU-Parlament, verkün-
                                            in Vorständen Ende 2015 bei knapp acht Prozent          digte, noch weit entfernt. Auf europäischer Ebene
                                            und in den 59 größten Versicherungen bei gut            fehlt das Engagement einer Christine Lagard, die in
                                            neun Prozent – das war aber jeweils weniger als         ihrer ersten Amtszeit als Chefin des Internationalen
                                            ein Prozentpunkt mehr als im Jahr zuvor. In den         Währungsfonds (IWF), die Frauenrechte in den
                                            Aufsichtsräten ist der Frauenanteil zwar traditionell   Bereichen von makroökonomischen Policies und im
                                            höher. Allerdings waren sowohl die Geldhäuser           internationalen Finanzbereich über das Mandat des
                                            (gut 21 Prozent Frauen in den Kontrollgremien)          IWF hinaus vorangetrieben hat.
                                            als auch die Versicherungen (gut 19 Prozent) noch
                                            weit von einer ausgeglichenen Repräsentation der        Warum gelangen so viele inkompetente
                                            Geschlechter entfernt. Wie in Deutschland geben         Männer in die Führungsetage?
                                            Männer mit überwältigender Mehrheit auch in             Woran liegt das gravierende Frauendefizit in
                                            anderen europäischen Ländern den Ton an.                den Spitzenpositionen von Finanzinstitutionen,
                                                                                                    zentralen Regulierungsbehörden, Zentralbanken
                                            Frauen sind bei wichtigen                               und Finanznetzwerken oder anders ausgedrückt:
                                            Entscheidungen außen vor                                „Warum gelangen so viele inkompetente Männer
                                            Um mehr Gleichstellung auf höchster Ebene zu            in die Führungsetage?“. Diese provokante Frage
                                            erreichen hat die Europäische Zentralbank (EZB)         „Why Do So many Incompetent Men become
                                            2013 eine Frauenquote beschlossen. Bis Ende 2019        Leaders?“ wurde in einem Artikel des Harvard
                                            soll der Frauenanteil im mittleren Management 35        Business Review 2013 thematisiert. Der Autor,
                                            Prozent und im oberen Management 28 Prozent             Tomas Chamorro-Premuzic, Professor für Wirt-
                                            betragen. Dies würde eine Verdoppelung des              schaftspsychologie am University College London,
                                            Frauenanteils bedeuten, der 2013 bei 17 bezie-          kommt zu einer nicht ganz überraschenden
                                            hungsweise 14 Prozent lag. Die Frauenquote gilt         Antwort, dass Menschen häufig die Darstellung
                                            aber nicht für das Direktorium der EZB, dieses wird     von festen Überzeugungen und Selbstvertrauen als
                                            politisch besetzt. Die Mitgliedsstaaten schlagen        Kompetenz einstufen. In anderen Worten, Männer
                                            Kandidaten vor, denen das Europaparlament               haben allgemein gegenüber Frauen den Vorteil
                                            demnach zustimmen muss. Im Januar 2014 wurde            sich durch ihr übermäßiges Selbstbewusstsein
                                            die Juristin Sabine Lautenschläger, als dritte aber     in Führungspositionen zu bringen. Dass Frauen
                                            derzeit einzige Frau, in das sechsköpfige EZB-          große Hürden überbrücken müssen, um die
                                            Direktorium berufen. Von diesen kleinen Schritten       gläserne Decke zu durchstoßen ist zwar allgemein

                                                                                                                            Ausgabe Nr. 1 – März 2016      13
bekannt. Das größere Problem bestehe aber in         Finanznetzwerke gleichen                                                                                                                                        Euro-Gruppe
                                                                                                                                                                                                                          Die Euro-Gruppe (vormals EURO-X)
     den „mangelnden Hindernissen für inkompetente        exklusiven, elitären Clubs
                                                                                                                                                                                                                          ist ein Gremium der Europäischen
     Männer“, so das Fazit des Autors.                    Denn die verschiedenen Finanznetzwerke und                                                                                                                      Union, in dem die Staaten
                                                          Finanzinstitute sind exklusive und elitäre Clubs,                                                                                                               der Eurozone ihre Steuer- und
      WSI    GenderDatenPortal                                                                                                                                                                                            Wirtschaftspolitik koordinieren. Sie
     In der Zwischenzeit thematisiert auch die Financial die ein Gruppendenken durch die Rekrutierung
      www.wsi.de/genderdatenportal                                                                                                          1/5                                                                           wacht gleichfalls über die Einhaltung
     Times nicht nur die Abwesenheit von Frauen als       aus eng verbundenen sozialen Milieus hervor-                                                                                                                    des Euro-Stabilitätspaktes, um das
     Finanzakteure, sondern vor allem den Rückgang        rufen. Auf Grundlage intern formulierter Kriterien                                                                                                              Funktionieren der Europäischen
                                                                                                                                                                                                                          Wirtschafts- und Währungsunion
     derFÜHRUNGSPOSITIONEN
         Fonds-Managerinnen in den Vereinigten
                                             in EUROPAteilenUnternehmen
                                                                 diese Experten die
                                                                                 mitgleichen Einschätzungen
                                                                                      und ohne     Frauen                                                                                                                 sicherzustellen. Dazu kontrolliert die
     Staaten (US) und dem Vereinigten Königreich trotz kausaler Zusammenhänge und Politikziele wie                                                                                                                        Euro-Gruppe die Haushaltspolitik und
                                                                                                                                                                                                                          die öffentlichen Finanzen der Euro-
     Bemühungen diese Branche für Frauen attraktiver auch normative Grundannahmen und Geltungs-
                                                                                                                                                                                                                          Länder. Die Sitzungen der Gruppe
     zu gestalten. So ist in den letzten sechs Jahren     ansprüche. Abweichungen von diesen Normen                                                                                                                       sind informell und finden in der Regel
     der Anteil der Fond-Managerinnen in den US von werden als unwissenschaftlich, subjektiv,                                                                                                                             am Vortag des Rats für Wirtschaft
                                                                                                                                                                                                                          und Finanzen (Ecofin-Rat) statt. Die
     Jedes fünfte Unternehmen in Europa ohne Frau in
     zehn Prozent in 2009 auf sieben Prozent in 2015      irrational verunglimpft und als unzulässiges                                                                                                                    Gruppe gilt als „ein Forum des Dialogs
     gefallen (FTfm 2.2.2015, S. 9). Gleichzeitig ist der Abweichen von der standardisierten Lehre eines
     Spitzenposition
     Anteil der Asset-Managerinnen im Vereinigten         rationalen Akteurs abgetan.
                                                                                                                                                                                                                          und der politischen Abstimmung ohne
                                                                                                                                                                                                                          konkrete Entscheidungsbefugnisse“
                                                                                                                                                                                                                          Quelle: Wikipedia

       Frau/en in den
      Unternehmen   mithöchsten
                        und ohneEntscheidungsgremien*
                                 Frau/en in den höchstender größten
                                                         Entscheidungsgremien   *
                                                                                  der größten
       börsennotiertenUnternehmen
      börsennotierten   Unternehmenin in den
                                       den 2828 EU-Ländern
                                              EU-Ländern    (2014),
                                                         (2014),     in Prozent
                                                                 in Prozent
               Frankreich                                                                                                                                                                                       100,0                EUROPA
       Verein. Königreich         4,0                                                                                                                                                                            96,0

                 Finnland                                         18,2                                                                                                                                           81,8
                   Belgien                                               22,2                                                                                                                                    77,8
                    Italien   2,7               8,1                                                                                                                                                              89,2
               Schweden           3,7               7,4                                                                                                                                                         88,9
               Dänemark             5,6                                            22,2                                                                                                                          72,2
           Deutschland                  6,7                                                                                                                                                                      93,3
                  Spanien                     9,1                                               24,2                                                                                                             66,7
                 Kroatien                           12,0                                                                                                        56,0                                             32,0
               Slowenien                                   15,0                                                                                          50,0                                                    35,0
             Niederlande                                          18,2     4,5                                                                                                                                   77,3
                                                                                                                                                                                                                                 keine Frau
                    EU-28                                                21,9                                        21,9                                                                                        56,3
                 Lettland                                                   24,1                                                     27,6                                                                       48,3
                                                                                                                                                                                                                                 1 Frau
               Österreich                                                       25,0      5,0                                                                                                                    70,0
                     Irland                                                      26,3                                                               36,8                                                         36,8
                 Portugal                                                               29,4                                                          35,3                                                       35,3            mehr als 1 Frau
           Griechenland                                                                           34,8                                                            34,8                                           30,4
                   Litauen                                                                        34,8                                                                                                56,5        8,7
                     Polen                                                                             36,8                                                     31,6                                             31,6
              Luxemburg                                                                                       40,0                 10,0                                                                          50,0
                   Ungarn                                                                                        42,9                                                                          42,9              14,3
                   Zypern                                                                                             45,0                                                                    40,0               15,0
                Bulgarien                                                                                                   46,7                                         26,7                                    26,7
                 Slowakei                                                                                                          50,0      10,0                                                                40,0
               Rumänien                                                                                                            50,0                                            30,0                          20,0
                   Estland                                                                                                                                       68,8                                    25,0     6,3
       Tschech. Republik                                                                                                                                                        77,8                             22,2
                     Malta                                                                                                                                                             81,0                      19,0

                              0                      10                   20                   30                40                   50            60                   70              80             90          100

                              n k eine Frau                                   n 1 Frau                                 n mehr als 1 Frau
      * Erfasst werden alle Mitglieder des höchsten Entscheidungsgremiums im Unternehmen (board of directors). Wo es einen Vorstand und Aufsichtsrat gibt (dualistisches
        System, z.B. Deutschland), werden nur die Mitglieder des Aufsichtsrats (supervisory board) betrachtet. Wo dies nicht getrennt wird (monistisches System, z.B. Groß-
      *britannien),
         E rfasst werden
                    wird dasalle Mitglieder
                             gesamte          des höchsten
                                       Direktorium erfasst.   Entscheidungsgremiums im Unternehmen (board of directors). Wo es einen Vorstand und
        Aufsichtsrat
      Datenquelle:     gibt (dualistisches
                   Europäische             System, z.B.
                               Kommission, Datenbank überDeutschland), werden
                                                         Frauen und Männer        nur die Mitglieder des
                                                                           in Entscheidungspositionen,      Aufsichtsrats (supervisory
                                                                                                       auf Anfrage.                      board)
                                                                                                                           Bearbeitung: WSI     betrachtet. 2015
                                                                                                                                            GenderDatenPortal
        Wo dies nicht getrennt wird (monistisches System, z.B. Großbritannien), wird das gesamte Direktorium erfasst.
      Datenquelle: Europäische Kommission, Datenbank über Frauen und Männer in Entscheidungspositionen, auf Anfrage.
      Bearbeitung: WSI GenderDatenPortal 2015

      Kurzanalyse
     Königreich  von acht Prozent auf vier Prozent in      Diese ökonomische Orthodoxie, die besonders
     2013/14 gesunken. Neu an dieser Diskussion – in im Finanzwesen vorherrscht, enthält zugleich ein
     einer
      Gut sicher
            jedesnicht männerkritischen
                   fünfte                und außerdem Bündel
                           große Börsenunternehmen         in der von Annahmen
                                                                        hängen, dassüber Männer
                                                                                         aufgrundunddes
                                                                                                      Frauen.
                                                                                                          dualistischen Systems
     dem   FinanzkapitalUnion
      Europäischen       zugeordneten  Zeitung
                                hat noch  immer– ist,      Frauen
                                                   keine Frau    in werden
                                                                        in als weniger rational
                                                                            Deutschland    (mit konstru-
                                                                                                Vorstand und Aufsichtsrat) für
      seinem
     dass  nicht höchsten    Entscheidungsgremium.
                 mehr die Kompetenz   der Frauen oder     Bei
                                                           iert,ei-     deneineuropäischen
                                                                 ihnen wird                   Vergleich
                                                                                geringeres Verständnis   lediglich die Mitglieder
                                                                                                       von
      nem    weiteren    reichlichen  Fünftel
     das fehlende Macht- und Karrierebestreben findet  sich  dort       des   häufiger   mit  Frauen
                                                           Mathematik und Logik nachgesagt. Dabei trägtbesetzten   Aufsichtsrates
      lediglich
     oder         eine einzige Frau.
           der Entscheidungsdruck       Nur Familie
                                    zwischen  gut jedes zweite          (supervisory
                                                           die Homogenität              board),
                                                                             dieses Wissens      nichtzuaber
                                                                                             erheblich    den die Mitglieder des
      Unternehmen in der EU 28 hat mehr als ein weib-                   Vorstandes betrachtet werden. In deutschen Un-
     und Beruf im Mittelpunkt der Erklärung stehen,        systemischen Risiken von Finanzgovernance bei.
      liches Mitglied in seinem höchsten Entscheidungs-                 ternehmen, in denen die Arbeitnehmerseite im
     sondern vielmehr der chauvinistische „Boy’s Club“ Deshalb wird heute auch als mögliche Ursache
      gremium.                                                          Aufsichtsrat vertreten ist, ist, ist der Frauenanteil
     und das sexistische Klima in der Finanzindustrie.     der Finanzkrise  das stark
                                                                        zudem         männerdominierte
                                                                                  höher  als in Firmen ohne Unternehmens-
     Deutschland liegt im Europavergleich relativ weit                                                                                              mitbestimmung, da die meisten Frauen von der
14   DGB Frau geht vor
     vorn. Dies kann unter anderem damit zusammen-                                                                                                  Arbeitnehmerseite in den Aufsichtsrat gewählt
                                                                                                                                                    werden.
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