KOMPASS - ZEIT GEIST 09I20 - Katholische Militärseelsorge

Die Seite wird erstellt Niklas-Daniel Funke
 
WEITER LESEN
KOMPASS - ZEIT GEIST 09I20 - Katholische Militärseelsorge
KOMPASS
                                             Die Zeitschrift des Katholischen Militärbischofs für die Deutsche Bundeswehr

                                             Soldat in Welt und Kirche                                     09I20

                                                                                      ZEIT
                                                                                     GEIST
© Titelbild: lanarusfoto – stock.adobe.com
ISSN 1865-5149
KOMPASS - ZEIT GEIST 09I20 - Katholische Militärseelsorge
INHALT

                             Titelthema
                             Zeitgeist
                                                                                                                                                       22
                             4    Der „Zeitgeist“ ist kein Dämon.
                                  Zur Rehabilitierung eines Modeworts
                                  von Georg Schwikart

                                                                                                                                                                   © Nils Sammler
                             6    Zeitgeist – neue Empathie für
                                  eine schöpferische Kraft
                                  von Kirstine Fratz

                             8    Die kritische Distanz
                                  zum alltäglichen Tun                     Aus der Militärseelsorge                    Rubriken
                                  von Michael Seewald
                                                                           17 Kalender 2021                            16 zum LKU: Intuition
                             10 Der Zeitgeist verbindet,
                                was getrennt ist                           22 Schiff Ahoi!                             18 Kolumne der Wehrbeauftragten
                                von Generalleutnant Ansgar Rieks
                                                                                                                       20 Buch-Tipp: „Freiheit“
                             12 Streitgespräch
                                Ein heiliger Geist weht,                                                               21 Auf ein Wort von
                                wo und wie er will                                                                        Pastoralreferent Martin Diewald

                                                                                                                       24 Soldatenheilige: St. Mauritius

                                                                                                                       26 Auslegeware:
                                                                                                                          Ist jedes Töten Mord?

                                                                                                                       28 Film-Tipps:
                                                                                                                          • Im Haus meines Vaters
                                                                                                                          • Whiplash
© tai111 – stock.adobe.com

                                                                                                                       30 Damals vor 20 Jahren

                                                                                                                       30 VORSCHAU:

                                                                                                              21          Unser Titelthema im Oktober

                                                                                                                       31 Rätsel

                                 Impressum                                   Herausgeber                             Hinweis
                                 KOMPASS. Soldat in Welt und Kirche          Der Katholische Militärbischof          Die mit Namen oder Initialen gekennzeich-
                                 ISSN 1865-5149                              für die Deutsche Bundeswehr             neten Beiträge geben nicht unbedingt die
                                                                                                                     Meinung des Herausgebers wieder. Für das
                                 Redaktionsanschrift                         Verlag und Druck                        unverlangte Einsenden von Manuskripten und
                                 KOMPASS. Soldat in Welt und Kirche          Verlag Haus Altenberg                   Bildern kann keine Gewähr und für Verweise
                                 Am Weidendamm 2                             Carl-Mosterts-Platz 1                   in das Internet keine Haftung übernommen
                                 10117 Berlin                                40477 Düsseldorf                        werden. Bei allen Verlosungen und Preisaus-
                                                                                                                     schreiben in KOMPASS. Soldat in Welt und
                                 Telefon: +49 (0)30 20617-421                Leserbriefe                             Kirche ist der Rechtsweg ausgeschlossen.
                                 E-Mail: kompass@katholische-                Bei Veröffentlichung von Leserbriefen
                                         soldatenseelsorge.de                behält sich die Redaktion das Recht     Internet
                                                                             auf Kürzung vor.                        www.katholische-militaerseelsorge.de
                                 Chefredakteurin Friederike Frücht (FF)
                                 Redakteur Jörg Volpers (JV)                                                         Social Media
                                 Bildredakteurin, Layout Doreen Bierdel
                                 Lektorat Schwester Irenäa Bauer OSF

                             2                             Kompass 09I20
KOMPASS - ZEIT GEIST 09I20 - Katholische Militärseelsorge
EDITORIAL

  © KS / Doreen Bierdel

                          Liebe Leserin, lieber Leser,
                          „Früher war alles besser!“ oder: „Das hätte es früher     lonseide das modische Highlight waren und jeder und
                          so nicht gegeben!“ Es gibt wohl kaum eine Generation,     jede Dauerwelle trugen. Manches davon würde man
                          die sich diese Aussagen nicht aneignet. Aber wie viel     heute nicht mehr so tragen, anderes „kommt wieder“.
                          Wahrheit liegt in solchen Bemerkungen? Können wir         Wir wechseln unsere Prioritäten, entwickeln neue Per-
                          früher wirklich mit heute vergleichen? Oder versuchen     spektiven, revidieren unsere Meinung. Dass wir das
                          wir hier nicht, wie ein ehemaliger Lehrer mal sagte,      so machen können, ist auch heute keine Selbstver-
                          Äpfel mit Birnen zu vergleichen? Was helfen solche Ge-    ständlichkeit – aber manchmal notwendig, um neuen
                          genüberstellungen überhaupt? Wie weit zurück können       Sachverhalten gerecht zu werden.
                          wir schauen, ohne dass der Vergleich hinkt? Früher
                          durften Frauen nicht wählen. Gut, dass sich manche        Mit dieser Ausgabe wollen wir den Zeitgeist aus ver-
                          Dinge ändern. Wir Menschen verändern uns dauernd.         schiedenen Perspektiven beleuchten. Was bedeutet
                          Anpassung ist das erfolgreiche Prinzip der Evolution!     dieser für Institutionen wie die Katholische Kirche oder
                          Wollte man in den 20ern noch die Welt entdecken, ist      die Bundeswehr, in denen Tradition und damit eine
                          man mit 80 vielleicht froh, im gewohnten Umfeld zu        bestimmte Kontinuität wichtig ist? Welche Werte und
                          bleiben. Es gab eine Zeit, in der Jogginghosen aus Bal-   Überzeugungen gilt es zu erhalten und zu verteidigen?
                                                                                    Wie viel Veränderung und Anpassung sind notwendig,
                                                                                    um in einer sich stetig verändernden Welt zu überle-
„Was ihr den Geist                                                                  ben?
  „Was
    W ihr
    Was  ih den
             de
             d Geist
                   G
                   Geistt dder                                                      Spannende Fragen, auf die es unterschiedliche Ant-
der  Zeiten
  Zeiten
  Z       heißt,
     it hheißt
             ißt
                 heißt,                                                             worten gibt.

Das
  Dasist   imGrund
       ist im    Grund   der der
                               Herren
                               Herr
                               Her
                                                                                    Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und Freude
                                                                                    bei der Suche nach dem Zeitgeist!

Herren     eigner Geist,
  eigner Geist,
InIndem
     dem diedieZeiten
                  Zeiten sichsich                                                                                         Friederike Frücht,
                                                                                                                           Chefredakteurin
  bespiegeln.“
  bespiegeln.
bespiegeln.“     Johann Wolfgang von Goethe
                 Joh

                                                                                                    Kompass 09I20                              3
KOMPASS - ZEIT GEIST 09I20 - Katholische Militärseelsorge
TITELTHEMA

Der „Zeitgeist“
ist kein Dämon
Zur Rehabilitierung eines Modeworts

von Georg Schwikart,
evangelischer Pfarrer
und Schriftsteller

D   er Begriff „Zeitgeist“ ist zu einem
    Modewort geworden, dabei gibt es
ihn schon seit dem 18. Jahrhundert. Der
Philosoph Johann Gottfried Herder prägte
ihn, und seither hängt dem Ausdruck ein
negativer Touch an. Der Zeitgeist steht
demnach für etwas Oberflächliches und
Verachtenswertes. Unausgesprochen
täuscht er vor: Früher war es besser.
Das stimmt natürlich nicht, damals wie
heute. Früher war es nur anders.

Als ein Sinnbild des Zeitgeists kann das
Handy dienen. Vor dreißig Jahren noch
Statussymbol der Wichtigen und Wohlha-
benden, besitzt es heute buchstäblich
(fast) jedes Kind. Ob Kanzlerin oder Hartz-
IV-Empfänger, ohne Mobiltelefon geht es
nicht. Es steht für jederzeit verfügbare
Kommunikation, die Wurzel dieser Idee
aber ist die Geschwindigkeit.

Der Wunsch, seine Ziele schneller zu
erreichen, hat den Menschen seit al-
ter Zeit veranlasst, Neues zu erfinden:
Mit dem Rad geht es schneller. Mit der
Webmaschine. Mit der Eisenbahn. Alle
Neuerungen wurden zunächst kritisch
beäugt. Die Zeit ging darüber hinweg. In
den achtziger Jahren diskutierten Intel-
lektuelle, ob ein Leben ohne Fernsehen
möglich sei, dabei galt schon damals:
Auch wer keinen Apparat besitzt, lebt in
einer Welt, in der das Fernsehen eine
Realität ist.

4                           Kompass 09I20
KOMPASS - ZEIT GEIST 09I20 - Katholische Militärseelsorge
TITELTHEMA

                                     Wer den Zeitgeist des „schneller, schnel-                                                   empfinden würde. Der Zeitgeist ist voller
                                     ler“ verdammt, sollte ehrlicherweise ein-                                                   Widersprüche.
                                     gestehen, dass wir alle davon profitie-        „Alle Neuerungen
                                     ren. „Die Entdeckung der Langsamkeit“                                                       Die organisierte Religion hat an Attrak-
                                     (Sten Nadolny) mag hilfreich sein, um
                                     das eigene Dasein weniger hektisch zu
                                                                                   wurden zunächst                               tivität eingebüßt, man gestaltet sein
                                                                                                                                 Dasein weitgehend ohne christliche Le-
                                     gestalten und die Tugend der Geduld zu                                                      bensdeutung. Doch die Sehnsucht nach
                                     üben. Doch wenn wir einen Schlaganfall         kritisch beäugt.                             dem „ganz anderen“ bricht sich Bahn
                                     oder Unfall erleiden, sind wir dankbar,                                                     in zeitgenössischen Mythen wie dem
                                     wenn der Notarzt schnell kommt. Das                                                         „Herrn der Ringe“, „Harry Potter“ oder
                                     bestellte Buch steht am nächsten Tag                                                        „Star Wars“. Sich in diesen Geschichten
                                     zur Verfügung und die Entwicklung des                                                       auszukennen und darin zurechtzufinden,
                                     Impfstoffs gegen das Virus braucht nicht        Die Zeit ging                               gleicht einer alternativen Theologie. Doch
                                     viele Jahre, sondern – hoffentlich – nur                                                    dient sie vermeintlich eher als die über-
                                     eines.
                                                                                   darüber hinweg.“                              kommene Theologie dem individuellen
                                                                                                                                 Wohlbefinden.
                                         Zeitgeist: Die Idee der Freiheit
                                              steht im Vordergrund                                                               Die Kirchen begegnen dem Phänomen
                                                                                  Das Begehren nach immer mehr Freiheit          Zeitgeist zu ängstlich. Auf Bedürfnisse
                                     Wir leben nicht, wie Leibniz behauptete,     kann zu einer grenzenlosen Individualität      mit der Haltung „Das soll aber nicht
                                     in der „besten aller möglichen Welten“.      führen. Wenn jedoch jede und jeder alles       sein!“ zu reagieren, ist geradezu naiv.
                                     Man kann sich noch Schöneres vorstel-        für sich selbst erreichen und durchset-        Die Corona-Krise hat es ja offenbart: Die
                                     len. Der christliche Glaube entwirft ja      zen will, gibt es kein Miteinander mehr.       herkömmlichen Strukturen taugen nur
                                     großartige Ideen, wie bereits hier und       Und doch muss man sich hüten, die In-          noch bedingt. Wir müssen offen sein für
                                     jetzt das Leben für alle Menschen bes-       dividualität vorschnell zu verurteilen. Wer    Veränderungen. Wir sollten mutig fragen,
                                     ser werden kann. Das Programm hält           will zurück in jene Zeiten, da die Kirche      wie Jesus im Evangelium: „Was willst
                                     die Bibel bereit, allein: Es hapert an der   die alleinige Bestimmungshoheit über           du, dass ich dir tue?“ (Mk 10,51) Sonst
                                     Umsetzung. Durch uns!                        das Privateste der Menschen besaß: Du          bietet Kirche (in ökumenischer Überein-
                                                                                  darfst dich nicht scheiden lassen! Du          stimmung) häufig Angebote an, die kaum
                                     Das aber ist kein Problem des Zeitgeists,    darfst nicht homosexuell sein! Du darfst       einer braucht, und gibt Antworten auf Fra-
                                     es war nie anders. Auf die „Jugend von       keine Sexualität erleben, wenn sie nicht       gen, die niemand stellt.
                                     heute“ wurde bereits in der Antike ge-       der Zeugung von Kindern dient! Du darfst
                                     schimpft, und Paulus fordert im Brief an     nicht festlegen, wann dein Leben been-             Mutig den Zeitgeist analysieren
                                     die Gemeinde in Philippi die Christen        det werden soll! – Der Zeitgeist hat die-
                                     auf, rein und ohne Tadel zu sein, „Kinder    sen Ordnungswahn außer Kraft gesetzt.          Der Zeitgeist ist nicht gut oder schlecht,
                                     Gottes ohne Makel mitten in einer ver-                                                      er rückt nur jeweils andere Themen in
                                     kehrten und verwirrten Generation, unter          Widersprüche des Zeitgeists               den Vordergrund. Dabei geht es letztlich
                                     der ihr als Lichter in der Welt leuchtet!“                                                  immer um die Frage, wie ein gutes Leben
                                     (Phil 2,15)                                  Wir nehmen gegenläufige Prozesse wahr.          erreicht werden kann. Was aber ein gutes
                                                                                  Einerseits den immer schneller verlaufen-      Leben ausmacht, ist nicht so leicht zu
                                     Natürlich ist jede Epoche von großen         den Traditionsabbruch. Was früher galt,        beantworten, und noch schwieriger um-
                                     Ideen beeinflusst. Diese können „Gott“,       schert heute nicht mehr. Erst zusammen-        zusetzen. Dass Geld, Macht, Schönheit
                                     „Volk“, „Fortschritt“, „Wohlstand“, „So-     ziehen, wenn man verheiratet ist? Altmo-       und Erfolg allein nicht glücklich machen,
© Cristina Conti – stock.adobe.com

                                     zialismus“, „Frieden“, oder wie auch im-     disch. Aber bei der Trauung soll dann der      wissen wir alle, und lassen uns doch nur
                                     mer heißen. Diese Ideen wechseln nicht       Vater die Braut (die längst keine Jungfrau     zu gern von diesen Idealen verführen.
                                     einfach einander ab, sondern überlagern      mehr ist) zum Altar führen. Dass es sich       Das tiefe Verlangen der Menschen drü-
                                     sich und geraten miteinander in Konflikt.     dabei um einen archaischen Übergabe-           cken wir Christinnen und Christen in drei
                                     Im Zuge der Reformation setzte sich der      ritus handelt, interessiert nicht – ob-        starken Begriffen aus: Glaube, Hoffnung
                                     große Freiheitsgedanke durch. Doch ver-      wohl sich doch heutzutage keine Frau           und Liebe. Dieses Sehnen wird von kei-
                                     trägt er sich mit den anderen Ideen?         als Besitz des Vaters oder ihres Mannes        nem Zeitgeist überwunden.

                                                                                                                                Kompass 09I20                            5
KOMPASS - ZEIT GEIST 09I20 - Katholische Militärseelsorge
TITELTHEMA

                                                           Zeitgeist – neue Empathie
                                                           von Kirstine Fratz, Zeitgeist Forscherin

                                                                               Wie kann Zeitgeist be-geistern?

                                                                           Durch Vernunft, rationale Entscheidun-
                                                                           gen oder Emotion und Sehnsucht? Wer
                                                                           für Gefühle stimmt, begibt sich auf das
                                                                           Spielfeld der Zeitgeist Forschung. Diese
                                                                           Forschung beschäftigt sich mit den kol-
                                                                           lektiven Sehnsüchten einer Gesellschaft.
                                                                           Einer Sehnsucht, die als besondere Vib-
                                                                           ration wahrnehmbar ist und einen Geist
                                                                           entstehen lässt, der unsere Kultur ver-
                                                                           ändert – den Zeitgeist.

                                                                           Ein Zeitgeist Teilnehmer fängt an, dieser
                                                                           neuen Vibration eine Gestalt zu geben
                                                                           in Form eines Films, eines Buchs, eines
                                                                           Produkts etc. In all diesen Gestalten of-
                                                                           fenbart sich die neue sehnsüchtige Per-
                                                                           spektive auf das Leben, welche dann
                                                                           mehr Resonanz erzeugt als die bekann-
                                                                           ten Lebenskonzepte. Die kollektive Sehn-
                                                                           sucht bekommt eine neue Heimat durch
                                                                           die neuen Angebote und die Gesellschaft
                                                                           fängt an, sich danach auszurichten.

                                                                           Der Geist der Zeit erfasst einen Le-
                                                                           bensbereich nach dem anderen. Was
                                                                           vielleicht als belächelter Nahrungsmit-
                                                                           teltrend begonnen hat, erfasst die Kos-
                                                                           metikindustrie, findet dann Gestalt als
                                                                           neue Fächer in Bildungsinstituten, ver-
                                                                           ändert, wie Häuser gebaut und Kleider
                                                                           produziert werden.

                                                                                 Der Zeitgeist ist der
                                                                                Botschafter für alles,
© Valentin Mühl / Zvei Studios

                                                                             was in einer Gesellschaft
                                                                            nicht mehr funktioniert und
                                                                             wo neue Sehnsucht nach
                                                                               Veränderung entsteht.

                                 6   Kompass 09I20
KOMPASS - ZEIT GEIST 09I20 - Katholische Militärseelsorge
TITELTHEMA

für eine schöpferische Kraft

 Misstrauen gegenüber Veränderungen           Sie haben ihre Perspektive auf das The-
                                              ma verändert. Eine junge Frau erzählte
 Viele Menschen misstrauen dieser Vibra-      mir, sie hätte ihr ganzes Leben lang
 tion für Veränderung. Sie meinen, sie zer-   gelernt, dass Kinder Probleme und Ein-
 stört Werte und Traditionen. Der Zeitgeist   schränkungen für ihr persönliches Leben                Verlag: fontis, Basel
 wird gerne als Sündenbock benutzt, um        bedeuten. Eines Tages hat sie sich ge-                 2017
 seinen Unmut gegenüber Veränderungen         fragt, ob es vielleicht genau umgekehrt                Taschenbuch; 240 Seiten
 auszudrücken. Wenn sich Wandel ankün-        ist: Dass Kinder nicht Problemmacher,                  ISBN: 978-3-03848-127-0
 digt, empfinden viele Menschen, dass          sondern Glücksmacher sind. Diese Per-                  € 14,95
 der Untergang naht.                          spektive ist aus dem Zeitgeist entstan-
                                              den, weil die starken Einschränkungen
 Nehmen wir das Beispiel Kinder. Schon        für Mütter sich zunehmend abgebaut
 länger gehen die Geburtenraten in            haben. Und damit meine ich nicht nur           Liebe, Glaube, Hoffnung,
 Deutschland runter. Die Frauen bekom-        die Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
 men weniger Kinder. Was wird aus dem         sondern auch die stillschweigenden Er-                Zuversicht und
 Renten-Generationsvertrag? Was wird          wartungen an Mütter, wie sie zu sein und
 aus der Familie? Was soll bloß aus der       zu leben haben. Hier ist eine Vibration       Schöpferkraft gehen auch
 ganzen Gesellschaft werden? Linear auf       entstanden, welche sich noch nicht in
 die Zukunft hochgerechnet bedeutet           Zahlen und Fakten ausdrücken lässt,             beim Zeitgeist niemals
 das den Untergang. Die Zukunft verläuft      aber viel Raum für Gestaltung bietet.
 aber nicht linear, sie verläuft dynamisch.                                                         aus der Mode.
 Wenn man genau hinschaut und dem             Ich nenne diesen Prozess eine Entfrem-
 Geist der Zeit etwas Zeit lässt, erkennt     dungs- und Annäherungs-Dynamik, wie          Im Gegenteil, der offene Beobachter er-
 man, dass sich meistens kein Untergang       man sie oft im Zeitgeist beobachten          kennt, dass genau diese Themen gerade
 einstellt.                                   kann. Bereiche unseres Lebens erstarren      in der Zeitgeist Dynamik immer wieder
                                              in der Konvention und begünstigen das        eine Auffrischung erfahren. Eine fast
    Im Gegenteil, dass was                    Ausüben von Machtverhältnissen, was          heilsame Erneuerung, damit sie lebendig
                                              wiederum zu Leid und Schmerz führt. Da-      und erlebbar bleiben.
     verloren geglaubt war,                   raus entsteht Mangel, dieser entwickelt
                                              sich zur kollektiven Sehnsucht, Vibration    Wie sich diese Dynamik mit Corona und
 kehrt frisch und lebendig in                 entsteht. Zeitgeist Teilnehmer erschaffen    der Welt verhält, gilt es zu beobachten.
                                              aus dieser Vibration heraus eine neue        Auch hier werden uns neue Perspektiven
    die Gesellschaft zurück.                  Heimat für die kollektive Sehnsucht. Die     geschenkt, Entfremdungs- und Annähe-
                                              Resonanz für die neue Perspektive auf        rungsprozesse sind im vollen Gange,
 In der Zeit, wo der Untergang der Gebur-     das Leben verbreitet sich, der Sog wird      der Untergang wird besungen, doch die
 tenrate besungen wurde, hat sich die         immer größer und die Veränderung ist         Chancen sind sichtbar und werden uns
 Gesellschaft unter dem Einfluss von indi-     im vollen Gange.                             be-geistern.
 viduellen Lebensstilen soweit verändert,
 dass das Kinderkriegen für junge Frauen      Aus dieser Lebendigkeit heraus nähert        Zeitgeist und menschlicher Schöpfer-
 wieder attraktiv geworden ist. Viele junge   man sich dem unliebsamen Thema               geist sind wunderbare Spielgefährten
 Frauen unter 30 haben wieder Lust auf        schöpferisch wieder an. Die Perspektive      für eine ganz besondere Kulturheilkun-
 Mutterschaft, weil sie das Gefühl haben,     hat sich verändert, das verloren geglaub-    de. Diese Schöpferkraft der Geisteskräf-
 ihr Leben samt Kind nach ihren Bedürf-       te Thema kommt wieder auf die Agenda.        te hat Empathie verdient und wer weiß,
 nissen gestalten zu können, im Gegen-        Aber eben Interessen bereinigt von den       inwieweit der Heilige Geist auch seine
 satz zu früher.                              alten und starren Vorstellungen.             Kräfte in diesem Spiel hat.

                                                                                          Kompass 09I20                          7
KOMPASS - ZEIT GEIST 09I20 - Katholische Militärseelsorge
© Evgeniy Shvets – stock.adobe.com

8
Kompass 09I20
                                                     TITELTHEMA
KOMPASS - ZEIT GEIST 09I20 - Katholische Militärseelsorge
TITELTHEMA

Die kritische Distanz

                                                                                                                                        © Konstantin Fischer / Photo Vision
zum alltäglichen Tun
von Michael Seewald

E   s gibt Ausdrücke, die in unserer All-
    tagssprache derart Fuß gefasst ha-
ben, dass das Bewusstsein für ihren
                                             Wenn in der Kirche über den Zeitgeist
                                             gesprochen wird, dann meist in mah-
                                             nendem Ton. Man dürfe, so heißt es,
bildlichen Charakter verlorengegangen        sich nicht dem Zeitgeist anpassen. Diese
                                                                                                   Michael Seewald ist Professor
ist. Tischbein, Zapfhahn oder Lebens-        Mahnung ist so richtig wie inhaltsleer.                  für Dogmatik und Dogmen-
abend wären Beispiele dafür. Bei diesen      Richtig ist sie, weil eine Kirche, die nur          geschichte an der Westfälischen
Begriffen handelt es sich um Metaphern:      den statistischen Durchschnittswert des-               Wilhelms-Universität Münster
um ein Zusammentreffen zweier Wörter,        sen verkünden würde, was man heute so
die gemeinsam eine neue Bedeutung er-        glaubt, für nichts zu gebrauchen wäre.        sage des Evangeliums. Was wir im Deut-
geben. In der katholischen Kirche wird       Eine solche Kirche hätte ihren Auftrag,       schen mit „umkehren“ übersetzen, heißt
häufiger als über Tischbeine, Zapfhähne       „Salz der Erde“ zu sein, verfehlt. „Wenn      im Griechischen wörtlich „umdenken“
oder den Lebensabend über den Zeit-          das Salz seinen Geschmack verliert,           oder „überdenken“. Jesus ruft seine Jün-
geist diskutiert. Auch das ist eine Me-      womit kann man es wieder salzig ma-           gerschaft dazu auf, eine kritische Distanz
tapher.                                      chen? Es taugt zu nichts mehr“, heißt         zu ihrem alltäglichen Tun einzunehmen.
                                             es im Matthäus-Evangelium (Mt 5,13).          Vollkommen wird es niemandem gelin-
In der antiken Mythologie gab es die         Pauschal vor dem Zeitgeist zu warnen          gen, solch eine Distanz zu gewinnen, weil
Vorstellung, dass Geister an bestimm-        ist jedoch nichtssagend, weil diejenigen,     wir keinen absoluten Standpunkt haben,
ten Orten, etwa in Bäumen, auf Bergen        die solche Warnungen vortragen, auch          von dem aus wir denkend auf uns selbst
oder in Tälern wohnen. Die Geister verlie-   nicht frei von zeitbedingten Begrenzun-       blicken könnten. Christen bleiben auch
hen diesen Orten ein Gepräge, das den        gen ihres Glaubens, Hoffens und Liebens       im Grübeln Kinder ihrer Zeit (noch eine
Menschen, die sich an ihnen aufhielten,      sind – nur, dass sie sich darüber kaum        Metapher übrigens). Sie haben sich da-
ein bestimmtes Verhalten abverlangte.        Rechenschaft ablegen. Der Kritik am Zeit-     her stets neu zu fragen, wie es ihnen
Auch ohne Mythologie ist uns die Idee,       geist liegt nicht selten ein Zeitverständ-    heute, unter den Begrenzungen, in denen
dass ein Ort einen Geist, einen „genius      nis zugrunde, das die Gegenwart als           sie leben, gelingen könnte, verantwortbar
loci“ atme, den man beachten müsse,          Niedergang eines angeblich früher vor-        zu glauben, zu hoffen und zu lieben.
verständlich geblieben. Wer nach Vene-       handenen, besseren Zustandes deutet.
dig reist, auf dem Markusplatz in einem                                                    Diese Frage, betreffe sie nun die Lebens-
gepflegten Restaurant sitzt und dort –            Die Warnung vor dem                       führung des Einzelnen oder die Kirche als
nein: keine Pasta, keine Pizza, sondern                                                    Gemeinschaft, braucht nicht ängstlich
– eine Currywurst bestellt, wird vom Kell-   Zeitgeist der Gegenwart ist                   gestellt zu werden. Denn Jesu Wort ist
ner Kopfschütteln ernten. Wenn nun vom                                                     nicht nur die Aufforderung, unser Leben
Zeitgeist die Rede ist, wird nicht einem           nicht zeitenthoben,                     zu überdenken, sondern auch Verkündi-
Ort, sondern – bildlich gesprochen – der                                                   gung des Evangeliums, wörtlich: Ansage
Zeit ein bestimmter Geist zugeschrieben.     sondern dem Zeitgeist von                     einer Frohen Botschaft. Gott umfängt
Auch Zeiten haben ein Gepräge, das sie                                                     das Glauben, Hoffen und Lieben der
von anderen unterscheidet. Diese Prä-              gestern verbunden.                      Menschen auch dann mit seiner Nähe,
gung bestimmt, wie Menschen sich in                                                        wenn sie den Eindruck haben, in ihrem
ihrer Zeit einrichten: was sie als ange-     Anstatt fruchtlos darüber zu streiten, ob     Glauben, ihrer Hoffnung und ihrer Liebe
messen oder unüblich erachten, was           die Kirche sich dem Zeitgeist öffnen oder     gescheitert zu sein. Diese Gewissheit
sie erstreben oder vermeiden, was sie        sich ihm verweigern solle, scheint mir        könnte ermutigend wirken und zugleich
von anderen erwarten oder befürchten.        eine andere Frage wichtiger. Der erste        Gelassenheit stiften.
Der Zeitgeist, so erklärte der Philosoph     Satz, den Jesus im Markus-Evangelium,
Wilhelm Dilthey, ist die Begrenzung, „in     dem ältesten der vier Evangelien, spricht,    Anstatt also den Glauben in die Nostalgie
welcher die Menschen einer Zeit in Bezug     lautet: „Erfüllt ist die Zeit und nahe das    vergangener Zeiten zu verlegen, wie die
auf ihr Denken, Fühlen und Wollen le-        Reich Gottes. Kehrt um und glaubt an          Mahner vor dem verderblichen Zeitgeist
ben.“ Aus christlicher Sicht könnte man      das Evangelium.“ (Mk 1,15) Jede Zeit ist      der Gegenwart es tun, sollten Christen
sagen: Der Zeitgeist ist die Begrenzung,     im Licht des Glaubens erfüllte Zeit, weil     zu allen Zeiten eine gesunde Distanz zur
in der die Menschen einer Zeit in Bezug      Gott in ihr versucht, den Menschen nahe       Unmittelbarkeit ihres Tuns pflegen, um
auf ihren Glauben, ihr Hoffen und ihr Lie-   zu sein. Diese Nähe hat eine doppelte         aus dieser Distanz heraus die Zeit, in der
ben leben.                                   Gestalt. Sie ist Ruf zur Umkehr und Zu-       sie leben, zu gestalten.

                                                                                          Kompass 09I20                            9
KOMPASS - ZEIT GEIST 09I20 - Katholische Militärseelsorge
TITELTHEMA

                              Technik und Ethik
                                   Der Zeitgeist verbindet, was getrennt ist
                                   von Generalleutnant Ansgar Rieks, Stellvertreter des Inspekteurs der Luftwaffe

                              D   ie technischen Errungenschaften
                                  der Welt, die uns umgibt, nehmen
                              wir als „gegeben“. Wir streben in allen
                                                                           ker, der sich mit Ethik befasst, und ein
                                                                           Ethiker, der technische Zusammenhänge
                                                                           lernt. Wohl erst dann wird es zu einem
                                                                                                                        solche Grundlagen intrinsisch mit einbrin-
                                                                                                                        gen, als dass die christlichen Kirchen
                                                                                                                        ganz konkrete Kriterien entwickeln. Die
                              Bereichen nach Weiterentwicklung. Und        zukunftsorientierten, andauernden und        meisten Menschen sind wohl der Mei-
                              wir sind ungeduldig, obwohl die Techno-      fruchtbaren Miteinander kommen.              nung, dass es eines Gottesbezuges
                              logie um uns herum exponentiell immer                                                     nicht bedarf.
                              schneller Neues hervorbringt. Das gilt für               Braucht es Gott?
                              uns privat, wie auch im Dienst; ein Spi-     Die Notwendigkeit von ethischen Kriteri-                      Ansätze
                              ral Development ist nicht nur der einzig     en ergibt sich aus der Erkenntnis, dass      Unser christliches Menschenbild und
                              mögliche Weg dazu, sondern auch unser        „bronzene Glaubenssätze“ oder innere         dessen Werte durchdringt alle Grundla-
                              Zeitgeist.                                   Gefühle und Voreinstellungen in einer        gen unseres Staates. Bis zur Betonung
                                                                           sich entwickelnden Welt nicht weiter-        von Diversity und dem Individualismus
                              Zugleich werden ethische Fragen zu-          helfen, wollen wir letztlich nicht in zwei   unserer Tage, war das für die Gesell-
                              nehmend diskutiert. Natürlich ist die-       unversöhnlichen Lagern zwischen „bren-       schaft wohl auch der Fall. Seitdem es
                              ses auch durch Verkaufsinteressen            nenden Technik-Freaks“ und bestimmte         kein „… man macht das so …“ mehr
                              gefördert („Unsere Produkte sind             Techniken grundsätzlich ablehnenden          gibt, die europäische Verfassung keinen
                              ‚compliant‘ zu allen Standards …“),          „moralischen Hardlinern“ landen.             Gottesbezug mehr aufweisen ‚durfte‘
                              und wird politisch genutzt („das gibt                                                     und die Trennung von Kirche und Staat
                              uns eine unwidersprochene Argumenta-         In der Diskussion um Kriterien werden oft    (zugleich von Kirche und Politik) eine gro-
                              tion“). Aber Menschen wollen mehr und        die Artikel unseres Grundgesetzes und        ße Dynamik bekommen hat, sind Begrün-
                              mehr sichergehen, dass sie ethisch           der UN-Menschenrechtscharta genannt.         dungsmuster verändert.
                              (und ökologisch, gesellschaftlich etc.)      Von Humanisten ist schnell die Verant-
                              einwandfrei leben. Ein Zeitgeist der         wortung für das soziale Miteinander und      Es gibt zwei wesentliche Bereiche, die
                              „Correctness“ geht um.                       der Erhalt der Umwelt ergänzt. Bei Digi-     durch das Christentum geprägt wurden
                                                                           talisierung spielen die Persönlichkeits-     und die auch künftig eine Kriterienent-
                              Es ist nicht verwunderlich, dass die-        rechte eine herausgehobene Rolle. Im         wicklung prägen werden:
                              ser doppelte Zeitgeist – bei aller Un-       Militärischen werden Kriterien dann oft
                              terschiedlichkeit – Technik und Ethik        unter dem Aspekt der Verantwortung           1. Die vier Kardinaltugenden (Klugheit,
                              verbindet. Daher ist ein Bezug dieser        sowie der Beherrschbarkeit von Technik       Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß), wel-
                              beiden Themen nicht nur wünschens-           ausgestaltet. Braucht es also einen Got-     che als universelle und beständige Eigen-
                              wert oder eine geistige Übung, sondern       tesbezug oder gar eine Christlichkeit bei    schaften in einer Welt, in der Menschen
                              unabdingbar.                                 der Entwicklung von Kriterien? Es ist wohl   Technik anwenden, wichtige Maßstäbe
                                                                           eher so, dass einzelne „gute Christen“       geben.
                                     Wer bezieht sich auf wen?
                              Setzen wir die These der unabdingba-
                              ren Verbindung zwischen Technik und
                              Ethik als richtig voraus, gehen wir häufig
                              davon aus, dass eine technische Errun-
                              genschaft mit einer vorhandenen Ethik
                              zu bewerten ist. Doch wieso beziehen
                              wir Technik immer auf Ethik, und wie-
                              so entwickeln wir Ethik nicht auch auf
© Tierney – stock.adobe.com

                              technische Errungenschaften hin weiter?
                              Es ist wohl so, dass die beiden recht
                              unterschiedlichen Domänen „Technik“
                              und „Ethik“ nur dann in eine Beziehung
                              treten, wenn sie sich aufeinander zube-
                              wegen (ohne ihre Grundsätzlichkeiten
                              verlassen zu können). Wie ein Techni-

                              10                         Kompass 09I20
TITELTHEMA

2. Die Abkehr von rein opportunistischen       Zweitens entwickelt sich Technik immer         4. Technik in ihrer differenzierten Aus-
Einschätzungen, auch wenn sie „huma-           schneller, ja so schnell, dass ethische        formung und mit ihrem starken gesell-
nitär“ orientiert sind. „Der gute Zweck        Betrachtungen kaum noch mithalten              schaftlichen, politischen und ganz in-
heiligt nicht die bösen Mittel“, sondern       können.                                        dividuellen Einfluss bedarf spezifischer
in jedem Fall ist eine ethische Bewertung                                                     ethischer Kriterien. Diese sind perma-
für die Anwendung von Technik, unab-           Neben dem Ethikbeirat der Bundesre-            nent so weiterzuentwickeln, wie sich
hängig vom Zweck, zu unternehmen.              gierung schießen also Beratungsgremi-          Technik weiterentwickelt.
                                               en und Bereichsethiken in spezifischen
Es ist klar, dass im amerikanischen            Genres wie Pilze aus dem Boden (auch           5. Ethische Kriterien müssen messbar
Raum dies oft weniger stringent gese-          wenn sie manchmal nicht so heißen).            angewendet werden können, sollen sie
hen wird. Eine Technik, die Terroristen        Und drittens verändern technische Hilfs-       nicht nur ein „gutes Gefühl“ geben, son-
tötet, ist dort „grundsätzlich gut“. Ferner:   mittel, Medien und Kommunikationsmit-          dern in ihrer Anwendung konkretes ge-
Manche leiten Kriterien aus religiösen         tel gerade unser persönliches und gesell-      meinsames Handeln begründen.
Texten wortgetreu ab, ohne die Folgen          schaftliches Leben grundlegend.
zu bedenken und die Verantwortung, die                                                               Dem Gewissen verpflichtet
damit einhergeht.                                     Konsequenzen für einen                  Wie wir gesehen haben, verbindet der
                                                        Ethik-Technik-Bezug                   Zeitgeist die technische Weiterentwick-
         Warum uns gerade heute                Zusammengenommen entstehen aus                 lung mit einer ethischen Bewertung.
               Technik prägt                   diesen Betrachtungen fünf Folgerungen:         Letztlich spüren Menschen, dass sie
Ein jeder von uns kann heute (bis auf                                                         Verantwortung für diese Welt tragen.
wenige Funklöcher) unbegrenzt kommu-           1. Technik ist nur ganz selten in sich aus-    Dabei ist vielen bewusst, dass dies ih-
nizieren, wir nutzen große Datenmengen,        schließlich gut oder schlecht. Sie ist erst    rem Gewissen entspringt, für dessen
lassen uns durch Künstliche Intelligenz        in der Anwendung zu unterstützen, zu           Bildung und Weiterbildung sie Verantwor-
vielfältig beraten. Technik macht Flug-        begrenzen, zu verwerfen oder zu fördern.       tung tragen und dies der letzte und ein-
zeuge schneller und ökologischer, wir          Daher ist von Anwendung zu Anwendung           zige Grund ist, dem sie zu folgen haben.
können in Erbgut eingreifen, haben erste       differenziert zu unterscheiden.                Thomas von Aquin bezeichnet das Urteil
Roboter als Betreuer in der Altenpflege                                                        des Gewissens als „letzte Instanz, nach
und nutzen den Weltraum. Industrie 4.0         2. Eine ethische Bewertung von Technik         der sich der Mensch zu richten hat“ und
ist um uns. Wir sehen und spüren überall       muss beides: sich in Form von „Bereichs-       die Gewissensentscheidung als „Vollzug
die Entwicklung der Technik.                   ethiken“ den jeweiligen Spezifika wid-          eines Urteils über den moralischen Wert
                                               men, wie auch ein einheitliches Gerüst         einer Handlung“. Die Herleitung und An-
Ein Blick im Detail zeigt darüber hinaus       und eine gemeinsame Grundlage haben.           wendung von Kriterien für unsere kompli-
drei „grundsätzliche“ Entwicklungen:           Diese Grundlage entspringt letztlich den       zierte Technik-Welt und ihre Ausformun-
Erstens ist Technik manchmal – jenseits        vier Kardinaltugenden.                         gen gibt uns Hilfe und Unterstützung.
der Schlüsselwörter – nur noch durch
Experten zu prägen und zu durchdringen.        3. Dass sich viele (insbesondere IT-)                            Fazit
Eine ethische Bewertung fällt deshalb          Firmen zurzeit „ethische“ Compliance           Wir werden weiterhin die „Technik-
schwerer als zu der Zeit, als es noch          Regeln geben, ist hilfreich, aber nicht        Freaks“, die Ingenieure, die Operateure
Universalgelehrte geben konnte.                hinreichend. Ethische Kriterien können         und die „Ethik-Experten“ benötigen. Vor
                                               letztlich nur von einer gemeinsamen Au-        allem aber Menschen, die alles zusam-
                                               torität ausgehen, wollen sie nicht belie-      mendenken und aufeinander beziehen
                                               big variabel sein.                             können. Soldatinnen und Soldaten ste-
                                                                                              hen oft mittendrin in diesem Szenario.
                                                                                              Beziehen wir sie ein in die Diskussion
                                                                                              und ermuntern wir sowohl die Techniker
                                                                                              wie die Ethiker, mit ihnen zu reden.

                                                                                             Kompass 09I20                         11
TITELTHEMA

                                                                                                       © KS / Doreen Bierdel

     Irene Franke-Atli                                      Thomas R. Elßner
     Geboren 1955 in Lüneburg,                              Geboren 1961 in Görlitz,
     Studium der Evangelische Theologie                     seit 2009 Professor für Katholische
     in Münster, Berlin und Göttingen.                      Theologie und Exegese des Alten Tes-
                                                            taments an der PTH Vallendar.

     Seit 1984 Pfarrerin, vier Jahre Aus-                   Er leitet das Referat II im Katholischen
     landsaufenthalt in der Türkei, Zusatz-                 Militärbischofsamt, welches u. a. für
     ausbildung in Klinischer Seelsorge und                 Theologische Grundsatzangelegenhei-
     Bibliolog. Pfarramtliche Tätigkeiten in                ten, Liturgie, Gemeindearbeit und Pas-
     Lüneburg, Istanbul und Berlin.                         torale Aufgaben zuständig ist.

12                      Kompass 09I20
TITELTHEMA

                          Ein heiliger Geist weht,
                             wo und wie er will
                                                            Streitgespräch

Kompass: Welche Möglichkeiten haben wir, heute über Gott               sprechen diesen Namen nicht aus. Wenn sie ihn aussprechen,
und das Wirken Gottes in der Welt zu sprechen?                         sagen sie Adonai. Das erinnert auch wieder an HERR. Aber
                                                                       Menschen leben ja in ihrer jeweiligen historischen Zeit, und ihr
Franke-Atli: Das hat für mich sehr viel mit dem Gottesbild zu          Gottesbild ist geprägt durch Einflüsse und Rollenmuster dieser
tun. Ich merke, dass wir in einer Kirche leben, die über Jahrhun-      Zeit. Sicher gab es ein lange männlich geprägtes Gottesbild,
derte geprägt ist durch theologische Auslegung ausschließlich          aber das ist, glaube ich, angemessen.
von Männern. Das wirkt sich auch auf das Gottesbild aus.
Das Tetragramm, der hebräische Eigenname Gottes JHWH,                  Kompass: Würden Sie das ähnlich sehen, dass das eine He-
wurde von Luther mit der HERR übersetzt. Und so stellen wir            rausforderung gerade für Menschen ist, die nicht männlichen
uns Gott dann über lange Zeit doch sehr männlich vor. Obwohl           Geschlechts sind?
wir eigentlich ein Bilderverbot gleich am Anfang im Alten Tes-
tament bei den Zehn Geboten finden. Dennoch reden wir von               Elßner: Für mich ist das nicht so der große Streitpunkt. Also
Gott in dieser Sprache: der HERR oder der Vater. Auch in der           philologisch gesehen ist man sich in der Tat ziemlich einig,
liturgischen Sprache reden wir so. Und damit habe ich meine            dass JHWH eben von hajah, Sein abgeleitet ist. Wenn man sich
Schwierigkeiten eben wegen des Bilderverbots. Hier geht für            die Verben, die mit dem Tetragramm erscheinen, anguckt, sind
mich die Heiligkeit des Gottesnamens verloren.                         diese immer in der männlichen Konjugationsform. Also es ist
                                                                       schon klar, dass es hier um einen männlichen Gott geht, ob
Elßner: Ja, das ist natürlich das berühmte harte Brett, das es         man das Tetragramm nun ausspricht oder nicht. Aber das ist
hier zu bohren gilt. Luther folgt letztlich der jüdischen Tradition,   halt der Zeitkontext.
und zwar der Septuaginta. Die Septuaginta ist die Überset-
zung der hebräisch-aramäischen Bibel ins Griechische. Weil             Franke-Atli: Da wären wir uns einig: Es ist der Zeitkontext.
der Gottesname so heilig ist und dieser nicht ausgesprochen
wird, wurde er mit Kyrios, der Herr, übersetzt. Und das hat            Kompass: Wir haben jetzt gerade darüber gesprochen, wie
Luther beibehalten.                                                    man sich Gottesbilder vorstellt. Dazu zählt auch der Heilige
Also langer Rede kurzer Sinn: Er übernimmt diese frühjüdische          Geist. Wie sprechen wir über diese Form des Wirkens Gottes?
Tradition und übersetzt den Gottesnamen mit HERR. Er macht
einen Unterschied: indem er nicht Herr schreibt, so wie wir            Franke-Atli: Wenn man sich so durch die Bibel liest, kann man
das schreiben, sondern in Kapitälchen. Also dass jeder weiß:           unendlich viel über den Geist Gottes finden. Ruach ist das
Aha, das ist jetzt nicht der Herr Müller oder der Herr Meier,          im Hebräischen. Für mich ist das ein weiblicher Teil Gottes.
sondern das ist eben noch etwas anderes als der normale                Schon in der Schöpfungsgeschichte fängt es damit an, dass
Herr. Und, klar, der Gottesname, der in der jüdischen Tradition        der Geist Gottes über dem Wasser schwebt und dass er eine
ganz selten ausgesprochen wird, ist ein männlicher Name.               schöpferische Kraft Gottes ist. Und es geht dann weiter, dass
Wenn man ihn jetzt übersetzen oder nicht übersetzen würde,             es etwas zu tun hat mit Gottes Atem. Gott haucht dann, bläst
oder das Tetragramm aussprechen würde, es bliebe zumindest             seinen Atem in den Erdling Adam, und Leben entsteht. Die-
der männliche Name eines männlichen Gottes.                            se Geisteskraft Gottes ist eine schöpferische, eine lebendig
                                                                       machende.
Franke-Atli: Das würde ich schon mal in Frage stellen. Es ist          Es gibt wunderbare Bilder in der Bibel, und die prägen für mich
ein Tetragramm, und es sind vier hebräische Buchstaben. Man            so die Vorstellung von dem Geist Gottes. Ich finde das eine
kann es ja gar nicht übersetzen. Ich bin der, der ich bin. Oder:       schöne Vorstellung, dass dieser Geist Gottes Ruach, dass das
Ich bin da. Also da ist nichts Männliches drin. Und die Juden          eine weibliche Seite Gottes ist.
                                                                                                                                    >>

                                                                                           Kompass 09I20                              13
TITELTHEMA

>>
Elßner: Ich gebe zu bedenken, dass dies Sprachbilder, eben           Franke-Atli: Wenn ich mir angucke, was ich vor zehn Jahren
analoge Begriffe sind. Ob der nun männlich, weiblich oder säch-      gepredigt habe, finde ich das immer noch gut, aber ich denke
lich ist: Gott ist so allumfassend, dass da alles inkludiert ist.    heute in einer neuen Zeit auch andere Dinge. Also ich habe
Ruach ist im Hebräischen sowohl männlich als auch weiblich,          andere Antworten im Zwiegespräch mit einem biblischen Text.
im Griechischen pneuma, neutrum, und im Lateinischen                 Und ich weiß, dass die Menschen, die vor mir sitzen, andere
spiritus, männlich. Es ist eine Schwierigkeit, Gott in so eine       Fragen mitbringen als vor zehn Jahren. Und von daher ist das ja
Geschlechterrolle zu bringen, weil wir dann der Grammatik            ein ganz lebendiger Prozess. Und ich kann nicht irgendwelche
aufsitzen.                                                           Dinge, die ich vor zwanzig Jahren gesagt habe, einfach wieder
                                                                     so predigen. Ich glaube, das geht jedem guten Lehrer so, dass
Franke-Atli: Mein Anliegen ist es, dieses Gottesbild zu weiten.      er in seinem Unterricht, wenn es nicht Mathe ist, sich ausei-
Man muss jetzt nicht sächlich, männlich, weiblich reden, was         nandersetzt und Unterrichtsstoff überarbeitet. Auch Theologen
den Geist oder was Gott angeht, aber wir sind eine Kirche, die       sollten regelmäßig Fortbildungen machen.
im Volk bei den Menschen in ihren Glaubensvorstellungen ein
männliches Gottesbild geprägt hat. Und das hat sehr viel damit       Elßner: Das wäre wünschenswert. Der normale Alltagsfrust
zu tun, wie Kirche strukturiert ist und auch die Herrschaft struk-   kommt einfach dazu. Das ist die Frage, wo setzt man die
turiert ist. Und ich finde das sehr schön, dass zum Beispiel die      Schwerpunkte? Und da will ich auch niemandem zu nahe tre-
feministischen Theologinnen das kritisch untersuchen. Damit          ten, weil ich nicht in diesen Schuhen stecke.
weiten sie das Gottesbild für Menschen in der Gemeinde. Und
ich erlebe sehr viele Frauen, die erleichtert sind, dass das         Franke-Atli: Menschen die Vorstellung überhaupt wieder zu
Gottesbild gar nicht so eng ist. Für viele ist es eine wirkliche     eröffnen, was der Heilige Geist ist. Im Konfirmandenunterricht
Bereicherung, die auch Menschen, die sich von der Kirche             geht es darum, sind es Gespenster oder was ist denn der
entfernt haben – gerade Frauen der jüngeren Generation –,            Geist Gottes? Wie soll man sich den Geist vorstellen? Ich finde
aufhorchen lässt und neue Zugänge baut.                              das hochspannend, mit der Gemeinde über den Geist Gottes
                                                                     nachzudenken. Und anhand der Bibel an der Pfingstgeschichte
Elßner: Hier kann ich auf einen weiteren biblischen Punkt hin-       dieses befreiende, ermutigende, auch tröstende Wirken des
weisen. Im Kolosserbrief heißt es ja: Jesus Christus ist das         Geistes Gottes ins Glaubensleben reinzuholen und da was zu
Bild Gottes, also die Ikone Gottes. Und er ist der Sohn Gottes,      verwurzeln in der persönlichen Vorstellung.
Jesus ist männlich.
                                                                     Kompass: Wie übersetzen Sie das ins Heute, wenn Anfragen
Franke-Atli: Für mich ist es, wenn es da so steht „Bild Gottes“      kommen: Wie kann ich mir den Heiligen Geist vorstellen, wie
nicht der Mann Jesus, sondern das, was Jesus gelebt hat,             kann ich mir sein Wirken vorstellen?
ist Bild Gottes. Da kann man schon anfangen zu diskutieren.
                                                                     Franke-Atli: Mit biblischen Beispielen. Ich rede gerne über
Kompass: Aber würden Sie sagen, dass sich die Art und Wei-           biblische Texte. Aber ich merke das eigentlich im gottesdienst-
se, wie wir von Gott sprechen, wandelt? Hat jede Zeit ihre           lichen Vollzug am meisten. Wenn wir regelmäßig Menschen, die
eigenen Attribute, die wir Gott oder auch dem Heiligen Geist         Gottesdienstgemeinde, einladen zu kommen und sich segnen
zusprechen?                                                          zu lassen an den Altarstufen. Zum Beispiel vor den Sommerfe-
                                                                     rien, wenn man in den Urlaub geht und die Arbeit hinter sich
Franke-Atli: Mit Sicherheit. Auch schon in der Bibel reden Men-      lässt. Es gibt die Möglichkeit, auch zu Krisensituationen im
schen von Gott in ihrer Zeit.                                        Leben sich einen Segen zu holen. Und da kommen Menschen,
                                                                     und ich weiß nicht, was sie mitbringen an Erschütterungen, an
Elßner: Und das greifen manche diplomierte Seelsorger nicht          Sehnsüchten, an Träumen, an Krisen. Und wir sprechen einen
auf. Sie nehmen die Gemeinde nicht mit. Sie lesen das Evange-        ganz persönlichen Segen zu. Und manchen Menschen laufen
lium und predigen dazu. Manchmal frage ich mich: Hat er den          die Tränen. Also das tröstet, das ermutigt, das baut auf, das
Text wirklich durchgelesen? Außer mal kurz in der Sakristei. Oft     richtet auf. Der Geist Gottes hat ja auch etwas Aufrichtendes.
macht es den Eindruck: frisches Hemd, alte Predigt. Aber wo          Wenn man sich in der Pfingstgeschichte diese verstörten Jün-
bleibt denn die kontinuierliche Beschäftigung mit theologischer      ger anguckt, wie die plötzlich über sich hinauswachsen und
Wissenschaft? Kein Arzt kommt auf die Idee, wenn er einen            lebendig werden und mutig. Das ist für mich Wirken des Geis-
Facharzt hat, zu sagen: Ich brauche mich nie wieder mit dieser       tes Gottes. Und zum Beispiel bei solchen Segenshandlungen
Materie zu beschäftigen.                                             merke ich das. Das ist nicht etwas, über das ich verfüge, son-
                                                                     dern etwas, was sich ereignet im Augenblick, wo wir segnen.
                                                                     Und das ist eine Erfahrung für Menschen.

14                          Kompass 09I20
TITELTHEMA

                        Elßner: Vor Jahren hat der Weihbischof von Erfurt für Furore     Elßner: Richtig.
                        gesorgt, dass er Segenshandlungen für Nicht-Christen an-
                        geboten hat. Es war nach der Wende. Bei einigen hat es ein       Franke-Atli: Und es bleibt eine kirchliche Handlung. Und die
                        Loch hinterlassen, dass sie keine sozialistische Jugendweihe     Menschen nehmen sie, wenn sie da eine Sehnsucht empfin-
                        hatten. Sie wollten aber auch keine Konfirmation oder Firmung.    den. Ich habe jetzt keinen Einfluss darauf, was sie auch immer
                        Dann wurde so eine Art Segenshandlung eingeführt. Das sind,      sind, wie sie kommen. Da frage ich ja auch niemanden danach.
                        wie soll man das am besten sagen, säkulare Handlungen im         Aber es bleibt für mich eine kirchliche Handlung.
                        kirchlichen Kontext. Also man hat schon Wert daraufgelegt,
                        dass das jetzt keine kirchlichen Handlungen sind, sondern        Elßner: Man merkt, Rituale oder auch sakrale Räume entfal-
                        man wollte eine Schwelle anbieten, auf der man auch ste-         ten eine Wirkung. Und aus dieser Nummer kommt man dann
                        henbleiben kann.                                                 halt nicht raus. Längere Zeit gab es Mönche, die lateinische
                                                                                         Gesänge so popartig gebracht haben, Sakropop. Sie blieben
                        Franke-Atli: Das würde für mich eine kirchliche Handlung blei-   Mönche im sakralen Raum mit spirituellen Texten. Es ist eine
                        ben auch im säkularen Umfeld.                                    Sehnsucht da. Und das kann man auch auf das Wirken des
                                                                                         Heiligen Geistes zurückführen. Der Geist weht in der Tat, wo
                        Elßner: Aber die Leute wollen das nicht. Die sagen: Ich möchte   er will, und es wäre fatal, ihn einzufangen, weil er sich gar
                        mich segnen lassen, aber ich möchte jetzt nicht Christ werden.   nicht einfangen lässt.
                        Ich möchte nicht katholisch werden.
                                                                                         Franke-Atli: Wo der Geist Gottes ist, das ist Freiheit.
                        Franke-Atli: Ja, das ist ja nicht nötig dafür. Aber wenn ich
                        segne, bleibe ich evangelische Theologin.                        Elßner: Ja. 2 Korinther 3,17.

                                                                                                                     Die Fragen stellte Friederike Frücht.
© KS / Doreen Bierdel

                                       Nicht immer einig, aber immer offen in der Sache zueinander: Das Gespräch in der Hauskapelle St. Michael,
                                                                                            in der Kurie des Katholischen Militärbischofs in Berlin.

                                                                                                              Kompass 09I20                            15
ZUM LKU

                      Zur Praxis moralischen Urteilsvermögens

                                     In·tu·i·ti·on [die]
                                                                Teil I

           O                                                                                                                            © kirasolly – stock.adobe.com
„Was wirklich zählt, ist Intuition“, be-      Geist“ in Verbindung. Eine allgemeingül-      ..., im privaten Bereich, in wen man sich
hauptete einst das Physikergenie Albert       tige Definition ist bis heute nicht auszu-     verliebt, oder warum man diese Person
Einstein. Auch der Physiknobelpreisträ-       machen. Während vor 15 Jahren eine            als Freund haben möchte, diese Form
ger Gerd Binnig spricht davon, dass das       Internetsuche zum Schlagwort „Intuition“      von intuitiven Entscheidungen haben.
Leben für „das klein bisschen Logik“ in       noch 30 Millionen Einträge ergab, sind        Man hat das Bauchgefühl. Aber man
unserem Bewusstsein einfach zu kom-           es heute inzwischen über 80 Millionen.        weiß nicht wirklich warum.“
plex wäre und wir Menschen daher im           Der Eindruck verstärkt sich, dass unter
Alltag der Intuition folgen müssen. Mit       dem Begriff „Intuition“ letztlich jeder et-   Das menschliche Gehirn ist nämlich nicht
anderen Worten: Wenn die Dinge kom-           was anderes versteht. Beschränkt man          nur ein Überlebensorgan, das seit jeher
pliziert werden, muss man sich darüber        sich auf rein wissenschaftliche Studien,      mittels blitzschneller „Entscheidungen“
erheben … Genau das vermag intuitives         wird das Phänomen Intuition zumindest         die üblichen Gefährdungen des Lebens
Vermögen.                                     systematisch unter den verschiedensten        meistert, es ist vielmehr – allem vo-
                                              Gesichtspunkten beleuchtet. Aber ein          ran – ein Beziehungsorgan! Neurologen
Intuition ist weder etwas, das uns die        einheitliches Bild, was Intuition wirklich    schätzen, dass bei über 90 % unserer
richtigen Lottozahlen tippen lässt – da       ist, gibt es nicht. Eine Annäherung an        Entscheidungen die Intuition eine aus-
geht‘s eher um Wahrscheinlichkeiten und       das Phänomen gelingt nur begrenzt.            schlaggebende Rolle spielt. Gerade in
Zufall –, noch darf sie mit tierischem Ins-                                                 unsicheren Zeiten mit neuen komplexen
tinkt verwechselt werden. Tiere handeln       Einer der profiliertesten Forscher auf dem     Herausforderungen treffen Menschen
gemäß ihrer Natur rein instinktiv, Men-       Gebiet der „Bauchentscheidungen“ ist          vermehrt unbewusste „Bauchentschei-
schen müssen das nicht. Der Mensch            Gerd Gigerenzer, ehemaliger Direktor          dungen“ – oft auch mit weitreichenden
ist wohl auch das einzige Lebewesen,          des Max-Planck-Instituts für Bildungsfor-     sozialen Folgen für sich und andere.
welches überhaupt intuitiv zu handeln         schung. Viele Jahre hatte er untersucht,
vermag. Intuition ist ein rein menschli-      auf welche Weise Menschen insbeson-           In den nächsten Kompass-Ausgaben soll
ches Vermögen und dem Urteilsvermö-           dere mit einer unsicheren Welt umgehen        daher die Praxis moralischen Urteilsver-
gen mit zuzuschreiben.                        und darin Entscheidungen treffen. Viele       mögens unter dem Aspekt „sittlicher
                                              dieser Entscheidungen seien unbewusst,        Intuition“ Anregungen zum vertrauten
Auch wenn jeder von uns „Intuition“ ir-       erklärt Gigerenzer: „Unbewusst bedeutet,      Gespräch unter Kameradinnen und Ka-
gendwie kennt und seit Kindheit an in-        dass man zwar weiß, was man möchte,           meraden im Lebenskundlichen Unterricht
tuitiv handelt, bedarf es dennoch des         aber nicht warum. Und zugleich ist es         liefern. Denn besonders für die Soldatin-
Versuchs der Verständigung und Annä-          immer mehr deutlich, dass wichtige Ent-       nen und Soldaten unseres Landes stellt
herung an das Thema. Was ist also „In-        scheidungen in Wirtschaft, Wissenschaft,      sich angesichts komplexer werdender
tuition“ wirklich?                                                                          Technik, Organisation und Auftragslage
                                                                                            immer mehr die Frage, ob die von den
In der Literatur wird das Phänomen un-                                                      Neurologen prognostizierten zwangsläu-
terschiedlich beschrieben: Bauchgefühl,                                                     figen Bauchentscheidungen wirklich in
Geistesblitz, innere Anschauung, gefühl-                                                    Ordnung sind …
tes Wissen und noch vieles mehr – man-                                                                               Franz J. Eisend,
che bringen es selbst mit dem „Heiligen                                                           Wissenschaftlicher Referent, KMBA

16                          Kompass 09I20
AUS DER MILITÄRSEELSORGE

                                                           Kalender 2021
                                                           Nach der Jahresmitte 2020 wird es Zeit, verschiedene
                                                           Angebote für das kommende Jahr in den Blick zu nehmen:

   Postkartenkalender „Die Kirchen“                 Taschenkalender für                            Wandplaner 2021 der
         von Lyonel Feininger                  Soldatinnen und Soldaten 2021                   Katholischen Militärseelsorge

Zum 150. Geburtstag des Künstlers am        „Mit dem neuen Soldaten-Taschenkalen-         Ebenfalls in bewährter Form liegt der
17. Juli 2021 ist ein Monatskalender        der lade ich Sie herzlich ein, bewusst auf    beliebte Wandplaner 2021 im Quer-
erschienen, der als Wandkalender zum        den Frieden in Jesus Christus zu schau-       format 98x68 cm mit viel Platz für
Aufhängen eher klein, durch seine Auf-      en.“ Unter diesem Friedenswunsch über-        Termine und Eintragungen vor. Wie
stellvorrichtung jedoch als Standkalender   reicht Militärbischof Franz-Josef Overbeck    üblich wird auf die Großveranstaltun-
geeignet ist. Wer klare, kräftige Farben    diese „Jahresgabe für die katholischen        gen Kirchentag und Lourdes-Wallfahrt
bevorzugt, ist bei den zwölf Gemälden       Soldatinnen und Soldaten der Deutschen        hingewiesen, auch wenn seit der Pan-
von Feininger nicht so gut bedient, denn    Bundeswehr“.                                  demie noch lange nicht sicher ist,
zumindest diese Auswahl ist in zurück-                                                    ob und wie sie stattfinden können.
haltenden Pastelltönen gestaltet. Am far-   Format, unempfindlicher Kunststoff-Ein-
benfrohesten ist eines der bekannteren      band und farbliche Gestaltung sind in der     Der Kalender im praktischen Taschen-
Motive, das sowohl den Oktober als auch     aus den vergangenen Jahren bewährten          buchformat und der Wandplaner sind bei
die Titelseite ziert: Die Marktkirche von   Form angelegt. Einige Stichworte zu den       den jeweiligen Katholischen Militärpfarr-
Halle (1929).                               äußerlichen und inhaltlichen Besonder-        ämtern in den Bundeswehr-Standorten
                                            heiten:                                       erhältlich.
Aus allen Schaffenszeiten des Malers
sind bekannte Kirchengemälde, ergänzt       • über 1.000 Namen nach dem                   Außerdem bieten wir Ihnen in der nächs-
durch biografische und kunsthistorische        katholischem Namenstags-Kalender            ten Ausgabe (Oktober) erneut einen be-
Informationen, in diesem Kalender zu        • für jeden Tag des Jahres etwa               bilderten Kompass-Kalender im Format
finden: Lyonel Feininger, 1871–1956,           drei bis vier Namensheilige                 DIN A 3 (doppelseitig) – als Einhefter in
Maler, Grafiker und bekannter Bauhaus-       • paritätische Verteilung von                 der Heftmitte.
Künstler.                                     Frauen- und Männernamen                                                 Jörg Volpers

  Lyonel Feininger 2021,
  Die Kirchen. Der Postkartenkalender

  12 Kalenderblätter mit 12 Postkarten,
  21 x 22,5 cm
  Spiralbindung,
  durchgehend farbig gestaltet
  ISBN 978-3-7462-5638-2, € 14,95
                                                                                                                                      © KS / Doreen Bierdel

                                                                                         Kompass 09I20                          17
KOLUMNE

                               © DBT / Inga Haar

18   Kompass 09I20
KOLUMNE

                               Liebe Soldatinnen und Soldaten,
                               seit Monaten ist die Covid-19-Pandemie das beherrschende Thema – auch in der
                               Truppe. Das Virus stellt die Bundeswehr vor große Herausforderungen. Das spüre
                               ich als Wehrbeauftragte sehr deutlich. Täglich erreichen mich hierzu Eingaben von
                               Soldatinnen und Soldaten.

                               Übung und Ausbildung sind eingeschränkt. Atemschutzmasken und Desinfektions-
                               mittel fehlten – vor allem zu Beginn der Krise. Kritisiert werden auch die Quarantäne-
                               Maßnahmen vor den Auslandseinsätzen. Es ist zwar richtig, dass wir alles dafür tun
                               müssen, um zu verhindern, das Virus in die Einsatzgebiete zu bringen. Dass während
                               dieser Quarantäne jedoch nur einmal am Tag das Zimmer für einen 30-minütigen
                               Ausgang verlassen werden darf, mutet den Soldatinnen und Soldaten doch zu viel zu.

                               Insgesamt begrüße ich die strikten Hygiene- und Schutzmaßnahmen sehr. Das ha-
                               ben mir auch viele Soldatinnen und Soldaten mitgeteilt. Die Zahlen zeigen, dass sie
                               richtig und gut sind: Die Anzahl infizierter Soldatinnen und Soldaten war und ist sehr
                               gering – im Inland wie im Ausland. Ich hoffe sehr, dass das auch in Zukunft so bleibt.

                               Natürlich ist die Corona-Krise eine enorme Belastung. Doch wir sollten auch den Blick
                               auf das Positive richten. Themen wie Digitalisierung und Vereinbarkeit von Familie
                               und Dienst haben Corona-bedingt einen großen Schub erhalten. Sonderurlaube zur
                               Kinderbetreuung wurden unbürokratisch gewährt. Viele Soldatinnen und Soldaten
                               können Homeoffice machen.

                               Ich wünsche mir, dass wir genau das, was in der Corona-Krise gut lief, weiterfüh-
                               ren. Zum Beispiel Homeoffice für Dienstposten, die sich dafür eignen. Und dass
                               wir dort, wo es noch hakt, weiterdenken und weiter daran arbeiten. Zum Beispiel
                               mehr IT-Ausstattung für mehr Telearbeitsplätze, die Möglichkeit, Sonderurlaube
                               auch stundenweise zu nehmen oder die Durchführung von Auswahlkonferenzen für
                               Berufssoldaten mit digitalen Mitteln.

                               Und noch etwas Positives hat die Corona-Krise: Deutschlandweit sind Soldatinnen
                               und Soldaten im Einsatz gegen das Virus. Während meiner Sommertour war ich im
                               Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz, wo Infizierte mit modernster Ausstattung
                               behandelt werden. Und ich war beim Fallschirmjägerregiment 26 in Zweibrücken,
                               das mobile Abstrichstationen betreibt.

                               Allen Soldatinnen und Soldaten möchte ich von ganzem Herzen für ihren Einsatz
                               danken! Sie leisten einen großen Beitrag im Kampf gegen das Virus. Ich hoffe sehr,
                               dass die Amtshilfe der Bundeswehr nicht nur die Sichtbarkeit der Truppe in unserer
                               Gesellschaft erhöht, sondern auch die Wertschätzung und Anerkennung für ihren
                               wertvollen Dienst.

                               Ich freue mich, als Wehrbeauftragte künftig diese Kolumne schreiben zu dürfen.
                               Dabei möchte ich vor allem die Themen aufgreifen, die Soldatinnen und Soldaten
                               bewegen. Denn ihre Anliegen bestimmen meine Agenda. Mir gefällt die schöne
                               Beschreibung des Amtes als „Anwältin“ der Soldatinnen und Soldaten.
© SidorArt – stock.adobe.com

                               Mit herzlichen Grüßen

                                                                     Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages

                                                                                                   Kompass 09I20        19
MEDIEN: BUCH-TIPP

Ich bin so frei!

E  inerseits wirkt der schlichte Buchtitel
   „Freiheit“ nicht besonders originell,
jedoch passt das Ende Mai erschienene
Bändchen in die kleine Reihe des Kösel-
Verlags mit „glaube!“ und „Kirche über-
lebt“. Andererseits werden nur wenige
Menschen bei diesem Wort an einen Erz-
bischof und Kardinal der katholischen
Kirche denken.

Nach Lektüre der knapp 170 Seiten plus
umfangreichem Literaturanhang – hand-
lich, aber doch nicht „klein“ – ist aller-                                                   Reinhard Marx, Freiheit
dings zu verstehen, dass der ehemalige
Vorsitzende der Deutschen Bischofs-                                                          gebunden mit Schutzumschlag,
konferenz (DBK) Reinhard Marx mit der                                                        176 Seiten
Überschrift über seiner Einleitung „Ich                                                      Kösel, München, 3. Aufl. 2020
bin so frei!“ durchaus ein ehrlich gemein-                                                   ISBN 978-3-466-37261-4, € 18,-
tes Lebensthema formuliert. Nicht von
ungefähr lautet seit 1996 sein bischöfli-                                                     auch als eBook (epub)
cher Wahlspruch: „Wo aber der Geist des                                                      ISBN 978-3-641-25844-3, € 12,99
Herrn wirkt, da ist Freiheit“ (2 Kor 3,17).
Etwas überraschend bei einem solchem
Autor, geht es zu Beginn des Buchs kaum
theologisch oder kirchlich zu. Erst auf       Der Schwerpunkt seiner Arbeit in der Ka-    Insgesamt betrachte ich Marx‘ Über-
Seite 75 fragt er: „Haben all diese Über-     tholischen Soziallehre, bevor er Bischof    legungen durchaus als selbstkritisch
legungen wirklich etwas mit dem Glauben       von Trier wurde; seine Mitwirkung in der    gegenüber der deutschen und der Welt-
zu tun?“ Und zwei Seiten weiter formu-        DBK bis hin zum nun begonnenen „Sy-         Kirche, was besonders in den Abschnit-
liert er den zentralen Gedanken:              nodalen Weg“ (hauptsächlich ab Seite        ten über „Frauen in der Kirche“ (ab Seite
                                              92); Rückbezüge auf das II. Vatikanische    107) deutlich wird. Beim Ausblick auf die
                                              Konzil und die Würzburger Synode (vgl.      Zukunft benennt der – auch noch nach
     „Das Menschenbild                        das längste Zitat im Buch von über zwei     seinem Rückzug vom Vorsitz der Euro-
      der Bibel und des                       Seiten aus dem Beschluss „Unsere Hoff-      päischen und der Deutschen Bischofs-
                                              nung“, Seite 83–85), die vor rund fünfzig   konferenzen – weiterhin „mächtige“ und
Christentums geht davon aus,                  Jahren die katholische Kirche so sehr       einflussreiche Kardinal mehrere „Bruch-
                                              veränderten; und schließlich die Nähe       stellen“, die die Freiheit gefährden: die
 dass der Mensch Person ist,                  zum heutigen Papst Franziskus.              Spannung von „Arbeit und Kapital“, die
     die zur Freiheit und                     Bemerkenswert und aktuell ist seine Aus-    Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf
                                              sage zum Gottesbezug in Verfassungen        die Arbeitswelt, die damit zusammen-
      zur Verantwortung                       – z. B. für die Europäische Union:          hängende „Künstliche Intelligenz“ und
                                                                                          schließlich die weitere Entwicklung der
        bestimmt ist.“                                                                    Sozialen Marktwirtschaft.
                                                 „Mir hätte es damals
Die Begriffe „Verantwortung“ und „Be-             durchaus gereicht,                      Das gut lesbare Buch endet, wie es be-
ziehung“ sowie die Unterscheidung                                                         gonnen hat, mit einem Ausrufezeichen:
zwischen „Freiheit von ...“ und „Frei-         wenn in der Präambel einer                 „Denn Freiheit braucht Mut!“
heit zu etwas“ ziehen sich durch die
gesamten Erörterungen. Dabei werden             zukünftigen Verfassung                                                 Jörg Volpers
die (lebensgeschichtlichen) Bezüge von          Europas stehen würde:
Kardinal Marx immer wieder deutlich:
                                                 Wir sind nicht Gott.“

20                          Kompass 09I20
Sie können auch lesen