Komplexbehandlung der Epilepsien - Die Lebensqualität des Patienten steht im Zentrum - Deutsche ...
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Nr. 154 38. Jahrgang 2. Quartal 2020 75540 SONDERDRUCK Komplexbehandlung der Epilepsien Die Lebensqualität des Patienten steht im Zentrum Als Herr van Kampen mich einlud, für die einfälle einen Artikel zur Komplexbe- handlung der Epilepsien zu schreiben, erinnerte ich mich an die Widmung, mit der mir 1997 mein klinischer Lehrer Dieter Janz (der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre) sein Buch Die Epilepsien geschenkt hat. In dieser Widmung stand unter anderem „… als Zeichen meines Gedenkens an das, was uns verbindet.“ Ein Aspekt der Verbindung (der zu diesem Thema führt), an den er dachte und den wir bei der Begegnung besprachen, ist der komplexe, sozialmedizinische Ansatz in der Behandlung von Menschen mit Epilepsie. Wir behandeln nicht Krankhei- ten, sondern Menschen in bestimmten Prof. Meencke bei den Herzberger Gesprächen zur Phasen ihres Lebens mit ihren Ängsten, Epileptologie im November 2018 Hoffnungen und Wünschen. Die Men- schen sind keine Objekte der Medizin, sondern Subjekte in dem Dialog zwischen Patient und Arzt. Eine banale Feststellung lautet: Epilepsi- en sind Erkrankungen mit epileptischen Anfällen. Wir wissen aber nur zu gut, dass Anfälle nur eine, offensichtliche, klinische Erscheinung dieser Erkrankung sind. Epilepsien sind komplexe Erkran- kungen, und wir sprechen inzwischen von Systemerkrankungen, bei denen häufig Foto: Reinhard Elbracht, v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel auch außerhalb des Nervensystems an- dere Organsysteme betroffen sind. Epilepsien sind chronische Erkrankun- gen. Damit beeinflussen sie fundamental den Lebensstil und die Lebensgeschichte eines an Epilepsie erkrankten Menschen. Der Lebensstil und die Lebensgeschichte werden nicht nur durch die medizinischen und psychologisch-psychiatrischen sowie somatischen Begleiterscheinungen, son- dern auch durch die sozialen Folgen der Anfälle und das immer noch bestehende Stigma der Epilepsie geformt.
Aus der Komplexität und Chronizität der Es geht also in vielen Fällen um die Be- elektrophysiologische Veränderungen Erkrankung ergibt sich, dass zugleich mit wältigung der Erkrankung und die Aus- können das neuronale Netzwerk nachhal- den medizinisch-biologischen Aspekten einandersetzung mit der Tatsache, dass tig negativ verändern und damit auch zur auch die psychologisch-psychiatrischen Anfälle auftreten. Hier sind am Beginn Entwicklung einer Behandlungsresistenz und sozialen Faktoren in die Behandlung der Erkrankung wichtige Schritte zu tun; beitragen. einbezogen werden müssen. Der Erhalt am Anfang entscheidet sich oft, wie der einer hohen Lebensqualität nach den je weitere Verlauf der Epilepsie ist. Akut kann es durch die Anfälle zu kogni- eigenen Vorstellungen des Patienten steht tiven Störungen und psychischen Beein- im Zentrum der Therapieziele. Anfälle machen Angst. Angst vor dem trächtigungen kommen, die wiederum Kontrollverlust, Angst vor Verletzungen bis Rückwirkungen auf psychische Stabilität Das Therapieziel Lebensqualität ist eng hin zur Angst vor dem Tod und Angst vor und Selbstwertgefühl haben, mit mögli- mit der Anfallsfreiheit verknüpft. In der dem sozialen Stigma. Diese Ängste müs- chen sozialen Auswirkungen. Regel ist Anfallsfreiheit eine Bedingung sen mit Beginn der Therapie angespro- für eine hohe Lebensqualität. Es gibt aber chen werden. Der Patient muss in die Lage Bei der Mehrzahl der Epilepsien scheinen Situationen, in denen der Patient bereit versetzt werden, sich nicht passiv den vordergründig nur die Anfälle die Lebens- ist, einige Anfälle zu akzeptieren, um seine Anfällen ausgesetzt zu sehen. Sehr häufig qualität zu beeinträchtigen. Im Laufe der Vorstellung von Lebensqualität mit seinen werden hier am Anfang der Erkrankung Anamnesegespräche und der weiteren eigenen Prioritäten zu verwirklichen. die Wurzeln für eine Angststörung gelegt. Behandlung stellen wir oft fest, dass Die Entwicklung von Angst, das Gefühl, andere Störungen zusätzlich vorliegen Anfallsfreiheit (und vielleicht auch Heilung) den Anfällen hilflos passiv ausgesetzt und häufig im Vordergrund stehen. ist der dringendste Wunsch und das zu sein und negative soziale Reaktionen erste Therapieziel, dass jemand nennt, schwächen das Selbstwertgefühl des Diese Störungen hängen damit zusam- wenn er nach einem ersten Anfall in die Patienten. Damit werden je nach Alter des men, dass die Epilepsie als System Sprechstunde kommt. Patienten Bildungsweg, berufliche Lauf- erkrankung durch die Störung des bahn und soziales Netzwerk von Partner neuronalen Netzwerkes nicht nur zu Zunächst eine gute Botschaft: Viele und Freunden empfindlich beeinträchtigt. Anfällen führt, sondern die Veränderung Patienten werden anfallsfrei. Von den des Nervengeflechts auch zu Verände- Patienten mit generalisierten genetischen Gleichzeitig mit diesen sozialmedizi- rungen der emotionalen Steuerung, der Epilepsien bis zu 90%, von den Patienten nischen Problemen gibt es wichtige Wahrnehmung oder des Gedächtnisses mit fokalen Epilepsien 70 bis 80% (wenn medizinisch-biologische Gründe, zügig führen können, um nur einige zu nennen. die Epilepsie-Chirurgie einbezogen wird). Anfallsfreiheit zu erreichen. Die Art der Störungen hängt davon ab, Nicht so gut sieht es aus bei den Men- ob und an welcher Stelle der Hirnrin- schen mit einer Mehrfachbehinderung Die weitere Prognose des Epilepsiever- de das neuronale Netzwerk gestört ist. und Epilepsie. In diesen Fällen ist nur bei laufs hängt unter anderem davon ab, wie Schwerpunkte im Stirnhirn können zu 10 bis 25% der Patienten Anfallsfreiheit schnell Anfallsfreiheit erreicht wird. Hier Störungen der emotionalen Steuerung zu erreichen, in Abhängigkeit von der darf man die Zeit nicht vertun. Anhaltende führen, oder auch der Wahrnehmung. jeweiligen Form der Epilepsie. Anfallsaktivität und auch subklinische Bei Veränderungen im Temporallappen Als Ehrenmitglied der Deutschen Epilepsievereinigung war und ist Prof. Meencke der DE sehr verbunden. Hier bei seiner Verabschiedung als Medizinischer Direktor des Epilepsie-Zentrums Berlin-Brandenburg mit Klaus Göcke, dem ehemaligen langjährigen Vorsitzenden der DE (April 2011), Foto: Archiv
Prof. Meencke (Mitte) diskutiert mit (v.l.) Romy Delan Sybille Burmeister, Dr. Thomas Mayer und Prof. Holtkamp über die verschiedenen Aspekte der Komplexbehandlung (Herzberger Gespräche, November 2018; Foto: Reinhard Elbracht, v. Bodelschwingsche Stiftungen Bethel können Gedächtnisstörungen beobachtet Schon nach den ersten Anfällen ist es zu Einschränkungen im täglichen Leben werden. Dabei kann es auch zu Per- deshalb wichtig, dass der Patient spezielle kommt und Arbeit und Berufsausbildung sönlichkeitsakzentuierungen kommen, Behandlungszentren aufsucht, um Störun- beeinträchtigt werden könnten. mit Ausbildung von Zwängen, sozialen gen, die nicht sofort ins Auge springen, Phobien oder Borderline-Störungen. aber den Verlauf der Erkrankung nach- Es ist wichtig, dass die Beratung zur haltig beeinflussen können, rechtzeitig Lebensführung nicht „allgemein epilepto- Nicht selten treten psychiatrische Ko zu erkennen. logisch“ erfolgt, sondern ganz spezifisch morbiditäten auf, das heißt eigenständige auf die Form der Epilepsie bezogen wird. psychiatrische Erkrankungen, die „neben“ Auch bei relativ schnell anfallsfrei werden- Wichtig sind keine generellen Verbote, der Epilepsie mit Anfällen auftreten. den Patienten gibt es in einem Fünftel der sondern das umgekehrte Herangehen: Fälle „Rehabilitationsprobleme“. Es geht „Sie können alles machen, aber bei Ih- Eigenständige Depressionen unabhängig dabei sehr häufig um die Bearbeitung rer Epilepsie würde ich dies und das von Anfällen sind häufig. Davon abzu- des Stigmas der Epilepsie. Ein wichtiger unterlassen.“ Das heißt, notwendig ist grenzen sind Verstimmungen, die vor, Schritt ist dabei, die Epilepsie zu akzep- eine spezifische individuelle Beratung zur während oder nach den Anfällen auftreten tieren, seine eigenen Stärken zu erkennen Lebensführung und auch zur Arbeitssitua- und die nicht die Charakteristika einer und sich aktiv mit der Epilepsie ausein- tion, bezogen auf die individuelle Epilepsie großen Depression haben. Psychosen, anderzusetzen. Über eine Verbesserung und individuelle Risiken des Patienten. unabhängig von Anfällen, sind seltener. des Wissens kann das Selbstvertrauen Bei diesen psychiatrischen Auffälligkei- des Patienten verbessert werden. Früh Die Beratung zu anfallsauslösenden Si- ten sehen wir eher einen Bezug zu den in der Behandlungsphase geht es auch tuationen am Beginn einer Epilepsie ist Anfällen. Auch Angststörungen können darum, die oben erwähnte Entwicklung schwierig. Gleichwohl besteht schon eigenständig auftreten, sich aber auch einer anfallsunabhängigen Angststörung nach wenigen Anfällen das Bedürfnis, als Phänomene manifestieren, die vor, zu verhindern. Auch hier ist die Auseinan- die Auslöser der Anfälle zu verstehen. während oder nach einem Anfall auftreten. dersetzung mit der individuellen Epilepsie Wenn es sich aber nicht gerade um eine und die Stärkung des Selbstvertrauens klassische Epilepsie mit Aufwach-Grand Neben diesen psychiatrischen Komorbi- eine wichtige Grundlage. Hier spielen die mal handelt (bei der Schlafentzug ein ditäten wird zunehmend deutlich, dass Selbsthilfegruppen eine wichtige Rolle. offensichtlicher Auslöser sein kann), lässt Epilepsien als Systemerkrankungen häufig sich in der Regel zunächst nicht schlüssig von anderen somatischen Komorbiditä- Wichtig für die Prognose ist auch die sagen, ob bestimmte individuelle biogra- ten begleitet werden. So wird häufiger Anpassung des Lebensstils an den Typ phische Konstellationen zu einem Anfall eine erhöhte Rate an Herz-Kreislauf-Er- der Epilepsie. Der Patient muss die Grün- führen. Das Führen eines Tagebuches krankungen, an Diabetes oder anderen de einer Behandlung verstehen, für sich kann Patienten dabei helfen, nach einiger Stoffwechselerkrankungen gefunden. akzeptieren und sich daraus eigenverant- Zeit vielleicht doch individuelle Beson- wortlich für die Therapietreue einsetzen. derheiten für die Auslösung von Anfällen Der Patient muss verstehen, warum es herausarbeiten zu können.
Bei Menschen mit Mehrfachbehinderung chirurgischer Behandlung, Stimulations- Grundlagenforschung zu geben und auf und Epilepsie ist die Beeinträchtigung verfahren, Physiotherapie, Sport usw. las- der anderen Seite aus den Daten der der Lebensqualität häufig nicht durch sen sich nicht trennen von dem psycholo- Grundlagenforschung den Blick für die die Anfälle bedingt, sondern durch das gischen/psychiatrischen Behandlungsfeld klinische Arbeit zu schärfen. Ausmaß der Behinderungen. Häufig und sozialmedizinischen Maßnahmen mit stehen schwere Defizite der Kognition, Sozialberatung, beruflicher Bildung und Unter diesen Aspekten ist 1996 das motorischer Funktionen und der Spra- Rehabilitation. Epilepsie-Zentrum Berlin – ab 2002 che sowie der autonomen Regulierung Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg von Körperfunktionen im Vordergrund. Diese Integration der therapeutischen im Verbund der v. Bodelschwinghschen Häufig kommen zusätzliche somatische Felder erfordert aber auch eine Inte Stiftungen Bethel – entstanden, das Erkrankungen dazu. gration der Institutionen. Dies ist in über vertragliche Vereinbarungen eine Deutschland besonders schwierig, weil kooperative Integration der genannten Die Rehabilitationsziele bei mehrfach wir eine Segmentierung der einzelnen Institutionen erreicht hat. behinderten Patienten mit schwerer Epi- Institutionen haben, mit teilweise konkur- lepsie sind nicht Anfallsfreiheit, sondern rierenden Kostenträgern. Von besonderer Wir müssen immer wieder betonen, Anpassung an das Leben mit der Behin- Bedeutung ist aber eine Integration von dass die Lebensqualität des Patienten derung und den Anfällen. In manchen ambulanter und stationärer Behandlung im Zentrum aller Überlegungen steht. Fällen lässt sich auch ein gewisses Maß in den Epilepsiezentren. Notwendig Anfallsfreiheit ist ein sehr wichtiger Fak- an Eigenverantwortlichkeit erreichen. Ein ist ein überweisungsfreier Zugang zu tor dafür, aber nicht der einzige, wie wir Schwerpunkt der Rehabilitation muss Epilepsie-Ambulanzen, die stationären erörtert haben. Wichtig ist, immer wieder darauf liegen, Komplikationen, die durch Einrichtungen vorgelagert sind. In die- zu bedenken, dass der Patient für seine die Behinderung auftreten können, vor- sen Ambulanzen müssen medizinische, Epilepsie der Experte ist. Er bestimmt die zubeugen. Hier müssen Betreuer und psychologisch-psychiatrische und soziale Behandlung. Der Arzt muss aus seiner Familienmitglieder beraten werden. Das Behandlungsfelder repräsentiert sein. Erfahrung heraus Rat geben und dem bedeutet aber auch, dass man sich mit Auch der leichte Zugang zu Rehabilita- Patienten ein erfahrener Begleiter sein. den Aktivitäten an die Behinderung an- tionseinrichtungen, zu Einrichtungen der Gegen den Willen des Patienten lässt passt und gleichzeitig versucht, den Ein- beruflichen Bildung und zu betreutem sich kein Behandlungserfolg erreichen schränkungen entgegenzuwirken. Hier ist Wohnen muss verbindlich kooperativ und oft muss der Patient Umwege gehen, besonders eine Ertüchtigung der Familie organisiert sein. um eigene Erfahrungen zu sammeln, die und der sozialen Netze, in denen der der Arzt dann mit ihm beratend bespre- Patient lebt, erforderlich. Zur Komplexbehandlung gehört auch die chen muss, um daraus ein gemeinsames kooperative Integration von Forschungs- Therapiekonzept entwickeln zu können. Foto: Norbert van Kampen Diese hier kurz skizzierten Behandlungs- institutionen, um aus einer reflektierten probleme und der Zusammenhang von klinischen Behandlung weitere Erfah- Anfallsfreiheit und Lebensqualität zeigen, rungen zu Entstehung, Verlauf und Be- wie wichtig es ist, die therapeutischen handlungsmöglichkeiten von Epilepsien Prof. Dr. med. H. Joachim Meencke Felder zu integrieren. Die medizinischen valide zu erstellen, aus der reflektierten Medizinischer Direktor i.R. Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg Behandlungsansätze mit Medikamenten, klinischen Erfahrung Anregungen für die
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