KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ - 1402 | 25. 3. 2019 - Kulturportal West Ost
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INHALT Klaus Weigelt Sachwalter der Erinnerung, ihrerseits vergessen Vom „kommunikativen“ zum „kollektiven“ Gedächtnis 3 Thomas Konhäuser Kommunikation lebt von Partizipation Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen eröffnet ihnen ein Forum 7 Wolf Oschlies Russland rücke Rubel raus Die Balten fordern Wiedergutmachung 9 Michael Ferber Lenzes lustiges Liedchen Brauchtum in Schlesien 11 Der Leuchtturm zu Nidden, von Ernst Mollenhauer gemalt, Trockengefallen leuchtet mitnichten, er ist ein „Im Fluss der Zeit. Jüdisches Leben an der Oder“ in Greifswald 15 Inbild finsterer Verschreckung. Klaus Weigelt Weiß leuchten allein die Wol- Der Korse, ein Korsar des Todes ken. Der Maler hat ein halbes Napoleons Wüten im Osten nach Arno Surminski und Günter Müchler 16 Künstlerleben in seiner Nähe zugebracht, konnte aber die dort gemalten Bilder, die dem Bücher Medien Veranstaltungen Krieg zum Opfer fielen, nur Hochstetter: Briefe aus dem Böhmerwald (Volker Strebel) 21 im Kopf mitnehmen, um sie Deutsch-polnische Kuratorentagung (Dieter Göllner) 22 in Düsseldorf neu zu malen. Ungarn verurteilen die einstigen Vertreiber (Norbert Matern) 21 Symbolik sollte man nicht aus- Dietmar Scholz beim Kulturwerk Schlesien (Ulrich Schmilewski) 23 reizen, allzu leicht kippt sie in Kitsch, hier jedoch ... Wir reizen Marcel Krueger Stadtschreiber in Allenstein 24 nicht weiter Bild: Ostpreußisches Landesmuseum Literatur und Kunst Lüneburg Uwe Neumärker Die Kürbishütte als literarische Anstalt betrachtet Simon Dach in Ostpreußen 25 Jörg Bernhard Bilke „Weichselkirschen“ nach des Lesers Geschmack Zum Tod von Leonie Ossowski 27 Da kann Erzengel Gabriel nur schmunzeln Avenarius-Fresken von Haus Wiesenstein in Haus Schlesien 28 Bedrohtes Selbst Katharina Sieverding im Kunstforum Regensburg 29 KK-Notizbuch Georg Aescht Kein Abschied 31 2 KK 1402 vom 25. März 2019
Sachwalter der Erinnerung, ihrerseits vergessen Heimat bewahren – Kultur vermitteln – Zukunft gestalten: vom „kommu- nikativen“ zum „kollektiven“ Gedächtnis Seit Ende der 1980er Jahre gibt es in den im europäischen Rahmen, also im grenz- „Kultur- und Kommunikationswissenschaf- überschreitenden Dialog und Gespräch ten“ eine Diskussion über das kommunika- über die deutsche und jüdische Kultur im tive und das kollektive Gedächtnis und die östlichen Europa eher fraglich, wie zähe damit verbundenen Erinnerungskulturen und langwierige deutsch-polnische Schul- in der Gesellschaft. Inwieweit diese vor- buchverhandlungen oder Gespräche über wiegend in der soziologischen Wissen- unterschiedliche Leidenserfahrungen unter schaftssprache geführten Diskussionen dem Nationalsozialismus und dem Kom- für die praktische Arbeit der zumeist eh- munismus im Ost-West-Gespräch nach renamtlich arbeitenden deutschen Heimat- der europäischen Einigung 2004 und 2007 vertriebenen Relevanz haben, die sich ihre dokumentieren. Geschichten erzählen (Karl Schlögel), also Für die Diskussion in Deutschland ist es das kommunizieren, was sie in ihrem Ge- wichtig, einen Blick auf die Ausgangslage dächtnis haben, um sich in ihrem Schicksal in den Anfangsjahren der Bundesrepublik zu verstehen, steht auf einem anderen Blatt. nach 1949 zu werfen. Das Bundesvertrie- Ob über dieses Geschichtenerzählen (auf benen- und -Flüchtlingsgesetz (BVFG) war Neudeutsch: „oral history“) sich Elemen- erst 1953 geschaffen worden. Der Para- te eines gemeinsamen, also kollektiven graph 96 dieses Gesetzes war eine Notlö- Gedächtnisses entwickeln, ist vor allem sung, weil die Vertriebenen im Grundgesetz Vertrauen und Zuversicht von einst – sie tun not wie eh und je: Broschüre zum 25-jährigen Jubiläum des Ostdeutschen Kulturrates Bilder: OKR KK 1402 vom 25. März 2019 3
von 1949 „vergessen“ worden waren. In sei- ner Präambel wird das „gesamte Deutsche Volk“ angesprochen, das sich 1949 nach Flucht und Vertreibung auf dem Boden der DDR und der Bundesrepublik befand. Die Gründung des Ostdeutschen Kulturra- tes (OKR) 1950 hatte erkennbar gemacht, dass es neben der „territorialen Ampu- tation“ Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg auch eine „kulturelle Amputation“ gegeben hatte. § 96 BVFG setzte nun Bund und Länder als Treuhänder für die ostdeut- sche Kultur ein, wies aber den Vertriebenen die Hauptverantwortung für diese Aufgabe zu. Damit wurde die ostdeutsche Kultur dauerhaft – bis heute – zu einem Thema der Vertriebenen, mit allen damit verbun- denen Nachteilen. Mit dieser Notlösung geriet die ostdeutsche Kultur zudem in den Wirrwarr von Bund- und Länderkompetenzen und in ein dau- erhaftes Gerangel um Zuständigkeiten. Je nach politischer Situation in den Ländern oder im Bund hatten die Vertriebenen und Eine beispiellose Studienbuchreihe zum der § 96 BVFG meist schlechte, manchmal zwölffachen Gedächtnis der deutschen Kul- bessere Karten. Auch wenn es nicht gern turlandschaften im Osten – und nunmehr gehört wird, muss darauf hingewiesen auch zu dem des Ostdeutschen Kulturrats werden, dass der Bund im Jahre 2000 eine „Politik mit dem Schlachtermesser“ machte und zahlreiche bewährte Einrichtungen aus 2016 zugeführten Königsberger und der institutionellen Förderung entfernte. Kant-Sammlungen wurden vom Bund 5,6 Diese Aktion des neu geschaffenen Amtes Millionen Euro für den notwendigen Erwei- eines Beauftragten der Bundesregierung terungsbau bereitgestellt. Das Land Nie- für Kultur und Medien (BKM) ignorierte dersachsen blockierte volle zwei Jahre, bis die fast einstimmige Entschließung des zum Frühjahr 2018, die Bereitstellung der Deutschen Bundestages von 1997, in der Landesmittel. Der Gesetzgeber von 1953 den Heimatvertriebenen und Flüchtlingen hatte sich die Kooperation zwischen Bund der Status von Botschaftern im Rahmen der und Ländern sicher anders vorgestellt. Verständigung mit den östlichen Nachbarn Wer den Bereich der ostdeutschen Kultur zugesprochen wurde. Zahlreiche Verbin- überblickt, darüber konnten sich die Teil- dungen in das östliche Europa wurden un- nehmer einer Konferenz der Kulturstiftung terbrochen und müssen jetzt – Jahre später der deutschen Vertriebenen im Februar – mühsam wieder aufgebaut werden, ein 2019 in Königswinter ein facettenreiches schlechter Dienst für ein so wichtiges ge- Bild machen, der wird anerkennen, dass meinsames Gedächtnis in Europa! in den 65 Jahren der Geltung des § 96 Im Zuge der Erweiterung des Ostpreu- BVFG sehr viel geleistet wurde, obgleich ßischen Landesmuseums durch die die Finanzausstattung immer prekär blieb. 4 KK 1402 vom 25. März 2019
Wie anlässlich der Tagung mitgeteilt wurde, Spitzenverbände beider Länder zusammen beträgt der finanzielle Anteil dieser Arbeit und diskutiert gemeinsam interessierende gerade 0,8 Prozent des Haushaltes der Fragen in aller Offenheit und im Geist der BKM, dessen Höhe sich auf 1,9 Milliarden friedlichen Nachbarschaft. Die zahlreichen Euro beläuft. Städtepartnerschaften werden für diesen Der Gesetzesauftrag des § 96 BVFG spielt deutsch-polnischen Dialog genutzt – in also immer noch eine Rolle, ist aber bis Ostpreußen, Ostbrandenburg, Pommern, heute nicht in seiner ganzen Zielsetzung Schlesien. erfüllt. Das „Bewusstsein“ des deutschen Bis zu der Konferenz in Königswinter waren Volkes und des Auslandes, also Europas, und einstweilen sind es im Wesentlichen wurde nie wirklich erreicht. Schwerer noch die deutschen Vertriebenen mit ihrer wiegt: Es wurden kaum je valide Anstren- Kulturstiftung, das Kulturwerk Schlesien, gungen in diese Richtung unternommen, die Künstlergilde Esslingen, die Stiftung ja oft eher das Gegenteil bewirkt. Ein Ge- Königsberg, die Stiftung deutsche Kultur denktag für die Vertreibung wurde erst 2015 im östlichen Europa – OKR und andere geschaffen und auf den 20. Juni, zeitgleich ehrenamtlich tätige Einrichtungen, die sich mit dem Weltflüchtlingstag, festgelegt. An dem Erbe der ostdeutschen Kultur mit dürf- diesem Tag oder auch bei den jährlichen tiger Finanzausstattung widmen und für Tagen der Heimat äußern sich „Staatsorga- ne“, aber der Widerhall in den Medien und in der veröffentlichten Meinung ist gering und dringt nicht ins „Bewusstsein“ des deutschen Volkes vor. Deutschland hat also nicht einmal ein „kommunikatives Gedächtnis“ der Vertrei- bungstragödie oder für die ostdeutsche Kultur geschaffen. Weder gibt es an den Universitäten eine ausreichend große Anzahl von Lehrstühlen noch hinreichen- de, von der Kultusministerkonferenz unterstützte Lehrpläne für die Schulen zu diesem Thema. In öffentlichen und kommunalen Institutionen ist die ostdeut- sche Kultur bisher nennenswert kaum zum Thema geworden, vielmehr fällt sie sukzessiver Eliminierung zum Opfer. Dabei gibt es Städtepartnerschaften zwischen der Russischen Föderation, Polen, Tsche- chien und anderen mittelosteuropäischen Staaten und Deutschland, die auch für das Gedächtnis des gemeinsamen deutschen und jüdischen kulturellen Erbes auf euro- päischer Ebene genutzt werden könnten. Der Titel der letzten Anthologie mit Erzählun- Die deutsch-polnische Arbeitsgemein- gen, die zum letzten OKR-Erzählerwettbewerb schaft Kommunale Partnerschaft führt in eingereicht worden waren, hatte damals noch jährlichen Konferenzen Vertreter der Städ- nicht den metaphorischen Unterton, der heute tetage, der Landkreistage und kommunalen darin hallt KK 1402 vom 25. März 2019 5
ein „kommunikatives Gedächtnis“ dieses Konferenzen vor Ort überzeugen. Die sie- Erbes sorgen. Diese Einrichtungen spielen bente Konferenz findet 2019 im serbischen trotz ihres überwältigenden Engagements Sombor statt. Dem Beauftragten Hartmut aus dem Blickwinkel der BKM keine Rolle Koschyk ist es in seiner Amtszeit einmal in den Zwei-Jahres-Berichten der Behör- gelungen, die osteuropäischen deutschen de. Die sogenannte „Projektförderung“ für Minderheitenvertreter nach Berlin einzu- diese ehrenamtlich und auf Spendenbasis laden und dort auf höchster politischer arbeitenden Einrichtungen ist ein „Danaer- Ebene Gespräche zu führen. Die Medien Geschenk“, nicht nur wegen der äußerst nahmen von dieser bahnbrechenden Akti- schwierigen und abschreckenden Antrags- on keine Notiz. Das ist hierzulande Teil der wege, sondern auch, weil die notwendige Pressefreiheit. Eigenbeteiligung vielfach die Kräfte der Auf internationaler Ebene unternehmen Antragsteller übersteigt. die Institutionen der Europäischen Union – Die Hauptverantwortlichen für die ost- Europäisches Parlament, Europäischer Rat, deutsche Kulturarbeit sind die von der Kommission, Ausschuss der Regionen – BKM institutionell, aber auch nicht gerade und das Haus der europäischen Geschich- lukrativ geförderten Institutionen, vor allem te in Brüssel keinerlei erkennbare Anstren- die ostdeutschen Landesmuseen und die gungen im Blick auf ein „kommunikatives drei großen Bundesinstitute – Kunstfo- Gedächtnis“ in Sinne des in Königswinter rum Ostdeutsche Galerie (Regensburg), diskutierten Tagungsthemas. Als bei den Deutsches Kulturforum östliches Europa Europawahlen 2014 der seit 1994 im Euro- (Potsdam) und Bundesinstitut für Kultur und päischen Parlament wirkende Abgeordnete Geschichte der Deutschen im östlichen Bernd Posselt nicht wiedergewählt wurde, Europa (Oldenburg). ging die letzte Stimme für das Anliegen der Diese Einrichtungen versuchen mit ihren ostdeutschen Kultur verloren. Jetzt weiß im Mitteln, auf nationaler und europäischer Europäischen Parlament niemand mehr, Ebene ein „kommunikatives Gedächtnis“ worum es sich überhaupt handelt. Und mit zu schaffen. Dabei sind besonders die den Europaabgeordneten der mittelosteu- Potsdamer Wanderausstellungen und ropäischen Beitrittsländer sucht niemand Publikationen, die Regensburger grenz- den Dialog in diesen Fragen. überschreitenden Präsentationen, die Wenn es also nach 65 Jahren § 96 BVFG Arbeit des Oberschlesischen Museums nur ansatzweise ein „kommunikatives Ge- in Ratingen, des Ostpreußischen Landes- dächtnis“ des deutschen Kulturerbes im museums und des Ostpreußischen Kultur- Osten gibt, vor allem bei den Vertriebenen zentrums in Ellingen sowie der Museen in und in den ihnen verbundenen Institutio- Görlitz, Greifswald und Ulm als vorbildlich nen, welche Voraussetzungen bestehen hervorzuheben. dann überhaupt, zu einem „kollektiven Der Beauftragte des Bundes für Aussiedler Gedächtnis“ vorzustoßen, also zu dem, was und Minderheiten hat seinen Blick überwie- der Gesetzgeber 1953 im „Bewusstsein gend in Mittelost- und Südosteuropa, wo des deutschen Volkes und des Auslandes“ er eine von der Öffentlichkeit weitgehend erhalten und bewahren wollte? unbeachtete, aber bedeutende, wenn auch Um ein solches Ziel sinnvoll anzustreben, finanziell schwach ausgestattete Arbeit müsste erst einmal die ostdeutsche Kultur leistet, die im Wesentlichen vor Ort der in die deutsche Kultur integriert werden: Verbesserung des „kommunikativen Ge- Im Deutschen Kulturrat (seit 1981) ist dächtnisses“ gewidmet ist. Davon konnte dieses Thema unbekannt; in den Univer- ich mich persönlich bei inzwischen sechs sitäten, Schulen und Kommunen müsste 6 KK 1402 vom 25. März 2019
es wiederbelebt werden. Zudem müsste Diese Integrationsaufgabe zur Schaffung die ostdeutsche Kultur in den Rahmen der eines gemeinsamen Bewusstseins oder, Europäischen Union integriert werden, ins wie es das Thema in Königswinter formu- Europäische Parlament (Kulturausschuss), liert, eines „kollektiven Gedächtnisses“, ist in die Auswärtige Kulturpolitik, in das Haus keine allein den Vertriebenen aufzulas- der europäischen Geschichte. Schließlich tende Aufgabe, sondern sollte endlich ein müsste die selbstverständliche Integration föderales und gesamtstaatliches Anliegen der ostdeutschen Kultur auch die durch werden. Die in der Diskussion vielfach die Verbrechen des Nationalsozialismus angesprochene „Öffnung“ kann nicht nur vernichtete jüdische Kultur im östlichen den Vertriebenen abverlangt werden: Bund, Europa einschließen. Das sieht auch die Länder und Kommunen, vor allem aber die Konzeption 2016 der Bundesregierung zum Medien haben die gleiche Aufgabe. § 96 BVFG vor. Klaus Weigelt (KK) Kommunikation lebt von Partizipation Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen eröffnet ihnen ein Forum In ihrem Koalitionsvertrag bekennt sich die Kulturstiftung der deutschen Vertrie- die Bundesregierung dazu, die im Sinne benen zu stärken. Zur Umsetzung dieser des Kulturparagraphen 96 des Bundesver- Vereinbarung erarbeitet die Kulturstiftung triebenengesetzes tätigen Einrichtungen derzeit, gefördert von der Beauftragten der der Heimatvertriebenen, Aussiedler und Bundesregierung für Kultur und Medien, deutschen Minderheiten als Träger des ein Konzept zur Stärkung der eigenstän- deutschen Kulturerbes des Ostens sowie digen Kulturarbeit, die bereits seit Jahren im Geiste der europäischen Verständi- von den Vertriebenenorganisationen ge- gung für die Zukunft zu ertüchtigen und fordert wird. Kollektive Konzentra- tion auf ein kollekti- ves Gedächtnis und das Nachdenken darüber: Tagungsteilnehmer im Haus Schlesien Königswinter Bild: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen KK 1402 vom 25. März 2019 7
Bei der Auftaktveranstaltung am 18. und Für den Erhalt der insgesamt gefährdeten 19. Februar 2018 in Haus Schlesien (siehe Heimatsammlungen sei gleichfalls eine auch unseren vorstehenden Beitrag), an zentrale Beratungsstelle notwendig. Der der über 50 Vertreter von Kultureinrichtun- anwesende ehemalige Beauftragte der gen der Vertriebenen sowie der Museen, Bundesregierung für Aussiedlerfragen und Institutionen der Wissenschaft und der nationale Minderheiten, Hartmut Koschyk, kulturellen Breitenarbeit, ebenso Vertreter forderte zur Stärkung der eigenständigen des Bundes der Vertriebenen und der Kulturarbeit u. a. eine Rückkehr zur direkten Landsmannschaften teilnahmen, wurde Zuordnung der regional zuständigen Kul- eine Bilanz der Kulturarbeit gezogen. Mo- turreferenten an die Landsmannschaften, deriert von dem Leiter des Projekts der wie dies bis zum Jahr 2000 der Fall war. Kulturstiftung, Thomas Konhäuser, wurden Weitere Workshops, die in den kommenden dabei alle relevanten Problemfelder leben- Monaten im Rahmen des Projekts der Kul- dig und konstruktiv diskutiert und turstiftung stattfinden, werden Impulse für die Erarbeitung eines Zur Umset- sich speziellen Themen und Förderkonzepts für die eigen- zung der in Problemfeldern widmen. Paral- ständige Kulturarbeit gesetzt. der Koalitions- lel zu den Workshops wird eine So bestand Einigkeit darüber, vereinbarung Online-Umfrage bei den Orga- dass im Bund und in den Län- vorgesehenen nisationen und Institutionen der dern der partizipative Ansatz Förderung der deutschen Heimatvertriebenen, nachhaltig gestärkt werden Kultur nach die nicht an den Workshops teil- muss. Gewachsene Strukturen Paragraph 96 nehmen können, durchgeführt gehören auf den Prüfstand. Zur erarbeitet die werden. In einer „Zukunftswerk- Erzielung von Synergieeffekten Kulturstiftung statt“ werden konkrete Vorstel- gilt es, Möglichkeiten einer ver- ein Konzept zur lungen der Heimatvertriebenen stärkten Kooperation zwischen Stärkung der über eine künftige Struktur und den Kulturträgern der Heimat- Einrichtungen. Förderung ihrer Kulturarbeit be- vertriebenen untereinander und nannt werden. mit anderen Kultureinrichtungen zu finden. Eine abschließende Studie wird die we- Nachwuchsgewinnung, Professionalisie- sentlichen Vorschläge zur Stärkung der rung der Öffentlichkeitsarbeit, die Rolle der eigenständigen Kulturarbeit der deutschen Digitalisierung und eine engere Zusam- Heimatvertriebenen zusammenfassen. In menarbeit mit den deutschen Minderheiten diesem Zusammenhang sollen auch künf- im östlichen Europa wurden mit einem Blick tige Handlungsfelder der Kulturstiftung der in die Zukunft erörtert. deutschen Vertriebenen sowie gewünschte Die Anwesenden stimmten dem Vorsit- Dienstleistungen der Kulturstiftung für die zenden der Kulturstiftung der deutschen Organisationen der Heimatvertriebenen Vertriebenen, Reinfried Vogler, zu, dass näher bestimmt und hierfür erforderliche der Abbau von staatlicher Bürokratie bei strukturelle Voraussetzungen aufgezeigt Förderanträgen und die Schaffung einer werden. Die Ergebnisse werden der Beauf- nachhaltigen finanziellen Basis für die Kul- tragten der Bundesregierung für Kultur und turträger und deren Organisationen zwin- Medien, den Verbänden, Organisationen gend erforderlich seien. Im Hinblick auf die und Medien der Heimatvertriebenen/Aus- Erstellung von Förderanträgen könne eine siedler sowie weiteren Kultureinrichtungen von den Heimatvertriebenen getragene und zugeleitet werden. staatlich geförderte zentrale Stelle wertvolle Unterstützung in Sachen Formalien leisten. Thomas Konhäuser (KK) 8 KK 1402 vom 25. März 2019
Russland rücke Rubel raus Die Balten fordern Wiedergutmachung Friedlich ist allein die Landschaft des Baltikums, seine Länder haben ihren Frieden mit der Ver- gangenheit noch nicht gemacht Bilder: Wikimedia Die Liste derer, denen der russische Präsi- licht. Der nimmt sich im Baltikum wie eine dent Putin im Frühsommer 2015 die Einrei- Bestätigung des eigenen Kurses aus, dass se nach Russland verbot, umfasst 89 Poli- Russland zu meiden habe, wer nach Euro- tiker und Prominente aus 17 europäischen pa strebt. Die Balten hatten bei den ersten Ländern. Putins Schwarze Liste liest sich Schwächesymptomen der Sowjetunion wie ein Who’s who der europäischen Po- keinen Zweifel daran gelassen, dass sie litszene aus postkommunistischen Jahren: lieber heute als morgen alle Beziehungen drei ehemalige Premiers (G. Herhofstaat und Kontakte zu Moskau kappen wollten. aus Belgien, A. Kubilijus aus Litauen, J. Am 8. Dezember 1991 war es so weit: Die Buzek aus Polen), ein EU-Kommissar (S. UdSSR zerbrach, an ihre Stelle trat die „Ge- File aus Tschechien), sieben Außenminister, meinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS), zwei Parlamentspräsidenten, vier Chefs für die das Baltikum nur demonstratives von Geheimdiensten, zwei Verteidigungs- Desinteresse übrig hatte. Die GUS ist längst minister, sieben hohe Militärs, Befehlsha- verblichen, aber die Baltenstaaten gehören ber oder Chefs von Nachrichtendiensten, seit 2004 zu EU und NATO. Den Status als jede Menge EU-Parlamentarier, dazu EU-Bürger genießen vor allem die starken Prominente wie die Ehefrau des früheren Gruppen lokaler Russen (Litauen 5,8, Est- schwedischen Ministerpräsidenten Carl land 25,2, Lettland 26,9 Prozent), die nicht Bildt und Polit-Clowns wie der Franzose einmal ethnische Parteien bildeten, um die D. Cohn-Bendit. Titularnationen nicht zu reizen. Mit unverkennbarer Schadenfreude hat Jetzt können sich die Baltenstaaten (Li- die paneuropäische TV-Station Putins tauen, Lettland, Estland) demonstrative blamablen Pranger im Juni 2015 veröffent- Revanchefouls an Moskau leisten, wie sie KK 1402 vom 25. März 2019 9
die Lettin Ines Vajdere, Abgeordnete im hat man in Osteuropa zähneknirschend EU-Parlament und eine von fünf Letten hinnehmen müssen, erst seit wenigen Jah- auf Putins Sperrliste, Anfang September ren ist in dortigen Blättern ganz unverblümt vortrug: eine Kostenrechnung über 185 nachzulesen, dass die Rote Armee nach Milliarden Euro als Wiedergutmachung 1945 als Horde von Mördern, Dieben und für Schäden, die Lettland in den Jahr- Vergewaltigern auftrat, die man gar nicht zehnten seiner Unterwerfung unter das früh genug loswerden konnte. So schrieben „verbrecherische Sowjetsystem, das nur 2017 Prager Blätter, womit sie sich härtes- mit den Nazis zu vergleichen ist“, erlitten te russische Kritik einhandelten. Etwas hatte. Hinzu kamen noch „einige Dutzend milder reagiert Moskau jetzt auf baltische Milliarden für Schäden an der Umwelt und Forderungen und ihre Begründung. „Wir für Bevölkerungsverluste“. Ähnlich emp- sind nicht einverstanden mit dem Begriff finden es Litauen und Estland, und schon sowjetische Okkupation“, erklärte Putins im November 2015 signierte das Trio ein Pressesprecher Dmitrij Peskow, und das „Memorandum über Zusammenarbeit bei russische Außenministerium verlautete: Bemühungen um Wiedergutmachung von „Von irgendeiner Okkupation der baltischen Verlusten, welche die Republiken aus ihrer Ländern 1940 kann keine Rede sein: Die Zugehörigkeit zur UdSSR davontrugen“. Vereinigung des Baltikums entsprach den Jetzt stehen die Justizminister Estlands Völkerrechtsnormen der damaligen Zeit.“ (Urmas Reinsalu) und Lettlands (Dzintars „Normen“ hatte der Hitler-Stalin-Pakt vom Rasnacs) bereit, ihren Forderungen Nach- August 1938 gesetzt, der das Baltikum 1940 druck zu verliehen. Stalins Sowjetunion überließ. „Sowjetische Okkupation“, „Wiedergutma- Kein russisches Entgegenkommen können chung erlittener Verluste“ etc. sind exakt die derzeitigen baltischen Wiedergut- jene Argumente, welche Russland in Ton- machungsforderungen erwarten, welche fall und Wortwahl missfallen, weil sie dem Russlands UN-Delegation denn auch russischen „Befreier“-Eigenlob diametral höhnisch abwies. „Einmal alle zehn Jahre entgegenstehen. Gerade Putin beharrt seit versucht Griechenland, von Deutschland Jahren darauf, dass „allein wir Russen den Wiedergutmachung für dessen Besat- Faschismus besiegten und große Teile Eu- zung im Zweiten Krieg einzutreiben. Diese ropas befreiten“, ohne Mitwirkung von „So- Versuche scheiterten. Darum ist es auch wjetvölkern“, „Anti-Hitler-Koalition“ etc. Das wenig wahrscheinlich, dass sich Russland Stolz prägt das Weichbild bal- tischer Städte: Reval/Tallinn 10 KK 1402 vom 25. März 2019
auf solche Verhandlungen einlässt.“ Sei’s kerung ein. Und der ähnlich phantasievol- drum: Deutschland schuldet niemandem len Märchen mehr: Zu Sowjetzeiten war mehr „Reparationen“, aber nicht wenige das Baltikum Standort von Werken, deren glauben noch, bei Deutschland sei viel zu Produkte angeblich in der ganzen UdSSR holen, jüngst das Kosovo, das vor wenigen gefragt waren, etwa des „Staatlichen Elek- Jahren rund 56 Milliarden Euro deutsche tronikwerks“ (VEF) im lettischen Riga, das „Reparationen“ verlangte. 20 000 Beschäftigte hatte und jährlich 580 Was Russland in Sachen Baltikum ärgert, Millionen Euro Gewinn gemacht habe. Al- ist der Umstand, dass dieses überhaupt les Unsinn, wie spätestens beim Ende der Forderungen erhebt, die es mit Unter- Sowjetunion offenkundig wurde. Mit dem suchungen begründet, welche seit dem Hereinströmen westlicher Technologien Jahre 2000 von „Spezialkommissionen“ erwies sich, wie wenig konkurrenzfähig unternommen wurden. Diese besagen sowjetische Produkte waren. Bereits Mitte unter anderem, dass Estland zu dem der 1990-er Jahre war das VEF bankrott, Zeitpunkt, als es in die Sowjetunion ge- wurde in sechs kleine Fabriken zerteilt, von zwungen wurde, ein Brutto-Inlandsprodukt denen drei überlebten. wie Finnland aufwies. Davon blieb immer Auch für andere baltische Produkte sowje- weniger übrig, und 1991 lag Estland weit tischer Provenienz galt der DDR-Spottvers hinter Finnland zurück. Das wollen Russen „Behüt uns Gott vor bösen Frau’n / und Au- nicht wahrhaben, sie präsentieren andere tos, die die Russen bau’n“. Ein Beispiel da- Zahlen, erfunden von der russischen Aka- für war das „Autobuswerk Riga“ (RAF), aus demie der Wissenschaften: Von 1940 bis dem das Gros der sowjetischen Fahrzeuge 1960 wurden in Lettland 20 große „Werke“ für Erste Hilfe, Feuerwehr etc. hervorging. erbaut, in Litauen wurde das industrielle Sein letzter Erfolg war ein Kleinbus, der Vorkriegsniveau schon 1948 erreicht und unter dem Spitznamen „Katafalk“ recht po- 1950 um 90 Prozent überboten. 1965 habe pulär war. 1997 machte das RAF Pleite und die Industrieproduktion der drei Baltenstaa- wurde geschlossen, wie es der Autoname ten ihr Vorkriegsniveau „mehr als 15 Mal prophezeit hatte: „Katafalk“ bezeichnet ge- überboten“. Estland stand 1970–1980 auf meinhin den Unterbau für die Aufbahrung Platz eins der sowjetischen Investitionen eines Sarges und ist das russische Wort und nahm 1990 weltweit Platz 46 beim für „Leichenwagen“. Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevöl- Wolf Oschlies (KK) Lenzes lustiges Liedchen – Brauchtum in Schlesien „Hinnermist und Taubamist, ei dem Hause kriegt man nischt“ Auf den ersten Verdacht bringt man diese des zum Sommersingen in Schlesien, wenn Textzeilen mit einer Vogelkrankheit oder den Kindern die Tür nicht geöffnet wurde. dem Vogelgrippevirus in Verbindung. Den Jedes Jahr wurde in Schlesien am Sonn- Text, der dann weitergeht: „Is dos nich ne tag Lätare, dem 3. Sonntag vor Ostern, Schande / ei dam ganze Lande?“, könnte der Brauch des Sommersingens gepflegt. man sehr gut für die Bezeichnung einer Wie alt dieser Brauch ist, verrät schon der Krankheit verwenden. Name. Er stammt aus der Zeit, als man das Dabei handelt es sich allerdings nach altem Jahr in zwei Hälften teilte: Sommer und Brauch um die Textzeilen eines Schmählie- Winter. Auch an den Liedern, die gesungen KK 1402 vom 25. März 2019 11
wurden und heute noch gesungen werden, in Schlesien, in der der Wald selten war, kann man das hohe Alter des Brauches förderte diesen Formenreichtum. Manch- erkennen, der um das Jahr 1000 entstan- mal war auch der Buchsbaum aus dem den ist. Bauerngarten als Immergrün in den Ste- Die Kinder zogen am Sonntag Lätare mit cken. In Oberschlesien bis ins Kuhländchen ihren bunten Sommerstecken, denen der hinein wurden Moläer, also Maleier zum hiesigen Gegend ähnlich, nur ohne Brezel Verzieren benutzt, einfarbig eingefärbte und Ei, in Scharen von Haus zu Haus oder Eier – schwarz oder dunkelrot –, in die von Stockwerk zu Stockwerk, um mit ihren Pflanzenranken und Blumen eingekratzt Liedern und Versen um eine Gabe zu bitten. werden. Zum Kratzen brauchte man ein sehr scharfes oder spitzes Instrument. Frü- her benutzte man alte Rasiermesser dazu. Summer, Summer, Summer, ich bin a klenner Pummer, Mit diesen Stecken gingen die Kinder von ich bin a klenner Keenich, Haus zu Haus „summern“, sangen ihre gatt mer nich zu wenich, „Heischeversel“ , die Papierbänder flat- lusst mich nich zu lange stiehn, terten im Wind, und so zogen sie mit den ich muß a Häusla wettergiehn. erhaltenen Gaben weiter. Man beschenkte sie mit Eiern, Süßigkeiten, Obst und vor allem den für das Sommersingen typischen Das wichtigste Accessoire beim schlesi- Schaumbrezeln, auch Beegla genannt; schen Sommersingen ist der Sommer- jeder gab nach seinem Vermögen, beim stecken, der auch Sommerbäumel, Sum- Fleischer gab’s ein Stück Wurst. merwadel oder Mai genannt wurde. Die Sommerstecken, mit bunten Papierblumen Sie sangen die unterschiedlichsten Versel. geschmückte Gerten, waren in vielen For- In „Silesia cantat“ sind die gebräuchlichsten men und Ausführungen üblich. Darüber Liedchen abgedruckt. Es gab viele Varia- hinaus gab es aber auch Sommerbäumel, tionen, und das Lied wurde oft dem Haus die noch die immergrüne Unterlage (Fichte, angepasst. Zu den „ruten Riesla“ gibt es Wachholder, Tanne) hatten. Die Ackerebene noch die Ergänzungen: Schon in grauer Vorzeit war die Dialektik von Hei- schen und Spotten Anlass für bunten Spaß – den offen- bar nicht nur die Kinder hatten Bilder: Wikimedia 12 KK 1402 vom 25. März 2019
Die Frau, die geht im Hause rum, Kam gar der Herr des Hauses heraus, sie hat ne weiße Schürze um, schallte es ihm fröhlich entgegen: ne Schürze mit ner Krause, sie ist die Schönste im Hause. Derr Herr, der hat nen hohen Hutt, Ne Schürze mit nem Bande, dem sein ja alle Madel gutt. sie ist die Schönste im Lande. A wird sich wohl bedenken, zum Summer uns was schenken. Und dann noch: Der Herr schmunzelte und steckte jedem Ne Schürze mit nem Luche, Kind zwei Beegla in sein Säckchen. Und sie brummt die ganze Wuche. weiter ging es zum Nachbarn, dem „Nup- per“. Selbst über die kleinste Gabe freuten sich die Kinder. Neid kannten sie nicht. Auch der Herr bekam seine „Revermande“: Nur, jedes hätte gern das vollste Säckchen heimgetragen. Lebten zwei Nachbarn in Der Herr, der hat ein‘ hohen Hut, Streit miteinander, so hatten die Sänger es sind ihm alle Mädel gut, den Nutzen davon, denn vom letzten der die dünnen und die dicken, beiden, die sie besuchten, erhielten sie die möchten sich erdrücken, meistens die doppelte Menge. die kleinen und die großen, Obwohl der Winter in Schlesien früher die möchten sich erstoßen. beginnt und strenger und länger regiert als hier im Westen, war der Schnee bis zum Aus Österreich-Schlesien kommt das Ver- Sommertag immer getaut. Kahl und traurig sel: „Fladerwisch und Ziegenhäut, ei dam standen die Bäume und Sträucher in den Haus sein geizge Leut.“ Die Allerkleinsten Anlagen, als schämten sie sich ihrer Blöße. der Gruppe sangen folgende Verschen: „Ich Nur über die Wiesen breitete sich ein erster bin a klee Pinkerla, steck ei am Winkerla, Schleier von zartem Grün. Und blies gera- wer mich will sahn, muß mer woas gahn!“ de ein neckischer Wind mit vollen Backen durch die Straßen, durften die Mädchen Sobald die Tür aufging, die Frau des Hau- schon an Lätare ein duftiges Sommerkleid- ses heraustrat und jedem in sein weißes chen anziehen, farbig und geblümt, dass Säckchen eine Brezel, ein Ei, ein Beegla es so richtig zum bunten Sommerstecken (ein ringförmiges Schaumgebäck) oder passte. Die Jungs allerdings trugen bereits „eenen Blehma“ (ein Zehnpfennigstück) seit Wochen kurze Manchesterhosen und gleiten ließ, strahlten die vor Eifer und Er- zeigten stolz ihre nackten Knie. regung erhitzten Gesichter, sofort stimmte eines der Kinder an: Selbstverständlich wurde auch vor den Häusern des Bürgermeisters und des Lehrers gesungen, der die Kinder einige Die goldne Schnur geht um das Haus, der Lieder gelehrt hatte, wie das schöne: die schöne Frau Wirtin geht ein und aus, sie ist wie eine Tugend, ja Tugend. Wenn sie morgens früh aufsteht Rot Gewand, rot Gewand, und in die liebe Kirche geht, schöne grüne Linden, da setzt sie sich an ihren Ort suchen wir, suchen wir, und hört gar fleißig Gottes Wort. wo wir etwas finden; KK 1402 vom 25. März 2019 13
Städtler und Dörfler gingen nicht unvorbe- reitet in den Sommersonntag. Besonders wer viele Kinder in der Verwandtschaft hatte, rechnete mit einem regen Besuch und hatte sich rechtzeitig mit Süßigkeiten und Kleingeld eingedeckt. Die Bäcker hat- ten schon Tage vorher angefangen, Beegla zu backen, die das Jahr über nicht gefragt waren, ähnlich den Martini- Hörnchen, die zu Martini angeboten wurden. Wie bereits erwähnt, kam es nicht selten vor, dass den Kindern niemand öffnete. Da halfen die schönsten Lieder, ja die witzigs- ten Verse nichts; es blieb ihnen dann weiter Und bunt geht es auch hier und heute weiter, nichts übrig, als ihrem Unmut mit folgenden etwa in Herne Worten Luft zu machen: gehn wir in den grünen Wald, Hiehnermist, Taubamist, sing‘n die Vögel jung und alt. ei dam Hause kriggt ma nischt, Frau Wirtin, sind Sie schon drinne, is doas nich ne Schande wir hören Ihre Stimme. ei dam ganza Lande! Sind Sie drin, so komm`n Sie raus und teilen uns den Sommer aus. Rot Gewand, rot Gewand, Oder: schöne grüne Linden. Geizhols, Geizhols, Oder das: friss ock olls, friss ock olls! Wenn de wirscht gesturba sein, warn de Kroocha tichtig schrein – Rute Riesla, rute Riesla Geizhols, Geizhols! wachsa uffm Stengel, der Her is schien, der Her is schien, die Frau is wie a Engel. Der schlesische Autor und Heimatdich- Der Her, der hoot ne huhe Mütze, ter Walter Reiprich aus Reichenbach im der hoot se vuul Dukoata sitze, schlesischen Eulengebirge schreibt in a watt sich wull bedenka seinen Aufzeichnungen u. a., dass gegen und watt mer wull woas schenka. Mittag die Kinder todmüde heimkehrten, schließlich waren sie schon seit sieben Uhr früh unterwegs gewesen. Stolz öffneten Rute Riesla heißt auf Hochdeutsch: Rote sie dann die Säckchen und leerten den Rosen. Immer wieder wurden zur alten Inhalt auf den Tisch. Dabei gab es manche Melodie neue Verse gedichtet. Die zweite Überraschung. Nicht nur in Form von Bunt- Strophe von „Rute Riesla“ lautet: stiften oder Heften. Im Eifer war man mit dem Säckchen unvorsichtig umgegangen. Die Frau, die hoot a ruta Rook, Dabei war eines der Eier, eine besondere die greift wull ei a Eertoop, Kostbarkeit unter den Gaben, gesprungen sie watt sich wull bedenka, und ausgelaufen, oder die Lakritze hatte mit und uns a Eela schenka. dem Schreibheft Bekanntschaft geschlos- 14 KK 1402 vom 25. März 2019
sen. Die Tränen, die sich dann einstellten, dazu über, die Veranstaltung in einem Saal wurden tapfer unterdrückt, denn zu viele abzuhalten. In München singen heute die schöne Dinge gab es zu bewundern, die ein Kinder in schlesischer Tracht vor dem Kinderherz höher schlagen lassen. Vater Rathaus nach dem Glockenspiel vom Rat- und Mutter mussten an der Freude teilneh- hausturm für die zahlreichen Münchner men. Ganz rot vor Glück war das Gesicht und Touristen. des Kindes dabei. Und am Abend beim Auch heute noch wird dieser Brauch von Schlafengehen träumte es bereits vom Nord bis Süd und West bis Ost in sehr vie- „Summer“ im nächsten Jahr. Unvergessene, len schlesischen Landsmannschaften und glückliche Kinderzeit in Schlesien. Gruppen, besonders aber in Volkstanz- und In Bonn wurde dieser Brauch nach der Trachtengruppen aufrechterhalten. Bei- Vertreibung 1958 wiederaufgenommen, in spiele dafür geben die Trachtengruppe in Neuss zieht man ebenso seit vielen Jah- Herne, der Trachten-Tanzkreis Djonathan in ren von Haus zu Haus. Da der Kreis der Neuss, der Schlesische Heimatbund Nies- so besuchten Landsleute immer größer ky und die Riesengebirgs-Trachtengruppe wurde und kaum an einem Tag zu schaffen in München. war, ging man in Neuss vor einigen Jahren Michael Ferber (KK) Trockengefallen „Im Fluss der Zeit. Jüdisches Leben an der Oder“ in Greifswald Im Pommerschen Landesmuseum Greifs- Zugehörigkeiten war über Jahrhunderte ein wald wurde die deutsch-polnische Wander- Begegnungsraum. Hier kreuzten sich auch ausstellung des Deutschen Kulturforums die deutsch-jüdische und die polnisch- östliches Europa Potsdam unter dem jüdische Kultur. Seit dem 19. Jahrhundert Motto „Im Fluss der Zeit / Z biegiem rzeki. war ein kultureller und wirtschaftlicher Auf- Jüdisches Leben an der Oder“ eröffnet. Bei schwung festzustellen, der aus Städten wie der Vernissage führten die Kuratorinnen Breslau ein Zentrum der Kunst und Kultur, Dr. Magdalena Abraham-Diefenbach und Wissenschaft und Wirtschaft machte. Dr. Magdalena Gebala mit Vorträgen in die In der Neuzeit bedrohte der Nationalismus, Thematik ein und begleiteten die Besucher gepaart mit dem Antisemitismus, diese durch die Ausstellung. kulturelle Vielfalt an Oder, Obra und Warthe. Das Ziel der Präsentation ist, das jüdische Der Nationalsozialismus zerstörte sie. Nach Leben entlang der Oder von seinen Anfän- dem Zweiten Weltkrieg wurden weite Ab- gen bis heute vorzustellen. Die Ausstellung schnitte der Oder zur deutsch-polnischen widmet sich Momenten der jüdischen Grenze und die deutsche Bevölkerung Geschichte beiderseits der Oder. Sie will aus den Regionen östlich des Flusses zum Nachdenken und zum Gespräch zwi- vertrieben. schen den ehemaligen und den heutigen Polen fanden hier eine neue Heimat, und Bewohnern der Region anregen. Sie gilt für kurze Zeit schien es, dass in Nieder- auch als Einladung zur Neuentdeckung des schlesien und Pommern jüdisches Leben deutsch-polnisch-jüdischen Kulturerbes. heimisch werden könnte. Mehrere Zehn- Die Landschaft an der Oder mit ihren wech- tausend polnisch-jüdische Überlebende selnden herrschaftlichen und nationalen des Holocaust siedelten sich hier an, aber KK 1402 vom 25. März 2019 15
Die schöne Kargheit und hohe Würde des Alltags Bild aus der Ausstellung die meisten wanderten bis Ende der 1960er 28. April zu sehen ist, waren der Vortrag Jahre wieder aus. von Professor Dr. Jörg Hackmann (Stettin/ Die Wanderausstellung besteht aus 20 Greifswald) über „Die deutsch-jüdische freistehenden Tafeln und kann kostenlos Geschichte Stettins. Eine Spurensuche“ ausgeliehen werden. Die Ausstellungster- und der Beitrag „Die jüdischen Kaufmanns- mine koordiniert das Deutsche Kulturforum familien in Stralsund“ von Nadine Garling östliches Europa. Weitere Veranstaltungen (Stralsund). im Rahmen der Ausstellung, die bis zum (KK) Der Korse, ein Korsar des Todes Napoleons Wüten im Osten nach Arno Surminski und Günter Müchler Der 18jährige Martin Millbacher verfällt im zwischen Kaiser und Zar im Zelt auf dem Sommer 1812 dem Glanz der Großen Ar- Memelfloß. Verärgert fuhr Anton Millbacher mee des Kaisers Napoleon. Schon einmal mit seinen Söhnen ins heimatliche Jorate hatte sich das Bild der bunten Uniformen zurück. Erst später erfuhr er von dem er- und Fahnen, der Bläser und Trommler, der gebnislosen Gespräch zwischen Königin begeisterten Jubelrufe „Vive l’Empereur!“ Luise und Napoleon. Seit 1807 stehen die in das Gedächtnis des jungen Burschen glanzvollen Bilder des Korsen und seiner eingebrannt, als sein Vater Anton, ein Salz- machtvollen Truppen vor den Augen des burger Emigrant, ihn und seinen älteren Heranwachsenden und vergolden seine Bruder Gregor nach Tilsit mitgenommen nächtlichen Träume. Wie Millionen andere hatte. Dort wollte er nicht den „Antichris- seiner Generation ist er dem fatalen Reiz ten“ Napoleon sehen, sondern „seinen“ dieses ruhelosen Heerführers erlegen, Preußenkönig und dessen Frau Luise. Der der schon seit über einem Jahrzehnt aber war nicht zugelassen beim Gespräch durch ganz Europa eine Blutspur seiner 16 KK 1402 vom 25. März 2019
Schlachten zieht. Auch Mareike, die schöne Aus Martins Perspektive beobachtet, Tochter des Scherenschleifers Rudies aus kommentiert, erleidet Arno Surminski den Paskalwen, kann das Feuer der Abenteu- langen Weg der Großen Armee von der erlust ihres Freundes nicht eindämmen. Memel zur Moskwa und zurück. Es ist der Die beiden verbringen schöne Stunden Weg einer tiefen Wandlung des jungen ihrer Jugendliebe in den Wiesenauen an Mannes von verblendeter Begeisterung zu der Memel. entsetzter Ernüchterung. Innerhalb kaum Als Zweitgeborener hat Martin kein An- eines halben Jahres zerfällt sein Napoleon- recht auf den väterlichen Hof. Den erbt Bild, und die Realität dieses mörderischen Gregor. Nach des Vaters Rat soll Martin und sinnlosen Krieges nimmt ihm und auf Wanderschaft gehen und danach in seinen hunderttausenden von Opfern jede einen Hof einheiraten, wo der Erbe fehlt. heldenhafte Erhabenheit. Was er sieht und Martin will aber nicht durch Deutschland erlebt, verändert ihn und seine Sicht grund- wandern, sondern mit der Großen Armee legend. Aber Martin bewahrt seine charak- marschieren. Vater Anton muss schließlich terliche Substanz. Zwei Menschen hat er in widerwillig nachgeben, weil sein König mit seinen Gedanken mitgenommen, die ihm Napoleon gegen den Zaren zieht. Wohl ist Halt geben, seinen Vater und Mareike. So es dem alten Millbacher bei dieser merk- bleibt er auch unter den grausamsten Um- würdigen Koalition nicht. ständen seinen Wurzeln treu, die ihm sein Vater an Ehrgefühl, Rechtschaffenheit und Ein Vater-Sohn-Konflikt: Der Alte, verwur- Frömmigkeit mitgegeben hat. Und seine zelt in bäuerlicher Tradition und Frömmig- ihn während des ganzen Marsches be- keit. Der Junge, geblendet vom Glanz der gleitenden Träume von Mareike bewahren Welt und des Ruhmes. Ein zeitgeschicht- ihn vor der zunehmend um sich greifenden licher Topos, der sich im 20. Jahrhundert Sittenlosigkeit und barbarischen Verwilde- gleich mehrfach wiederholen sollte. Im rung seiner Kameraden. Sommer 1812 schließt sich Martin der Großen Armee an und dient bei den Ka- Zunächst geht alles vor sich wie ein Som- nonieren, wo er zwar nicht reiten, aber sich merspaziergang. Martin befindet sich in um die Zugpferde kümmern kann. der Obhut seines Korporals Albrecht. Über Einstweilen mit dem Rückenwind der Geschichte einem Zenith zu- strebend, der in der russischen Steppe elendig verflachen sollte: Napoleon Bonaparte hoch zu Ross und Ruhm in der Sicht des Hof- malers Bilder: Wikimedia KK 1402 vom 25. März 2019 17
Kowno, Wilna und Smolensk kommt man gezogen hatten, dazu die Reitpferde der auf die breite Straße nach Moskau. Bis da- Garde und die Kavalleriepferde des Königs hin hat man Verluste durch Gewitter oder von Neapel.“ Hitze, Hunger und Durst. Schon dadurch Am Abend dieses Tages sind von mehr verliert man bereits tausend Pferde und als 130 000 Soldaten der Großen Armee auch einige Soldaten. Noch wird man von 35 000 und von 120 000 Russen 40 000 der russischen Bevölkerung freundlich tot; Napoleon hat 47 Generäle und 480 empfangen. Napoleon hat die Losung Offiziere verloren und einen Pyrrhussieg ausgegeben, sie „wie eure Brüder“ zu be- errungen. Kutusow hat mit seinem Wider- handeln und jedes Marodieren und Rauben stand den Russen wieder Auftrieb gegeben. verboten. Das wird sich bald ändern. Bei Er marschiert nach Moskau, aber durch die Ostrowa gibt es erste Gefechtstote. Bald Stadt hindurch und weiter nach Südosten. kommt ein neues Wort auf: Fouragieren. Der Zar ist in Sankt Petersburg, und vom 14. Wer satt werden will, muss auf Fourage bis zum 18. September 1812 brennt Moskau. gehen, also den Bauern Geflügel, Schwei- Napoleon zieht in eine brennende Stadt, er ne, Getreide rauben, um die Truppe zu ist allein, der Zar kommt nicht, sein Feldzug ernähren. Martin kümmert sich lieber um ist gescheitert. Was folgt, sind Chaos und die Pferde. Verfall, der Verlust von Anstand, Disziplin An des Kaisers 43. Geburtstag zu Mariae und Würde. Die Große Armee wird zu einer Himmelfahrt steht Martin vor Napoleon, Räuberbande. die Berührung von dessen Reitgerte an Martin hat in Borodino seinen Korporal der Schulter empfindet er wie einen Rit- Albrecht verloren. Dieser Verlust und das terschlag. Der Kaiser behauptet, Martin Grauen des tausendfachen Todes, das bei Kowno am Njemen und vor fünf Jah- nicht enden wollende Schreien und Kla- ren auf dem Marktplatz in Tilsit gesehen gen der Verwundeten, das Leid der Pferde zu haben. Er ist beeindruckt! Aber dann treffen ihn tief. Er findet ein verlassenes kommt es wirklich zu einer Schlacht. Aus Pferd und Henry, einen Schweizer, ein Smolensk hat sich der neue russische paar Jahre älter und erfahrener als Mar- Oberkommandierende Kutusow mit dem tin. Beide schließen sich den Reitern des Heiligenbild der wundertätigen Madonna sagenhaften Königs von Neapel, Murat, zurückgezogen, aber in Borodino an der an. Henry und Martin werden die Grauen Moskwa stellt er den Eindringling und fügt des Rückzugs überstehen und schließlich ihm beinahe eine schwere Schlappe zu. Es in Jorate ankommen. Doch zuvor erleben ist der 7. September 1812. sie, wie die Große Armee jede soldatische Surminski schreibt: „Als der Morgen däm- Haltung ablegt und nach dem Brand in merte, lebten sie noch, die Franzosen Moskau aus den erhaltenen Häusern und und Russen, die Spanier, Italiener, Kroa- Kirchen Teppiche, Gemälde, Gobelins und ten. Österreicher, Preußen, Polen, Sach- Kleider, liturgische Gewänder, Leuchter sen, Hamburger, Bayern, Württemberger, und Schmuck erbeutet, um die Schätze Schweizer, Hessen, Westfalen, Belgier, nach Hause mitzunehmen. Henry beschafft Holländer, Litauer, die Donkosaken, die sich zwei Pelzmäntel, Martin begnügt sich Köche, und Diener, die Pferdeburschen mit einem kleinen Medaillon. Napoleon und Marketenderinnen, die Kurtisanen residiert währenddessen im Kreml, schaut und Trommlerjungen. … Noch am Leben auf die zu zwei Dritteln verwüstete Stadt waren auch an die tausend Zugochsen und und wartet vergebens – viel zu lange, wie mehr als hunderttausend Pferde, die die er später zugibt – auf eine Nachricht des Kanonen und Kutschen bis nach Borodino Zaren. 18 KK 1402 vom 25. März 2019
poleon Ende November 1812 noch einmal sein taktisches Genie. Ein Täuschungsma- növer gelingt, 400 holländische Sappeure des Generals Eblé bauen bei Studenka, im eisigen Wasser stehend, zwei Brücken über den Fluss; nur zwanzig überleben. Die Garde, der Kaiser sowie Truppen und Kanonen überqueren die Beresina, dann lässt Napoleon die Brücken zerstören. Zehntausende bleiben zurück und werden von den Kosaken niedergemetzelt. Henry und Martin sind bei den Glücklichen, die die Beresina hinter sich haben, aber ein Granateinschlag nimmt ihnen Neringa, Martins Pferd. Bei dem Versuch, sich auf ei- nem Bauernhof neue Pferde zu beschaffen, schießt Martin den sich wehrenden Bauern nieder. Henry beruhigt ihn, aber Martin Verheertes Heer: Versprengte französische bleibt betroffen. Nie darf er Mareike von Soldaten auf dem Rückzug dieser Tat berichten. Auf einem verlassenen Gutshof im litauischen Smorgoni bekom- Schließlich ordnet er den Rückzug an und men die beiden mit, wie der Kaiser nach ruft Murat und seine Reiter von der ver- einem abendlichen Gespräch mit seinen geblichen Verfolgung Kutusows zurück; sie Marschällen die Große Armee verlässt, um sollen die Arrièregarde bilden. Das erweist nach Paris zu eilen, das er in nur dreizehn sich als nachteilig, weil aufgrund eines Tagen am 18. Dezember 1812 erreicht. Befehls alle vor ihnen Marschierenden Politik ist wichtiger als die Große Armee, verbrannte Erde hinterlassen, so dass man die für Napoleon keinen Wert mehr besitzt. im Spätherbst und beginnenden Winter im Sie sei in keinem vorzeigbaren Zustand, Freien kampieren, Hunger leiden und stän- sagt er. Deswegen sollen aus Wilna alle dig „fouragieren“ muss. Die nicht mehr so ausländischen Diplomaten entfernt werden. Große Armee zieht sich mitsamt Tross über Martin und Henry erreichen als erste Wilna, 50 Kilometer, längst geben die Trommler das einen Tag später zu einem unansehn- nicht mehr den Takt der Schritte vor, man lichen Kranken-, Elends- und Todeslager schleppt sich dahin, Hunger und Krank- der verbliebenen völlig zerlumpten und heit halten reiche Ernte. Die Große Armee verelendeten Reste der Großen Armee hinterlässt nicht nur Tote und Verwundete, wird. Dieses Grauen lassen sie so schnell sondern auch die zunehmend lästige Beu- wie möglich hinter sich, weil sich die Trup- te. Wölfe, Füchse und Krähen verfolgen die pe ohnehin in völliger Auflösung befindet. Armee, die Kosaken Kutusows beobachten Außerdem ist es nicht mehr weit bis Jorate, Napoleons Armee und holen sich die zu- wo die beiden wohlbehalten ankommen. rückgelassene Beute. Henry will weiter, hinter seinem Kaiser her, Da man den gleichen Weg nimmt, den dem er schon so lange treu gedient hat man gekommen ist, muss man durch die und dem er weiter ergeben ist. Martin hat stinkenden Leichenfelder von Borodino, wo genug vom Krieg, er will keine Waffe mehr die Toten der Schlacht und 35 000 Pferde ziehen. Er heiratet seine Mareike. Henry verwesen. An der Beresina beweist Na- sieht er nie wieder. KK 1402 vom 25. März 2019 19
Nach kurzer Zeit ist es Vater Anton, der Quellenmaterial ist enorm. Diesem ver- Martin zu den Waffen drängt, weil jetzt sein danken wir eine Notiz aus dem Sommer König gegen den Korsen zu den Soldaten 1813, als Europa sich nach der Katastro- ruft. Er sei doch ein erfahrener Soldat. Mar- phe von Russland auf die Völkerschlacht tin verweigert sich zum Kummer des preu- bei Leipzig vorbereitet. Am 24. Juni 1813 ßisch gesinnten Vaters. Für ihn ist der Krieg empfängt der Kaiser den österreichischen ein Albtraum. Mareike gibt den Ausschlag, Fürsten Metternich im Dresdner Palais sie ist schwanger, und auch nach der Bibel Marcolini zu einem Gespräch, das über darf der Bräutigam ein Jahr lang nicht in acht Stunden dauern wird und in dem den Krieg ziehen. Dem kann der fromme Napoleon sich nicht immer unter Kontrolle Alte nicht widersprechen. So muss Gregor hat. Müchler berichtet: „Er brüstet sich mit hinaus und fällt in der Völkerschlacht bei der Unerschöpflichkeit seiner militärischen Leipzig, ein bitteres Glück für Martin, der Ressourcen. Als Metternich ihm die Jugend den Hof erbt und bald eine Familie hat. der Soldaten entgegenhält und fragt, wann Arno Surminski hat ein Anti-Kriegsbuch er die nächste Generation verheizen wolle, geschrieben, das keine Grausamkeit, kein verliert er die Contenance. ‚Ihr seid kein Elend, keinen Schrecken unerwähnt lässt. Militär‘, herrscht er Metternich an. ‚Ihr wisst Ein Anti-Kriegsbuch kann gar nicht grau- nichts über die Seele eines Soldaten. Ich sam genug sein, sagt er. Über die Kapitel bin im Feldlager aufgewachsen, und ein seines Romans schreibt er hin und wieder Mann wie ich scheißt auf das Leben von treffende Sinnsprüche aus der Bibel, aus einer Million Menschen. ‘“ Tolstois „Krieg und Frieden“, dem „Antima- Es ist erstaunlich, dass bei allem bes- chiavell“ Friedrichs II. oder auch von Zeit- seren Wissen um eine solche Äußerung zeugen. Der letzte lautet: „Die Geschichte Müchler durch das Leben seines Helden wiederholt sich, und jedes Mal kostet es in den Bann geschlagen bleibt. Selbst im mehr.“ (Halldór Laxness) In der Tat: Nicht Scheitern gewinnt dieses Leben für ihn „die nur Napoleon hat die Jugend Europas einer Eindringlichkeit einer Menschheitserzäh- Generation vernichtet; im 20. Jahrhundert lung“. Surminski gesteht, dass er während wurden die Hekatomben in zwei Weltkrie- des Schreibens an seinem Roman die gen vervielfacht. ursprünglich noch vorhandene Ehrerbie- Der 250. Geburtstag des kleinen Korsen tung dem korsischen Kaiser gegenüber im August 2019 hat auch den Historiker verloren habe. – Wie viele Menschenleben Günter Müchler beflügelt, zur Feder zu ist eine historische Persönlichkeit mit ihrer greifen und ein Opus Magnum von über Leistung, wie viele Tote sind seine Taten 600 Seiten Umfang, mit fast tausend An- und ggfs. auch bleibenden „Verdienste“ merkungen, einigen Abbildungen und zwei wert? Oder darf man eine solche Frage aus Übersichtskarten vorzulegen. Die umfas- wissenschaftlicher Perspektive nicht stel- sende Biographie ist brillant geschrieben. len? Ist die humanitäre Seite für die Politik Sie behandelt im letzten Drittel mit dem unerheblich? Für Surminski ist sie es nicht: „Vorstoß ins Leere“ die gleiche Thematik, Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein. die Arno Surminski zum Hintergrund seines Klaus Weigelt (KK) Romans gewählt hat. Auch Müchler sieht nicht nur die großen Linien der Geschich- te, sondern lässt durch Zeitzeugen und Arno Surminski: Der lange Weg. Von der Memel detaillierte Beobachtungen die menschli- zur Moskwa. Roman. Stuttgart 2019. che Tragödie der geschilderten Vorgänge Günter Müchler: Napoleon. Revolutionär auf durchscheinen. Das von ihm verarbeitete dem Kaiserthron. Darmstadt 2019. 20 KK 1402 vom 25. März 2019
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