KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ - 1402 | 25. 3. 2019 - Kulturportal West Ost

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KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ - 1402 | 25. 3. 2019 - Kulturportal West Ost
1402 | 25. 3. 2019

                               KULTURPOLITISCHE
                                KORRESPONDENZ
BERICHTE MEINUNGEN DOKUMENTE
KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ - 1402 | 25. 3. 2019 - Kulturportal West Ost
INHALT
Klaus Weigelt
Sachwalter der Erinnerung, ihrerseits vergessen
Vom „kommunikativen“ zum „kollektiven“ Gedächtnis	  3
Thomas Konhäuser
Kommunikation lebt von Partizipation
Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen eröffnet ihnen
ein Forum	  7
Wolf Oschlies
Russland rücke Rubel raus
Die Balten fordern Wiedergutmachung                              9
Michael Ferber
Lenzes lustiges Liedchen
Brauchtum in Schlesien                                           11   Der Leuchtturm zu Nidden,
                                                                      von Ernst Mollenhauer gemalt,
Trockengefallen                                                       leuchtet mitnichten, er ist ein
„Im Fluss der Zeit. Jüdisches Leben an der Oder“ in Greifswald   15   Inbild finsterer Verschreckung.
Klaus Weigelt                                                         Weiß leuchten allein die Wol-
Der Korse, ein Korsar des Todes                                       ken. Der Maler hat ein halbes
Napoleons Wüten im Osten nach Arno Surminski und Günter Müchler 16    Künstlerleben in seiner Nähe
                                                                      zugebracht, konnte aber die
                                                                      dort gemalten Bilder, die dem
Bücher Medien Veranstaltungen                                         Krieg zum Opfer fielen, nur
Hochstetter: Briefe aus dem Böhmerwald (Volker Strebel)          21   im Kopf mitnehmen, um sie
Deutsch-polnische Kuratorentagung (Dieter Göllner)               22   in Düsseldorf neu zu malen.
Ungarn verurteilen die einstigen Vertreiber (Norbert Matern)     21   Symbolik sollte man nicht aus-
Dietmar Scholz beim Kulturwerk Schlesien (Ulrich Schmilewski)    23   reizen, allzu leicht kippt sie in
                                                                      Kitsch, hier jedoch ... Wir reizen
Marcel Krueger Stadtschreiber in Allenstein                      24
                                                                      nicht weiter
                                                                      Bild: Ostpreußisches Landesmuseum
Literatur und Kunst                                                   Lüneburg

Uwe Neumärker
Die Kürbishütte als literarische Anstalt betrachtet
Simon Dach in Ostpreußen                                         25
Jörg Bernhard Bilke
„Weichselkirschen“ nach des Lesers Geschmack
Zum Tod von Leonie Ossowski                                      27
Da kann Erzengel Gabriel nur schmunzeln
Avenarius-Fresken von Haus Wiesenstein in Haus Schlesien 28
Bedrohtes Selbst
Katharina Sieverding im Kunstforum Regensburg                    29

KK-Notizbuch
Georg Aescht
Kein Abschied                                                    31

2     KK 1402 vom 25. März 2019
KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ - 1402 | 25. 3. 2019 - Kulturportal West Ost
Sachwalter der Erinnerung, ihrerseits vergessen
Heimat bewahren – Kultur vermitteln – Zukunft gestalten: vom „kommu-
nikativen“ zum „kollektiven“ Gedächtnis

Seit Ende der 1980er Jahre gibt es in den      im europäischen Rahmen, also im grenz-
„Kultur- und Kommunikationswissenschaf-        überschreitenden Dialog und Gespräch
ten“ eine Diskussion über das kommunika-       über die deutsche und jüdische Kultur im
tive und das kollektive Gedächtnis und die     östlichen Europa eher fraglich, wie zähe
damit verbundenen Erinnerungskulturen          und langwierige deutsch-polnische Schul-
in der Gesellschaft. Inwieweit diese vor-      buchverhandlungen oder Gespräche über
wiegend in der soziologischen Wissen-          unterschiedliche Leidenserfahrungen unter
schaftssprache geführten Diskussionen          dem Nationalsozialismus und dem Kom-
für die praktische Arbeit der zumeist eh-      munismus im Ost-West-Gespräch nach
renamtlich arbeitenden deutschen Heimat-       der europäischen Einigung 2004 und 2007
vertriebenen Relevanz haben, die sich ihre     dokumentieren.
Geschichten erzählen (Karl Schlögel), also     Für die Diskussion in Deutschland ist es
das kommunizieren, was sie in ihrem Ge-        wichtig, einen Blick auf die Ausgangslage
dächtnis haben, um sich in ihrem Schicksal     in den Anfangsjahren der Bundesrepublik
zu verstehen, steht auf einem anderen Blatt.   nach 1949 zu werfen. Das Bundesvertrie-
Ob über dieses Geschichtenerzählen (auf        benen- und -Flüchtlingsgesetz (BVFG) war
Neudeutsch: „oral history“) sich Elemen-       erst 1953 geschaffen worden. Der Para-
te eines gemeinsamen, also kollektiven         graph 96 dieses Gesetzes war eine Notlö-
Gedächtnisses entwickeln, ist vor allem        sung, weil die Vertriebenen im Grundgesetz

  Vertrauen und Zuversicht von
  einst – sie tun not wie eh und
 je: Broschüre zum 25-jährigen
    Jubiläum des Ostdeutschen
                      Kulturrates
                       Bilder: OKR

                                                               KK 1402 vom 25. März 2019   3
KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ - 1402 | 25. 3. 2019 - Kulturportal West Ost
von 1949 „vergessen“ worden waren. In sei-
ner Präambel wird das „gesamte Deutsche
Volk“ angesprochen, das sich 1949 nach
Flucht und Vertreibung auf dem Boden der
DDR und der Bundesrepublik befand.
Die Gründung des Ostdeutschen Kulturra-
tes (OKR) 1950 hatte erkennbar gemacht,
dass es neben der „territorialen Ampu-
tation“ Deutschlands nach dem Zweiten
Weltkrieg auch eine „kulturelle Amputation“
gegeben hatte. § 96 BVFG setzte nun Bund
und Länder als Treuhänder für die ostdeut-
sche Kultur ein, wies aber den Vertriebenen
die Hauptverantwortung für diese Aufgabe
zu. Damit wurde die ostdeutsche Kultur
dauerhaft – bis heute – zu einem Thema
der Vertriebenen, mit allen damit verbun-
denen Nachteilen.
Mit dieser Notlösung geriet die ostdeutsche
Kultur zudem in den Wirrwarr von Bund-
und Länderkompetenzen und in ein dau-
erhaftes Gerangel um Zuständigkeiten. Je
nach politischer Situation in den Ländern
oder im Bund hatten die Vertriebenen und
                                              Eine beispiellose Studienbuchreihe zum
der § 96 BVFG meist schlechte, manchmal       zwölffachen Gedächtnis der deutschen Kul-
bessere Karten. Auch wenn es nicht gern       turlandschaften im Osten – und nunmehr
gehört wird, muss darauf hingewiesen          auch zu dem des Ostdeutschen Kulturrats
werden, dass der Bund im Jahre 2000 eine
„Politik mit dem Schlachtermesser“ machte
und zahlreiche bewährte Einrichtungen aus     2016 zugeführten Königsberger und
der institutionellen Förderung entfernte.     Kant-Sammlungen wurden vom Bund 5,6
Diese Aktion des neu geschaffenen Amtes       Millionen Euro für den notwendigen Erwei-
eines Beauftragten der Bundesregierung        terungsbau bereitgestellt. Das Land Nie-
für Kultur und Medien (BKM) ignorierte        dersachsen blockierte volle zwei Jahre, bis
die fast einstimmige Entschließung des        zum Frühjahr 2018, die Bereitstellung der
Deutschen Bundestages von 1997, in der        Landesmittel. Der Gesetzgeber von 1953
den Heimatvertriebenen und Flüchtlingen       hatte sich die Kooperation zwischen Bund
der Status von Botschaftern im Rahmen der     und Ländern sicher anders vorgestellt.
Verständigung mit den östlichen Nachbarn
                                              Wer den Bereich der ostdeutschen Kultur
zugesprochen wurde. Zahlreiche Verbin-
                                              überblickt, darüber konnten sich die Teil-
dungen in das östliche Europa wurden un-
                                              nehmer einer Konferenz der Kulturstiftung
terbrochen und müssen jetzt – Jahre später
                                              der deutschen Vertriebenen im Februar
– mühsam wieder aufgebaut werden, ein
                                              2019 in Königswinter ein facettenreiches
schlechter Dienst für ein so wichtiges ge-
                                              Bild machen, der wird anerkennen, dass
meinsames Gedächtnis in Europa!
                                              in den 65 Jahren der Geltung des § 96
Im Zuge der Erweiterung des Ostpreu-          BVFG sehr viel geleistet wurde, obgleich
ßischen Landesmuseums durch die               die Finanzausstattung immer prekär blieb.

4    KK 1402 vom 25. März 2019
KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ - 1402 | 25. 3. 2019 - Kulturportal West Ost
Wie anlässlich der Tagung mitgeteilt wurde,    Spitzenverbände beider Länder zusammen
beträgt der finanzielle Anteil dieser Arbeit   und diskutiert gemeinsam interessierende
gerade 0,8 Prozent des Haushaltes der          Fragen in aller Offenheit und im Geist der
BKM, dessen Höhe sich auf 1,9 Milliarden       friedlichen Nachbarschaft. Die zahlreichen
Euro beläuft.                                  Städtepartnerschaften werden für diesen
Der Gesetzesauftrag des § 96 BVFG spielt       deutsch-polnischen Dialog genutzt – in
also immer noch eine Rolle, ist aber bis       Ostpreußen, Ostbrandenburg, Pommern,
heute nicht in seiner ganzen Zielsetzung       Schlesien.
erfüllt. Das „Bewusstsein“ des deutschen       Bis zu der Konferenz in Königswinter waren
Volkes und des Auslandes, also Europas,        und einstweilen sind es im Wesentlichen
wurde nie wirklich erreicht. Schwerer noch     die deutschen Vertriebenen mit ihrer
wiegt: Es wurden kaum je valide Anstren-       Kulturstiftung, das Kulturwerk Schlesien,
gungen in diese Richtung unternommen,          die Künstlergilde Esslingen, die Stiftung
ja oft eher das Gegenteil bewirkt. Ein Ge-     Königsberg, die Stiftung deutsche Kultur
denktag für die Vertreibung wurde erst 2015    im östlichen Europa – OKR und andere
geschaffen und auf den 20. Juni, zeitgleich    ehrenamtlich tätige Einrichtungen, die sich
mit dem Weltflüchtlingstag, festgelegt. An     dem Erbe der ostdeutschen Kultur mit dürf-
diesem Tag oder auch bei den jährlichen        tiger Finanzausstattung widmen und für
Tagen der Heimat äußern sich „Staatsorga-
ne“, aber der Widerhall in den Medien und
in der veröffentlichten Meinung ist gering
und dringt nicht ins „Bewusstsein“ des
deutschen Volkes vor.
Deutschland hat also nicht einmal ein
„kommunikatives Gedächtnis“ der Vertrei-
bungstragödie oder für die ostdeutsche
Kultur geschaffen. Weder gibt es an den
Universitäten eine ausreichend große
Anzahl von Lehrstühlen noch hinreichen-
de, von der Kultusministerkonferenz
unterstützte Lehrpläne für die Schulen
zu diesem Thema. In öffentlichen und
kommunalen Institutionen ist die ostdeut-
sche Kultur bisher nennenswert kaum
zum Thema geworden, vielmehr fällt sie
sukzessiver Eliminierung zum Opfer. Dabei
gibt es Städtepartnerschaften zwischen
der Russischen Föderation, Polen, Tsche-
chien und anderen mittelosteuropäischen
Staaten und Deutschland, die auch für das
Gedächtnis des gemeinsamen deutschen
und jüdischen kulturellen Erbes auf euro-
päischer Ebene genutzt werden könnten.
                                               Der Titel der letzten Anthologie mit Erzählun-
Die deutsch-polnische Arbeitsgemein-           gen, die zum letzten OKR-Erzählerwettbewerb
schaft Kommunale Partnerschaft führt in        eingereicht worden waren, hatte damals noch
jährlichen Konferenzen Vertreter der Städ-     nicht den metaphorischen Unterton, der heute
tetage, der Landkreistage und kommunalen       darin hallt

                                                                 KK 1402 vom 25. März 2019   5
KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ - 1402 | 25. 3. 2019 - Kulturportal West Ost
ein „kommunikatives Gedächtnis“ dieses          Konferenzen vor Ort überzeugen. Die sie-
Erbes sorgen. Diese Einrichtungen spielen       bente Konferenz findet 2019 im serbischen
trotz ihres überwältigenden Engagements         Sombor statt. Dem Beauftragten Hartmut
aus dem Blickwinkel der BKM keine Rolle         Koschyk ist es in seiner Amtszeit einmal
in den Zwei-Jahres-Berichten der Behör-         gelungen, die osteuropäischen deutschen
de. Die sogenannte „Projektförderung“ für       Minderheitenvertreter nach Berlin einzu-
diese ehrenamtlich und auf Spendenbasis         laden und dort auf höchster politischer
arbeitenden Einrichtungen ist ein „Danaer-      Ebene Gespräche zu führen. Die Medien
Geschenk“, nicht nur wegen der äußerst          nahmen von dieser bahnbrechenden Akti-
schwierigen und abschreckenden Antrags-         on keine Notiz. Das ist hierzulande Teil der
wege, sondern auch, weil die notwendige         Pressefreiheit.
Eigenbeteiligung vielfach die Kräfte der        Auf internationaler Ebene unternehmen
Antragsteller übersteigt.                       die Institutionen der Europäischen Union –
Die Hauptverantwortlichen für die ost-          Europäisches Parlament, Europäischer Rat,
deutsche Kulturarbeit sind die von der          Kommission, Ausschuss der Regionen –
BKM institutionell, aber auch nicht gerade      und das Haus der europäischen Geschich-
lukrativ geförderten Institutionen, vor allem   te in Brüssel keinerlei erkennbare Anstren-
die ostdeutschen Landesmuseen und die           gungen im Blick auf ein „kommunikatives
drei großen Bundesinstitute – Kunstfo-          Gedächtnis“ in Sinne des in Königswinter
rum Ostdeutsche Galerie (Regensburg),           diskutierten Tagungsthemas. Als bei den
Deutsches Kulturforum östliches Europa          Europawahlen 2014 der seit 1994 im Euro-
(Potsdam) und Bundesinstitut für Kultur und     päischen Parlament wirkende Abgeordnete
Geschichte der Deutschen im östlichen           Bernd Posselt nicht wiedergewählt wurde,
Europa (Oldenburg).                             ging die letzte Stimme für das Anliegen der
Diese Einrichtungen versuchen mit ihren         ostdeutschen Kultur verloren. Jetzt weiß im
Mitteln, auf nationaler und europäischer        Europäischen Parlament niemand mehr,
Ebene ein „kommunikatives Gedächtnis“           worum es sich überhaupt handelt. Und mit
zu schaffen. Dabei sind besonders die           den Europaabgeordneten der mittelosteu-
Potsdamer Wanderausstellungen und               ropäischen Beitrittsländer sucht niemand
Publikationen, die Regensburger grenz-          den Dialog in diesen Fragen.
überschreitenden Präsentationen, die            Wenn es also nach 65 Jahren § 96 BVFG
Arbeit des Oberschlesischen Museums             nur ansatzweise ein „kommunikatives Ge-
in Ratingen, des Ostpreußischen Landes-         dächtnis“ des deutschen Kulturerbes im
museums und des Ostpreußischen Kultur-          Osten gibt, vor allem bei den Vertriebenen
zentrums in Ellingen sowie der Museen in        und in den ihnen verbundenen Institutio-
Görlitz, Greifswald und Ulm als vorbildlich     nen, welche Voraussetzungen bestehen
hervorzuheben.                                  dann überhaupt, zu einem „kollektiven
Der Beauftragte des Bundes für Aussiedler       Gedächtnis“ vorzustoßen, also zu dem, was
und Minderheiten hat seinen Blick überwie-      der Gesetzgeber 1953 im „Bewusstsein
gend in Mittelost- und Südosteuropa, wo         des deutschen Volkes und des Auslandes“
er eine von der Öffentlichkeit weitgehend       erhalten und bewahren wollte?
unbeachtete, aber bedeutende, wenn auch         Um ein solches Ziel sinnvoll anzustreben,
finanziell schwach ausgestattete Arbeit         müsste erst einmal die ostdeutsche Kultur
leistet, die im Wesentlichen vor Ort der        in die deutsche Kultur integriert werden:
Verbesserung des „kommunikativen Ge-            Im Deutschen Kulturrat (seit 1981) ist
dächtnisses“ gewidmet ist. Davon konnte         dieses Thema unbekannt; in den Univer-
ich mich persönlich bei inzwischen sechs        sitäten, Schulen und Kommunen müsste

6    KK 1402 vom 25. März 2019
KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ - 1402 | 25. 3. 2019 - Kulturportal West Ost
es wiederbelebt werden. Zudem müsste           Diese Integrationsaufgabe zur Schaffung
die ostdeutsche Kultur in den Rahmen der       eines gemeinsamen Bewusstseins oder,
Europäischen Union integriert werden, ins      wie es das Thema in Königswinter formu-
Europäische Parlament (Kulturausschuss),       liert, eines „kollektiven Gedächtnisses“, ist
in die Auswärtige Kulturpolitik, in das Haus   keine allein den Vertriebenen aufzulas-
der europäischen Geschichte. Schließlich       tende Aufgabe, sondern sollte endlich ein
müsste die selbstverständliche Integration     föderales und gesamtstaatliches Anliegen
der ostdeutschen Kultur auch die durch         werden. Die in der Diskussion vielfach
die Verbrechen des Nationalsozialismus         angesprochene „Öffnung“ kann nicht nur
vernichtete jüdische Kultur im östlichen       den Vertriebenen abverlangt werden: Bund,
Europa einschließen. Das sieht auch die        Länder und Kommunen, vor allem aber die
Konzeption 2016 der Bundesregierung zum        Medien haben die gleiche Aufgabe.
§ 96 BVFG vor.                                                           Klaus Weigelt (KK)

Kommunikation lebt von Partizipation
Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen eröffnet ihnen ein Forum

In ihrem Koalitionsvertrag bekennt sich        die Kulturstiftung der deutschen Vertrie-
die Bundesregierung dazu, die im Sinne         benen zu stärken. Zur Umsetzung dieser
des Kulturparagraphen 96 des Bundesver-        Vereinbarung erarbeitet die Kulturstiftung
triebenengesetzes tätigen Einrichtungen        derzeit, gefördert von der Beauftragten der
der Heimatvertriebenen, Aussiedler und         Bundesregierung für Kultur und Medien,
deutschen Minderheiten als Träger des          ein Konzept zur Stärkung der eigenstän-
deutschen Kulturerbes des Ostens sowie         digen Kulturarbeit, die bereits seit Jahren
im Geiste der europäischen Verständi-          von den Vertriebenenorganisationen ge-
gung für die Zukunft zu ertüchtigen und        fordert wird.

Kollektive Konzentra-
 tion auf ein kollekti-
 ves Gedächtnis und
     das Nachdenken
             darüber:
  Tagungsteilnehmer
   im Haus Schlesien
         Königswinter
    Bild: Kulturstiftung der
  deutschen Vertriebenen

                                                                 KK 1402 vom 25. März 2019   7
KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ - 1402 | 25. 3. 2019 - Kulturportal West Ost
Bei der Auftaktveranstaltung am 18. und       Für den Erhalt der insgesamt gefährdeten
19. Februar 2018 in Haus Schlesien (siehe     Heimatsammlungen sei gleichfalls eine
auch unseren vorstehenden Beitrag), an        zentrale Beratungsstelle notwendig. Der
der über 50 Vertreter von Kultureinrichtun-   anwesende ehemalige Beauftragte der
gen der Vertriebenen sowie der Museen,        Bundesregierung für Aussiedlerfragen und
Institutionen der Wissenschaft und der        nationale Minderheiten, Hartmut Koschyk,
kulturellen Breitenarbeit, ebenso Vertreter   forderte zur Stärkung der eigenständigen
des Bundes der Vertriebenen und der           Kulturarbeit u. a. eine Rückkehr zur direkten
Landsmannschaften teilnahmen, wurde           Zuordnung der regional zuständigen Kul-
eine Bilanz der Kulturarbeit gezogen. Mo-     turreferenten an die Landsmannschaften,
deriert von dem Leiter des Projekts der       wie dies bis zum Jahr 2000 der Fall war.
Kulturstiftung, Thomas Konhäuser, wurden      Weitere Workshops, die in den kommenden
dabei alle relevanten Problemfelder leben-    Monaten im Rahmen des Projekts der Kul-
dig und konstruktiv diskutiert und                       turstiftung stattfinden, werden
Impulse für die Erarbeitung eines Zur Umset-             sich speziellen Themen und
Förderkonzepts für die eigen- zung der in                Problemfeldern widmen. Paral-
ständige Kulturarbeit gesetzt.      der Koalitions-      lel zu den Workshops wird eine
So bestand Einigkeit darüber, vereinbarung              Online-Umfrage bei den Orga-
dass im Bund und in den Län- vorgesehenen               nisationen und Institutionen der
dern der partizipative Ansatz Förderung der             deutschen Heimatvertriebenen,
nachhaltig gestärkt werden Kultur nach                  die nicht an den Workshops teil-
muss. Gewachsene Strukturen Paragraph 96                nehmen können, durchgeführt
gehören auf den Prüfstand. Zur erarbeitet die           werden. In einer „Zukunftswerk-
Erzielung von Synergieeffekten Kulturstiftung           statt“ werden konkrete Vorstel-
gilt es, Möglichkeiten einer ver- ein Konzept zur       lungen der Heimatvertriebenen
stärkten Kooperation zwischen Stärkung der              über eine künftige Struktur und
den Kulturträgern der Heimat- Einrichtungen.            Förderung ihrer Kulturarbeit be-
vertriebenen untereinander und                          nannt werden.
mit anderen Kultureinrichtungen zu finden.    Eine abschließende Studie wird die we-
Nachwuchsgewinnung, Professionalisie-         sentlichen Vorschläge zur Stärkung der
rung der Öffentlichkeitsarbeit, die Rolle der eigenständigen Kulturarbeit der deutschen
Digitalisierung und eine engere Zusam-        Heimatvertriebenen zusammenfassen. In
menarbeit mit den deutschen Minderheiten      diesem Zusammenhang sollen auch künf-
im östlichen Europa wurden mit einem Blick    tige Handlungsfelder der Kulturstiftung der
in die Zukunft erörtert.                      deutschen Vertriebenen sowie gewünschte
Die Anwesenden stimmten dem Vorsit-              Dienstleistungen der Kulturstiftung für die
zenden der Kulturstiftung der deutschen          Organisationen der Heimatvertriebenen
Vertriebenen, Reinfried Vogler, zu, dass         näher bestimmt und hierfür erforderliche
der Abbau von staatlicher Bürokratie bei         strukturelle Voraussetzungen aufgezeigt
Förderanträgen und die Schaffung einer           werden. Die Ergebnisse werden der Beauf-
nachhaltigen finanziellen Basis für die Kul-     tragten der Bundesregierung für Kultur und
turträger und deren Organisationen zwin-         Medien, den Verbänden, Organisationen
gend erforderlich seien. Im Hinblick auf die     und Medien der Heimatvertriebenen/Aus-
Erstellung von Förderanträgen könne eine         siedler sowie weiteren Kultureinrichtungen
von den Heimatvertriebenen getragene und         zugeleitet werden.
staatlich geförderte zentrale Stelle wertvolle
Unterstützung in Sachen Formalien leisten.                         Thomas Konhäuser (KK)

8    KK 1402 vom 25. März 2019
KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ - 1402 | 25. 3. 2019 - Kulturportal West Ost
Russland rücke Rubel raus
Die Balten fordern Wiedergutmachung

Friedlich ist allein die Landschaft des Baltikums, seine Länder haben ihren Frieden mit der Ver-
gangenheit noch nicht gemacht
Bilder: Wikimedia

Die Liste derer, denen der russische Präsi-        licht. Der nimmt sich im Baltikum wie eine
dent Putin im Frühsommer 2015 die Einrei-          Bestätigung des eigenen Kurses aus, dass
se nach Russland verbot, umfasst 89 Poli-          Russland zu meiden habe, wer nach Euro-
tiker und Prominente aus 17 europäischen           pa strebt. Die Balten hatten bei den ersten
Ländern. Putins Schwarze Liste liest sich          Schwächesymptomen der Sowjetunion
wie ein Who’s who der europäischen Po-             keinen Zweifel daran gelassen, dass sie
litszene aus postkommunistischen Jahren:           lieber heute als morgen alle Beziehungen
drei ehemalige Premiers (G. Herhofstaat            und Kontakte zu Moskau kappen wollten.
aus Belgien, A. Kubilijus aus Litauen, J.          Am 8. Dezember 1991 war es so weit: Die
Buzek aus Polen), ein EU-Kommissar (S.             UdSSR zerbrach, an ihre Stelle trat die „Ge-
File aus Tschechien), sieben Außenminister,        meinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS),
zwei Parlamentspräsidenten, vier Chefs             für die das Baltikum nur demonstratives
von Geheimdiensten, zwei Verteidigungs-            Desinteresse übrig hatte. Die GUS ist längst
minister, sieben hohe Militärs, Befehlsha-         verblichen, aber die Baltenstaaten gehören
ber oder Chefs von Nachrichtendiensten,            seit 2004 zu EU und NATO. Den Status als
jede Menge EU-Parlamentarier, dazu                 EU-Bürger genießen vor allem die starken
Prominente wie die Ehefrau des früheren            Gruppen lokaler Russen (Litauen 5,8, Est-
schwedischen Ministerpräsidenten Carl              land 25,2, Lettland 26,9 Prozent), die nicht
Bildt und Polit-Clowns wie der Franzose            einmal ethnische Parteien bildeten, um die
D. Cohn-Bendit.                                    Titularnationen nicht zu reizen.
Mit unverkennbarer Schadenfreude hat               Jetzt können sich die Baltenstaaten (Li-
die paneuropäische TV-Station Putins               tauen, Lettland, Estland) demonstrative
blamablen Pranger im Juni 2015 veröffent-          Revanchefouls an Moskau leisten, wie sie

                                                                      KK 1402 vom 25. März 2019    9
KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ - 1402 | 25. 3. 2019 - Kulturportal West Ost
die Lettin Ines Vajdere, Abgeordnete im          hat man in Osteuropa zähneknirschend
EU-Parlament und eine von fünf Letten            hinnehmen müssen, erst seit wenigen Jah-
auf Putins Sperrliste, Anfang September          ren ist in dortigen Blättern ganz unverblümt
vortrug: eine Kostenrechnung über 185            nachzulesen, dass die Rote Armee nach
Milliarden Euro als Wiedergutmachung             1945 als Horde von Mördern, Dieben und
für Schäden, die Lettland in den Jahr-           Vergewaltigern auftrat, die man gar nicht
zehnten seiner Unterwerfung unter das            früh genug loswerden konnte. So schrieben
„verbrecherische Sowjetsystem, das nur           2017 Prager Blätter, womit sie sich härtes-
mit den Nazis zu vergleichen ist“, erlitten      te russische Kritik einhandelten. Etwas
hatte. Hinzu kamen noch „einige Dutzend          milder reagiert Moskau jetzt auf baltische
Milliarden für Schäden an der Umwelt und         Forderungen und ihre Begründung. „Wir
für Bevölkerungsverluste“. Ähnlich emp-          sind nicht einverstanden mit dem Begriff
finden es Litauen und Estland, und schon         sowjetische Okkupation“, erklärte Putins
im November 2015 signierte das Trio ein          Pressesprecher Dmitrij Peskow, und das
„Memorandum über Zusammenarbeit bei              russische Außenministerium verlautete:
Bemühungen um Wiedergutmachung von               „Von irgendeiner Okkupation der baltischen
Verlusten, welche die Republiken aus ihrer       Ländern 1940 kann keine Rede sein: Die
Zugehörigkeit zur UdSSR davontrugen“.            Vereinigung des Baltikums entsprach den
Jetzt stehen die Justizminister Estlands         Völkerrechtsnormen der damaligen Zeit.“
(Urmas Reinsalu) und Lettlands (Dzintars         „Normen“ hatte der Hitler-Stalin-Pakt vom
Rasnacs) bereit, ihren Forderungen Nach-         August 1938 gesetzt, der das Baltikum 1940
druck zu verliehen.                              Stalins Sowjetunion überließ.
„Sowjetische Okkupation“, „Wiedergutma-          Kein russisches Entgegenkommen können
chung erlittener Verluste“ etc. sind exakt       die derzeitigen baltischen Wiedergut-
jene Argumente, welche Russland in Ton-          machungsforderungen erwarten, welche
fall und Wortwahl missfallen, weil sie dem       Russlands UN-Delegation denn auch
russischen „Befreier“-Eigenlob diametral         höhnisch abwies. „Einmal alle zehn Jahre
entgegenstehen. Gerade Putin beharrt seit        versucht Griechenland, von Deutschland
Jahren darauf, dass „allein wir Russen den       Wiedergutmachung für dessen Besat-
Faschismus besiegten und große Teile Eu-         zung im Zweiten Krieg einzutreiben. Diese
ropas befreiten“, ohne Mitwirkung von „So-       Versuche scheiterten. Darum ist es auch
wjetvölkern“, „Anti-Hitler-Koalition“ etc. Das   wenig wahrscheinlich, dass sich Russland

                                                                          Stolz prägt das
                                                                          Weichbild bal-
                                                                          tischer Städte:
                                                                          Reval/Tallinn

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auf solche Verhandlungen einlässt.“ Sei’s      kerung ein. Und der ähnlich phantasievol-
drum: Deutschland schuldet niemandem           len Märchen mehr: Zu Sowjetzeiten war
mehr „Reparationen“, aber nicht wenige         das Baltikum Standort von Werken, deren
glauben noch, bei Deutschland sei viel zu      Produkte angeblich in der ganzen UdSSR
holen, jüngst das Kosovo, das vor wenigen      gefragt waren, etwa des „Staatlichen Elek-
Jahren rund 56 Milliarden Euro deutsche        tronikwerks“ (VEF) im lettischen Riga, das
„Reparationen“ verlangte.                      20 000 Beschäftigte hatte und jährlich 580
Was Russland in Sachen Baltikum ärgert,        Millionen Euro Gewinn gemacht habe. Al-
ist der Umstand, dass dieses überhaupt         les Unsinn, wie spätestens beim Ende der
Forderungen erhebt, die es mit Unter-          Sowjetunion offenkundig wurde. Mit dem
suchungen begründet, welche seit dem           Hereinströmen westlicher Technologien
Jahre 2000 von „Spezialkommissionen“           erwies sich, wie wenig konkurrenzfähig
unternommen wurden. Diese besagen              sowjetische Produkte waren. Bereits Mitte
unter anderem, dass Estland zu dem             der 1990-er Jahre war das VEF bankrott,
Zeitpunkt, als es in die Sowjetunion ge-       wurde in sechs kleine Fabriken zerteilt, von
zwungen wurde, ein Brutto-Inlandsprodukt       denen drei überlebten.
wie Finnland aufwies. Davon blieb immer        Auch für andere baltische Produkte sowje-
weniger übrig, und 1991 lag Estland weit       tischer Provenienz galt der DDR-Spottvers
hinter Finnland zurück. Das wollen Russen      „Behüt uns Gott vor bösen Frau’n / und Au-
nicht wahrhaben, sie präsentieren andere       tos, die die Russen bau’n“. Ein Beispiel da-
Zahlen, erfunden von der russischen Aka-       für war das „Autobuswerk Riga“ (RAF), aus
demie der Wissenschaften: Von 1940 bis         dem das Gros der sowjetischen Fahrzeuge
1960 wurden in Lettland 20 große „Werke“       für Erste Hilfe, Feuerwehr etc. hervorging.
erbaut, in Litauen wurde das industrielle      Sein letzter Erfolg war ein Kleinbus, der
Vorkriegsniveau schon 1948 erreicht und        unter dem Spitznamen „Katafalk“ recht po-
1950 um 90 Prozent überboten. 1965 habe        pulär war. 1997 machte das RAF Pleite und
die Industrieproduktion der drei Baltenstaa-   wurde geschlossen, wie es der Autoname
ten ihr Vorkriegsniveau „mehr als 15 Mal       prophezeit hatte: „Katafalk“ bezeichnet ge-
überboten“. Estland stand 1970–1980 auf        meinhin den Unterbau für die Aufbahrung
Platz eins der sowjetischen Investitionen      eines Sarges und ist das russische Wort
und nahm 1990 weltweit Platz 46 beim           für „Leichenwagen“.
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevöl-                               Wolf Oschlies (KK)

Lenzes lustiges Liedchen – Brauchtum in Schlesien
„Hinnermist und Taubamist, ei dem Hause kriegt man nischt“

Auf den ersten Verdacht bringt man diese       des zum Sommersingen in Schlesien, wenn
Textzeilen mit einer Vogelkrankheit oder       den Kindern die Tür nicht geöffnet wurde.
dem Vogelgrippevirus in Verbindung. Den        Jedes Jahr wurde in Schlesien am Sonn-
Text, der dann weitergeht: „Is dos nich ne     tag Lätare, dem 3. Sonntag vor Ostern,
Schande / ei dam ganze Lande?“, könnte         der Brauch des Sommersingens gepflegt.
man sehr gut für die Bezeichnung einer         Wie alt dieser Brauch ist, verrät schon der
Krankheit verwenden.                           Name. Er stammt aus der Zeit, als man das
Dabei handelt es sich allerdings nach altem    Jahr in zwei Hälften teilte: Sommer und
Brauch um die Textzeilen eines Schmählie-      Winter. Auch an den Liedern, die gesungen

                                                                KK 1402 vom 25. März 2019   11
wurden und heute noch gesungen werden,       in Schlesien, in der der Wald selten war,
kann man das hohe Alter des Brauches         förderte diesen Formenreichtum. Manch-
erkennen, der um das Jahr 1000 entstan-      mal war auch der Buchsbaum aus dem
den ist.                                     Bauerngarten als Immergrün in den Ste-
Die Kinder zogen am Sonntag Lätare mit       cken. In Oberschlesien bis ins Kuhländchen
ihren bunten Sommerstecken, denen der        hinein wurden Moläer, also Maleier zum
hiesigen Gegend ähnlich, nur ohne Brezel     Verzieren benutzt, einfarbig eingefärbte
und Ei, in Scharen von Haus zu Haus oder     Eier – schwarz oder dunkelrot –, in die
von Stockwerk zu Stockwerk, um mit ihren     Pflanzenranken und Blumen eingekratzt
Liedern und Versen um eine Gabe zu bitten.   werden. Zum Kratzen brauchte man ein
                                             sehr scharfes oder spitzes Instrument. Frü-
                                             her benutzte man alte Rasiermesser dazu.
Summer, Summer, Summer,
ich bin a klenner Pummer,                    Mit diesen Stecken gingen die Kinder von
ich bin a klenner Keenich,                   Haus zu Haus „summern“, sangen ihre
gatt mer nich zu wenich,                     „Heischeversel“ , die Papierbänder flat-
lusst mich nich zu lange stiehn,             terten im Wind, und so zogen sie mit den
ich muß a Häusla wettergiehn.                erhaltenen Gaben weiter. Man beschenkte
                                             sie mit Eiern, Süßigkeiten, Obst und vor
                                             allem den für das Sommersingen typischen
Das wichtigste Accessoire beim schlesi-      Schaumbrezeln, auch Beegla genannt;
schen Sommersingen ist der Sommer-           jeder gab nach seinem Vermögen, beim
stecken, der auch Sommerbäumel, Sum-         Fleischer gab’s ein Stück Wurst.
merwadel oder Mai genannt wurde. Die
Sommerstecken, mit bunten Papierblumen       Sie sangen die unterschiedlichsten Versel.
geschmückte Gerten, waren in vielen For-     In „Silesia cantat“ sind die gebräuchlichsten
men und Ausführungen üblich. Darüber         Liedchen abgedruckt. Es gab viele Varia-
hinaus gab es aber auch Sommerbäumel,        tionen, und das Lied wurde oft dem Haus
die noch die immergrüne Unterlage (Fichte,   angepasst. Zu den „ruten Riesla“ gibt es
Wachholder, Tanne) hatten. Die Ackerebene    noch die Ergänzungen:

                                                                       Schon in grauer
                                                                       Vorzeit war die
                                                                       Dialektik von Hei-
                                                                       schen und Spotten
                                                                       Anlass für bunten
                                                                       Spaß – den offen-
                                                                       bar nicht nur die
                                                                       Kinder hatten
                                                                       Bilder: Wikimedia

12   KK 1402 vom 25. März 2019
Die Frau, die geht im Hause rum,                Kam gar der Herr des Hauses heraus,
sie hat ne weiße Schürze um,                    schallte es ihm fröhlich entgegen:
ne Schürze mit ner Krause,
sie ist die Schönste im Hause.                  Derr Herr, der hat nen hohen Hutt,
Ne Schürze mit nem Bande,                       dem sein ja alle Madel gutt.
sie ist die Schönste im Lande.                  A wird sich wohl bedenken,
                                                zum Summer uns was schenken.
Und dann noch:
                                                Der Herr schmunzelte und steckte jedem
Ne Schürze mit nem Luche,                       Kind zwei Beegla in sein Säckchen. Und
sie brummt die ganze Wuche.                     weiter ging es zum Nachbarn, dem „Nup-
                                                per“. Selbst über die kleinste Gabe freuten
                                                sich die Kinder. Neid kannten sie nicht.
Auch der Herr bekam seine „Revermande“:         Nur, jedes hätte gern das vollste Säckchen
                                                heimgetragen. Lebten zwei Nachbarn in
Der Herr, der hat ein‘ hohen Hut,               Streit miteinander, so hatten die Sänger
es sind ihm alle Mädel gut,                     den Nutzen davon, denn vom letzten der
die dünnen und die dicken,                      beiden, die sie besuchten, erhielten sie
die möchten sich erdrücken,                     meistens die doppelte Menge.
die kleinen und die großen,                     Obwohl der Winter in Schlesien früher
die möchten sich erstoßen.                      beginnt und strenger und länger regiert als
                                                hier im Westen, war der Schnee bis zum
Aus Österreich-Schlesien kommt das Ver-         Sommertag immer getaut. Kahl und traurig
sel: „Fladerwisch und Ziegenhäut, ei dam        standen die Bäume und Sträucher in den
Haus sein geizge Leut.“ Die Allerkleinsten      Anlagen, als schämten sie sich ihrer Blöße.
der Gruppe sangen folgende Verschen: „Ich       Nur über die Wiesen breitete sich ein erster
bin a klee Pinkerla, steck ei am Winkerla,      Schleier von zartem Grün. Und blies gera-
wer mich will sahn, muß mer woas gahn!“         de ein neckischer Wind mit vollen Backen
                                                durch die Straßen, durften die Mädchen
Sobald die Tür aufging, die Frau des Hau-       schon an Lätare ein duftiges Sommerkleid-
ses heraustrat und jedem in sein weißes         chen anziehen, farbig und geblümt, dass
Säckchen eine Brezel, ein Ei, ein Beegla        es so richtig zum bunten Sommerstecken
(ein ringförmiges Schaumgebäck) oder            passte. Die Jungs allerdings trugen bereits
„eenen Blehma“ (ein Zehnpfennigstück)           seit Wochen kurze Manchesterhosen und
gleiten ließ, strahlten die vor Eifer und Er-   zeigten stolz ihre nackten Knie.
regung erhitzten Gesichter, sofort stimmte
eines der Kinder an:                            Selbstverständlich wurde auch vor den
                                                Häusern des Bürgermeisters und des
                                                Lehrers gesungen, der die Kinder einige
Die goldne Schnur geht um das Haus,             der Lieder gelehrt hatte, wie das schöne:
die schöne Frau Wirtin geht ein und aus,
sie ist wie eine Tugend, ja Tugend.
Wenn sie morgens früh aufsteht                  Rot Gewand, rot Gewand,
und in die liebe Kirche geht,                   schöne grüne Linden,
da setzt sie sich an ihren Ort                  suchen wir, suchen wir,
und hört gar fleißig Gottes Wort.               wo wir etwas finden;

                                                                 KK 1402 vom 25. März 2019   13
Städtler und Dörfler gingen nicht unvorbe-
                                               reitet in den Sommersonntag. Besonders
                                               wer viele Kinder in der Verwandtschaft
                                               hatte, rechnete mit einem regen Besuch
                                               und hatte sich rechtzeitig mit Süßigkeiten
                                               und Kleingeld eingedeckt. Die Bäcker hat-
                                               ten schon Tage vorher angefangen, Beegla
                                               zu backen, die das Jahr über nicht gefragt
                                               waren, ähnlich den Martini- Hörnchen, die
                                               zu Martini angeboten wurden.
                                               Wie bereits erwähnt, kam es nicht selten
                                               vor, dass den Kindern niemand öffnete. Da
                                               halfen die schönsten Lieder, ja die witzigs-
                                               ten Verse nichts; es blieb ihnen dann weiter
Und bunt geht es auch hier und heute weiter,   nichts übrig, als ihrem Unmut mit folgenden
etwa in Herne
                                               Worten Luft zu machen:

gehn wir in den grünen Wald,                   Hiehnermist, Taubamist,
sing‘n die Vögel jung und alt.                 ei dam Hause kriggt ma nischt,
Frau Wirtin, sind Sie schon drinne,            is doas nich ne Schande
wir hören Ihre Stimme.                         ei dam ganza Lande!
Sind Sie drin, so komm`n Sie raus
und teilen uns den Sommer aus.
Rot Gewand, rot Gewand,                        Oder:
schöne grüne Linden.
                                               Geizhols, Geizhols,
Oder das:                                      friss ock olls, friss ock olls!
                                               Wenn de wirscht gesturba sein,
                                               warn de Kroocha tichtig schrein –
Rute Riesla, rute Riesla                       Geizhols, Geizhols!
wachsa uffm Stengel,
der Her is schien, der Her is schien,
die Frau is wie a Engel.                       Der schlesische Autor und Heimatdich-
Der Her, der hoot ne huhe Mütze,               ter Walter Reiprich aus Reichenbach im
der hoot se vuul Dukoata sitze,                schlesischen Eulengebirge schreibt in
a watt sich wull bedenka                       seinen Aufzeichnungen u. a., dass gegen
und watt mer wull woas schenka.                Mittag die Kinder todmüde heimkehrten,
                                               schließlich waren sie schon seit sieben
                                               Uhr früh unterwegs gewesen. Stolz öffneten
Rute Riesla heißt auf Hochdeutsch: Rote        sie dann die Säckchen und leerten den
Rosen. Immer wieder wurden zur alten           Inhalt auf den Tisch. Dabei gab es manche
Melodie neue Verse gedichtet. Die zweite       Überraschung. Nicht nur in Form von Bunt-
Strophe von „Rute Riesla“ lautet:              stiften oder Heften. Im Eifer war man mit
                                               dem Säckchen unvorsichtig umgegangen.
Die Frau, die hoot a ruta Rook,                Dabei war eines der Eier, eine besondere
die greift wull ei a Eertoop,                  Kostbarkeit unter den Gaben, gesprungen
sie watt sich wull bedenka,                    und ausgelaufen, oder die Lakritze hatte mit
und uns a Eela schenka.                        dem Schreibheft Bekanntschaft geschlos-

14   KK 1402 vom 25. März 2019
sen. Die Tränen, die sich dann einstellten,   dazu über, die Veranstaltung in einem Saal
wurden tapfer unterdrückt, denn zu viele      abzuhalten. In München singen heute die
schöne Dinge gab es zu bewundern, die ein     Kinder in schlesischer Tracht vor dem
Kinderherz höher schlagen lassen. Vater       Rathaus nach dem Glockenspiel vom Rat-
und Mutter mussten an der Freude teilneh-     hausturm für die zahlreichen Münchner
men. Ganz rot vor Glück war das Gesicht       und Touristen.
des Kindes dabei. Und am Abend beim           Auch heute noch wird dieser Brauch von
Schlafengehen träumte es bereits vom          Nord bis Süd und West bis Ost in sehr vie-
„Summer“ im nächsten Jahr. Unvergessene,      len schlesischen Landsmannschaften und
glückliche Kinderzeit in Schlesien.           Gruppen, besonders aber in Volkstanz- und
In Bonn wurde dieser Brauch nach der          Trachtengruppen aufrechterhalten. Bei-
Vertreibung 1958 wiederaufgenommen, in        spiele dafür geben die Trachtengruppe in
Neuss zieht man ebenso seit vielen Jah-       Herne, der Trachten-Tanzkreis Djonathan in
ren von Haus zu Haus. Da der Kreis der        Neuss, der Schlesische Heimatbund Nies-
so besuchten Landsleute immer größer          ky und die Riesengebirgs-Trachtengruppe
wurde und kaum an einem Tag zu schaffen       in München.
war, ging man in Neuss vor einigen Jahren                           Michael Ferber (KK)

Trockengefallen
„Im Fluss der Zeit. Jüdisches Leben an der Oder“ in Greifswald

Im Pommerschen Landesmuseum Greifs-           Zugehörigkeiten war über Jahrhunderte ein
wald wurde die deutsch-polnische Wander-      Begegnungsraum. Hier kreuzten sich auch
ausstellung des Deutschen Kulturforums        die deutsch-jüdische und die polnisch-
östliches Europa Potsdam unter dem            jüdische Kultur. Seit dem 19. Jahrhundert
Motto „Im Fluss der Zeit / Z biegiem rzeki.   war ein kultureller und wirtschaftlicher Auf-
Jüdisches Leben an der Oder“ eröffnet. Bei    schwung festzustellen, der aus Städten wie
der Vernissage führten die Kuratorinnen       Breslau ein Zentrum der Kunst und Kultur,
Dr. Magdalena Abraham-Diefenbach und          Wissenschaft und Wirtschaft machte.
Dr. Magdalena Gebala mit Vorträgen in die     In der Neuzeit bedrohte der Nationalismus,
Thematik ein und begleiteten die Besucher     gepaart mit dem Antisemitismus, diese
durch die Ausstellung.                        kulturelle Vielfalt an Oder, Obra und Warthe.
Das Ziel der Präsentation ist, das jüdische   Der Nationalsozialismus zerstörte sie. Nach
Leben entlang der Oder von seinen Anfän-      dem Zweiten Weltkrieg wurden weite Ab-
gen bis heute vorzustellen. Die Ausstellung   schnitte der Oder zur deutsch-polnischen
widmet sich Momenten der jüdischen            Grenze und die deutsche Bevölkerung
Geschichte beiderseits der Oder. Sie will     aus den Regionen östlich des Flusses
zum Nachdenken und zum Gespräch zwi-          vertrieben.
schen den ehemaligen und den heutigen         Polen fanden hier eine neue Heimat, und
Bewohnern der Region anregen. Sie gilt        für kurze Zeit schien es, dass in Nieder-
auch als Einladung zur Neuentdeckung des      schlesien und Pommern jüdisches Leben
deutsch-polnisch-jüdischen Kulturerbes.       heimisch werden könnte. Mehrere Zehn-
Die Landschaft an der Oder mit ihren wech-    tausend polnisch-jüdische Überlebende
selnden herrschaftlichen und nationalen       des Holocaust siedelten sich hier an, aber

                                                                KK 1402 vom 25. März 2019   15
Die schöne Kargheit
                                                                      und hohe Würde des
                                                                      Alltags
                                                                      Bild aus der Ausstellung

die meisten wanderten bis Ende der 1960er      28. April zu sehen ist, waren der Vortrag
Jahre wieder aus.                              von Professor Dr. Jörg Hackmann (Stettin/
Die Wanderausstellung besteht aus 20           Greifswald) über „Die deutsch-jüdische
freistehenden Tafeln und kann kostenlos        Geschichte Stettins. Eine Spurensuche“
ausgeliehen werden. Die Ausstellungster-       und der Beitrag „Die jüdischen Kaufmanns-
mine koordiniert das Deutsche Kulturforum      familien in Stralsund“ von Nadine Garling
östliches Europa. Weitere Veranstaltungen      (Stralsund).
im Rahmen der Ausstellung, die bis zum                                                    (KK)

Der Korse, ein Korsar des Todes
Napoleons Wüten im Osten nach Arno Surminski und Günter Müchler

Der 18jährige Martin Millbacher verfällt im    zwischen Kaiser und Zar im Zelt auf dem
Sommer 1812 dem Glanz der Großen Ar-           Memelfloß. Verärgert fuhr Anton Millbacher
mee des Kaisers Napoleon. Schon einmal         mit seinen Söhnen ins heimatliche Jorate
hatte sich das Bild der bunten Uniformen       zurück. Erst später erfuhr er von dem er-
und Fahnen, der Bläser und Trommler, der       gebnislosen Gespräch zwischen Königin
begeisterten Jubelrufe „Vive l’Empereur!“      Luise und Napoleon. Seit 1807 stehen die
in das Gedächtnis des jungen Burschen          glanzvollen Bilder des Korsen und seiner
eingebrannt, als sein Vater Anton, ein Salz-   machtvollen Truppen vor den Augen des
burger Emigrant, ihn und seinen älteren        Heranwachsenden und vergolden seine
Bruder Gregor nach Tilsit mitgenommen          nächtlichen Träume. Wie Millionen andere
hatte. Dort wollte er nicht den „Antichris-    seiner Generation ist er dem fatalen Reiz
ten“ Napoleon sehen, sondern „seinen“          dieses ruhelosen Heerführers erlegen,
Preußenkönig und dessen Frau Luise. Der        der schon seit über einem Jahrzehnt
aber war nicht zugelassen beim Gespräch        durch ganz Europa eine Blutspur seiner

16   KK 1402 vom 25. März 2019
Schlachten zieht. Auch Mareike, die schöne     Aus Martins Perspektive beobachtet,
Tochter des Scherenschleifers Rudies aus       kommentiert, erleidet Arno Surminski den
Paskalwen, kann das Feuer der Abenteu-         langen Weg der Großen Armee von der
erlust ihres Freundes nicht eindämmen.         Memel zur Moskwa und zurück. Es ist der
Die beiden verbringen schöne Stunden           Weg einer tiefen Wandlung des jungen
ihrer Jugendliebe in den Wiesenauen an         Mannes von verblendeter Begeisterung zu
der Memel.                                     entsetzter Ernüchterung. Innerhalb kaum
Als Zweitgeborener hat Martin kein An-         eines halben Jahres zerfällt sein Napoleon-
recht auf den väterlichen Hof. Den erbt        Bild, und die Realität dieses mörderischen
Gregor. Nach des Vaters Rat soll Martin        und sinnlosen Krieges nimmt ihm und
auf Wanderschaft gehen und danach in           seinen hunderttausenden von Opfern jede
einen Hof einheiraten, wo der Erbe fehlt.      heldenhafte Erhabenheit. Was er sieht und
Martin will aber nicht durch Deutschland       erlebt, verändert ihn und seine Sicht grund-
wandern, sondern mit der Großen Armee          legend. Aber Martin bewahrt seine charak-
marschieren. Vater Anton muss schließlich      terliche Substanz. Zwei Menschen hat er in
widerwillig nachgeben, weil sein König mit     seinen Gedanken mitgenommen, die ihm
Napoleon gegen den Zaren zieht. Wohl ist       Halt geben, seinen Vater und Mareike. So
es dem alten Millbacher bei dieser merk-       bleibt er auch unter den grausamsten Um-
würdigen Koalition nicht.                      ständen seinen Wurzeln treu, die ihm sein
                                               Vater an Ehrgefühl, Rechtschaffenheit und
Ein Vater-Sohn-Konflikt: Der Alte, verwur-     Frömmigkeit mitgegeben hat. Und seine
zelt in bäuerlicher Tradition und Frömmig-     ihn während des ganzen Marsches be-
keit. Der Junge, geblendet vom Glanz der       gleitenden Träume von Mareike bewahren
Welt und des Ruhmes. Ein zeitgeschicht-        ihn vor der zunehmend um sich greifenden
licher Topos, der sich im 20. Jahrhundert      Sittenlosigkeit und barbarischen Verwilde-
gleich mehrfach wiederholen sollte. Im         rung seiner Kameraden.
Sommer 1812 schließt sich Martin der
Großen Armee an und dient bei den Ka-          Zunächst geht alles vor sich wie ein Som-
nonieren, wo er zwar nicht reiten, aber sich   merspaziergang. Martin befindet sich in
um die Zugpferde kümmern kann.                 der Obhut seines Korporals Albrecht. Über

     Einstweilen mit
   dem Rückenwind
     der Geschichte
   einem Zenith zu-
strebend, der in der
 russischen Steppe
 elendig verflachen
    sollte: Napoleon
Bonaparte hoch zu
 Ross und Ruhm in
  der Sicht des Hof-
              malers
      Bilder: Wikimedia

                                                                KK 1402 vom 25. März 2019   17
Kowno, Wilna und Smolensk kommt man          gezogen hatten, dazu die Reitpferde der
auf die breite Straße nach Moskau. Bis da-   Garde und die Kavalleriepferde des Königs
hin hat man Verluste durch Gewitter oder     von Neapel.“
Hitze, Hunger und Durst. Schon dadurch       Am Abend dieses Tages sind von mehr
verliert man bereits tausend Pferde und      als 130 000 Soldaten der Großen Armee
auch einige Soldaten. Noch wird man von      35 000 und von 120 000 Russen 40 000
der russischen Bevölkerung freundlich        tot; Napoleon hat 47 Generäle und 480
empfangen. Napoleon hat die Losung           Offiziere verloren und einen Pyrrhussieg
ausgegeben, sie „wie eure Brüder“ zu be-     errungen. Kutusow hat mit seinem Wider-
handeln und jedes Marodieren und Rauben      stand den Russen wieder Auftrieb gegeben.
verboten. Das wird sich bald ändern. Bei     Er marschiert nach Moskau, aber durch die
Ostrowa gibt es erste Gefechtstote. Bald     Stadt hindurch und weiter nach Südosten.
kommt ein neues Wort auf: Fouragieren.       Der Zar ist in Sankt Petersburg, und vom 14.
Wer satt werden will, muss auf Fourage       bis zum 18. September 1812 brennt Moskau.
gehen, also den Bauern Geflügel, Schwei-     Napoleon zieht in eine brennende Stadt, er
ne, Getreide rauben, um die Truppe zu        ist allein, der Zar kommt nicht, sein Feldzug
ernähren. Martin kümmert sich lieber um      ist gescheitert. Was folgt, sind Chaos und
die Pferde.                                  Verfall, der Verlust von Anstand, Disziplin
An des Kaisers 43. Geburtstag zu Mariae      und Würde. Die Große Armee wird zu einer
Himmelfahrt steht Martin vor Napoleon,       Räuberbande.
die Berührung von dessen Reitgerte an        Martin hat in Borodino seinen Korporal
der Schulter empfindet er wie einen Rit-     Albrecht verloren. Dieser Verlust und das
terschlag. Der Kaiser behauptet, Martin      Grauen des tausendfachen Todes, das
bei Kowno am Njemen und vor fünf Jah-        nicht enden wollende Schreien und Kla-
ren auf dem Marktplatz in Tilsit gesehen     gen der Verwundeten, das Leid der Pferde
zu haben. Er ist beeindruckt! Aber dann      treffen ihn tief. Er findet ein verlassenes
kommt es wirklich zu einer Schlacht. Aus     Pferd und Henry, einen Schweizer, ein
Smolensk hat sich der neue russische         paar Jahre älter und erfahrener als Mar-
Oberkommandierende Kutusow mit dem           tin. Beide schließen sich den Reitern des
Heiligenbild der wundertätigen Madonna       sagenhaften Königs von Neapel, Murat,
zurückgezogen, aber in Borodino an der       an. Henry und Martin werden die Grauen
Moskwa stellt er den Eindringling und fügt   des Rückzugs überstehen und schließlich
ihm beinahe eine schwere Schlappe zu. Es     in Jorate ankommen. Doch zuvor erleben
ist der 7. September 1812.                   sie, wie die Große Armee jede soldatische
Surminski schreibt: „Als der Morgen däm-     Haltung ablegt und nach dem Brand in
merte, lebten sie noch, die Franzosen        Moskau aus den erhaltenen Häusern und
und Russen, die Spanier, Italiener, Kroa-    Kirchen Teppiche, Gemälde, Gobelins und
ten. Österreicher, Preußen, Polen, Sach-     Kleider, liturgische Gewänder, Leuchter
sen, Hamburger, Bayern, Württemberger,       und Schmuck erbeutet, um die Schätze
Schweizer, Hessen, Westfalen, Belgier,       nach Hause mitzunehmen. Henry beschafft
Holländer, Litauer, die Donkosaken, die      sich zwei Pelzmäntel, Martin begnügt sich
Köche, und Diener, die Pferdeburschen        mit einem kleinen Medaillon. Napoleon
und Marketenderinnen, die Kurtisanen         residiert währenddessen im Kreml, schaut
und Trommlerjungen. … Noch am Leben          auf die zu zwei Dritteln verwüstete Stadt
waren auch an die tausend Zugochsen und      und wartet vergebens – viel zu lange, wie
mehr als hunderttausend Pferde, die die      er später zugibt – auf eine Nachricht des
Kanonen und Kutschen bis nach Borodino       Zaren.

18   KK 1402 vom 25. März 2019
poleon Ende November 1812 noch einmal
                                              sein taktisches Genie. Ein Täuschungsma-
                                              növer gelingt, 400 holländische Sappeure
                                              des Generals Eblé bauen bei Studenka,
                                              im eisigen Wasser stehend, zwei Brücken
                                              über den Fluss; nur zwanzig überleben.
                                              Die Garde, der Kaiser sowie Truppen und
                                              Kanonen überqueren die Beresina, dann
                                              lässt Napoleon die Brücken zerstören.
                                              Zehntausende bleiben zurück und werden
                                              von den Kosaken niedergemetzelt.
                                              Henry und Martin sind bei den Glücklichen,
                                              die die Beresina hinter sich haben, aber
                                              ein Granateinschlag nimmt ihnen Neringa,
                                              Martins Pferd. Bei dem Versuch, sich auf ei-
                                              nem Bauernhof neue Pferde zu beschaffen,
                                              schießt Martin den sich wehrenden Bauern
                                              nieder. Henry beruhigt ihn, aber Martin
Verheertes Heer: Versprengte französische
                                              bleibt betroffen. Nie darf er Mareike von
Soldaten auf dem Rückzug                      dieser Tat berichten. Auf einem verlassenen
                                              Gutshof im litauischen Smorgoni bekom-
Schließlich ordnet er den Rückzug an und      men die beiden mit, wie der Kaiser nach
ruft Murat und seine Reiter von der ver-      einem abendlichen Gespräch mit seinen
geblichen Verfolgung Kutusows zurück; sie     Marschällen die Große Armee verlässt, um
sollen die Arrièregarde bilden. Das erweist   nach Paris zu eilen, das er in nur dreizehn
sich als nachteilig, weil aufgrund eines      Tagen am 18. Dezember 1812 erreicht.
Befehls alle vor ihnen Marschierenden         Politik ist wichtiger als die Große Armee,
verbrannte Erde hinterlassen, so dass man     die für Napoleon keinen Wert mehr besitzt.
im Spätherbst und beginnenden Winter im       Sie sei in keinem vorzeigbaren Zustand,
Freien kampieren, Hunger leiden und stän-     sagt er. Deswegen sollen aus Wilna alle
dig „fouragieren“ muss. Die nicht mehr so     ausländischen Diplomaten entfernt werden.
Große Armee zieht sich mitsamt Tross über     Martin und Henry erreichen als erste Wilna,
50 Kilometer, längst geben die Trommler       das einen Tag später zu einem unansehn-
nicht mehr den Takt der Schritte vor, man     lichen Kranken-, Elends- und Todeslager
schleppt sich dahin, Hunger und Krank-        der verbliebenen völlig zerlumpten und
heit halten reiche Ernte. Die Große Armee     verelendeten Reste der Großen Armee
hinterlässt nicht nur Tote und Verwundete,    wird. Dieses Grauen lassen sie so schnell
sondern auch die zunehmend lästige Beu-       wie möglich hinter sich, weil sich die Trup-
te. Wölfe, Füchse und Krähen verfolgen die    pe ohnehin in völliger Auflösung befindet.
Armee, die Kosaken Kutusows beobachten        Außerdem ist es nicht mehr weit bis Jorate,
Napoleons Armee und holen sich die zu-        wo die beiden wohlbehalten ankommen.
rückgelassene Beute.                          Henry will weiter, hinter seinem Kaiser her,
Da man den gleichen Weg nimmt, den            dem er schon so lange treu gedient hat
man gekommen ist, muss man durch die          und dem er weiter ergeben ist. Martin hat
stinkenden Leichenfelder von Borodino, wo     genug vom Krieg, er will keine Waffe mehr
die Toten der Schlacht und 35 000 Pferde      ziehen. Er heiratet seine Mareike. Henry
verwesen. An der Beresina beweist Na-         sieht er nie wieder.

                                                               KK 1402 vom 25. März 2019   19
Nach kurzer Zeit ist es Vater Anton, der        Quellenmaterial ist enorm. Diesem ver-
Martin zu den Waffen drängt, weil jetzt sein    danken wir eine Notiz aus dem Sommer
König gegen den Korsen zu den Soldaten          1813, als Europa sich nach der Katastro-
ruft. Er sei doch ein erfahrener Soldat. Mar-   phe von Russland auf die Völkerschlacht
tin verweigert sich zum Kummer des preu-        bei Leipzig vorbereitet. Am 24. Juni 1813
ßisch gesinnten Vaters. Für ihn ist der Krieg   empfängt der Kaiser den österreichischen
ein Albtraum. Mareike gibt den Ausschlag,       Fürsten Metternich im Dresdner Palais
sie ist schwanger, und auch nach der Bibel      Marcolini zu einem Gespräch, das über
darf der Bräutigam ein Jahr lang nicht in       acht Stunden dauern wird und in dem
den Krieg ziehen. Dem kann der fromme           Napoleon sich nicht immer unter Kontrolle
Alte nicht widersprechen. So muss Gregor        hat. Müchler berichtet: „Er brüstet sich mit
hinaus und fällt in der Völkerschlacht bei      der Unerschöpflichkeit seiner militärischen
Leipzig, ein bitteres Glück für Martin, der     Ressourcen. Als Metternich ihm die Jugend
den Hof erbt und bald eine Familie hat.         der Soldaten entgegenhält und fragt, wann
Arno Surminski hat ein Anti-Kriegsbuch          er die nächste Generation verheizen wolle,
geschrieben, das keine Grausamkeit, kein        verliert er die Contenance. ‚Ihr seid kein
Elend, keinen Schrecken unerwähnt lässt.        Militär‘, herrscht er Metternich an. ‚Ihr wisst
Ein Anti-Kriegsbuch kann gar nicht grau-        nichts über die Seele eines Soldaten. Ich
sam genug sein, sagt er. Über die Kapitel       bin im Feldlager aufgewachsen, und ein
seines Romans schreibt er hin und wieder        Mann wie ich scheißt auf das Leben von
treffende Sinnsprüche aus der Bibel, aus        einer Million Menschen. ‘“
Tolstois „Krieg und Frieden“, dem „Antima-      Es ist erstaunlich, dass bei allem bes-
chiavell“ Friedrichs II. oder auch von Zeit-    seren Wissen um eine solche Äußerung
zeugen. Der letzte lautet: „Die Geschichte      Müchler durch das Leben seines Helden
wiederholt sich, und jedes Mal kostet es        in den Bann geschlagen bleibt. Selbst im
mehr.“ (Halldór Laxness) In der Tat: Nicht      Scheitern gewinnt dieses Leben für ihn „die
nur Napoleon hat die Jugend Europas einer       Eindringlichkeit einer Menschheitserzäh-
Generation vernichtet; im 20. Jahrhundert       lung“. Surminski gesteht, dass er während
wurden die Hekatomben in zwei Weltkrie-         des Schreibens an seinem Roman die
gen vervielfacht.                               ursprünglich noch vorhandene Ehrerbie-
Der 250. Geburtstag des kleinen Korsen          tung dem korsischen Kaiser gegenüber
im August 2019 hat auch den Historiker          verloren habe. – Wie viele Menschenleben
Günter Müchler beflügelt, zur Feder zu          ist eine historische Persönlichkeit mit ihrer
greifen und ein Opus Magnum von über            Leistung, wie viele Tote sind seine Taten
600 Seiten Umfang, mit fast tausend An-         und ggfs. auch bleibenden „Verdienste“
merkungen, einigen Abbildungen und zwei         wert? Oder darf man eine solche Frage aus
Übersichtskarten vorzulegen. Die umfas-         wissenschaftlicher Perspektive nicht stel-
sende Biographie ist brillant geschrieben.      len? Ist die humanitäre Seite für die Politik
Sie behandelt im letzten Drittel mit dem        unerheblich? Für Surminski ist sie es nicht:
„Vorstoß ins Leere“ die gleiche Thematik,       Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein.
die Arno Surminski zum Hintergrund seines                                 Klaus Weigelt (KK)
Romans gewählt hat. Auch Müchler sieht
nicht nur die großen Linien der Geschich-
te, sondern lässt durch Zeitzeugen und          Arno Surminski: Der lange Weg. Von der Memel
detaillierte Beobachtungen die menschli-        zur Moskwa. Roman. Stuttgart 2019.
che Tragödie der geschilderten Vorgänge         Günter Müchler: Napoleon. Revolutionär auf
durchscheinen. Das von ihm verarbeitete         dem Kaiserthron. Darmstadt 2019.

20   KK 1402 vom 25. März 2019
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