LebensZeiten - Im engsten Kreis - Ein Magazin über das Unvermeidliche und für das Leben danach - Bestattungshauses Haller
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LebensZeiten Ausgabe 25 Ein Magazin über das Unvermeidliche und für das Leben danach Im engsten Kreis
Gedicht Erste Worte Inhalt Liebe Leserinnen und Leser, Lebenswege Im engsten Kreis 6 Abend Langsames Schmelzen 12 Liebe Leserinnen und Leser, Kunst, Kultur und Historisches Freudige Unvoreingenommenheit: 4 Der Abend wechselt langsam die Gewänder, traurig sein hat viele Gesichter, das sehen der Künstler Simon Dittrich wir jeden Tag. Jede und jeder trauert auf In guter Gesellschaft: die ihm ein Rand von alten Bäumen hält; eine eigene Art. Jeder und jede braucht Gottlieb Daimler auf dem Uffkirchhof 17 etwas anderes fürs Abschiednehmen Liebe in Farben: du schaust: und von dir scheiden sich die Länder, und fürs Weiterleben. Selbstgestaltete Urnen 18 ein himmelfahrendes und eins, das fällt; Aber was bedeutet das für die Art und Lebensgeschichten Weise, wie eine Trauerfeier organisiert Motorradfahrer, Sammler, Wurstkenner: 14 wird? Wenn wir darüber reden, finden Dieter Wälde wir es heraus. und lassen dich, zu keinem ganz gehörend, Veranstaltungen und Tipps Wer hinhört, kann viel Schönes wahr- Trauergruppen und Begleitung 22 nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt, nehmen, darum geht es in diesem Heft. Veranstaltungen für Trauernde: 23 Ihnen eine gute Lektüre! Trauerwandern im Schwarzwald nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend Ihre Steuern und Recht wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt - Kann man es rückgängig machen, wenn man ein Erbe ausgeschlagen hat? 16 In eigener Sache und lassen dir (unsäglich zu entwirrn) Salonabend im Bestattungshaus: 23 von Mozart bis Ellington, dein Leben bang und riesenhaft und reifend, von Puschkin zu Achmatowa so dass es, bald begrenzt und bald begreifend, Wintermärchen Josephine und das Singen der Bäume 22 abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn. Gedicht Andrea Maria Haller Abend 2 lebenszeiten@bestattungshaus-haller.de Rainer Maria Rilke Bildquellenangaben 20 Impressum 28 LebensZeiten erscheint vierteljährlich. Mit LebensZeiten wollen wir die Angst vor dem Tod und vor Trauer nehmen und uns für einen offenen Umgang mit diesen Themen einsetzen. LebensZeiten soll helfen, sich auf das Unvermeidliche vorzubereiten, und Mut machen für das Leben danach. Hier erzählen wir die Geschichten der Menschen, die uns in 2unserer Arbeit als Bestatter begegnen. LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 3
Kunst In dieser Serie stellen wir Künstler aus der Region vor. Diesmal: Simon Dittrich aus Stuttgart-Möhringen Freudige Unvoreingenommenheit S imon Dittrich macht nie Urlaub. Es ist für ihn unvorstellbar, an einen Ort zu fahren, an dem er nicht malen oder zeichnen kann. Unglaublich viel- fältig ist der Schatz an Werken, den er in den ver- gangenen 60 Jahren geschaffen hat. Immer wieder entstehen neue Bildwelten. Der 80-Jährige hat nie Langeweile. Seine Arbeit ist für ihn ein ewiges Öffnen von neuen Türen. Ständig begibt er sich auf unbekanntes Terrain. Dabei können seine Werke unter- schiedliche Formen annehmen. Skulpturen aus Holz oder Metall, Zeichnungen, Radierungen, Lithografien, Gemäl- de. Viele seiner Werke tragen eine spielerische Heiterkeit in sich, die einem beim Betrachten ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Wenn Simon Dittrich sich auf ein neues Werk einlässt, macht er dies völlig unvoreingenommen und ohne jede Vor- stellung davon, was am Ende dabei herauskommen soll. Er arbeitet so lange, bis Ordnung da ist. Wenn er abends ein Bild fertiggestellt hat und am nächsten Morgen wieder in sein Atelier kommt, öffnet er die Tür nur ganz vorsichtig. Gerade so, dass er ein Drittel des Bildes se- hen kann. Wenn er dann zufrieden ist, betritt er den Raum und begrüßt das Bild ganz heiter: „So schlecht bist du ja gar nicht!“ Und das ist für ihn dann besser als jeder Urlaub. Simon Dittrich lebt mit seiner Frau Lilian inmitten von vielen Bildern in Stuttgart- Möhringen. Mehr von Simon Dittrich zu seinen Arbeiten finden Sie auf VIMEO. www.simon-dittrich.de
Lebenswege Lebenswege J essica und Carmen waren Sorgen, ihren Ärger über Männer. Sie kannten sich mehr als 20 Jahre. Freundinnen. Schon lange. Sie lachten unglaublich viel. Hat- Jessica organisierte Carmens Ge- Irgendwann einmal vor vielen ten keine Angst vor Exzessen und burtstag, Carmen Jessicas. Sie wa- Im engsten Kreis Jahren haben sie zusammengear- langen Nächten. Beruflich blühte ren richtig gute Freundinnen. Dann beitet; Carmen war Jessicas Vorge- Jessica auf, als sie mit Carmen zu- lebten sie sich ein wenig auseinan- setzte bei einem IT-Unternehmen. sammenarbeitete. Gemeinsam be- der. Eigentlich war gar nichts We- Die beiden hatten mehr gemeinsam treuten sie internationale Projekte. sentliches. Jessica hatte einen neuen Jessica als ihre Arbeit. Sie verreisten zu- Meisterten die Herausforderungen Partner mit Familie. Das nahm viel sammen, feierten, genossen das der IT-Branche: die Jahrtausend- Raum ein. Leben. Sri Lanka, Malediven, wende, die Finessen der Euro-Um- Karibik, immer und immer wie- stellung. Viel harte Arbeit und viele Im März 2013 wurde bei Carmen der waren sie auf Sylt. Sie waren fröhliche Feste. Immer das Gefühl, Darmkrebs diagnostiziert. Da war immer auf derselben Wellenlänge. das Leben im Griff zu haben. Zu- sie 46 Jahre alt. Sie teilten ihre Hoffnungen, ihre mindest in Teilen. K atrin war ebenfalls gut mit dauer, mit der sie ihren Sohn eine Schritte. Und auch immer wieder Carmen befreundet. Sie Zeit lang alleine erzog und sich mit gerne über alles Mögliche, das hatten einander in einem zwei Arbeitsplätzen über Wasser nichts mit der Krankheit zu tun Restaurant in Ludwigsburg kennen- hielt. hatte. Alltägliches. Das Leben, „Wir haben im engsten Kreis Abschied genommen.“ gelernt, sympathisch gefunden und die Arbeit. Aber auch Sinnfragen. Diese Worte stehen oftmals auf Traueranzeigen. Meist stecken dahinter komplexe Lebensgeschichten diese Verbindung dann über Jah- Als Carmen erfuhr, dass sie Darm- Über den Tod sprachen sie nie. re aufrechterhalten. Ohne äußere krebs hatte, rief sie Katrin an, um Carmen mochte Friedhöfe nicht. und Empfindungen. Manchmal ist es der ausgesprochene Wille des Verstorbenen. Manchmal sind Rahmenbedingungen wie eine ge- ihr von der Diagnose zu erzählen. Sie war viel lieber unter den Le- es Müdigkeit und Erschöpfung oder das Gefühl der Überforderung auf Seiten der Hinterbliebenen. meinsame Arbeit oder einen Verein. Katrin hörte ihre Wut heraus, spür- benden. Einfach weil sie es wollten. Weil sie te aber auch ihre Lebenskraft und Manchmal ist es einfach der Wunsch nach einem geschützten Rahmen, zu dem nicht jeder Zutritt hat. einander mochten. ihren Kampfesgeist. Es hatte viele Carmen machte schon immer viel Voruntersuchungen gegeben. Alles mit ihrer Schwester Henri aus. Katrin Katrin schätzte an Carmen ihren hatte sich immer wieder verzögert. Die beiden standen sich sehr nahe. Wie geht es den anderen damit? Hat jeder ein Recht auf Abschied? Wie kann man diese Zeit so Lebensmut. Und dass sie so eine Jetzt war es ziemlich spät. Carmen Henri war die Ältere, aber Carmen gestalten, dass alle Bedürfnisse berücksichtigt werden? grundpositive Einstellung gegenüber war kämpferisch und bereit, Che- immer die Beschützerin. Durch die anderen Menschen hatte. Dass sie mos und Behandlungen auf sich zu Krankheit sind sie sich noch näher In dieser Geschichte erzählen wir von einer komplexen Dynamik des Rückzugs und der Öffnung und in anderen Menschen immer deren nehmen. Sie hatte Hoffnungen und gekommen. Auch Henri war Teil darüber, wie ein Kreis sich wandelt. Stärken sah, deren Potenziale. Car- Pläne, über die sie sprach. Sie hat- des Freundeskreises. War bei Fes- men schätzte an Katrin ihre ruhige, te bis jetzt alles im Leben gemeis- ten und Feiern präsent. Fuhr mit reflektierte, freundliche Art. Und tert. Die beiden redeten über die in gemeinsame Urlaube. Mal mit die wahnsinnige Disziplin und Aus- Behandlungen, über die nächsten Partner, mal alleine. 6 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 7
Lebenswege Lebenswege A I W ls Carmen glaubte, sie hätte rationen. Immer wieder musste sie Carmens Rückzug nicht einfach. m Mai 2017 schien es, als hätte ährend Carmen immer Als Carmen das letzte Mal in die den Krebs besiegt, schrieb in die Klinik nach Heidelberg. Die Man muss es jemandem zugestehen, Carmen akzeptiert, dass sie es schwächer wurde, wurde die Klinik nach Heidelberg fuhr, für ein sie Jessica eine E-Mail. ganze Zeit über arbeitete Carmen wenn er einfach keine Kraft mehr nicht schaffen würde. „Aber Beziehung zu ihrer Schwester im- Wochenende von Freitag bis Mon- Sie wollte die alte Freundschaft weiter, ging nach der Arbeit zu ihren hat, einen zu sehen, sagte Jessicas eigentlich habe ich ein schönes Le- mer intensiver. Heute kann Henri tag, wollte sie gar niemanden mehr wieder auffrischen. Jessica spürte, Behandlungen. Sie brauchte diese rationaler Teil. Trotzdem spürte sie, ben gehabt.“ sagen, dass sie unendlich dankbar sehen. Jessica hatte damals sogar wie sehr Carmen ihr gefehlt hatte. Normalität, diese klare Struktur und wie sehr es die anderen schmerzte, ist für die Nähe, die Carmen in die- den Verdacht, Carmen wollte in die Sie weinte unglaublich. Da war Er- das Gefühl von Kontrolle über ihr ausgeschlossen zu sein. Die ersten Sie redete lange mit Jessica. Nicht ser Zeit zugelassen hat. Schweiz und hätte Heidelberg nur leichterung, Sehnsucht. Die beiden Leben. Eine Aufgabe. Sie brauchte Zeichen der Ohnmacht, die der über den Tod, sondern über all das vorgeschoben. Das hätte sie ihr zu- Jessica begannen wieder lange miteinander zu reden, kamen sich erneut näher. Fast näher als zuvor. Jessica war normale Unterhaltungen mit Freun- den. Die Krankheit sollte nicht im Mittelpunkt ihres Lebens stehen. Freundeskreis unterschwellig spürte, waren sichtbar geworden. Andere waren vielleicht auch ein wenig er- Gute, das sie miteinander erlebt hat- ten. Das hatte viel von einem Ab- schied an sich. Als wäre ihr es das A b August zog sich Carmen noch weiter zurück. Von allen außer von Henri, ihrer Schwester. getraut. Carmen wollte immer die Kontrolle behalten. Dieses Ausge- liefertsein an ihre Krankheit, an die froh, dass Carmen wieder in ihr Le- leichtert, sich nicht damit auseinan- Wichtigste, zu wissen, dass ihr Le- Jessica tat dieser Rückzug weh. Ärzte, an die ganze medizinische ben gekommen war. Mitte des Jahres erhielt Carmen eine M it der Zeit ging es ihr schlech- ter. Ihre Haare fielen aus. Sie reduzierte die Anzahl der Men- dersetzen zu müssen. Vielleicht. Es war schwer, Carmen so zu sehen. ben gut war. Ja, das war es. Es war ein Moment des Übereinkommens über alles Vergangene. Der tiefen Sie wäre so gern dagewesen für ihre Freundin. Sehnte sich auch nach ihr. Sie wollte lieber diesen Maschinerie, all das war unerträg- lich für sie. weitere Krebs-Diagnose. Man hatte schen, die sie sehen wollte und konn- Diese intelligente, starke, schöne, Begegnung und Wertschätzung. Schmerz mit ihr teilen. Es war ein Metastasen gefunden. Chemo. Ope- te. Für viele im Freundeskreis war mutige Frau – ein Häufchen Elend. Und ja – der Dankbarkeit. Gefühl von tiefer Ohnmacht. C C armen jammerte nie, war trotz So lange es ging, trafen Katrin und Die Effekte der Chemo machten armen sagte Katrin, dass sie Katrin ist so froh, dass sie diese schwiegen. Kostbare Momente. Car- allem immer voller Pläne und Carmen sich jede Woche, oft in einem die Krankheit immer sichtbarer und jetzt eigentlich austherapiert Tage hatte, dass sie noch ganz be- men musste darüber lachen, dass an- Hoffnungen. Die Begleiter im Café in Ludwigsburg. Sie redeten waren für Carmen immer schwerer sei. An einem Tag im Som- wusst bei Carmen sein konnte. Auch dere sie noch immer anriefen, obwohl Krankenhaus rieten Carmen, ihrem dann über Alltägliches. Diese Nor- auszuhalten. mer in einem Café in Bietigheim. wenn es schwierig war, sie leiden zu sie doch gar nicht sprechen konnte. Krebs einen Namen zu geben. Sie malität tat beiden gut. Katrin hätte Erst bei diesem Gespräch und in den sehen und zu wissen, dass sie sterben Katrin nannte sie Hugo. Einen Namen zu geben kann helfen, eine Krankheit anzunehmen und sie nicht mehr als so mit Carmen auch über das Ende gesprochen, wenn Carmen das ge- wollt hätte. (Obwohl Katrin bewusst E s gab auch Zeiten, da wollte Carmen gar niemanden sehen. Hatte keine Kraft zum Wollen. Das folgenden Wochen konnte Katrin sich irgendwie vorstellen, dass Car- men es nicht schaffen würde. würde. Aber es war trotzdem auch schön. Sie kann heute sagen: Sie genoss jede Minute, in der Carmen In der Nacht vor Carmens Tod träum- te Katrin, dass es Carmen wieder gut geht. Dieser Traum war unglaublich bedrohlich wahrzunehmen. Nicht so ist, dass sie in solchen Momenten oft war emotional schwierig, aber lo- noch da war. intensiv. Vielleicht war das ja auch ein hart gegen sie anzukämpfen. Katrin nicht weiß, was sie sagen soll. Aber gisch nachvollziehbar. Immer waren Eigentlich wäre Katrin in ihren nor- kleiner Hinweis, dass es Carmen nach fand das etwas seltsam: Die Krank- heit ist doch kein Freund! Sie hielt sich aber zurück und kommentierte es vielleicht macht genau das Katrin zu so einer wertvollen Freundin in dieser Zeit. Wer braucht schon Menschen, da diese zwei Seelen: immer beides spüren, den eigenen Schmerz und den des anderen. malen Sommerurlaub gefahren zu je- ner Zeit, als es Carmen sehr schlecht ging. Doch sie blieb da. Dafür ist sie M anchmal konnte Carmen nicht mehr so gut reden, ihre Stimme versagte. Manchmal saßen ihrem Tod gut gehen würde. Katrin schickte eine SMS an Carmen und beschrieb ihr diesen Traum. Es waren nicht. Carmen schien es zu helfen. die immer was zu sagen haben?) heute sehr dankbar. sie dann einfach nur zusammen und ihre letzten Worte an sie. 8 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 9
Lebenswege Lebenswege A E n einem Dienstagmittag eine eigene große Familienkrise sich ausgeschlossen und ohnmächtig. ine Woche nach Carmens Henri verändert. Sie verbringen im September 2017, mitten managen. Da ist noch so viel Liebe, die sie Tod findet die Trauerfeier nun häufig Zeit miteinander, wer- in einer Konferenz, schaut hätten mitgeben wollen. Für die es statt. Am Ende der Feier den gute Freundinnen. Der gemein- Jessica heimlich auf ihr privates Drei Tage nach dem Tod gelingt es keinen Ort mehr gibt. Es ist wie ein wird die Urne beigesetzt. Ihre al- same Schmerz verbindet sie. Aber Handy – aus ihr heute unerklärli- endlich. Im Telefonat fragt Jessica Lied, das plötzlich abbricht und ver- lerengsten Freunde sind nun doch nicht nur das. Sie entdecken vieles, chen Gründen. Da ist eine SMS. nach der Trauerfeier. Henri sagt: stummt, kein richtiges Ende hat. Sie dabei. Alle ohne Partner und Part- das sie aneinander mögen. Ende Von Carmens Schwester Henri. Es tut ihr total leid, aber die Trau- wünschen sich einen gemeinsamen nerinnen. Und sie sind froh darüber, November fahren sie sogar zusam- erfeier findet im engsten Kreis statt. Rahmen, in dem sie ihre Gefühle dass sie dieses Ritual gemeinsam men in den Urlaub. An einen Ort, Carmen ist bei den Engeln. Das hätte Carmen ausdrücklich so zum Ausdruck bringen können. Ihre haben, dass sie einander haben. wo Carmen immer hinwollte: nach gesagt. Liebe, ihrer Traurigkeit, ihre Ver- Ägypten. Jessica ist fassungslos. Sie kann gar bindung. Im November lädt Carmens Schwes- nicht aufhören zu weinen. Die Trä- nen fließen nur so. Ihre Kollegen be- merken es, sie erklärt, verabschiedet Das erschüttert Jessica. Dieses schleichende Gefühl der Ohnmacht, das immer präsent war, hat jetzt Jessica sucht doch nochmal das Ge- spräch mit Henri, Carmens Schwes- ter Henri dann zu einer großen Fei- er bei Carmens Lieblingsitaliener ein. Über 50 Personen sind da, nun S ie nehmen ein Bild von Carmen mit, stellen es im Zimmer auf. Carmen ist dabei. Sie reden viel sich. Draußen versucht sie, Carmens seine volle Wucht entfaltet. Gegen ter. Sie will diese Entscheidung die große Runde der Freunde. Jeder über sie, über das Leben, und er- Jessica Schwester zu erreichen, aber Henri Carmens Krankheit war kein Ge- verstehen. Sie würde sie auch gern kann sehen, wie wichtig dieses Tref- zählen sich von Erlebnissen mit Car- geht nicht ans Telefon. Dann ruft winnen, ihr Rückzug war rational überzeugen, dass es einen besseren fen für viele ist. Eine Gruppe von men, bei denen die andere nicht mit Jessica bei Katrin an. Die beiden nachvollziehbar, aber emotional un- Weg gibt. Carmens Schwester bittet Freunden geht vor dem Essen noch dabei war. Das tut gut und schafft treffen sich und fahren zu Jessicas glaublich schwer auszuhalten. Zu um Bedenkzeit. Es ist viel für sie an gemeinsam ans Grab. Die Rede nochmal Nähe zu Carmen und zu- Eltern. Ein sicherer, vertrauter Ort spüren, wie die Freundin ihr mehr diesen Tagen. Henri will eigentlich von der Trauerfeier wird vorgelesen. einander. für beide. und mehr entgleitet und sie rein gar nur Carmens Wunsch gerecht wer- Beim Essen erzählt jeder seine Ge- Diese Tage sind wie im Nebel. Schlimm ist, nicht zu wissen, was nichts tun kann. Und jetzt das. Sie soll sich nicht ein- den. Nur im Sinne ihrer Schwester handeln. Das Richtige tun. Für Car- men. Und auch für die Familie. schichten von Carmen. Man sieht sich Bilder an. Es tut gut. Es wird gelacht und geweint. Sie stoßen auf S ie lachen. Sie genießen auch die Sonne auf der Haut, die Wärme. Sie lernen ihre schon län- genau geschehen ist. Jessica ver- mal von ihr verabschieden können? Carmen an. Es ist eine Feier, wie ger bestehende, aber nun viel tiefe- sucht immer wieder, Henri zu errei- Sie ringt mit Wut und Enttäuschung. Einen Tag später bekommt Jessica sie Carmen sicherlich auch gefallen re Freundschaft zu schätzen. Und chen. Will sich aber auch nicht auf- dann eine Nachricht von Henri: eine hätte. sie spüren das Leben, das in ihnen drängen. Denn sie weiß ja: Henri Es verletzt sie zutiefst, es kränkt Entschuldigung und eine Einladung pulsiert. Carmens Tod hat es ihnen ist selbst tief getroffen von Carmens auch andere im engeren und weite- zur Feier. Jessica ist so froh, so er- Durch Carmens Tod hat sich die bewusster gemacht. Das Leben ist Tod. Gleichzeitig muss sie auch ren Freundeskreis. Auch sie fühlen leichtert. Freundschaft zwischen Jessica und jetzt. K K atrin erfährt von Jessica, Die Trauerfeier ist schön, aber sehr sicher, dass es nach dem Tod noch atrin und Henri kommen sich und die Verbindung zu ihr nun auch dass die Feier nur im engs- traurig. Die Asche vorne am Altar weitergeht. Das tröstet sie. näher. Jetzt verbringen mehr im Miteinander leben. Das Erlebte ten Familienkreis sein soll. ist und bleibt für Katrin sehr abstrakt. Zeit miteinander. Carmens verbindet sie tiefer. Carmen war voller Sie fühlt sich davon nicht ganz so Unvorstellbar, dass so wenig von ei- Für Katrin ist Carmen nicht ganz Tod hat sie einander ebenfalls spürbar Lebenskraft und Lebenslust. Sie hat Katrin verletzt wie Jessica. Aber auch Ka- nem Menschen übrigbleiben soll. weg. Katrin spricht oft mit Carmen. nähergebracht, und sie pflegen diese das Leben geliebt und die Menschen. trin freut sich, als sich die Pläne Doch für Katrin ist klar: Eine Trau- Sie führt Zwiegespräche mit ihr. Beziehung ganz bewusst. Sie schät- Katrin will diesen Geist bewahren. In ändern und sie doch noch zur Trau- erfeier ist nicht das letzte Wort zum Meist beim Laufen, draußen. Heute zen die Kostbarkeit des anderen, auch sich und ihren Freundschaften mit Jes- erfeier eingeladen wird. Leben eines Menschen. Sie ist sich noch. weil sie beide Carmen nahestanden sica und Henri. 10 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 11
Trauerwege · Gerlingen Trauerwege · Gerlingen Langsames Schmelzen Es braucht Zeit, sich nach einem Verlust zu erholen. Hier erzählt Marie-Luise Tenz, wie sie die Jahre der Pflege erlebt Nicht nur von dem eigentlichen Verlust, sondern von Zeit davor. hat und was das mit ihr gemacht hat. M arie-Luise Tenz hat ih- begegnete er fremden Menschen. Das Abend mit ihm einen Weg zu finden, Der Pfleger und Heiner hatten auch ren Mann lange betreut Zusammensein hielt die Demenz et- damit sie den Abend beide gut überste- Spaß miteinander. Sie haben kleine und gepflegt. Heiner was auf, stärkte sein Selbstwertgefühl hen können. Das ist mit der Zeit auch Ausflüge mit dem Rollstuhl gemacht hatte Demenz. Zehn und sein Wohlbefinden. Marie-Luise nicht einfacher geworden. und fast jedes Restaurant in Gerlingen Jahre lang hat die Krankheit sein Le- ist bis heute so dankbar für diesen Rat. besucht. Heiner war gut aufgehoben. ben geprägt. Und das seiner Familie. Der Anfang war schwierig. Wann Z unächst ging Heiner nur zweimal die Woche dorthin. Es machte W enn sie heute darüber nachdenkt, überrascht es sie, wie sie das al- les geschafft hat. Wenn sie am Anfang Auch dafür ist Marie-Luise dankbar. Sie war immer gerne für Heiner da. nimmt man wahr, dass man nicht mehr ihm Spaß, und er war auch klug ge- gewusst hätte, wie schwierig es noch Die beiden hatten viele gute Jahre mit- so gut im Alltag zurechtkommt? Wann nug, um zu wissen, dass er sich und werden würde, hätte sie es sich niemals einander. merken es die anderen? Und wie seiner Frau damit etwas Gutes tat. zugetraut. Aber sie ist in diese Rolle hi- spricht man darüber? Es gab Anzei- (Noch so etwas, was Marie-Luise neingewachsen. Sie kennt die Lebenssi- Als ihr Mann stirbt, mit 84 Jahren, tut chen, es wurden mehr. Heiner brauchte heute als Glück ansieht.) Heiner war tuation von anderen Paaren, bei denen es ihr leid für ihn. Er hat doch immer Hilfe für Dinge, die eigentlich selbst- selten stur oder uneinsichtig. Nur ge- einer dement ist und der andere stets am so gerne gelebt. Gleichzeitig nimmt sie verständlich sein sollten. Autofahren. legentlich etwas hartnäckig, vor allem Rande seiner Kraft. Im Gesprächskreis an sich wahr, wie sehr die Pflege sie Von einem Spazierganz heimfinden. beim Lichtschalter. für Angehörige von Demenzkranken ausgezehrt hat. Wie müde sie ist. Wie- konnte sie das gut beobachten. Es hat viel Kraft die letzten Jahre sie gekostet Es wurde schwieriger. Gerade auch Die Stube in Leonberg war seine Ta- ihr geholfen, immer wieder ihr eigenes haben. Und auch, wieviel Lebensfreu- für seine Familie. Man musste ständig gespflege, und sie wurde ein guter Ort Schicksal zu relativieren. Eine andere de ihr abhandengekommen ist. Sie war in Alarmbereitschaft sein, wusste nie, für ihn. Er konnte sich einbringen. Perspektive zu bekommen. Und auch immer in Alarmbereitschaft. Die gan- welch wundersames Verhalten ihm als Und er hat dort die Fähigkeiten, die zu merken, über was für seltsame Dinge zen letzten zehn Jahre. nächstes einfiel. Nachts stand er stän- noch gut vorhanden waren, zum Woh- man mit anderen lachen kann, die Ähn- dig auf, machte oft das Licht an und le anderer eingesetzt: singen, tanzen, liches erleben. Es tat gut. Das Lachen Nun braucht sie Zeit, um ihr Selbst- aus. andere anleiten. Das lag ihm, das tat schuf ein klein wenig Distanz zur Härte vertrauen wiederaufzubauen. Es über- ihm unendlich gut. des Alltags. rascht sie ein wenig, wie sehr das ge- Marie-Luise war 15 Jahre jünger als litten hat. Weil ihr Lebensspektrum ihr Mann Heiner. Ein Glück, sagt sie: Die Zeit ohne ihn war natürlich eine Es fiel ihr nicht ganz leicht, in dieser so eng geworden war, wurde auch ihr Denn dadurch war sie noch fit genug, Entlastung für Marie-Luise. Das ist Zeit Freundschaften aufrechtzuer- Selbstwertgefühl geschwächt. um sich gut um ihn zu kümmern. Vor ein wichtiger Punkt, auch im Rück- halten. Nicht jeder konnte Heiners allem in den späteren Jahren, als die Pflege körperlich immer anstrengender wurde. Als sie ihn, den so viel größe- blick. Denn wenn sie sich geopfert hätte, wenn sie aufgehört hätte zu ar- beiten, wenn sie Heiner die ganze Zeit Zustand aushalten. Und sie konnte abends kaum raus. F ast ein Jahr ist es her, dass Heiner gestorben ist. Zum Trauern in dem Sinne, wie sie es von sich erwar- ren Mann, ankleiden musste, abends wieder ausziehen und ins Bett bringen. zuhause behalten hätte, hätte das sein Leben auch nicht besser gemacht. Im Gegenteil, es hätte es nur enger ge- J eden Samstag kam nachmittags ein freiwilliger Pfleger und entlastete sie. Marie-Luise nutzte diese Zeit, um tet, wie es vielleicht auch andere von ihr erwarten, ist sie noch gar nicht rich- tig gekommen. Die letzten zehn Jahre Am Anfang war Marie-Luise noch macht. sich etwas Gutes zu tun. Sie spielte als Leistung zu sehen, auf die sie stolz berufstätig. Ihr Psychotherapeut riet Tennis mit einer Freundin, ging Kaf- sein kann, fällt ihr noch etwas schwer. ihr eines Tages, Heiner in eine Tages- Um ihn morgens fertig zu machen, da- feetrinken. Ganz bewusst machte sie Es braucht seine Zeit, wieder ins Le- pflege zu geben. Als Entlastung, und für brauchte sie mehr als eine Stunde. etwas Schönes für sich. ben zurückzukommen. auch, weil er dort gefordert wird. Tat- Oft war es eine Kraftanstrengung. Es sächlich, so war es: In der Tagespflege war auch eine Herausforderung, jeden Hilfsangebote finden Sie unter www.wegweiser-demenz.de 12 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 13
Lebensgeschichten · Stuttgart-West Lebensgeschichten · Stuttgart-West Motorradfahrer, Sammler, Wurstkenner Dieter Wälde D ieter Wälde war ein lei- kannte die Regeln und wusste, was meistens waren sie gut. Sogar sehr denschaftlicher und ex- richtig und was falsch war. gut. Mit einer Ausnahme: Einmal zellenter Motorradfahrer. fuhren sie zehn Kilometer extrem an- Vor diesen Motorrädern standen seine Freunde an der Trauerfeier Spalier. Es war eine Wonne, bei Dieter war ein Kartenleser. Dieter spruchsvolle Schotterpiste. Die han- ihm hinten aufzusitzen und mitzufah- fuhr ohne Navi. Immer. Er kannte delten ihm den wunderbaren Spitz- ren. Er fuhr sicher und ohne Angst. sich aus. Er hatte einen unglaub- namen „Schotter-Willi“ ein. Er fand seine berufliche Heimat als lichen Orientierungssinn und ein In seiner eigenen Jugend war Dieter Fußballplatz eine gute Figur – Die- wohin er wollte im Leben. Er war ihr Fahrlehrer, nach ein paar kleineren gutes Gedächtnis. Wenn er einmal Seine Frau Gundula hatte er 1984 in immer ziemlich wild gewesen. Vor ter war ein Mädchenschwarm. Die Fahrlehrer und sie seine Schülerin. Verirrungen in eine Verwaltungsaus- an einem Ort gewesen war, dann Maichingen geheiratet. Gemeinsam allem, was Musik anbelangte. Seine Liebe für Fußball sollte sein Leben bildung und den Sicherheitsbereich haben die beiden drei Kinder groß- Schwester kann sich bis heute gut an lang halten. Er kannte den Spiel- Und die beiden konnten diese letz- am Flughafen. 30 Jahre lang brachte gezogen und nach der Trennung gute die laute „Kiss“-Beschallung erin- stand jedes Spiels, nicht nur in der ten Jahre so richtig gut miteinander er anderen das Motorradfahren bei. Er konnte schimpfen und entspannte Wege miteinander nern, die Dieter ihr in frühen Jahren Bundesliga. Aber auch die Formel 1 leben. Das Leben in vollen Zügen wie ein gefunden. zugutekommen ließ. Er selbst hatte hatte ihren festen Platz in seinem genießen. Motorradfahren, Zeit zu Dieter konnte schimpfen wie ein Gitarre spielen gelernt und war eine Leben. Ganz vorne dran. zweit, Zeit mit Familie. In den letz- echter Schwabe echter Schwabe. Über alles und vor allem den Verkehr und andere Ver- kehrsteilnehmer. Als Fahrlehrer hatte erkannte er alles wieder und wusste, A ls Vater war er ziemlich locker. Er hatte Freude an Unterneh- mungen mit seinen Kindern. Und ganze Weile in einer Band. Musik war ihm wichtig. Vor allem, wenn sie laut war. Dieter war ein Jäger und Sammler. Kaum etwas in diesem Universum, ten Jahren ging Dieter die Familie über alles. Mathias, Beatrice, Re- becca und natürlich Noah, der En- er einen hohen Standard und gewisse wo es langging. Wenn Motorradaus- mit Dieter war immer Action: Hal- das er nicht mitgenommen hätte, kel. Noah war seine große Liebe von Ansprüche. Nicht nur an sich selbst, flüge mit Freunden anstanden, plan- lenbad, Ausflüge in den Europapark „Wenn es etwas wenn es kostenlos war. Alles, was Geburt an. Opa sein war für Dieter sondern an alle anderen auch. Er te deshalb oft er die Routen. Und oder nach Tripsdrill. es umsonst gab, war gut. Kugel- einfach cool. zu essen gibt, schreiber, Gummibären, Pins, Feu- erzeuge. In den letzten Jahren wurde Südaf- dann komme ich.“ rika für ihn wichtig. Es fing an mit Er selbst kannte seine kleinen einem Besuch in einem Hostel bei Gleichzeitig war er in seiner Jugend Schwächen nur zu gut. Wenn man Storms River, zum Helfen. Und es immer etwas sensibel, hatte schnell ihn zu einem Fest einlud, konnte endete in einer tiefen, freundschaft- Heimweh und untersuchte sein Essen es sein, dass er sagte: Wenn es et- lichen Verbundenheit mit den Men- ziemlich genau auf unliebsame In- was zu essen gibt, dann komme ich. schen dort. haltsstoffe. Pilze oder Meeresfrüchte Denn Essen war wichtig. Bratwurst gingen gar nicht. und Schinken, Schwarzwurst vom Und auch hier griff Dieters Sammel- Metzger in Kayh, Gummibärchen leidenschaft. Zu Weihnachten sam- S port war ihm immer wichtig, wie er auch in der Familie wichtig war. Als Dieter noch ein Junge war, und Schokolade. Dabei konnte er nie essen, ohne zu krümeln. Auf das Gratis-Essen an der Hochzeit seiner melte er alles, was irgendwie nützlich war und was man nach Südafrika schicken konnte. saßen sie am Samstagabend alle Tochter hatte er sich schon gefreut. gemeinsam vor dem Fernseher, um die Sportschau anzuschauen. Unter- stützt von den Eltern, spielte er Fuß- S eine Lebenspartnerin Petra ist erst ein wenig später in Dieters D ieter konnte gut und gerne schimpfen. Nur an seinem letz- ten Tag war es anders. Den ließ er ball in Maichingen in der 1. Mann- Leben getreten. Da war er schon aus Revue passieren und sagte: „Es war schaft. Er machte nicht nur auf dem dem Gröbsten raus. Da wusste er, heute so ein schöner Tag.“ Dieter Wälde in Südafrika: Erst war es nur ein Besuch, dann große Verbundenheit. 14 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 15
Recht Kultur und Historisches In guter Gesellschaft · Uffkirchhof Stuttgart-Cad Cannstatt Gottlieb Daimler Kann man es rückgängig machen, Ingenieur und Konstrukteur Einer der größten Pioniere des Automobilbaus wenn man ein Erbe ausgeschlagen hat? Geboren 1834 in Schorndorf, gestorben 1900 in Bad Cannstatt N G icht jeder, der erbt, nung auch nicht übernehmen. Die geschlagen wird, so kann man diese ottlieb Daimler war der Sohn des Gastwirts 1883 meldeten sie den Einzylinder-Viertaktmotor mit Glüh- nimmt dieses Erbe auch Nachlasspflegerin informierte die Ausschlagung im Nachhinein nicht und Bäckermeisters Johannes Däumler (erst rohrzündung zum Patent an. Sie entwickelten 1885 das ers- an. Manchmal vermutet Schwester der Verstobenen. Darauf- mehr anfechten. Juristisch gespro- später wurde der Name anders geschrieben) te Motorrad mit Benzinmotor, den sogenannten Reitwagen. man, dass der Verstorbe- hin wollte die Schwester ihre frühere chen: Die irrtümlich angenommene und seiner Ehefrau Frederika. Danach folgte der Einbau eines Ottomotors in ein Boot, ne einem nur Schulden hinterlassen Entscheidung zurücknehmen: Sie Wertlosigkeit des Nachlasses stellt das erste Motorboot. Im selben Jahr bauten sie auch noch hat. Aus diesem oder anderen Grün- focht die erklärte Ausschlagung an einen unbeachtlichen Motiv-Irrtum Nach seinem Realschul-Abschluss machte der junge Gott- einen Motor in eine vierrädrige Kutsche ein. Dies war der den kann es dazu kommen, dass man und erklärte, dass sie die Erbschaft dar. Allerdings trifft das dann nicht lieb eine Ausbildung zum Büchsenmacher und arbeitete Beginn der Entwicklung des Automobils! eine Erbschaft ausschlägt. Ist diese doch annehme. Sie beantragte einen zu, wenn sich der Erbe konkrete Ge- von 1853 bis 1857 in einer Maschinenbau-Firma im El- Entscheidung endgültig? Oder kann man sie rückgängig machen? Erbschein, mit dem sie sich als ge- setzliche Alleinerbin der Verstorbe- nen ausweisen wollte. danken gemacht hat über die Zusam- mensetzung des Nachlasses und sich dabei getäuscht hat. sass. Danach begann er ein Maschinenbau-Studium am Polytechnikum Stuttgart. Er hatte Führungspositionen bei verschiedenen Unternehmen, unter anderem in Reutlingen, D ie Daimler AG gehört heute zu den international größ- ten und erfolgreichsten Unternehmen. Weltweit sind es knapp 300 000 Mitarbeiter (Stand 2018). Mit dieser Frage hat sich das Oberlan- und begegnete dabei zum ersten Mal Wilhelm Maybach. desgericht Düsseldorf befasst (OLG Düsseldorf – Beschluss vom 19. De- zember 2018 – AZ. 3 Wx 140/18). Nur aufgrund von E in zentraler Begriff ist also Spe- kulation: Nur aufgrund von Spekulationen sollte man nicht vorei- Seitdem arbeiteten die beiden zusammen. Daimler wech- selte zur Gasmotorenfabrik Deutz, und auch Maybach ging dorthin. Unter Leitung von Daimler brachten sie 1872 den Nach Daimler wurden in Bad Cannstatt die Daimlerstraße, der Daimlerplatz und das Gottlieb-Daimler-Gymnasium benannt, in Untertürkheim gibt es die Daimlerbrücke. Spekulationen sollte lig erklären, ein Erbe auszuschlagen. Ottomotor zur Serienreife. Konkret ging es dort um diese Ge- Es eilt ja auch nicht! Denn man hat 1882 verließen Daimler und schichte: Die Polizei fand eine tote man nicht voreilig ein grundsätzlich sechs Wochen Zeit, Maybach nach einem Streit Frau in einer äußerst verwahrlos- Erbe ausschlagen bis man erklären muss, ob man ein mit dem Chef das Unterneh- ten Wohnung. Die Tote war Wit- Erbe annimmt oder ausschlägt. Die- men Deutz. we. Als gesetzliche Erbin kam die se Frist beginnt, sobald man erfahren Schwester der Verstorbenen in Be- tracht. Doch die Schwester erklärte beim Nachlassgericht, dass sie die D er Antrag auf den Erbschein wurde zurückgewiesen. Die Begründung: Es gebe keinen An- hat, dass jemand gestorben und man selbst zum Erben berufen ist. Die Frist ist länger, wenn der Verstorbene Daimler erwarb in Cannstatt ein Landhaus am Rande des Kurparks und gründe- Erbschaft ausschlagen wolle. Denn fechtungsgrund und deswegen auch zum Zeitpunkt des Todes im Aus- te gemeinsam mit Maybach sie ging davon aus, dass sie als Erbin keine wirksame Anfechtung der land gelebt hat oder der Erbe sich eine neue Versuchswerkstatt. auch sämtliche Entrümpelungs- und Ausschlagung. Damit wollte sich die gerade im Ausland aufgehalten hat: Ihr erklärtes Ziel war es, Renovierungskosten für die Woh- Schwester nicht abfinden und legte Dann sind es sechs Monate Aus- „schnell laufende Verbren- nung ihrer Schwester bezahlen müss- Beschwerde beim OLG ein. Doch schlagungsfrist. nungsmotoren“ zu entwickeln. te und der Nachlass der Schwester sie konnte sich mit ihrer Auffassung damit wohl überschuldet sei. nicht durchsetzen. Diese Werkstatt gibt es noch heute: ein Museum im Kurpark, Es wurde eine Nachlasspflegerin Das OLG entschied: Wenn jemand das kostenlos besichtigt werden bestellt. Diese fand heraus, dass die als Erbe aufgrund von reinen Spe- kann. Schwester der Verstorbenen sich kulationen und Vermutungen irr- Kerstin Herr Gottlieb Daimlers Grab auf dem Uffkirchhof in Bad Cannstatt. geirrt hatte: Der Nachlass war gar tümlicherweise davon ausgeht, dass Rechtsanwältin nicht überschuldet, und die Erben ein Nachlass überschuldet ist, und Kanzlei Königstraße, mussten die Renovierung der Woh- wenn der Nachlass deswegen aus- Stuttgart In dieser Serie schreibt Werner Koch, der ehemalige Leiter des Garten-, Friedhofs- und Forstamtes der Stadt Stuttgart. Er ist zusammen mit seinem Sohn, dem Fotografen Christopher Koch, Autor des Stuttgarter Friedhofsführers. 16 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 17
Kreatives Liebe in Farben E D lisabeth Lanz hat sich ein bisschen zurückgezo- er Adler war immer ein besonderes Tier für Arne Als Set bestehend aus einer eine Pappmaschee-Urne, mit Kleister, Grundierung, Pinsel und Klar- gen, als die Urne für ihren verstorbenen Mann Lanz gewesen. Das Ehepaar lebte im neunten lack. So bekommen Angehörige im Bestattungshaus Haller die Urnen zum Selberbasteln ausgehän- gestaltet wurde. Das überließ sie gern ihren bei- Stock, das war fast wie ein Adler-Horst. Er wäre auch den Töchtern und den drei Enkeln, sieben, fünf gerne noch nach Afrika gereist, also gab ihm seine Fami- digt. Dann geht es ans Werk. Hier beschreiben drei Familien, wie sie die Urnen gestaltet haben und und zwei Jahre alt. Ihr selbst war es in dem Moment zu lie ein klein wenig Afrika mit auf den Weg. Die Kinder warum. Und wie es Ihnen damit erging. viel, zu nah. Sie fand es schön, aber zugleich auch sehr wiederum sind Pferdenarren, und Pferde kann man auch schmerzlich, das kreative, liebevolle Gewusel beim Basteln in der Ewigkeit gut gebrauchen. Unsichtbar fürs Auge A mitanzusehen. Von jedem kam etwas ganz Persönliches auf gibt es noch einen Drachen, der den Opa beschützen soll. ls Julia Sandmanns Mutter gestorben die Urne. Zunächst die Hände der Enkel. Denn Opa sollte Elisabeth Lanz tat es gut, die fertige Urne zu sehen und war, hörte sie davon, dass man Überur- sich gehalten wissen. Aus diesen Händen wurden dann ein zu sehen, wie viel Liebe und Gedanken ihre Familie da nen selbst basteln kann. Da war ihr sofort Adler, ein Löwe, eine Giraffe und zwei Pferde. hineingesteckt hatte. klar: Das will ich für meine Mutter ma- chen. Ihre Mutter hatte schon immer Selbstgebasteltes ihrer Tochter geliebt, sie war stolz auf die künstleri- schen Werke. Auf dem Tisch in Mutters Wohnzimmer standen seit Jahren Papierblumen, die Julia einmal aus alten Büchern gemacht hatte. Julia wusste: Die gefal- len ihr. Also nahm sie ein paar dieser Blumen und band sie an der Urne fest. Schmetterlinge kamen hin- zu. Julias Mutter war lange im Rollstuhl gesessen. Die Schmetterlinge stehen für Julia auch dafür, dass ihre Mutter das Erdenschwere nun hinter sich gelassen hat und frei ist. Als nicht viel später Julias Vater starb, war es für sie selbstverständlich: Auch er bekommt so eine ganz per- D O sönliche, selbstgebastelte Urne. Ihr Vater war jemand aniela Dreher hat schon zwei Überurnen ge- bendrauf haben sich die Vögel in Herzen verwandelt. gewesen, der immer gerne auf Reisen war. Und er staltet. Das erste Mal vor neun Jahren, als ihr Das war das Werk der beiden Töchter. Sie haben ih- hatte die Welt von Gestern geliebt. Er mochte Nostal- Vater starb. Damals hat sie zusammen mit rer Mutter auch in der Urne kleine ausgeschnittene Herzen gisches, Autos und Country Music. „On The Road ihrer Familie eine bunte Überurne gemacht. mit auf den Weg gegeben. Sie haben sich zum Gestalten in Again“ von Willie Nelson war eine sehr nageliegende Danielas Vater war Kunstmaler, und eines seiner Werke Omas Wohnung getroffen. Ein Bild von ihr stand auf dem Wahl. wurde oben auf der Urne befestigt. Tisch, daneben eine Kerze. F ür Julia war es ein schöner Prozess, die Überurnen zu gestalten. Darin konnte sie noch ganz viel Liebe ausdrücken. Sie freute sich über die Gelegenheit, den Als dann ihre Mutter starb, war es für Daniela klar, dass ihr dieselbe Ehre gebührt. Wieder hat die ganze Familie mitgeholfen. Der elfjährige Enkel malte für seine Omi ein Die Atmosphäre war geschäftig, traurig, heiter. Sie ha- ben einander viel erzählt. Daniela Dreher ist heute froh, dass sie das gemeinsam beiden etwas ganz Persönliches mitzugeben. Allerdings Eis, weil die beiden immer Eis essen waren. Die fünfjährige gemacht haben. Hin- konnten die Überurnen nicht mit ins Grab, weil die El- Enkelin malte für Oma ei- terher war die Urne tern in einem Friedwald beigesetzt wurden. Julia nahm nen Regenbogen und Vögel, weniger abstrakt, mehr die Überurnen also mit nach Hause, merkte aber bald: weil die schön sind und Oma persönlich. Es hat ihr Es fiel ihr etwas schwer, diese Überurnen bei sich in welche haben soll. Hinten geholfen, sich dem Un- der Wohnung zu haben. Inzwischen stehen sie in der drauf war ein Porsche zu begreiflichen, dem Tod Haller-Filiale in Stuttgart-Sillenbuch. Und Julia Sand- sehen, weil die Oma die so und auch der eigentlich mann mag das Gefühl, dass sie noch da sind. toll fand (und ihr Schwie- so abstrakten Einäsche- gersohn dort arbeitete). rung anzunähern. 18 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 19
Trauergruppen und Begleitung, Quellenangaben In eigener Sache · Veranstaltungen Trauergruppen und Begleitung Musikalischer Salonabend Von Mozart bis Ellington, Hospiz St. Martin · Jahnstraße 44-46 · 70597 Stuttgart Tel.: 0711 · 652 90 70 · www.hospiz-st-martin.de Hospiz Stuttgart · Stafflenbergstraße 22 · 70184 Stuttgart Tel.: 0711 · 237 41 52 · www.hospiz-stuttgart.de von Puschkin zu Achmatowa Einzelgespräche und -begleitung, Gesprächsgruppen Mittwoch, 12. Februar 2020 · 19:30 Uhr · Obere Weinsteige 23 · 70597 Stuttgart-Degerloch An diesem Abend nimmt uns der Musiker Vladimir Trenin mit auf eine Reise durch Musik aus Hospizgruppe Leinfelden-Echterdingen aller Welt. Er spielt auf einem Bajan, einem russisches Knopfakkordeon: Klassik und Jazz, Volks- Barbara Stumpf-Rühle Tel.: 754 17 33 ∙ Gudrun Erchinger Tel.: 756 05 14 ∙ Elfriede Wieland Tel.: 754 13 41 und Weltmusik. Zu hören sind auch Texte russischer Dichter, berührend-heiter bis sehnsuchtsvoll, von Puschkin bis Achmatowa. Hospizdienst Leonberg · Seestraße 84 · 71229 Leonberg Ein musikalisch-literarischer Salonabend im Bestattungshaus Haller. Tel.: 07152 · 335 52 04 · www.hospiz-leonberg.de Eintritt 15 Euro; die Zahl der Plätze ist begrenzt. Bitte anmelden über kultur@bestattungshaus-haller.de. Hospizdienst Ostfildern · Café für Trauernde Treffpunkt Ruit · Scharnhauser Straße 14 · 73760 Ostfildern-Ruit Stadtbahn-Haltestelle: Weinsteige oder Degerloch; Zacke: Haigst Vladimir Trenin Tel.: 0711 · 341 53 36 oder Tel.: 0711 · 616 099 Gesprächskreis & Gesprächsgruppe für Trauernde Hospiz Esslingen · Keplerstraße 40 · 73730 Esslingen · Tel.: 0711 · 13 63 20 12 · www.hospiz-esslingen.de Einzelbegleitung, Trauergruppen (donnerstags), Trauercafé (einmal im Monat, sonntags) Trauerwandern im Schwarzwald Verwaiste Eltern · Hubertus Busch · Seelsorger im Olgäle · Tel.: 0711 · 278 73 860 Zwei Tage Wandern und Coaching Vermittlung, Trauergruppen für Eltern, die ein Kind verloren haben Ganz neue Wege gehen Cäcilia Gemke und Jutta Offner. Beide sind passionierte Wanderführerinnen, und beide wissen, was es bedeutet, um einen lieben Menschen zu trauern. Sie nutzen ihre eigenen Arbeitskreis Leben · Römerstraße 32 · 70180 Stuttgart Tel.: 0711 · 60 06 20 · www.ak-leben.de Lebens- und Coaching-Erfahrungen, um andere Menschen mit auf den Weg zu nehmen und gemein- Einzel-, Paar- und Familiengespräche für Menschen, die einen Angehörigen durch Suizid verloren haben sam neue Perspektiven zu erschließen. Denn: Wandern wirkt. Man kann neue Wege gehen, loslassen, entspannen, nach vorne schauen. Kraft schöpfen in der Natur, Selbstvertrauen wiedergewinnen, neue Energie für die Herausforderungen des Alltags finden. Damit man das eigene Leben wieder selbst Lautenbachhof Quellenangaben gestalten kann und voller Zuversicht den neuen Lebensweg geht. Auf diesen Trauerwanderungen gibt es Übungen und Impulse, die dabei helfen sollen, sich selbst zu verstehen, den eigenen Weg zu würdigen und sich neu auszurichten. Und natürlich ist da viel Raum für Die Quellen der Bilder werden seitenweise angegeben, innerhalb der Seite jeweils von links nach rechts und von oben nach unten. Gespräche mit anderen, die auf demselben Weg sind. Umschlag: alles Adobe Stock / Fotolia Cäcilia Gemke ist Bergwanderführerin und zertifizierter Outdoor-Coach. Sie führt seit zwölf Jahren Seite 3: Lange Photography Seite 16: Fotolia, privat Menschen durch die Berge und hat mehr und mehr die Heilungskräfte der Natur erkannt. Seite 4 & 5: alle Simon Dittrich Seite 17: Christopher Koch Jutta Offner ist Wander- und Landschaftsführerin mit Schwerpunkt Schwarzwald. Seit vielen Jahren ist Seite 6 & 7: alle Adobe Stock Seite 18 & 19: alle privat sie dort unterwegs und kennt inzwischen nahezu jeden Stein. Jutta Offner Seite 8 & 9: alle Adobe Stock Seite 21: alle privat Seite 10 & 11: alle Adobe Stock Seite 22 & 23: Adobe Stock, Adobe Stock Einladung zum Wandern: Seite 12 & 13: alle Adobe Stock Seite 24 & 25: Adobe Stock, Adobe Stock Sa., 16. Mai, 10 Uhr bis So., 17. Mai, 16 Uhr. Lautenbachhof, 75385 Bad Teinach. Eigene Anreise. Seite 14 & 15: alle privat Seite 26 & 27: Adobe Stock, Adobe Stock Wandern und Coaching bieten die beiden ehrenamtlich an. Die Teilnehmerzahl ist auf 10 begrenzt. Kosten für Einzelzimmer und Vollpension: 164 Euro. Getränke kommen hinzu. Inhaltliche Beratung: Heiko Hauger · Texte, falls nicht anders angegeben: Andrea Maria Haller Eingeladen sind alle, die moderat fit sind und deren Trauerfall mindesten ein Jahr zurückliegt. Anmelden über www.montevida.de bis zum 27. April. Cäcilia Gemke 20 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 21
Wintermärchen Wintermärchen Josephine und das Singen der Bäume Was bisher geschah: An einem nicht allzu weit entfernten Wintertag war Josephine, ein singender Engel aus den oberen Etagen des himmlischen Chors, auf die Erde gekommen – aus lauter Neugier auf die Vergänglichkeit. Prompt hatte sie sich in den sehr vergänglichen Schneemann Herrn Hannibal verliebt. Als Herr Hannibal schmolz, erfuhr Josephine ihren ersten Verlust und erlebte den schmerzlichen Teil irdischer Vergänglichkeit. Josephine hat seither schon einige Abenteuer auf Erden erlebt: ein langes Gespräch mit einer Friedhofsmaus, welche die Geschichten der Menschen hütet, eine leicht irrationale Begegnung mit dem Weihnachtsmann, bei der beide das Ja-Sagen zum Leben wieder gelernt haben, und eine Wanderung, auf der Josephine ihren Ängsten begegnet ist und ihre Stimme wiederentdeckt hat. A ls Josephine in die Nähe des Waldes kam, hörte sie ein leises Säuseln. Ein Flüstern. Doch in dem Moment, in dem ihre Füße den Waldboden berührten, schien es zu verstummen. So wie Gesprä- che manchmal verstummen, wenn man ein Zimmer betritt, und alle haben über einen geredet. A ber sobald sie anhielt, um zu lauschen, schien es, als ver- stummten die Stimmen wieder. Nach einer Weile kam Josephine an eine Bank unter einer großen, alten Eiche und ließ sich seufzend nieder. wohler als in der Kargheit der Winter- monate. Mir geht es aber gar nicht so. Die Kargheit des Waldes spiegelt die Stimmung meiner Seele wider. Alles Josephine war unterwegs in den Wald, Der Engel helle Lieder – ach, wie Wieder lauschte sie in den Wald hi- ist leer. Ich wachse nicht nach außen, weil man ihr geraten hatte, dass der Wald sehnte sie sich. Sie sehnte sich nach nein. Und wirklich, nach einer Weile ich wachse nach innen. Die Verbin- ihrer Seele guttun würde. Dieser Wech- den Chorproben der Engel im Him- konnte sie die klaren Töne eines leise dung zum Leben, die ist innen. Ganz sel der Schatten, das Spiel mit Hell und mel, den sie verlassen hatte, um die gesungenen Liedes ausmachen. tief innen.“ Dunkel, all das sei gut für das Gehirn. Vergänglichkeit zu schmecken. „Was Das reaktiviere die Verbindung zwischen haben wir da oben nicht alles gesun- Nach grüner Farb „Ich will es aber probieren“, zischte mein Herz verlangt der rechten und linken Gehirnhälfte. Und gen!“ Michael hatte dieses wun- eine Stimme. in dieser trüben Zeit. helfe, Schwieriges, das man erlebt habe, derbare Halleluja komponiert und Der grimmig Winter währt so lang, besser zu integrieren. Außerdem seien die Raphael die Harmonien dazu entwi- der Weg ist mir verschneit. „Ich will auch“, keifte eine andere. Terpene, die heilsamen Düfte und Gerü- ckelt. Es war herrlich. Die gewaltigen Die süßen Vöglein jung und alt, J che im Wald, gut für das Immunsystem. Chöre der Engel. Wahrscheinlich die hört man lang nit meh´; osephine hörte ein Geräusch, aber Vor allem, wenn man sich ganz langsam war Herr Hannibal, der Schnee- das tut des argen Winters G’walt, bekam nicht richtig mit, was gesagt der treibt die Vöglein aus dem Wald bewege und stundenlang unter den Bäu- mann, Josephines große Liebe, wurde. Sie sah sich um, sah aber nie- mit Reif und kaltem Schnee. men verweile. jetzt mitten unter ihnen und brum- manden. Nah bei ihr waren nur zwei mte mit. „Wer das wohl singt?“, fragte sie sich schlanke Birken, die ein wenig abseits Also streifte Josephine ganz gemächlich und lächelte. der Eiche standen. durch den Wald. Immer wieder hielt sie Immer wieder hörte sie seltsame, an an, weil sie dachte, sie höre jemanden sin- Gesang erinnernde Geräusche. Da „Nach grüner Farb mein Herz ver- „Sie kann doch nicht ewig so rum- gen. Vielleicht hörte sie ja noch der Engel war etwas, aber sie wusste einfach langt. Ja“, dachte sie, „vielen geht nölen.“ „Das Leben geht weiter. Sie helle Lieder, jetzt an diesen Wintertagen? nicht, was. Vielleicht war sie auch es bestimmt so. Dem Wald geht es muss das verstehen. Komm, wir mun- schon ein wenig verrückt geworden in vermutlich so: Er fühlt sich in seinem tern sie auf!“ Eine andere tiefe Stim- dieser seltsamen Welt. sattgrünen Mantel des Sommers me sprach: „Lasst ihr Zeit. Das geht 22 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 23
Wintermärchen Wintermärchen Die Sonne ist eine Lüge. Die Welt im Frühling ist eine Lüge! Und über- haupt, wer singt da eigentlich?“ „Okay, das war vielleicht doch ein wenig zu heftig“, flüsterte eine der Birken. „Sie mochte es nicht“, antwortete die andere betreten. „Wir wollten sie doch nur aufmun- tern.“ „Ich habe eine andere Idee. Weißt du, sie freut sich doch immer so an den Vögeln. Da denkt sie, das seien Grü- ße aus dem Himmel.“ Und eine der Stimmen legte los: Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle! Die andere fiel mit ein: Welch ein Singen, Musiziern, Pfeifen, Zwitschern, Tiriliern! Frühling will nun einmaschiern, Aber hinterher schämte sie sich dachte sie. „Jeder Schritt ist eine und lass mich Wurzel treiben. kommt mit Sang und Schalle. gleich wieder dafür. Wenn jemand Verleihe, dass zu deinem Ruhm Form des Loslösens. Ich löse mich sie so sah? Er würde ja denken, sie ich deines Gartens schöne Blum immer wieder von dem Boden, Josephine lauschte. „Ja, die Vögel“, hätte Herrn Hannibal nicht geliebt. und Pflanze möge bleiben. den meine Füße bedeckt haben, dachte sie. „Es ist immer so nett, Aber das stimmte nicht. Es war ein- um mich auf etwas Neues, Unbe- wenn Herr Hannibal an mich denkt fach ein ewiges Hin und Her. Es gab Zufrieden blickte Josephine sich um. kanntes einzulassen. Etwas, von und mir einen kleinen Gruß vom Momente, da spürte sie ganz tief die Sie fühlte sich spontan geborgen in dem ich noch nicht weiß, wie es Himmel schickt. Und diese kleinen Verbindung zur Herrn Hannibal in diesen großen, hoffnungsvollen Tö- sich anfühlen wird. Und manch- Kreaturen zu beobachten, tut meiner einer Art süßem Schmerz. Und Mo- nen, wer auch immer es war, der mal bin ich hin- und hergerissen: Seele einfach gut.“ mente, da lag das Leben vor ihr, frei da mit ihr sang. „Das Leben wird zwischen der Sehnsucht nach dem und jung wie ein Maienmorgen. wieder gut werden“, dachte sie. „Es Vertrauten, nach dem Boden, den J nicht von heute auf morgen.“ „Doch. osephine hielt sich die Hände Was sie uns verkünden nun, wird wieder gut werden.“ ich kenne, und dann wieder nach nehmen wir zu Herzen: Wir probieren es jetzt!“ Und dann hoben die Stimmen an zu singen. vor die Ohren und schrie: „Hört auf! Hört auf! Wer auch immer ihr seid.“ Josephine hasste dieses Lied. Wir auch wollen lustig sein, lustig wie die Vögelein, L angsam summte sich vor sich hin, als singe sie für sich selbst. Ganz zögerlich. Die Birken sahen den Wandel in Jo- sephines Stimmung. dem Neuen, Unbekannten, dem Fremden, dem Abenteuer. Aber ich hebe meinen Fuß in die Luft – hier und dort, feldaus, feldein, Veronika, der Lenz ist da, „Ich will keinen Frühling. Ich will singen, springen, scherzen. und siehe, sie trägt.“ Veronika, Veronika, der Lenz ist da! keine frischen Blumen, keine grünen Geh aus, mein Herz, „So wird es sein“, dachte Josephine. und suche Freud A Veronika, der Lenz ist da, Wiesen. Ich will in diesem Winter ber sich so ganz diesem wilden „Wir werden wieder vereint sein. „Au, jetzt wird sie ganz philoso- die Mädchen singen tralala. in dieser lieben Sommerzeit bleiben, da, wo Herr Hannibal ist. Leben zuwenden – das fiel ihr an deines Gottes Gaben; Wir werden wieder zusammenkom- phisch“, murmelte eine der Bir- Die ganze Welt ist wie verhext, Veronika, der Spargel wächst! Ich will durch den Schnee die Ver- so schwer. Singen, springen, scherzen? Schau an der schönen Gärten Zier, men! Ich spüre es. Und bis dahin ken, für Josephine unhörbar. Veronika, die Welt ist grün, bindung mit Herrn Hannibal spüren Sie musste zugeben, es gab so manchen und siehe, wie sie mir und dir werde ich noch viel im Wald spazie- drum lasst uns in die Wälder ziehn. und wissen, in jeder Flocke ist etwas Moment, da war ihr danach. Aber im- sich ausgeschmücket haben. ren gehen müssen.“ „Gleich fängt sie bestimmt wieder Sogar der Großpapa sagt zu der von Herrn Hannibal geborgen. Ich mer nur kurz, für ein paar Minuten. an zu weinen.“ Dann stimmten die Bäume mit ein: Großmama: Veronika, der Lenz ist da, Veronika, Veronika, der Lenz ist da! will das Kalte und Düstere. Denn so fühlt sich meine innere Welt an. Das darf mir niemand wegnehmen! Wenn sie mit anderen zusammen war, die sie verstanden. Wenn sie für ein paar Momente vergessen konnte. Mach in mir deinem Geiste Raum, dass ich dir werd ein guter Baum, U nd ihre Gedanken spazierten in eine neue Richtung. „Ge- hen ist schon was ganz Besonderes“, „Ich kann es nicht mitansehen.“ 24 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 25
Wintermärchen Wintermärchen „Au, nein, nicht!!“, jammerten die Birken dazwischen. „Nicht. Nicht reden lassen. Sie hört nimmer, nim- mer auf, und dann weint sie wieder. Und dann waren all unsere Mühen, sie aufzumuntern, vollkommen um- sonst.“ „Du stürzt sie zurück ins Unglück.“ „Das ist unerträglich.“ „Das hält keiner aus.“ D ie Eiche lächelte und ließ ihre Äste sanft im Wind wippen. „Unerträglich für wen? Das hält wer nicht aus? Ihr oder sie?“, wandte sie sich an die Birken. Die Birken schauten sie verwundert an. „Ist doch dasselbe“, stammelten sie. „Ist es das?“ Josephine blickte verwundert um sich. „Wer spricht denn da die ganze Zeit?“ „Ach, das sind nur wir, Josephine.“ sagt die Eiche freundlich. „Die Bäu- me des Waldes, wir plappern immer „Eigentlich singe ich auch ganz „Ja“, nickte Josephine und lächelte. zuhören könnt. Vielleicht, vielleicht so vor uns hin. Die meisten stört das gerne“, sagte Josephine. „Aber seit Ihre Augen leuchteten, als sie sprach. singt Herr Hannibal ja auch genau nicht. Sie hören es eigentlich gar Herr Hannibal geschmolzen ist, hat Ein wehmütiges Lächeln schlich sich in diesem Moment mit den Engeln, nicht. Sie denken, wir rascheln und es mir die Stimme verschlagen, und über ihr Gesicht. lautstark und brummelnd tief, ja, rauschen mit den Ästen im Wind das Singen fällt mir unglaublich vielleicht.“ und hätten nichts zu sagen. Man muss schon gut hinhören, um uns zu schwer. Es rührt mich so tief, dass ich mich gar nicht traue. Im Him- D ie beiden Birken blickten einan- der an und rollten mit den Au- Und sie sprach und sprach und er- „Pssst!“, schalt die Eiche. „Lasst ihr doch etwas Zeit. Zeit ist das größte Geschenk, das ihr ihr geben könnt.“ J osephine war verwirrt. „Höre ich Stimmen in meinem Kopf? Oder habe ich soeben einen Baum spre- verstehen.“ „Nun“, dachte sich Josephine, mel, bei den Chorproben, bin ich immer in der ersten Reihe gestan- den. Voller Inbrunst habe ich mich gen. „Siehste, genau das ist es. Das hört jetzt nie wieder auf“, flüsterten sie der Eiche zu. zählte den geduldig lauschenden Bäumen von jeder Sekunde mit Herrn Hannibal. Und als sie fertig chen hören? Hallo?“ „eigentlich dürfte mich das nicht dem Singen hingegeben. Aber jetzt war, stand sie einfach auf und ging „Und das Schwerste!“, nörgelte eine überraschen. Schließlich kann ich kann ich gar nicht mehr singen“, ge- „Hat es schon einmal nie wieder aus dem Wald hinaus. Sie ging an- der Birken. „Hallo“, antwortete die Eiche ja auch Schneemänner reden hö- stand Josephine den Bäumen. „Da- aufgehört?“, fragte die Eiche die ders aus dem Wald hinaus, als sie hi- freundlich. ren.“ bei bin ich doch ein Engel. Im Win- Birken mit einem Stich Ironie in der neingegangen war. Aufrechter, hoff- „Zeit kann doch nicht alles sein“, ter haben wir Hochsaison. Aber Stimme. nungsvoller und gar ein klein wenig stimmte die andere mit ein. „Dann „Hm. Bist du ein sprechender Baum?“ „So, also ihr Bäume redet, und, hm, es war auch Winter, als ich Herrn lebensfroh. können wir sie ja gleich ganz alleine habt ihr vorhin auch gesungen?“ Hannibal kennengelernt habe, und Josephine wiegte sich. „Ach, ich lassen, und das ist auch nicht gut.“ „Auch das bin ich. Aber noch viel kurz darauf ist er geschmolzen. Da könnte euch stundenlang davon Dass sie die Bäume hat singen hö- mehr. Ich bin ein hörender Baum, „Jawohl!“, riefen die Birken. „Wir will ich gar nicht dran denken.“ vorschwärmen. Diese wunderbaren ren, blieb ihr Geheimnis. „Josephine“, sprach die Eiche sie also ein zuhörender Baum. Und haben gesungen. Wir singen für un- Erinnerungen, sie sind so unglaub- nun laut und deutlich an. „Josephi- ich würde gerne alles über Herrn sere Leben gern. Singen ist so ge- „War das nicht auch der Moment, lich kostbar. Ach, ist das schön, dass Alle Märchen finden Sie unter ne, magst du uns von Herrn Hanni- Hannibal hören. Alles. Erzähl mir sund, eigentlich müsste es der Arzt in dem du ihn zum Singen gebracht ihr geduldig seid, wie nur Bäume es www.bestattungshaus-haller.de/ bal erzählen?“ …“ verschreiben.“ hast?“, fragte die Eiche. sein können, und dass ihr so endlos trauergeschichten/ 26 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 LebensZeiten ∙ Ausgabe 25 27
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