Leif Ove Andsnes - Mittwoch 09.11.22 - Berliner Philharmoniker
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Kammermusiksaal Leif Ove Andsnes Klavier Mittwoch, 09.11.22, 20 Uhr Serie Klavier C. Bechstein Concert C 6 Klavier Kirill Petrenko Chefdirigent und künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker GEHEN SIE MIT UNS AUF EINE Andrea Zietzschmann KLANGREISE IN UNSEREM CENTRUM Intendantin der Stiftung Berliner P hilharmoniker C. Bechstein Centrum Berlin · Kantstraße 17 · 10623 Berlin +49 (0)30 2260 559 100 · berlin@bechstein.de · bechstein-berlin.de
Programm Alexander Wustin (1943–2020) Antonín Dvořák (1841–1904) Lamento Poetische Stimmungsbilder op. 85 Dauer: ca. 3 Min. 1. Nächtlicher Weg. Allegro moderato 2. Tändelei. Allegretto leggiero 3. Auf der alten Burg. Allegro molto Leoš Janáček (1854–1928) 4. Frühlingslied. Poco allegro Klaviersonate 1.X.1905 »Von der Straße« 5. Bauernballade. Allegro giusto 6. Klagendes Gedenken. Andante 1. Předtucha (Die Ahnung) 7. Ein Tanz. Allegro feroce 2. Smrt (Der Tod) 8. Koboldstanz. Allegretto 9. Serenade. Moderato e molto cantabile Dauer: ca. 15 Min. 10. Bacchanale. Vivacissimo 11. Plauderei. Andante con moto 12. Am Heldengrabe. Grave. Tempo di marcia Valentin Silvestrov (geb. 1937) 13. Am heiligen Berg. Poco lento Bagatelle op. 1 Nr. 3 Dauer: ca. 55 Min. Moderato Dauer: ca. 5 Min. Ludwig van Beethoven (1770–1827) Klaviersonate Nr. 31 As-Dur op. 110 1. Moderato cantabile molto espressivo – 2. Allegro molto – Digital Concert Hall Fotoaufnahmen, Bild- und Tonaufzeich 3. Adagio ma non troppo – Fuga: Allegro ma non troppo Dieses Konzert wird live in der Digital nungen sind nicht gestattet. Concert Hall übertragen und wenige Tage Bitte schalten Sie vor dem Konzert Dauer: ca. 20 Min. später als Mitschnitt im Archiv veröffentlicht. Ihre Mobiltelefone aus. digitalconcerthall.com Die Stiftung Berliner Philharmoniker wird gefördert durch: Pause 2 Saison 2022/23 3 Programm
In jeder Note Leben und Tod Klavierabend mit Leif Ove Andsnes Lamento nennt Alexander Wustin sein knapp dreimi- nütiges Klavierstück von 1974. Der russische Komponist greift damit eine Form auf, die seit der Barockzeit zur Darstellung von Trauer und Klage dient. Leif Ove Andsnes stellt das Stück Leoš Janáčeks aufgewühlt an- klagender Klaviersonate 1.X.1905, Valentin Silvestrovs melancholisch-tröstlicher Bagatelle und Beethovens As-Dur-Sonate op. 110, die ebenfalls ein ergreifendes, groß angelegtes Lamento enthält, voran. Befreiung von Trauer durch die Klage kann hier noch gelingen. Selbst Antonín Dvořáks lieblichere Poetische Stim- mungsbilder entbehren nicht der tiefernsten und tra- gischen Töne. Auch hier lässt sich erfahren, wie »in jeder einzelnen Note Leben und Tod zu finden« sind – eine Erkenntnis, die Andsnes von seinem tschechi- The Pain of Orpheus, Gemälde schen Lehrer Jiří Hlinka empfing. von Dagnan-Bouveret, 1876 4 Saison 2022/23
Leoš Janáčeks Komposition zum Gedenken an einen Arbeiter, der am 1. Oktober 1905 bei einer Demonstration ums Leben Alexander Wustin kam, ist von erschreckender Aktualität. Während ich Ende September 2022 diese Zeilen schreibe, werden jeden Tag junge Lamento Iranerinnen und Iraner bei Demonstrationen in Teheran ge tötet, und auch in Russland riskieren mutige Menschen ihr Leben und protestieren auf den Straßen gegen einen brutalen Krieg. Janáčeks Sonate spricht von derselben Wut und Trauer, die wir angesichts des sinnlosen Krieges in der Ukraine fühlen. Quasi als Nachtrag zu Janáčeks Werk spiele ich eine Bagatelle des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov, ein träumerisches Eine absteigende, häufig chromatisch geführte und in einer Fragment, das von einer vergangenen Zeit erzählt und von der Seufzerfigur endende Linie ist Kennzeichen des Lamentos, einer Hoffnung auf eine bessere Zukunft. barocken Form, die fast jeden Klagegesang der Musikgeschich- te seit dem 17. Jahrhundert prägt. Der Mitte des 20. Jahrhun- 2019 lud ich den Komponisten Alexander Wustin zum Rosendal derts geborene russische Komponist Alexander Wustin fand für Kammermusikfestival nach Norwegen ein. Wustin war damals den Ausdruck seiner Trauer hingegen eine andere Lösung. 76 Jahre alt, und für ihn war es erst das zweite Mal, dass er Russ- land verließ. Die langen Jahre der Unterdrückung durch das Regime in seiner Heimat hatten ihn gezeichnet, und es war sehr Wustins Lamento hält ein Gleich bewegend, ihn und seine Musik kennenzulernen und zu erleben, gewicht zwischen Trauer und Lebens- wie konzentriert und mit jeder Faser seines Körpers er den Auf- führungen von Dmitri Schostakowitschs Musik bei unserem Festi- bejahung. val lauschte. Ich war sehr traurig, als ich im April 2020 hörte, dass er in einer der ersten Coronawellen in Moskau gestorben war. Während einer Beerdigung hörte er, wie ein kleiner Vogel zu singen begann. Sein Lamento für Klavier solo von 1974 – ur- Wustins Lamento schlägt eine Brücke zum »klagenden Ge- sprünglich für Flöte und Gitarre komponiert – setzt den Kontrast sang« im 3. Satz von Beethovens op. 110, einer innigen, opern- von Leben und Tod sinnfällig in Töne um: Pendelnden Doppel- haften Arie im Zentrum dieser kompakten Klaviersonate, in der griffen der linken Hand, einen »Trauerzug« wiedergebend, gewissermaßen »hohe« und »niedere« Kunst nebeneinander antworten Triller und Läufe der rechten Hand wie lebensbe- stehen, wenn man die Spiritualität der Arien und Fugen im jahende Vogelrufe. Immer ausladender wird der Gesang, bis letzten Satz mit dem kindlichen Volksliedton des Scherzos ver- er gar in Sprüngen mündet. Die unregelmäßigen Rhythmen gleicht. geben dem Lamento den Charakter einer freien Improvisation. Das Stück, das trotz freier Harmonik in düsterer Mollstimmung »Hohe« und »niedere« Kunst reichen sich auch die Hand in den beginnt und von teils atonalen Melodien geprägt ist, endet in 13 programmatischen Stücken von Antonín Dvořáks Poetischen tröstlichem Dur. Stimmungsbildern op. 85. Musikalische Kurzgeschichten wie Nächtlicher Weg oder Auf der alten Burg stehen neben Alltags bildern wie Tändelei oder Plauderei. Klagendes Gedenken schlägt einen introvertierten Ton an, während Am Heldengrabe sich überaus dramatisch gibt. Das Bacchanale ist von ausge lassener Virtuosität und die Serenade wächst sich zu einem überaus anrührenden Liebeslied aus. In der Pandemie hatte ich endlich Zeit, mich mit diesem sträflich vernachlässigten Zyklus Entstehungszeit zu beschäftigen, und diese lebensbejahende, einfallsreiche und 1974 originelle Musik war eine wunderbare Entdeckung für mich. Uraufführung Leif Ove Andsnes Datum nicht nachgewiesen 6 Saison 2022/23 7 Werkeinführungen
Leoš Janáček Klaviersonate 1.X.1905 »Von der Straße« Das im 19. Jahrhundert in ganz Europa aufkommende Natio- nalbewusstsein prägte Leoš Janáčeks Musiksprache entschei- dend. Auch im mährischen Brünn, das bis zum Ersten Weltkrieg zu Österreich-Ungarn gehörte und in dem Janáček sein Leben lang wirkte, nahmen die Konflikte zwischen der tschechisch- und deutschsprachigen Bevölkerung, die damals über 60 Pro- zent ausmachte, zu. Im Verlauf seines Lebens wandte sich Janáček immer mehr dem Panslawismus zu, der eine kulturelle, religiöse und politische Einheit aller slawischen Völker in Europa anstrebte, und wählte für seine Opern russische Sujets, ließ sich von Volksliedern und altslawischen Kirchengesängen in- spirieren. Melodie und Rhythmus der tschechischen Sprache mit ihren speziellen Betonungsregeln übertrug er auf seine Musik – ihren Tonfall nannte er »eine Quelle tiefster Wahrhei- ten« und die gewonnenen Sprachmotive »meine Fensterlein in die Seele«. Von traditionellen Form- und Harmoniemodellen entfernte er sich damit radikal und fand seinen ganz eigenen Weg in die Moderne. Die Sonate 1.X.1905 »Von der Straße« ist von einem realen Vorfall Alexander Wustin, 1980er-Jahre in Janáčeks Leben inspiriert. Die Klaviersonate 1.X.1905 »Von der Straße« ist von einem konkreten Vorfall in Janáčeks Leben inspiriert: Während einer Demonstration zur Errichtung einer tschechischen Universität in Brünn kam es zu Straßenkämpfen zwischen tschechischen Be- fürwortern und deutschen Gegnern; dabei wurde der Arbeiter František Pavlík durch einen Bajonettstoß der deutschen Polizei getötet. Unmittelbar unter dem Eindruck dieser Erlebnisse komponierte Janáček seine zweisätzige Sonate, die heftige Emotionen, Schmerz und Empörung ausdrückt. Wie in einer Ballade erhebt sich das zart klagende Hauptthema zu Arpeggien der linken Hand, doch schon im vierten Takt stört ein unwirsches, rhythmisch 8 Saison 2022/23 9 Werkeinführungen
scharfes Motiv den Erzählton – ein Motiv wie eine Gewehrsalve, Einbruch einer bedrohlichen Realität. Durch Überbindungen und Akzente überführt dieses Motiv den vorherrschenden Sechsachtel- in einen Vierachteltakt; diese beiden rhythmischen Modelle kämpfen in der Begleitstimme den ganzen Satz lang gegeneinander. So entsteht eine permanente Unruhe, die der Überschrift des Satzes, die Die Ahnung lautet, Rechnung trägt. Die Ungewissheit der Vorahnung von etwas Schrecklichem wird mit dem Thema des zweiten Satzes erfüllt, das aus dem ersten Thema des ersten Satzes abgeleitet ist. Aus seinem erstarrenden Rhythmus befreit es sich langsam mit einem wilden, Schreien gleichenden Ausbruch, dem durch eine punktierte Tremolobe- wegung wiederum etwas Schleppendes, Vergebliches anhaftet. Kurz vor der Uraufführung des Werkes 1906 vernichtete Janáček den letzten, ursprünglich dritten Satz und warf die noch verbliebenen beiden Sätze nach einer privaten Auffüh- rung in Prag in die Moldau: »Das Zeug wollte nicht versinken«, erinnerte er sich, »das Papier bauschte sich und segelte wie weiße Schwäne auf dem Wasser«. Anlässlich der Feierlichkeiten zu Janáčeks 70. Geburtstag 1924 spielte jedoch die Pianistin Ludmila Tučková, die das Werk in der genannten privaten Aufführung gespielt hatte, das Werk erneut aus ihren eigenen Noten. Dem Fragment erteilte Janáček schließlich seine Zu- stimmung. Leoš Janáček, 1904 Entstehungszeit 1905/06 Uraufführung 27. Januar 1906 in Brno mit Ludmila Tučková 10 Saison 2022/23 11 Werkeinführungen
Valentin Silvestrov Bagatelle op. 1 Nr. 3 Arvo Pärt bezeichnete ihn als »einen der größten Komponisten unserer Zeit«: Valentin Silvestrov. Und dennoch ist das Werk des 1937 geborenen ukrainischen Komponisten bei uns noch vergleichsweise unbekannt, auch wenn profilierte Interpretin- nen und Interpreten wie Hélène Grimaud, Gidon Kremer oder Alexei Lubimov in den vergangenen Jahren seinen Werken zunehmend Gehör verschafft haben. Silvestrovs Musik spricht direkt aus sich selbst heraus, aus seinem Empfinden und seiner Zeit. Er erkundet die nie versiegenden Möglichkeiten von Melo- diebildungen mit einer ganz eigenen Tonsprache, die von einer großen Weite und einer unglaublichen Vielfalt geprägt ist. »Einer der größten Komponisten unserer Zeit«. Arvo Pärt über Valentin Silvestrov Valentin Silvestrov nimmt stilistisches Material vergangener Epochen auf und stellt es in einen neuen Kontext, indem er es kompositorischen Verfahren des 20. Jahrhunderts unterzieht. Seine Musik hat etwas Körperloses, sie ist sehr transparent und emotional. So auch seine kurze Bagatelle op. 1 Nr. 3, über die der Komponist sagte: »Im Jahr 2000 habe ich angefangen, klei- ne Stücke in der Art von Bagatellen zu schreiben […]. Bagatellen sind kostbar, weil sie überhaupt nicht ideologisch befrachtet sind und der schöpferische Akt immer blitzschnell passiert […]. Wenn du das Stück auf dem Klavier wiedergeben kannst, ist es Valentin Silvestrov, 2022 schon fertig, auch wenn es noch nicht aufgeschrieben ist. So- bald dann die Musik in Noten notiert ist, entfernst du dich schon von ihr – der Text beginnt selbstständig zu existieren.« Entstehungszeit 2005 Uraufführung Datum nicht nachgewiesen 12 Saison 2022/23 13 Werkeinführungen
Ludwig van Beethoven Klaviersonate Nr. 31 Die As-Dur-Sonate op. 110 widerspricht allen Klischees des heroischen Künstlers, der den Sieg über alle Widrigkeiten er- ringt. Vielmehr kann sie als ein Leidensprotokoll gelten. In der Tat machte Beethoven zur Entstehungszeit seiner 31. Klavier- sonate eine akute Krise durch. Er war inzwischen völlig ertaubt – es liegen Berichte vor, wie er an seinem letzten Flügel, dessen Saiten bereits verstärkt waren, immer wieder verzweifelt denselben Ton anschlug, ohne etwas zu hören. Die berühmte »Bebung« zu Beginn des dritten Satzes, die 26-malige, immer leiser werdende Wiederholung des hohen A, mag das wider- spiegeln. Zudem litt er im Sommer 1821 unter einer schweren Gelbsucht, die ihn arbeitsunfähig machte. Auch den Gedanken an eine Ehe hatte Beethoven aufgeben müssen, ein Sorge- rechtsstreit um seinen Neffen Karl belastete ihn schwer, zuneh- mende Krankheiten raubten ihm Kraft und Inspiration. Beethoven durchlebte während der Komposition seiner 31. Klaviersonate eine akute Krise. Der erste Satz beginnt mit einem schlichten gesanglichen Thema, con amabilità – »sanft oder liebenswürdig« – vorzu- tragen. Es spinnt sich über pochenden Terzrepetitionen in die Ludwig van Beethoven. Gemälde von Ferdinand Höhe fort und mündet in eine Passage von 32stel-Figuren. Das Georg Waldmueller, 1823 zweite Thema ist ihm verwandt, eine über Basstrillern ekstatisch aufwärtsstrebende Linie, die sich auf tieferer Ebene zu Akkord- begleitung wiederholt. Ins Extreme auf- und absteigende Be- wegungen kennzeichnen den gesamten Prozess dieser Sonate, öffnen damit einen weiten Klangraum. Die selbstvergessene Idylle des ersten Satzes – Richard Wagner nannte ihn »Frühlings Erwachen« – wird vom folgenden Allegro molto jäh hinweggefegt. Dieser zweite Satz erfüllt die Funktion eines Scherzos, ohne so bezeichnet zu sein. Seine absteigende Akkordfolge hat etwas Grobes, Ungeschliffenes – Beethoven greift hier auf zwei Gassenhauer zurück, und das klassische 14 Saison 2022/23 15 Werkeinführungen
Gleichmaß bringt er darüber hinaus durch rüde Akkordschläge und unerwartete Pausen gehörig ins Wanken. Der Mittelteil Antonín Dvořák setzt diese »Verrücktheit« fort, indem er einer verwickelten, aus höchsten Höhen herabstürzenden Linie der rechten Hand Poetische Stimmungsbilder horrende Sprünge der linken entgegensetzt. Dass hier etwas Katastrophales eingetreten sein muss, zeigt sich deutlich im dritten Satz, in dem zwei Adagio- und zwei Fugen- teile unmittelbar ineinander übergehen: Der klagende Tonfall des Adagios verwendet die gleiche absteigende Tonfolge wie das Scherzo. Dieses Arioso ist eine echte Lamento-Szene, Dvořáks Klavierwerke lassen sich in zwei schmalen Bändchen die der Arie »Es ist vollbracht« aus Johann Sebastian Bachs unterbringen. Zwar verstand auch er virtuos für das wichtigste Johannes-Passion ähnelt. Die Fuge scheint alles wieder ins Lot Instrument des 19. Jahrhunderts zu schreiben. Der solistische Part zu bringen. Doch statt in der Tonart As-Dur zu enden, erfolgt seines einzigen Klavierkonzertes stellt trotz symphonischer Ein- ein Absturz in finsteres g-Moll. Von tieferer Stufe aus als zuvor gebundenheit beträchtliche Ansprüche, und seine populärsten beginnt das A rioso erneut, jedoch so geschwächt, in so zerrisse- Werke, die Slawischen Tänze, erschienen auch in einer vierhän- nen Rhythmen, dass man nur noch ein Stammeln wahrnehmen digen Fassung für Liebhaber. Doch ein Klavierkomponist, etwa kann. Zehnmalige G-Dur-Akkorde wirken wie Glockenschläge, wie sein Konkurrent Bedřich Smetana, ist Dvořák nie gewesen. wie Weckrufe. Die Fuge setzt darauf in der Umkehrung ein, Sein angestammtes Instrument war die Bratsche. Dennoch war braucht allerhand kontrapunktische Finessen, bis sie die retten- das Klavier ihm unverzichtbar, als Komponierhilfe, die manches de Grundtonart erreicht: der Aufstieg ist schwer erkämpft. Orchesterwerk zunächst als Klavierstück entstehen ließ. Die Poetischen Stimmungsbilder op. 85 begleiteten Dvořák auf seinem Weg zur Programmmusik. In treuer Gefolgschaft zu seinem Freund und Förderer Johannes Brahms pflegte der Tscheche zuerst die absolute Musik, die auf außermusikalische Inhalte verzichtete. Doch mit etwa Mitte 50 war Schluss mit Symphonie und Sonaten. Sein Freund Leoš Janáček konnte in Dvořáks Streichquartett G-Dur, das in dieser Zeit entstand, kaum noch »kompositorische Verarbeitung« erkennen, sondern vielmehr Themen wie »Individuen, deren expressive und rheto- rische Qualitäten vor allem anderen interessieren«. Der programmatische Charakter der Poetischen Stimmungs- bilder beschränkt sich zuvorderst auf die Titel der Stücke, wie Dvořák selbst in einem Brief an seinen Verleger Simrock be- merkte: »Die Kompositionen werden Ihnen gefallen. Jedes Stück wird einen Titel haben und soll etwas zum Ausdruck bringen, also gewissermaßen eine Programmmusik, jedoch eine im Sinne Schumanns.« Robert Schumann hatte die Titel seines Klavierzyklus Kinderszenen als »eigentlich nichts als feinere Fingerzeige für Vortrag und Auffassung« bezeichnet. Dennoch solle man »zufällige Eindrücke und Einflüsse« gedanklicher oder Entstehungszeit visueller Art »nicht zu gering veranschlagen«, die unbewusst die 1821 kompositorische Fantasie beeinflussen könnten. Uraufführung Datum nicht nachgewiesen Dvořák bezog diese Eindrücke für seine 13 Klavierstücke aus seiner unmittelbaren Umgebung: vom Zauber der Landschaft 16 Saison 2022/23 17 Werkeinführungen
seines Sommersitzes Vysoká, von magischen, nationale Ge- fühle wachrufenden Orten, Volksmusiken, Alltagsszenen und Erinnerungen. Was etwa kann auf einem Nächtlichen Weg, wie das erste Stück heißt, alles geschehen: Sorglosem Ausschreiten steht eine flackernde Stakkatopassage in h-Moll gegenüber – Spukgestalten Schumann’scher Art ebenso imaginierend wie innere Unruhe. Fast immer kontrastiert ein Mittelteil zwei das Sujet gestaltende Eckteile, wobei Virtuosität und Intensität bei Wiederholungen meistens gesteigert werden. Landschaften, Volksmusik, Alltags- szenen und Erinnerungen: all das reflektierte Dvořák in seinen Stimmungsbildern. Dabei gehen an dem Spätromantiker Dvořák auch die har- monischen Neuerungen der aufkommenden Größen des Jahrhundertendes, etwa eines Richard Strauss oder Debussy, nicht ganz spurlos vorüber, und er beginnt mit den Tonarten zu experimentieren. So changiert Auf der alten Burg zwischen Es-Dur und Ges-Dur, um im Mittelteil in alte kirchentonartliche Wendungen zu sinken; Auch der Nächtliche Weg steht in H-Dur, obwohl er mit nur zwei Kreuzvorzeichen in D notiert ist. In finste- rem as-Moll fegt ein Furiant alles beiseite, auch ein im eigentlich gleichtönenden gis-Moll gehaltenes Klagendes Gedenken. Der Furiant ist ein schneller böhmischer Volkstanz, den der Wechsel zwischen 2/4- und 3/4-Takt kennzeichnet; im aus dem Lateini- schen abgeleiteten Namen steckt noch die Furie. Wie aus einer Spieluhr erklingt dagegen der Koboldstanz. Abrupte Stim- mungswechsel kennzeichnen die Bauernballade, ausgelassene Fröhlichkeit stürzt in dunkle Melancholie. Dvořáks Virtuosität ist orchestral, vollgriffig – in Am Heldengrabe hört man förm- lich die Hörner und Posaunen schmettern, denen schneidende Antonín Dvořák, 1879 Trompetenklänge antworten. Isabel Herzfeld Entstehungszeit 1889 Uraufführung 03. November 1889 (Nr. 1, 2, 3 und 4) in Tábor durch Elsa Nedbalová, 20. November 1889 (Nr. 6, 11, 12 und 13) in Prag durch Hanuš Trneček 18 Saison 2022/23 19 Werkeinführungen
Leif Ove Andsnes Wenn Leif Ove Andsnes als Pianist von »meisterhafter Eleganz« am Flügel Platz nimmt, »passieren außer- Klavier gewöhnliche Dinge« (New York Times). Als einer der »begabtesten Musiker seiner Generation« (Wall Street Journal) begeistert er weltweit in Orchesterkonzerten und Rezitals mit souveräner Technik und geradlinigen Interpretationen, die von einem klaren, strukturierten, hochpoetischen und immens farbenreichen Spiel getragen werden: »Ich spiele auf einem Instrument, bei dem Hämmer die Saiten anschlagen. Wenn man das objektiv betrachtet, dann ist das Klavier eine Art Perkussionsinstrument – aber ein wunderbares, das man auf so viele unterschiedliche Weisen ein- setzen kann.« Der norwegische Pianist gastiert bei den führenden Orchestern und gibt Soloabende in den großen Konzertsälen der Welt wie in New York, London, Wien, Berlin, München, Amsterdam und Kopenhagen. Zudem ist er ein begeisterter Kammer- musiker und Gründungsdirektor des norwegischen Rosendal Chamber Music Festival. Bei seinen Klavier- abenden, sagt er, gehe es ihm immer um »eine gute Mischung« von Bekanntem und Exotischem: »Mein Lehrer Jiří Hlinka regte mich sehr dazu an, die unbe- kannten Gefilde des Repertoires zu erforschen. Ich staune immer wieder darüber, wie viele Meisterwerke es noch zu entdecken gibt.« Von seinen circa 30 CD- Einspielungen, die das Repertoire von der Zeit Bachs bis zur Gegenwart umfassen, wurde über ein Drittel für den Grammy nominiert. 20 Saison 2022/23 21 Biografie
Technobuddhismus: LuYangs DOKU Experience Center im PalaisPopulaire Traditionelle Tempelarchitekturen, utopische Stadtlandschaften, das Außergewöhnliche ist, bezaubernde Dschungelparadiese. Eine atemberaubende virtuelle dass LuYang in immersiven Reise, die durch Leben, Tod und Wiedergeburt führt. Buddhistische Videoinstallationen und Com- Götter, Geister und Dämonen, die aussehen wie die Superhelden puterspielen diese Zukunfts- aus Computerspielen oder Sänger in koreanischen Boybands: visionen mit globaler Popkul- LuYang ist „Artist of the Year“ 2022 der Deutschen Bank und zählt tur, Electro, Trance, Techno zu einer jungen, von Science-Fiction, Manga-, Gaming- und Techno- und buddhistischen Kosmo- kultur inspirierten Generation chinesischer Künstler*innen, die mit logien zusammenbringt. aktuellsten Technologien arbeiten und sich mit den Ideen von Post- oder Transhumanismus beschäftigen. Dabei wird darüber spekuliert, DOKU ist ein genderneutraler wie sich die Grenzen menschlicher Möglichkeiten durch den Einsatz Avatar, dessen Antlitz nach LuYang, DOKU Heaven, 2022, Aus der Serie Bardo #1 von Hightech erweitern lassen, etwa in der Form von Cyborgs. Doch LuYangs Gesicht modelliert ist. Alle Gesichtsausdrücke und Bewegungsmuster werden von Tänzer*innen ausgeführt und dann mit der Motion-Capture-Tech- nologie digitalisiert. Die Ausstellung DOKU Experience Center im PalaisPopulaire ist die erste Schau, die komplett diesem Projekt gewidmet ist. In einer Art Hightechlabor können die Besucher*innen miterleben, wie LuYangs digitale Inkarnationen die Himmel und Höllen von Samsara, dem buddhistischen Lebensrad, durchwan- dern, um sich vom Selbst zu befreien. Der Idee einer festen Identi- tät stellt LuYang eine digitale Existenz im Internet gegenüber, die keine Beschränkungen von Zeit und Raum mehr kennt, keine Gren- zen, Nationen und Geschlechter. LuYangs künstlerischer Kosmos verkörpert dabei keine Traumwelt. Vielmehr verdeutlicht er die © LuYang, courtesy the artist and Société, Berlin ebenso traumartige, illusionistische Natur der physischen Existenz, die wir als „wirklich“ empfinden – ein meditativer, mitreißender Trip, der alle Sinne beansprucht. LuYang: DOKU Experience Center Deutsche Bank „Artist of the Year“ 2022 10. September 2022 bis 13. Februar 2023 PalaisPopulaire Unter den Linden 5, 10117 Berlin LuYang, DOKU the Matrix, 2022 db-palaispopulaire.de
Konzert- Jahresabschluss-Konzert: Der Jahresausklang mit Kirill Petrenko und Jonas Kaufmann Zum Jahresausklang präsentieren die Berliner Philhar- tipps moniker und Chefdirigent Kirill Petrenko ein mitreißen- des russisch-italienisches Programm mit Tenor Jonas Kaufmann als Stargast. Sonores Fundament, strahlen- de Höhe, intelligente Gestaltung: All das macht ihn zu einem führenden Sänger weltweit. Gespielt werden berühmte berühmte Vorspiele der italienischen Oper, Peter Tschaikowskys schwelgerisches Capriccio Italien und die schönsten Nummern aus Sergej Prokofjews Bal- lett Romeo und Julia mit seiner Mischung aus Brillanz und markanter Ausdruckskraft. Jonas Kaufmann Do 29.12.22 20 Uhr Fr 30.12.22 20 Uhr Sa 31.12.22 17:30 Uhr Großer Saal Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko Dirigent Jonas Kaufmann Tenor Karten von 58 bis 200 Euro Santtu-Matias Rouvali und Daniel Barenboim und Víkingur Ólafsson Martha Argerich Als einen »funkigen Totentanz« bezeichnet John Adams Sie sind zwei Weltstars aus Argentinien, die sich seit sein Klavierkonzert Must the devil have all the good Kindertagen kennen: Martha Argerich und Daniel tunes? Der Pianist Víkingur Ólafsson hat das energie- Barenboim. Nun treten sie zum ersten Mal gemeinsam geladene, diabolische Stück für sein Debüt bei den mit den Berliner Philharmonikern auf. Auf dem Pro- Berliner Philharmonikern ausgewählt, wobei ihm der gramm steht mit Tschaikowskys berühmtem Klavier junge Santtu-Matias Rouvali zur Seite steht, Leiter des konzert Nr. 1 ein Werk, das Martha Argerich von Londoner Philharmonia Orchestra. Weitere Programm- Beginn ihrer Karriere an begleitet hat – als Beleg ihrer punkte sind das sich vom idyllischen Beginn bis zum unvergleichlichen Ausdruckskraft und Virtuosität. furiosen Schluss steigernde Stück Helix unseres Com- Daniel Barenboim dirigiert außerdem Lutosławskis poser in Residence Esa-Pekka Salonen sowie Sergej Konzert für Orchester, eines der mitreißendsten Werke Prokofjews Fünfte Symphonie, eines der populärsten des 20. Jahrhunderts: klangmächtig, mit aparten Werke des Komponisten. Farben polnischer Volksmusik. Mi 21.12.22 20 Uhr Fr 06.01.23 20 Uhr Víkingur Ólafsson Do 22.12.22 20 Uhr Martha Argerich Sa 07.01.23 19 Uhr Großer Saal So 08.01.23 20 Uhr Großer Saal Berliner Philharmoniker Santtu-Matias Rouvali Dirigent Berliner Philharmoniker Víkingur Ólafsson Klavier Daniel Barenboim Dirigent Martha Argerich Klavier Karten von 25 bis 76 Euro Karten von 35 bis 98 Euro 24 Saison 2022/23 25 Konzerttipps
Kirill Petrenko dirigiert Mendels- sohns »Elias« »Stark, eifrig, auch wohl bös und zornig« – so stellte sich Felix Mendelssohn Bartholdy den biblischen Propheten Klassik zum Elias vor, Protagonist seines gleichnamigen Oratoriums. Voller Dramatik schildert der Komponist einen Mann, der darum kämpft, das Volk zum wahren Glauben zu Probierpreis für bekehren – vergeblich, wie er am Ende erkennen muss. Ergreifende Arien und Gesangsszenen sowie macht volle Chorauftritte machen den Elias zu einem der gro- ßen geistlichen Werke der Romantik. Unter der Leitung von Kirill Petrenko ist der profilierte Bariton Christian Gerhaher als Titelfigur zu hören. Do 12.01.23 20 Uhr alle unter 30! Fr 13.01.23 20 Uhr Christian Gerhaher Sa 14.01.23 19 Uhr Großer Saal Deine Member-Vorteile Berliner Philharmoniker Entdecke alle Konzerte, Oper- und Ballett- Kirill Petrenko Dirigent Elsa Dreisig Sopran veranstaltungen in einer App Wiebke Lehmkuhl Alt Daniel Behle Tenor Buche Oper und Ballett für 15 €, Konzerte für 13 € Christian Gerhaher Bass Rundfunkchor Berlin Neu: Jetzt auch im Vorverkauf Karten von 35 bis 98 Euro Jerusalem Quartet spielt Prokofjew, Bartók und Schostakowitsch Das Ideal des Jerusalem Quartet ist, wie ein einziges Instrument zu klingen: homogen im Klang, rhythmisch präzise und voller Ausdruckskraft. In diesem Konzert präsentiert das Ensemble zwei Werke, die unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs entstanden: Béla Bartóks melancholisches Streichquartett aus dem Jahr Jetzt downloaden! 1939 sowie Sergej Prokofjews Zweites Quartett von 1941. Im Nordkaukasus entstanden, integrierte der Komponist die dortige Volksmusik auf stimmungsvolle Weise. Auch in Dmitri Schostakowitschs furiosem Zehn- ten Streichquartett – 1964 in Armenien komponiert – blitzen Anklänge an Folklore auf. Mi 18.01.23 20 Uhr Jerusalem Quartet Kammermusiksaal Jerusalem Quartet: Alexander Pavlovsky Violine Sergei Bresler Violine Ori Kam Viola classiccard.de Kyril Zlotnikov Violoncello Karten von 15 bis 35 Euro Auf deinen Besuch freuen sich 26 Saison 2022/23
Ticketverkauf online unter berliner-philharmoniker.de telefonisch unter +49 30 254 88-999 Montag – Freitag 9 –16 Uhr an der Konzertkasse der Philharmonie Montag – Freitag 15–18 Uhr Samstag, Sonntag und an Feiertagen 11–14 Uhr Musik zum Impressum Newsletter und Social Media Verschenken Herausgegeben von der Berliner berliner-philharmoniker.de/newsletter Entdecken Sie Philharmonie gGmbH für die Stiftung instagram.com/BerlinPhil Berliner Philharmoniker Direktorin Marketing, Kommunikation und facebook.com/BerlinPhil twitter.com/BerlinPhil die philharmonischen Vertrieb: Kerstin Glasow youtube.com/BerlinPhil Leiter Redaktion: Tobias Möller (V. i. S. d. P.) Herbert-von-Karajan-Straße 1, 10785 Berlin Weihnachtsgeschenke redaktion@berliner-philharmoniker.de Redaktion: Anne Röwekamp Bildnachweise: S. 5, 15, 19 akg-images, Mitarbeit: Stephan Kock · Einführungstexte: S. 8 privat, S. 11 Heritage Image Partnership Isabel Herzfeld, Silvestrov (Anne Röwekamp) Ltd / Alamy Stock Foto, S. 13 Solobratscher, Biografie: Harald Hodeige · Übersetzung CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons, Einführungstext Andsnes: texthouse S. 20 Helge Hansen Sony Music Entertain- Artwork: Studio Oliver H elfrich · Layout: ment, S. 24 Ari Magg, S. 25 (o.) Gregor Stan Hema · Satz: Bettina Aigner Hohenberg / Sony Music, (u.) Adriano Heitman, S. 26 (o.) Sony Classical / Gregor Anzeigenvermarktung: Tip Berlin Hohenberg, (u.) Felix Broede Media Group GmbH, Michelle T hiede t +49 30 233 269 610 anzeigen@tip-berlin.de Programmheft Nr. 21, Saison 2022/23 Einzelheftpreis: 3 Euro Herstellung: Reiter-Druck, 12247 Berlin Programm- und Besetzungsänderungen vorbehalten berliner-philharmoniker.de/weihnachten 28 Saison 2022/23
━ 13. 2. 2023 Deutsche Bank “Artist of the YeAr” 2022 LuYang DOKU Experience Center © LuYang
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