Lesen, was Orientierung bietet - Landeskirche Braunschweig

Die Seite wird erstellt Reinhold Ehlers
 
WEITER LESEN
Lesen, was Orientierung bietet - Landeskirche Braunschweig
www.landeskirche-braunschweig.de

                                              4 |2021

Lesen, was Orientierung bietet
Das religiöse Buch hat es schwer. Auch im Braunschweiger Land. Der Umsatz
in diesem Segment ist rückläufig. Die wenigsten Buchhandlungen in der Region
haben religiöse Titel im Sortiment. Zu den Ausnahmen gehören Häuser in
Wolfenbüttel und Braunschweig. Gut geschriebene Werke finden aber nach wie
vor ihr Publikum.
Lesen, was Orientierung bietet - Landeskirche Braunschweig
Editorial

                                  Liebe Leserinnen und Leser,
                                     Weihnachten ist das Fest der Liebe. So sagen wir. Doch vielfach ist diese
                                  Behauptung mehr eine Hoffnung, als dass sie die Wirklichkeit beschreibt.
                                  Denn Liebe hat nichts mit schlagerhafter Romantik oder Gefühlsduselei zu
                                  tun. Liebe ist ein soziales Geschehen. Sie setzt in Beziehung und darauf, dass
                                  die Selbstbezogenheit überwunden wird. Das gilt für die Liebesbeziehungen
                                  zweier Menschen genauso, wie für das Zusammenleben in unserem Land.
                                  Die Bewegung hin zum Anderen, in dem Bemühen, ihm ebenso gerecht zu
                                  werden wie mir selbst, ist das, was Jesus Nächstenliebe nennt.
Foto: Klaus G. Kohn

                                      Wir sagen auch: Gott ist die Liebe. Wenn wir das ernst meinen, können wir
                                  uns nicht um uns selbst drehen. Denn wenn Gott die Liebe ist, ereignet auch
                                  er sich in der Begegnung. Das ist die zentrale Botschaft von Weihnachten:
                                  Gott kommt zur Welt und wird Mensch, weil er unsere Nähe sucht. Wir leben
                                  nicht für uns allein: weder ohne andere Menschen, noch ohne Gott. Die Bibel
                                  sagt: Erst im Horizont der Liebe sind wir ganz bei uns selbst.

                                     Diese Liebe stellt uns mitten hinein in die Welt: ihre Konflikte und Kontro-
                                  versen, das Leid und die Not, in Angst und Einsamkeit. Sie stellt uns zwischen
                                  Menschen, die unversöhnt und verblendet Leben zerstören. Weihnachten
                                  erinnert uns daran, dass diese Welt nicht bleiben soll, wie sie ist. Gott will,
                                  dass sie gut und gerecht ist und wir in Frieden miteinander leben. Daran mit-
                                  zuwirken, ist unsere Mission.

                                     Das gilt auch für die Corona-Pandemie. Auch sie werden wir nur über-
                                  winden, wenn wir unser Heil im Wohlergehen des Anderen suchen. Denn im
                                  Anderen begegnet uns Gott. In diesem Sinne Ihnen allen frohe Weihnachten,
                                  ein gesegnetes neues Jahr – und wieder eine anregende Lektüre,

                                      Ihr

                                      Michael Strauß

                                  Impressum
                                  Herausgeber Pressestelle der Landeskirche Braunschweig I Redaktion Michael Strauß (mic) I Anschrift Dietrich-Bonhoeffer-
                                  Straße 1, 38300 Wolfenbüttel, Tel. 05331-802108, Fax 05331-802700, presse@lk-bs.de, www.landeskirche-braunschweig.de
                                  I Layout Dirk Riedstra | Druck MHD Druck und Service GmbH, 29320 Hermannsburg | Titelfoto: Agentur Hübner

                      4 | 2021                |2
Lesen, was Orientierung bietet - Landeskirche Braunschweig
Foto: Agentur Hübner

                                                                                                                Foto: Klaus G. Kohn
10                                                                                                      14

                18                                                                                                                    24
                                                       Foto: Klaus G. Kohn

                                                                                                                                            Foto: Privat
                            In dieser Ausgabe
4 Blickpunkt                                                                   18 Reportage
   Schräge Typen an einem Tisch                                                   Innerlich zur Ruhe kommen
   Das letzte Abendmahl in einer modernen Version                                 Mit dem „Zentrum Würde“ entsteht in Braunschweig
   der Künstlerin Marina Schmiechen.                                              ein Raum für das Gespräch über Trauer und Tod.

8 Porträt                                                                      24 Hintergrund
   Nachdenken über Gott                                                           Fair und ökologisch
   Stefan Heuser ist seit 2019 Theologieprofessor an                              Viele Kirchengemeinden im Braunschweiger Land
   der Technischen Universität Braunschweig.                                      setzen sich für Nachhaltigkeit und Klimaschutz ein.

10 Titelthema                                                                  26 Kleine Kirchenkunde
   Lesen, was Orientierung bietet                                                 Starkes Bekenntnis zu Kitas
   Das religiöse Buch hat es schwer. Aber gut                                     Die Landeskirche hilft Einrichtungen bei ihrem Auf-
   geschriebene Werke finden weiter ihr Publikum.                                 trag, Kinder beim Start ins Leben zu begleiten.

14 Interview                                                                   30 Rezension
   Zum Gott Israels hinzugekommen                                                 Beitrag zum Dialog
   Warum wir bedenken müssen, dass Jesus Jude war,                                Ein neues Werk bietet jüdische Sichtweisen auf das
   erläutert der Bibelwissenschaftler Klaus Wengst.                               Neue Testament und überraschende Lesarten.

                                                                                           4 | 2021                                    |3
Lesen, was Orientierung bietet - Landeskirche Braunschweig
Blickpunkt

                                                Foto: Klaus G. Kohn
Schräge Typen
an einem Tisch
Das letzte Abendmahl einmal ganz anders:
modern, gegenwärtig, verstörend. Schräge
Typen an einem Tisch. Die Szene erinnert
an das berühmte Wandgemälde von Leo-
nardo da Vinci (1452-1519) im Speise-
saal des Dominikanerklosters Santa Maria
delle Grazie in Mailand. Doch hier ist es
nicht Jesus, um den sich die Jünger ver-
sammeln, sondern John Lennon, der Pop-
star und Mitglied der legendären „Beatles“.
Um ihn herum weitere Ikonen unserer Zeit:
Mutter Teresa, der Dalai Lama, aber auch
Andy Warhol oder Salvador Dalí.

Geschaffen hat die Plastiken aus Ton Marina
Schmiechen für eine Ausstellung in der
Jakob Kemenate in Braunschweig. Dort
gehört die Abendmahlsgruppe mittlerweile
zu den dauerhaft gezeigten Kunstwerken.
Die in Berlin lebende Künstlerin arbeitet in
ihren Skulpturen charakteristische Details
heraus, die einen Menschen unverwechsel-
bar machen. Und indem sie ihn karikaturis-
tisch überzeichnet, kommt sie der Lage des
Menschen überraschend nahe.

Schmal und dürr, zerbrechlich und der
Lächerlichkeit preisgegeben, fristet er sein
Dasein auf der Erde. Möge er noch so pro-
minent sein. Er bedarf der Gemeinschaft,
um zu überleben, den Anderen, der mit
ihm das Lebensnotwendige teilt. Stets in
der Hoffnung, nicht an die Einsamkeit ver-
raten zu werden, die uns bedroht, wie eine
schlimme Krankheit. Das letzte Abendmahl
ist auch ein Bild dafür, dass wir nur mitein-
ander überleben – nicht allein und erst recht
nicht gegeneinander.

     www.kemenaten-braunschweig.de

4 | 2021
    2021 Evangelische Perspektiven||44
Lesen, was Orientierung bietet - Landeskirche Braunschweig
1|
 4 |2020
     2021 Evangelische Perspektiven|| 55
Lesen, was Orientierung bietet - Landeskirche Braunschweig
Nachrichten

Neuer Leiter der Rechtsabteilung
                                                                                                Zukunftsprozess der Landeskirche Braun-
                                                                                                schweig juristisch begleiten. Dabei spiele
                                                                                                nicht zuletzt die Digitalisierung eine wichtige
                                                                                                Rolle, die er als Chance bezeichnete. Außer-
                                                                                                dem lobte er das diakonische Engagement
                                                                                                im entkirchlichten Umfeld. Die Kirche schaue
                                                                                                hin, wo andere wegschauen. Das gelte gerade
                                                                                                auch bei der Hilfe für Flüchtlinge. Außerdem
                                                                                                könne er sich vorstellen, dass die Kirche im
                                                                                                Rahmen ihrer Möglichkeiten Impf-Aktionen
                                                                                                gegen die Corona-Pandemie unterstützt.
                                                                                                Dr. Christoph Goos hat seit 2017 eine Pro-
                                                                                                fessur für Öffentliches Recht (Sozial- und
                                                                                                Dienstrecht) an der Hochschule Harz in Hal-

                                                                          Foto: Klaus G. Kohn
                                                                                                berstadt inne. Seit 2019 amtiert er als Prode-
                                                                                                kan des Fachbereichs Verwaltungswissen-
                                                                                                schaften der Hochschule und ist seit 2020
                                                                                                Mitglied des Senats. Außerdem betätigt er
Professor Dr. Christoph Goos (47), rechts, aus Halberstadt wird                                 sich als Lehrbeauftragter an der Universität
neuer Leiter der Rechtsabteilung der Landeskirche Braunschweig.                                 Halle-Wittenberg.
Die Landessynode wählte ihn bei ihrer jüngsten Tagung mit 35 Stim-                              Seit 2002 wirkte Goos in verschiedenen wis-
men am 19. November in Braunschweig. 37 Synodenmitglieder                                       senschaftlichen Positionen am Institut für
waren anwesend.                                                                                 Öffentliches Recht der Universität Bonn.
Als Oberlandeskirchenrat wird Goos Mitglied des Kollegiums des                                  Zuletzt in Vertretung des Lehrstuhls von Bun-
Landeskirchenamtes. Das Kollegium ist neben der Landessynode,                                   desverfassungsrichter Udo di Fabio. Davor
der Kirchenregierung und dem Landesbischof eines der vier Lei-                                  war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter
tungsorgane der Landeskirche. Goos folgt in seinem neuen Amt Dr.                                an der Universität Erlangen-Nürnberg tätig.
Jan Lemke, der Kirchenamtspräsident der Evangelischen Kirche in                                 Sein Jura-Studium absolvierte er in Heidel-
Mitteldeutschland (EKM) in Erfurt geworden ist.                                                 berg, das Referendariat unter anderem im
In seiner Vorstellungsrede vor der Landessynode sagte Goos, die                                 Rechtsreferat des Evangelischen Oberkir-
nächsten Jahre seien entscheidend. Gerne wolle er deshalb den                                   chenrates Karlsruhe.

Nachtragshaushalt beschlossen
Die Landessynode hat am 20. November einen Nachtragshaushalt für
die Haushaltsjahre 2021 und 2022 beschlossen. Möglich wurde die
Erhöhung des Haushaltsvolumens, weil die Kirchensteuereinnah-
men nicht so stark gesunken sind wie aufgrund der Corona-Pandemie
zunächst angenommen, teilte der Leiter der Finanzabteilung, Oberlan-
deskirchenrat Dr. Jörg Mayer (Foto), mit. „Das ist eine gute Nachricht
für die Zukunftsprojekte in unserer Kirche“, sagte Mayer.
Die nachträgliche Erhöhung für das Jahr 2021 beläuft sich auf knapp sechs
Millionen und für das Jahr 2022 auf rund vier Millionen Euro. Bereits im Jahr
2020 lagen die Kirchensteuereinnahmen der Landeskirche Braunschweig
mit rund 94,7 Millionen etwa 800.000 Euro über der Vorjahresplanung.
Das Geld aus dem Nachtragshaushalt 2021/2022 soll in Zukunftsini-
tiativen fließen. So sollen für strategische Zukunftsprojekte rund 3,7
                                                                                                                                              Foto: Klaus G. Kohn

Millionen und für den Gebäudezukunftsprozess, der auch Maßnah-
men zum Klimaschutz umfasst, rund 2,4 Millionen Euro zur Verfügung
gestellt werden.					                                                   | epd

4 | 2021                                   |6
Lesen, was Orientierung bietet - Landeskirche Braunschweig
Zukunftsprozess geht weiter                                                                       Kirchliche Trauung für alle
                                                                                                  Die braunschweigische Landessynode hat am
                                                                                                  19. November den Weg zur kirchlichen Trau-
                                                                                                  ung unabhängig von der Geschlechtsidenti-
                                                                                                  tät und sexuellen Orientierung freigemacht.
                                                                                                  „Damit ist eine jahrzehntelange Diskriminie-
                                                                                                  rung beendet“, sagte Synodenpräsident Peter
                                                                                                  Abramowski. 34 von 37 anwesenden Synoda-
                                                                                                  len stimmten dafür, das Traugesetz entspre-
                                                                                                  chend zu ändern. Zwei Synodale stimmten
                                                                                                  dagegen. Es gab eine Enthaltung. Das Trau-
                                                                                                  gesetz tritt zum 1. Januar 2022 in Kraft.

                                                                            Foto: Klaus G. Kohn
                                                                                                  In der Präambel des Gesetzes über die
                                                                                                  kirchliche Trauung war bisher von der Ehe
                                                                                                  zwischen „Mann und Frau“ die Rede. Diese
                                                                                                  Formulierung wird durch die Worte „zwei
Die Landeskirche Braunschweig will mit strategischen Projekten den                                Menschen“ ersetzt. Vollständig heißt der
Wandel der kirchlichen Arbeit vorantreiben. Einen entsprechenden                                  erste Satz der Gesetzes-Einleitung nun: „Die
Beschluss hat die Landessynode am 19. November bei ihrer Tagung                                   Ehe ist eine Gabe Gottes und hat die Bestim-
in Braunschweig gefasst. Eine Lenkungsgruppe, die von der Kirchen-                                mung, das gemeinsame Leben zweier Men-
regierung eingesetzt wird, soll die Projekte in vier Bereichen beglei-                            schen auf Lebenszeit in gegenseitiger Ach-
ten: Geistliches Leben und Theologie, Seelsorge und Diakonie, Erpro-                              tung zu gestalten.“
bungsräume sowie Netzwerkorientierte Zusammenarbeit.
Die Projekte sind Ergebnis eines umfangreichen Diskussions- und Bera-
tungsprozesses, der in den vergangenen Monaten in der Breite der Lan-
deskirche geführt wurde. Mehr als hundert Rückmeldungen seien verar-
beitet worden, betonte Pfarrer Thomas Ehgart (Bad Gandersheim, Foto)
seitens der Kirchenregierung. Er verwahrte sich gegen den Vorwurf, der
Prozess habe zu wenig Beteiligung und Substanz hervorgebracht. Insbe-
sondere Kai Florysiak (Braunschweig) hatte kritisiert, die Kirche sei von
zu viel Larmoyanz und zu wenig Begeisterung geprägt. Auch Sebastian

                                                                                                                                                    Foto: Klaus G. Kohn
Ebel (Braunschweig) forderte mehr Aufbruch und Optimismus.
In der Folge entwickelte sich eine lebhafte Debatte, in der die Projekte
näher dargestellt wurden. Dabei wurde deutlich, dass gravierende
Veränderungsprozesse nötig werden könnten, um die kirchliche Arbeit                               Klares Votum für die Trauung für alle: der
zukunftsfest zu machen. Vor allem das Verhältnis zwischen Haupt- und                              Synodale Kai Florysiak.
Ehrenamtlichen müsse neu justiert werden, sagte Landesbischof Dr.                                 Vorausgegangen war der Abstimmung eine
Christoph Meyns. Er würdigte die Bereitschaft zur Mitwirkung der Ehren-                           angeregte Debatte. Einige Synodale argu-
amtlichen, es sei aber nötig, den kirchlichen Auftrag neu zu klären.                              mentierten, die Synode solle eine Entschei-
Auch Pfarrerin Elke Rathert (Braunschweig) und Diakonie-Vorstand Anke                             dung erst fällen, wenn ein Gutachten der
Grewe (Braunschweig) wiesen auf die Bedeutung freiwilliger Mitwirkung                             Theologischen Kammer vorliege. Sie plä-
hin. Analog zu Freiwilligendiensten müssten Engagierte gezielter ange-                            dierten dafür, die Entscheidung über die
sprochen werden. Außerdem sollten Besuchsdienste intensiviert und                                 Änderung des Traugesetzes deshalb erst
kirchliche Orte außerhalb der Kirchengebäude entdeckt werden.                                     während der im Mai 2022 tagenden Früh-
Darüber hinaus wurden „Erprobungsräume“ diskutiert. Dabei gehe                                    jahrssynode zu treffen. Ein entsprechender
es unter anderem darum, „multiprofessionelle Teams“ zu entwickeln.                                Antrag wurde mit 19 Stimmen abgelehnt.
Diese könnten künftig in Ergänzung zum Pfarramt die Leitung der Kir-                              Bisher war in der Landeskirche Braun-
chengemeinden übernehmen und Pfarrerinnen und Pfarrer in Manage-                                  schweig nur eine Segnung von gleichge-
mentfragen entlasten, wie Propst Thomas Gunkel (Goslar), Pfarrer                                  schlechtlichen oder diversen Paaren als
Thomas Ehgart und Pfarrer Frank Ahlgrim (Schladen) deutlich mach-                                 ein „Akt der Seelsorge“ möglich, der den
ten. Das sei insbesondere für diejenigen Bereiche in der Landeskirche                             bisherigen Regeln zufolge „nicht mit einer
wichtig, in denen nur noch wenige Pfarrpersonen tätig seien.                                      Trauung verwechselbar“ sein durfte. | epd

                                                                                                  4 | 2021                                     |7
Lesen, was Orientierung bietet - Landeskirche Braunschweig
4 | 2015 Evangelische Perspektiven | 8

                                                                                         Foto: Agentur Hübner

Experte für ethische Fragen aus christlicher Perspektive: Professor Dr. Stefan Heuser.

4 | 2021                                 |8
Lesen, was Orientierung bietet - Landeskirche Braunschweig
Porträt

Nachdenken über Gott
Stefan Heuser ist seit 2019 Professor am Seminar für Theologie und
Religionspädagogik der Technischen Universität Braunschweig.
Er fragt danach, was Christen von Gott mitzuteilen haben.

M
                anche Tätigkeitsfelder sind so komplex,            Beruflich scheint Stefan Heuser in Braunschweig
                dass sie ohne Fachbegriffe kaum zu erklä-      angekommen zu sein. Privat auch: Mit seiner Ehefrau,
                ren sind. Stefan Heuser muss schmun-           die als Pfarrerin tätig ist, und den beiden Söhnen lebt
                zeln: „Das ist auch in meinem Beruf gar        er in dörflicher Idylle am Rand der Stadt. Die männli-
                nicht so einfach.“ Seit Oktober 2019 ist der   chen Familienmitglieder lieben Fußball und ganz beson-
50-Jährige als Professor für Systematische Theologie mit       ders „die Eintracht“. Mit einem Augenzwinkern lässt der
dem Schwerpunkt Ethik an der TU Braunschweig tätig.            gebürtige Hesse jedoch offen, welche „Eintracht“-Mann-
    Am Seminar für Evangelische Theologie und Religi-          schaft gemeint ist. Ursprünglich stammt Stefan Heuser
onspädagogik bildet er Religionslehrkräfte aus. „Kurz          aus Herborn, nicht allzu weit entfernt von Frankfurt am
zusammengefasst, dreht sich mein Fach um die Frage:            Main, ebenfalls ein „Eintracht“-Standort.
Was haben Christen von Gott mitzuteilen, und was bedeu-            „Religiös sozialisiert hat mich meine Oma“, erinnert
tet das für das Zusammenleben in Kirche und Gesell-            sich Heuser, der ursprünglich Philologie und Religion
schaft?“, erklärt Professor Heuser. Sein Job umfasse das       auf Lehramt studierte. Schon bald habe er jedoch seine
kritische Nachdenken über den christlichen Glauben und         Leidenschaft für die Theologie und den Pfarrberuf ent-
dessen Bedeutung für aktuelle ethische Fragen.                 deckt. Das Theologiestudium führte ihn von Marburg
    Seinen Start in Braunschweig hatte sich der Theo-          über London nach Heidelberg und Erlangen. Ein Stu-
loge anders vorgestellt: Kaum angekommen, brach die            dium der evangelischen Journalistik und Praktika beim
erste Corona-Welle über den Uni-Alltag herein. Es folg-        Weltkirchenrat sowie bei den Vereinten Nationen in Genf
ten Lockdowns und Online-Unterricht. Auch das Seminar          ergänzten die Ausbildung.
auf dem TU-Campus Nord am Bienroder Weg verwaiste                  Gemeinsam mit seiner Frau Christine, die er während
zusehends. Mit Start des aktuellen Wintersemesters             des Studiums in Heidelberg kennen gelernt hatte, war er
ging es in Präsenz endlich wieder los. „Unsere Studie-         von 2011 bis 2014 Pfarrer am Rande des Odenwaldes.
renden sind hoch motiviert und wollen unbedingt in den         Seine Leidenschaft für Forschung und Lehre führten den
Beruf“, freut sich Heuser über deren Zielstrebigkeit.          inzwischen promovierten und habilitierten Theologen
    Vor- und Nachteil zugleich sei der allgegenwärtige Tra-    dann doch zurück an die Universität, zunächst als Lehr-
ditionsabbruch. Der zeige sich in der Gesellschaft wie auch    stuhlvertreter nach Erlangen. 2014 folgte der Ruf als
bei den angehenden Religionslehrkräften. „Die Persönlich-      Professor an die Evangelische Hochschule in Darmstadt.
keitsentwicklung unserer Studierenden hat bei uns einen            Ob Ethik in Pflege und Medizin, Technikethik, Wirt-
hohen Stellenwert“, betont Heuser. Dazu gehörten auch          schaftsethik oder Trinitätstheologie – die Publikations-
Praxisbezüge. Über das sogenannte Service-Learning             liste ist lang. Heuser: „Aktuell forsche ich unter anderem
können sich die Studierenden mit kleinen Projekten ehren-      über Künstliche Intelligenz und gehe dabei der Frage
amtlich engagieren. „Darauf können uns Kirchengemein-          nach, wie Maschinen Ethik lernen können. Das ist auch
den und diakonische Einrichtungen gerne ansprechen.“           nicht so einfach…“ 			                           |Michael Siano

                                                                               4 | 2021   Evangelische Perspektiven | 9
Lesen, was Orientierung bietet - Landeskirche Braunschweig
Das religiöse Buch hat es schwer. Auch im Braunschweiger Land. Der Umsatz in
diesem Segment ist rückläufig. Die wenigsten Buchhandlungen in der Region haben
religiöse Titel im Sortiment. Zu den Ausnahmen gehören Häuser in Wolfenbüttel
und Braunschweig. Gut geschriebene Werke finden aber nach wie vor ihr Publikum.

 Lesen, was
Orientierung bietet                                  Foto: Klaus G. Kohn

4 | 2021                    | 10
Titelthema

                       W
                                                interzeit ist Lesezeit. Wenn es draußen kalt und nebe-
                                                lig wird, machen es sich viele mit einer Decke und
                                                einem guten Buch auf der Couch gemütlich. Passend
                                                zum Advent leuchten Kerzen dazu. Kurz vor, aber
                                                auch nach Weihnachten, wird dabei gern auch zum
                                                religiösen Buch gegriffen. Die Bibel als Klassiker ist
                                                immer wieder darunter. Vom „Buch der Bücher“ wur-
                       den weltweit rund 2,5 Milliarden Exemplare verkauft. Danach folgt der Koran
                       mit einer Milliarde Exemplaren.
                           Zu den Weihnachtsklassikern zählt Charles Dickens‘ „A Christmas Carol“,
                       erstmals erschienen 1843 in England. Wer kennt sie nicht, die Erzählung über
                       den Geldverleiher Ebenezer Scrooge, der zu Weihnachten den inneren Wan-
                       del vom alten, grantigen Geizhals zum fröhlichen, zugewandten Menschen-
                       freund durchlebt?
                           Oder „Die Hütte – Ein Wochenende mit Gott “. Dieser 2007 zunächst im
                       Eigenverlag veröffentlichte Roman des kanadischen Autors William P. Young
                       wurde bis heute weltweit in mehr als 50 Sprachen fast 25 Millionen Mal ver-
                       kauft. Der Roman gilt damit als das meistverkaufte Buch über Gott nach der
                       Bibel.
                           Was aber sind die Trends und Entwicklungen im Braunschweiger Land?
                       Sie sind nicht zuletzt geprägt von der schwierigen wirtschaftlichen Situation
                       des örtlichen Buchhandels. Von den beiden letzten inhabergeführten Buch-
                       läden in Salzgitter-Bad ist einer dabei zu schließen. Ob in Wolfenbüttel, Gos-
                       lar oder Helmstedt, viele kleine Buchhandlungen winken ab. Gemeinsamer
                       Tenor: „Christliche Literatur wird leider wenig nachgefragt, darum haben wir
                       diese auch kaum im Sortiment.“

                        Während der Online-Handel zulegen konnte, brach
                         der Umsatz in den Buchhandlungen vor Ort ein.
                          Begünstigt durch die Corona-Pandemie, in der viele Menschen den Auf-
                       enthalt in den eigenen vier Wänden bevorzugen, scheint die Buchbranche auf
                       den ersten Blick ganz gut durch die Krise zu kommen. Der Börsenverein des
                       Deutschen Buchhandels berichtet von stabilen Umsätzen. Zwei Lockdowns
                       hinterließen demnach zwar auch im Buchhandel Spuren. Dennoch erreichte
                       die Branche 2020 einen Gesamtumsatz von 9,3 Milliarden Euro.
                          Aber während der Onlinehandel um fast 21 Prozent zulegen konnte, brach
                       der Umsatz in den Buchhandlungen vor Ort im Vergleich zu 2019 um neun
                       Prozent ein. Noch alarmierender lesen sich die Zahlen für das erste Halbjahr
                       2021: Hier verzeichnen die lokalen Buchhandlungen ein Minus von rund 22
                       Prozent gegenüber 2019. Ein weiterer Trend laut Börsenverein: „Immer weni-
                       ger Menschen kaufen mehr Bücher!“
Foto: Agentur Hübner

                                                         4 | 2021                                | 11
Foto: Agentur Hübner

In ihrer Abteilung für religiöse Bücher: Joachim Wrensch (Mitte), Geschäftsführer der Buchhandlung
Graff in Braunschweig, mit Stephan Kreuzig (rechts) und Holger Wenzig.

     Etwa sechs Prozent aller 2020 in Deutschland veröf-        Büchertische in vielen Kirchengemeinden. Oder kleine
fentlichten Buchtitel gehörten zur sogenannten Sach-            ehrenamtlich getragene Einrichtungen wie der Ökumeni-
gruppe Religion und umfassten 4.222 Erstauflagen. Zum           sche Kirchenladen in Bad Harzburg. Doch es gibt sie noch:
Vergleich: Die Sachgruppe Philosophie und Psychologie           stationäre Buchhandlungen in der Region, die über spe-
ist in etwa genauso groß. Religiöse Literatur zählt nicht       zialisierte Abteilungen mit religiöser Literatur verfügen.
zu den Verkaufsschlagern der Branche. Im Gegenteil:                 Für Bücher Behr in Wolfenbüttel betreut Sandra
Mit Blick auf den Umsatz gehört der religiöse Buchmarkt         Schulze seit gut zehn Jahren dieses Segment. „Bei uns
bereits seit Jahrzehnten zu den großen Verlierern.              ist die Nachfrage über die Jahre ziemlich stabil geblie-
     Im zurückliegenden Sommer schloss der SCM-                 ben, wir haben einen sehr treuen Kundenkreis“, lautet
Shop in Fallersleben, eine Franchise-Filiale der Stif-          ihr Resümee. Seit dem Ausnahmephänomen „Die Hütte“
tung christlicher Medien (SCM). Es war die letzte auf           habe es keinen vergleichbaren Bestseller mehr gegeben.
das christliche Segment spezialisierte Buchhandlung in          Aktuell gut nachgefragt seien die Bücher von Autorinnen
der Region. Ob die Buchhandlungen Arche und St.-Elisa-          und Autoren wie Margot Käßmann oder Anselm Grün.
beth in Braunschweig oder die „Christliche Bücherkiste“             Ein Kassenschlager sei alle Jahre wieder das Kalen-
in Wolfenbüttel – die Liste der geschlossenen christli-         derprojekt „Der andere Advent“. Und noch ein Phänomen
chen Buchläden ist lang.                                        hat die Buchhändlerin beobachtet: Häufig werden jün-
     Heute verkauft sich religiöse Literatur vor allem über     gere Autoren nachgefragt wie zum Beispiel Julian Sen-
spezialisierte Online-Shops. Nischen sind zudem die             gelmann mit „Glaube ja, Kirche nein?“ sowie Christopher

4 | 2021                                 | 12
Titelthema

Schlicht und Maximilian Bode mit ihrem gemeinsamen
Buch „Kirchenrebellen. Wir bringen Leben in die Bude“.
    „Die Nachfrage nach Büchern hängt heutzutage vor
allem mit der Medienpräsenz ihrer Autoren zusammen“,
erläutert Joachim Wrensch, Geschäftsführer der Buch-
handlung Graff in Braunschweig. Graff verfügt in der Region
über das umfangreichste religiöse Bücherangebot. Stephan
Kreuzig und Holger Wenzig betreuen diese Abteilung.

    Beständig nachgefragt werden
Losungsbücher, Bibeln und Gesangbücher.
   Mit Blick auf aktuelle Bücher und Trends meinen die
                                                                  Fotos (3): Agentur Hübner

beiden Kenner, einen „roten Faden“ ausgemacht zu haben:
„Die Lesenden suchen vorrangig nach Antworten auf fol-
gende Fragen: Wie lässt sich heute von Glaube, von Gott,
von Kirche und von Spiritualität sprechen?“ Und das aus
verschiedenen Perspektiven: als Theologie, als Erfahrung
oder als „Weg-Beschreibung“. Dabei spielten auch Spra-
che, Bewusstsein, Sehnsüchte und Ziele eine Rolle.
   „So überzeugt die Autorin Susanne Niemeyer durch
ihre frische, moderne Sprache“, meint Holger Wenzig.
Humor, Leichtigkeit und Tiefgang vermöge auch Felici-
tas Hoppe in ihrem Buch „Fährmann, hol über! Oder wie
man das Johannesevangelium pfeift“ zu verbinden. Und
noch ein Tipp seien Bücher von Tilmann Haberer wie „Gott
9.0. Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird“
sowie „Von der Anmut der Welt. Entwurf einer integralen
Theorie“. Auf regionale Autoren macht zudem Joachim
Wrensch aufmerksam: „Bei uns werden die Bücher von
Dieter Rammler und Michael Strauß rege nachgefragt.“
   Beständig nachgefragt werden bei Graff Losungs-
bücher, Bibeln und Gesangbücher. „Aktuell ist die neu
erschienene Basisbibel ein Bestseller“, sagt Stephan
Kreuzig. Das sei auch schon bei den Neuausgaben der Ein-
heitsübersetzung und der Luther-Bibel in früheren Jahren
so gewesen. Ebenso wie die „Non-Books“: Engelfiguren,
Kerzen, Weihrauch und Klappkarten würden gerne zu
Anlässen wie Taufe, Konfirmation und Kommunion sowie
zu Trauerfeiern verschenkt.
   Weniger nachgefragt werden bei Graff die anderen
Weltreligionen. Die größte Auswahl gibt es zum Buddhis-
mus. „Vor allem Titel, die Zen-Meditation mit dem Christen-
tum verbinden“, liefern Kreuzig und Wenzig die Erklärung.
Büchertipps gibt es also auch dieses Jahr viele. |Michael Siano

                                                                                              4 | 2021          | 13
Zum Gott Israels
hinzugekommen
Warum wir bedenken müssen, dass
Jesus nicht der erste Christ, sondern
Jude war, erläutert Professor Dr. Klaus
Wengst im Interview mit den Evan-
gelischen Perspektiven. Der Bibel-
wissenschaftler macht deutlich, dass
Jesus keine neue Religion verkünden
wollte, sondern an entscheidende
Aspekte der hebräischen Schrift erin-
nerte.

                                                           Wir müssen erkennen, dass Jesu Verkündigung tief in der
                                                           jüdischen Tradition verankert ist, sagt der Neutestamentler
                                                           Klaus Wengst.

Evangelische Perspektiven: Jesus ist der Dreh- und         wurde als Jude geboren und gemäß der Tora am achten
Angelpunkt des christlichen Glaubens. Die histori-         Tag beschnitten. Das vermerkt das Lukasevangelium
schen Fakten zu seinem Leben sind allerdings dürftig.      ausdrücklich (2,21). In der christlichen Verkündigung
Wie wichtig sind diese Fakten?                             kommt diese Stelle zumeist nicht vor, obwohl sie mit der
                                                           Weihnachtsgeschichte unmittelbar verbunden ist.
   Klaus Wengst: Historisch ist nicht viel herauszukrie-
gen. Über das meiste wird gestritten. Wir müssen uns       Warum ist das so wichtig?
mit historischen Wahrscheinlichkeiten begnügen. Das           Als Christen müssen wir noch stärker ein Bewusst-
wichtigste historische Faktum ist: Jesus war Jude. Er      sein dafür entwickeln, dass Jesus als Jude geboren und
                                                           auch als Jude gestorben ist. Die Inschrift am Kreuz hieß:
                                                           Jesus aus Nazareth, der König des jüdischen Volkes. Aus
 Klaus Wengst                                              der Perspektive der römischen Besatzungsmacht war
                                                           Jesus ein politisch verdächtiger Jude. Die Evangelien
 Professor Dr. Klaus Wengst (79) lehrte von 1981 bis       stellen Jesus durchgehend als Juden dar.
 zu seinem Ruhestand 2007 Neues Testament an der
 Ruhr-Universität Bochum. Er ist unter anderem Mit-        Welche Bedeutung hat das für die christliche Theologie?
 glied der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen             Wir müssen erkennen, dass vieles in der Verkündi-
 beim Deutschen Evangelischen Kirchentag und war           gung Jesu nicht neu war, sondern tief verankert ist in der
 von 1992 bis 2006 deren Vorsitzender. Er ist Autor        Tradition des Judentums. Es gibt zum Beispiel eine große
 zahlreicher Werke über die frühe Zeit des Chris-          Nähe zwischen Jesus und den Chassidim seiner Zeit, den
 tentums und lebt seit 2019 in Braunschweig. Sein          „Frommen“. Auch von ihnen werden Wunder erzählt, die
 jüngstes Buch „Wie das Christentum entstand: Eine         mit Armut und Not zu tun haben. Das ist in den Evangelien
 Geschichte mit Brüchen im 1. und 2. Jahrhundert“ ist      nicht anders. Wer erzählt sich solche Geschichten? Nicht
 2021 im Gütersloher Verlagshaus erschienen (352           Menschen, die im Wohlstand leben, sondern Menschen,
 Seiten, 22,- €).                                          die am Hungertuch nagen – und doch nicht resignieren,
                                                           sondern im Vertrauen auf den rettenden Gott durchhalten.

4 | 2021                               | 14
Interview

                                                                                                        Gebot sei. Und Jesus fragt zurück: In der Tora, was steht
                                                                                                        geschrieben? Wie liest du sie? In der zweiten Frage steht
                                                                                                        „wie“, nicht „was“, wie meist übersetzt. Das Wie fragt
                                                                                                        nach der Leitlinie für das Lesen und Auslegen der Schrift.
                                                                                                        Und da kommt das Doppelgebot der Liebe ins Spiel.

                                                                                                        Ist diese Akzentuierung neu in der Verkündigung Jesu?
                                                                                                            Keineswegs. Nach Lukas führt der Toralehrer die-
                                                                                                        ses Gebot an. Das geschieht auch in der rabbinischen
                                                                                                        Tradition. Dort stellt ein anderer Rabbi als noch wich-
                                                                                                        tigere Leitlinie die Gottebenbildlichkeit des Menschen
                                                                                                        heraus. Die Frage, wer denn mein Nächster sei, kann
                                                                                                        sich dann gar nicht mehr stellen. Sie ist von vornherein
                                                                                                        beantwortet.

                                                                                                        Was ist denn dann überhaupt neu in der Verkündigung
                                                            Foto: Klaus G. Kohn                         Jesu?
                                                                                                           Das Neue ist nichts Inhaltliches. Ich habe mich davon
                                                                                                        überzeugt, dass jeder Punkt in der Verkündigung Jesu
                                                                                                        Bezüge zur jüdischen Tradition aufweist. Das Neue ist
                                                                                                        eine Zeitansage. Im Markusevangelium heißt es beim
                                                                                                        ersten Auftreten Jesu nach der Übersetzung Luthers:
                                                                                                        „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbei-
                                                                                                        gekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium.“
                                                                                                        (1,15) Ich übersetze den Anfang mit zwei Sätzen: Die
Sehen Sie weitere Parallelen zwischen der Verkündi-                                                     Zeit ist um, der Zeitpunkt da!
gung Jesu und den Lehren des Judentums?
    Zum Beispiel beim Sabbat. Im Markusevangelium                                                       Aber auch die Erwartung des Himmelreiches ist doch
steht: Der Mensch ist nicht um des Sabbat willen, son-                                                  schon Teil der jüdischen Theologie.
dern der Sabbat um des Menschen willen geschaffen                                                           In der Tat – von der Bibel an. Gott möge kommen und mit
(2,27). Dem entspricht bei den Rabbinen der Satz: Ihr                                                   seiner Herrschaft Recht und Gerechtigkeit schaffen, gegen
seid nicht dem Sabbat übergeben, sondern der Sabbat                                                     all das Unrecht und die Gewalt. Das ist der Inhalt des Rei-
ist euch übergeben. Jede Form von Lebensgefahr ver-                                                     ches Gottes. Jesus beansprucht, dass es in seinem Wirken
drängt den Sabbat. Und was Lebensgefahr ist, wird sehr                                                  schon anbricht. So ruft er zur Umkehr auf. Denn das „Immer
weit interpretiert. Da gibt es keinen Gegensatz zwischen                                                so weiter!“ wäre die Fortsetzung von Unrecht und Gewalt.
Jesus und der Mehrheit der Pharisäer. Die kontroverse
Darstellung in den Evangelien resultiert aus deren Ent-
stehungssituation in der Zeit nach 70.

War Jesus Vertreter einer jüdischen Reformbewegung?
   Jesus war mit Blick auf den Sabbat liberal, und das
waren die Pharisäer auch. Sie sind über Jahrhunderte
christlich diffamiert worden. Der Vorwurf, sie seien Ver-
treter einer rigiden Gesetzlichkeit, ist schlicht falsch.

Welche Bedeutung hatte die Tora für Jesus?
   Der Bezug auf die Schrift und ihre Auslegung ist für
ihn und dann auch für die sich bildende Gemeinde fun-
                                                                                  Foto: Klaus G. Kohn

damental. Und das ist auch die wichtigste Gemeinsam-
keit zwischen Christentum und Judentum. Nehmen wir
Lukas 10, wo ein Toralehrer Jesus fragt, was das größte

                                                                                                                    4 | 2021                                  | 15
Ab wann schält sich eine eigenständige christliche Reli-
                                                                                    gion heraus?
                                                                                        Das war ein langer Weg. Mindestens bis zum jüdisch-
                                                                                    römischen Krieg im Jahr 70 bewegte sich die Jesusge-
                                                                                    meinde im jüdischen Kontext. Von Sadduzäern und Pha-
                                                                                    risäern wurde sie unterschiedlich beurteilt. Für erstere
                                                                                    war schon die Vorstellung der Auferstehung eine Unmög-
                                                                                    lichkeit. Und eine messianische Bewegung, die grundle-
                                                                                    gende Veränderung propagierte – man denke nur an Lukas
                                                                                    1,51–53 –, galt ihnen, die mit der römischen Oberverwal-
                                                                                    tung zusammenwirkten, als eine potenzielle Bedrohung.
                                                                                    Eine Notiz bei dem jüdischen Historiker Josephus über den
                                                                                    Tod des Jakobus, des Bruders Jesu, zeigt einerseits diese
                                                                                    Feindschaft der Sadduzäer, andererseits aber auch, dass
                                                                                    die Pharisäer eine gewisse Sympathie für die Jesusleute
                                                                                    hatten. Selbstverständlich teilten sie nicht die Vorstellung,
                                                                                    Gott habe Jesus von den Toten aufgeweckt.

                                                                                    Welche Gründe hatten sie dafür?
                                                                                        Im Judentum ist mit dem Messias und dem Kommen
                                                                                    des Reiches Gottes die Veränderung der Welt verbun-
                                                                                    den. Davon aber war nach Jesu Tod trotz der Behauptung
                                                                                    seiner Anhängerschaft offenkundig nichts zu spüren.
                                                              Foto: Klaus G. Kohn

                                                                                    Alles ging genauso trostlos weiter wie vorher. Deswe-
                                                                                    gen haben die Pharisäer diesen Gedanken nicht akzep-
                                                                                    tiert, aber er war auch kein Grund, die Messiasgläubigen
                                                                                    zu bekämpfen.

                                                                                    Gleichwohl hat sich die Jesusgemeinde aus dem Juden-
Nach seiner Kreuzigung wurde dieser Gedanke aufge-                                  tum herausentwickelt. Welche Faktoren waren dafür
griffen und fortgeführt. Wie ist daraus die christliche                             maßgeblich?
Kirche entstanden?                                                                      Ein wichtiger Aspekt war, dass in den Städten der
   Die Anhängerinnen und Anhänger Jesu sind zu der                                  Mittelmeerwelt Menschen aus anderen Völkern dazu
Überzeugung gelangt, dass Gott ihn von den Toten auf-                               kamen. Das waren aber zunächst jüdisch Vorgebildete,
geweckt hat. Das ist die Grundaussage des Neuen Testa-                              die „Gottesfürchtigen“: Sympathisanten des Judentums,
ments. Theologen, die sich darum herumdrücken, verdie-                              die gleichsam in der zweiten Reihe mitmachten, aber
nen in meinen Augen nicht, christliche Theologen genannt                            nicht zum Judentum konvertierten. Sie werden gewon-
zu werden. Wir wüssten gar nichts von Jesus, wenn dieser                            nen, als Messiasgläubige in den Synagogen der Diaspora
Glaube nicht entstanden wäre. Und auch das konnte nur                               auftraten. Das wird nach Jesaja 2 und Micha 4 als das
im Judentum geschehen, wo sich die biblisch angelegte                               endzeitliche Kommen der Völker zum Zion gedeutet. Sie
Vorstellung von der Auferstehung der Toten, von den Sad-                            kommen zu dem einen Gott, ohne dass sie jüdisch wer-
duzäern abgelehnt, weithin durchgesetzt hatte.                                      den müssen. Das führt zu Konflikten selbst innerhalb
                                                                                    der messiasgläubigen Gemeinschaft, vor allem aber
Mit Blick auf Jesus wird aber nicht von einer künftigen                             auch mit der Mehrheit der Synagogengemeinden, die
Auferstehung gesprochen, sondern von einer erfolgten.                               den messianischen Glauben nicht teilen kann. Das sind
Das ist doch ein großer Unterschied, oder?                                          jedoch zunächst innerjüdische Konflikte.
   In der Tat. So wie Jesus gesagt hat, das Reich Got-
tes ist nahe herbeigekommen, heißt es nun: Gott hat                                 Wann hat sich das Christentum als eigenständige Reli-
Jesus von den Toten aufgeweckt, verstanden als Beginn                               gion herauskristallisiert?
endzeitlicher Neuschöpfung. Das ist das einzig Neue im                                 Am Beginn des zweiten Jahrhunderts. Verschärfte
Neuen Testament. Aber diejenigen, die zu diesem Glau-                               innerjüdische Streitigkeiten nach dem Jahr 70, der Zer-
ben kamen, hatten nicht das Selbstverständnis: Dann                                 störung Jerusalems und des Tempels durch die Römer,
sind wir also jetzt nicht mehr jüdisch, sondern christlich.                         waren da vorausgegangen: Streitigkeiten zwischen

4 | 2021                                 | 16
Messiasgläubigen und dem sich nun herausbildenden                                     Im Galater-Kommentar Luthers gibt es einen ent-
rabbinischen Judentum. Dessen vorwiegend pharisä-                                  larvenden Satz. Dort sagt er, eine Stelle in der Apostel-
ische Lehrer wollten nicht mehr Partei sein, sondern                               geschichte sei geschrieben „gegen die Juden, unsere
versuchten, alle Überlebenden zu integrieren und einen                             Papisten“. Wer die rabbinischen Texte unbefangen liest,
Weg zu finden, wie das Volk ohne Tempel leben kann. So                             kann erkennen, dass es völlig falsch ist, das Judentum
wurde die Auslegung der Tora entscheidend.                                         als „gesetzliche“ Religion abzutun, in der die Recht-
                                                                                   fertigung „verdient“ wird. Alle wesentlichen Gedan-
Warum hat die Integration nicht funktioniert?                                      ken der reformatorischen Rechtfertigungslehre finden
    Die Messiasgläubigen erwiesen sich aufgrund ihres                              sich bereits in der jüdischen Bibel und dann auch in der
exklusiven Anspruchs für Jesus als nicht integrierbar.                             rabbinischen Tradition.
Und so entstand zum ersten Mal im Judentum das Pro-
blem der Häresie, der Irrlehre. Das Wort Christen begeg-
net zunächst nur als Fremdbezeichnung, wahrschein-
lich eingeführt durch die römische Provinzverwaltung in
Antiochia, die diese sich regelmäßig treffende seltsame
Gruppierung aus jüdischen und nichtjüdischen Perso-
nen argwöhnisch beobachtete. Das Wort Christentum als
Selbstbezeichnung findet sich erstmals in den Briefen des
Ignatius aus Antiochia Anfang des 2. Jahrhunderts. Und
dann sofort in ausschließender Antithese zum Judentum.

Ist das der Beginn des christlichen Antijudaismus?
    Ja, der konkretisiert sich zum Beispiel in einem ande-
ren Verständnis der heiligen Schrift. In den meisten neu-
testamentlichen Schriften bildet die jüdische Bibel die
Basis, auf der allererst deutlich gemacht werden kann,
dass Gott mit Jesus ist und durch ihn wirkt. Nun wird
umgekehrt Jesus zum exklusiven Kriterium der Inter-
pretation der Schrift. Damit wird jüdischer Auslegung
die Legitimität abgesprochen. Wir müssen aber wahr-
nehmen, dass der Gott der Bibel Israels Gott ist. Sein
                                                             Foto: Klaus G. Kohn

Bund mit Israel ist nicht gekündigt. Das Christentum hat
in meinen Augen den Geburtsfehler, antijüdisch zu sein.
Wobei ich immer noch hoffe, dass dieser Geburtsfehler
veränderlich ist.

Maßgeblich für die evangelische Interpretation des Ver-
hältnisses von Christentum und Judentum war Martin                                 Wo stehen wir heute im christlich-jüdischen Dialog?
Luther und wie er Paulus verstand. Welche Bedeutung                                    Insbesondere seit dem letzten Jahrhundert hat sich
messen Sie diesem Sachverhalt bei?                                                 viel getan, mit Blick auf die evangelische Kirche vor
    Luther hat mit Blick auf seine Paulusinterpretation                            allem seit dem Kirchentag 1961. Allerdings scheint mir
eine Projektion aus seiner eigenen Biographie vorge-                               in jüngster Zeit das Bewusstsein für die Bedeutung des
nommen. Er hat den Gedanken von der Rechtfertigung                                 christlich-jüdischen Dialogs in der evangelischen Kirche
des sündigen Menschen allein aus der Gnade Gottes                                  wieder ins Hintertreffen zu geraten.
zuerst in den Psalmen entdeckt und dann auch bei Pau-
lus gefunden. Von daher hat er sein Leben als Mönch                                Kurz und knapp: Wer ist Jesus für Sie?
und sein Streben nach Selbstrechtfertigung als Irrweg                                 Jesus ist für mich derjenige, durch den ich kraft des
erkannt und daraus seine Kritik an der spätmittelalter-                            Heiligen Geistes zu dem einen Gott gekommen bin, der
lichen Kirche abgeleitet.                                                          Israels Gott ist und bleibt. Als Christen sind wir Hinzu-
                                                                                   gekommene, nicht zum Judentum, aber zu Israels Gott.
Heißt das, Luther lässt Paulus gegen die Juden kämp-                               Und das stellt uns zu Israel und zum Judentum in das
fen, so wie er gegen die Kirche seiner Zeit gekämpft                               Verhältnis einer Partnerschaft.			                   |mic
hat?

                                                                                              4 | 2021                                 | 17
Innerlich zur
Ruhe kommen
Mitten in Braunschweig, auf dem Gelände des Marienstifts, entsteht das
„Zentrum Würde“. Ein Raum für das Innehalten und Gespräche über das Leben,
die Trauer und den Tod.
                                                  Ruth Berger und Dr. Rainer Prönneke.

                                                                                         Foto: Klaus G. Kohn

4 | 2021                  | 18
Reportage

A
             n der Helmstedter Straße 35 in Braun-          aufgrund seiner Lebenslage ausgegrenzt.“ Für den
             schweig herrscht Trubel. Die Straßenbah-       Mediziner ist besonders der würdevolle Umgang mit
             nen und Busse halten, Menschen steigen         dem Tod ein wichtiges Thema. „Früher war das Verständ-
             aus, finden ihren Weg in den Haupteingang      nis verbreitet, der Tod sei nur würdevoll, wenn das Leben
             des Marienstift Krankenhauses oder ziehen      bis zum Ende gelebt wird, unabhängig davon, wie sehr
weiter. Die Braunschweiger Stadthalle ist in der Nähe,      jemand darunter leidet.
ebenso ein großes Einkaufszentrum, Schulen und viele
Geschäfte für den täglichen Bedarf. Mittendrin steht die      „So wie man eine Geburt begleitet
Friedenskapelle. Schon beim Übertreten der Schwelle
ist die Entschleunigung spürbar. Der Lärm der Straße ist     und schön gestaltet, sollte es auch im
kaum noch hörbar. Es herrscht Ruhe.                             Umgang mit Sterbenden sein.“
    Das ist nur ein Aspekt, auf den das „Zentrum Würde
am Marienstift“ den Fokus legt. Die kleine Kapelle soll        Heute gehe es vermehrt um ein würdevolles Ster-
Menschen einen Raum geben, innerlich zur Ruhe zu            ben ohne Leid.“ Entscheidender sei geworden, „wie“ man
kommen: einen Raum für eigene Gedanken und einen            sterbe. Denn „die Sterbekultur ist auch eine Lebenskul-
Raum für Trauer, aber auch einen Raum für Gespräche.        tur“, sagt Prönneke. Geburt und Tod müssten gleichge-
Es geht um den würdevollen Umgang miteinander, vom          setzt werden. So wie man eine Geburt begleite und schön
Anfang des Lebens bis ans Ende und um das Weiterleben       gestalte, solle es auch im Umgang mit Sterbenden sein.
nach dem Verlust eines geliebten Menschen.                     Und dabei sei essentiell, dass Angehörige mit dem
    Würde, erklärt Diakonin und Seelsorgerin Ruth           Sterbenden in Kontakt bleiben und sich nicht zurückzie-
Berger, die seit über 20 Jahren am Marienstift tätig ist,   hen. Darum geht es auch in dem Letzte-Hilfe-Seminar,
bedeute Verschiedenes. „Es kommt auf die persönli-          das bereits unter dem Label „Zentrum Würde“ angebo-
che Situation an, wie der Begriff Würde definiert wird.“    ten wird.
So verbinden junge Familien mit einem Neugeborenen             Die aktuellen Kurse finden noch im Krankenhaus
möglicherweise etwas Anderes mit Würde, als todkranke       statt, in Zukunft werden sie in der Kapelle durchgeführt.
Menschen, die sich über das Sterben Gedanken machen.        Sie richten sich vor allem an Angehörige von schwer-
Und Menschen mit Behinderungen denken nochmals              kranken Menschen. Aber auch Ehepaare besuchen die
anders über diesen Begriff nach.                            Kurse, um sich gemeinsam darauf vorzubereiten, dass
    Dr. Rainer Prönneke, Chefarzt am Marienstift und        ein Lebenspartner sterben wird.
Palliativmediziner, erläutert: „Das Zentrum Würde ist          Dr. Rainer Prönneke betont, warum die Teilnahme an
offen für alle Kulturen und Religionen. Niemand wird        einem solchen Kursus hilfreich sein kann. „Wir schaffen

                                                                        4 | 2021                                | 19
. Foto: Klaus G. Kohn
Die Friedenskapelle: Heimstatt für das Zentrum Würde am Marienstift.

im Zentrum Würde ein Angebot zum Reden. Ich habe           vorzubereiten. Es geht darum, die Hinterbliebenen neu
die Erfahrung gemacht, dass es die Menschen kräftigt,      ins Leben zu bringen, ihnen Halt zu geben und einen
wenn sie sich bewusst mit dem Tod beschäftigen, anstatt    Raum. „Wir können Rituale neu denken, uns Freiräume
Tabuthemen zu verdrängen.“                                 schaffen und daraus neue Kraft ziehen. Auch dazu dient
    Noch fehlen Genehmigungen, um die nötigen Sanie-       das Zentrum Würde,“ sagt Dr. Prönneke.       | Sina Sosniak
rungen in der 150 Jahre alten denkmalgeschützten
Kapelle durchführen zu können. Auch auf Spenden ist
die Stiftung Neuerkerode angewiesen. Aber Ruth Berger       Spendenkonto
bleibt optimistisch: „Wir lassen uns nicht den Wind aus
den Segeln nehmen. Bis die großen Bauarbeiten begin-        Zur Sanierung der denkmalgeschützten Kapelle freut
nen, können Veranstaltungen wie Konzerte und Ausstel-       sich die Evangelische Stiftung Neuerkerode über
lungen in der Kapelle durchgeführt werden.“                 Spenden und honoriert diese mit einem extra ange-
    Und für die Zeit nach der Renovierung hat die Diako-    fertigten Spendenregal in der Kapelle. Dort erhal-
nin große Pläne. An einer langen Tafel im vorderen Teil     ten Spender einen Ziegelstein mit ihrem Namen. Die
der Kapelle sollen die Pflegeschülerinnen und -schüler      Regale dafür fertigt die Mehrwerk gGmbH der Stif-
zusammenkommen, gemeinsam kochen und sich dabei             tung an.
über ihr Verständnis von Würde in der Pflege unterhal-      IBAN: DE55 5206 0410 0100 6003 34
ten.                                                        BIC: GENODEF1EK1
    Die Weihnachtszeit sei in der Trauerbegleitung eine     Kreditinstitut: Evangelische Bank
besondere Zeit, sagt Ruth Berger. Aus diesem Grund          Verwendungszweck: Zentrum Würde (und ggf. die
habe man ein Trauerseminar entwickelt, um Angehö-           Anschrift für eine Spendenbescheinigung)
rige auf die Festtage ohne einen geliebten Menschen

4 | 2021                              | 20
Nachgefragt

               „Welche Ziele verfolgt
                der Zukunftsprozess
                für die kirchlichen
                Gebäude?“
                Eine Antwort von Antonia Busch, Projektleiterin des
                Gebäudezukunftsprozesses in der Landeskirche.

                    Auf dem Gebiet der Landeskirche Braunschweig gibt es rund 1.400 Gebäude, in denen
                das kirchliche Leben gepflegt wird. Gemeindehäuser bieten Platz für Versammlungen,
                in Pfarrhäusern wohnen Pfarrpersonen mit ihren Familien.
                    Vor allem in den rund 400 Kirchen wird der Glaube gefeiert und verkündet. Die Räume
                befinden sich im Eigentum verschiedener kirchlicher Rechtsträger, die viel Zeit, Auf-
                merksamkeit und Geld aufwenden, um sie zu pflegen und instand zu halten.
                    In den letzten Jahren waren die Mitgliederzahlen rückläufig. Damit ist auch in Zukunft
                zu rechnen. Deshalb ist es notwendig, dass wir aufeinander zugehen und miteinander
                die Zukunft gestalten.
Foto: Privat

                    Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, auch die Gebäude auf den Prüfstand zu stel-
                len. Die Bauunterhaltung und Werterhaltung der kirchlichen Gebäude nimmt viel Zeit
                der haupt- und ehrenamtlich Tätigen in Anspruch und bindet viele finanzielle Mittel
                der Kirchengemeinden. Deshalb hat die Landessynode im Mai 2019 den Gebäudezu-
                kunftsprozess beschlossen.
                    Ziel ist die Initiierung eines Prozesses, der es den Kirchengemeinden ermöglicht, sich
                intensiv mit ihrem Gebäudebestand auseinander zu setzen. Sich verändernde Bedarfe
                der kirchengemeindlichen Arbeit erfordern einen neuen Blick auf die Gebäude.
                    Ziel ist es, dass die Gebäudekapazitäten sowie die vorhandenen finanziellen Mittel
                sinnvoll und effizient genutzt werden. Jede Gemeinde soll in die Lage versetzt werden
                zu entscheiden, welche Gebäude in Zukunft zum Gemeindeleben beitragen und welche
                Gebäude gegebenenfalls umgenutzt oder aufgegebenen werden können.

                      Kontakt
                      antonia.busch.lka@lk-bs.de

                                                                       44|| 2021
                                                                            2021   Evangelische Perspektiven|| 21
Über Glauben
Bei Radio Oker-
welle ist das
Thema Religion
                   im Gespräch
ein fester

                   R
Bestandteil des                  eligiöse Themen, Gesprä-           Mit dabei war der im September ver-
Programms.                       che über Gott und die Welt     storbene Hartmut Bienmüller, der viele
Vor allem sonn-                  – für Wolfram Bäse-Jöbges,
                                 Geschäftsführer von Radio
                                                                Ausgaben moderiert, Beiträge und Inter-
                                                                views geliefert hat. „Es war ein sehr
tags im Maga-                    Okerwelle, sind das selbst-    strukturiertes Format, das von klassi-
zin „Blickpunkt    verständliche Bestandteile im Programm
                   des Bürger-Radios für die Region Braun-
                                                                scher Kirchenmusik begleitet wurde“,
                                                                würdigt Bäse-Jöbges diese Arbeit.
Glaube“. Ein An-   schweig.                                         Doch nach mehr als 20 Jahren, dem
gebot seit mehr        „Wir sorgen dafür, dass Vertreter des
                   kirchlichen Lebens zu Wort kommen über
                                                                Ausscheiden von Peter Temme und des-
                                                                sen Umzug nach Göttingen war es Zeit für
als 20 Jahren.     aktuelle Themen, die die Menschen hier in    Neues. Dabei war es keine Frage, dass die
                   der Region bewegen“, sagt Bäse-Jöbges,       Redaktion auch weiterhin ein Magazin mit
                   „wir wollen neue Sichtweisen und Zugänge     religiösen Inhalten senden will, dieses
                   sowie einen Dialog ermöglichen.“             sollte jedoch anders ausgerichtet sein.
                       Dabei kann es um die Vorstellung einer
                   neuen Pfarrerin oder eines neuen Pfarrers       Bei den Gesprächen im
                   gehen, um Sterbebegleitung und Hospiz,
                   den Klostergarten in Riddagshausen, das       Studio geht es um Themen,
                   Zentrum Würde am Marienstift oder die          die Menschen berühren.
                   Präsentation eines Buches.
                       Darüber hinaus werden bei „Blickpunkt
                   Glaube“ weitere Themen besprochen, bei-          „Unser Ziel ist es, mit dem verän-
                   spielsweise künstliche Intelligenz oder      derten Format weitere Hörergruppen
                   fremde Kulturen und Flüchtlinge. Für das     zu erschließen“, so der Geschäftsfüh-
                   Magazin gibt es auf der Frequenz 104,6       rer. „Anstelle eines festen Sendesche-
                   am Sonntag von 16 bis 17 Uhr einen fes-      mas wollen wir flexibler sein.“ Und noch
                   ten Sendeplatz, wiederholt wird es am        etwas war klar: den traditionellen Sonn-
                   Montag von 9 bis 10 Uhr.                     tags-Gottesdienst im Radio will und kann
                       Diese Zeiten sind seit der Gründung      die Redaktion nicht ersetzen.
                   von Radio Okerwelle Ende der 1990er              Seit 2020 bespielt und bestückt Bäse-
                   Jahre unverändert. Bis Dezember 2019         Jöbges den angestammten Sendeplatz
                   hat der katholische Pastoralreferent         gemeinsam mit der Kunsthistorikerin
                   Peter Temme das Magazin „Blickpunkt          Karen Hartmann; auch die Theologin
                   Glaube“ federführend gestaltet und mehr      Iris Fanger, die als Religionslehrerin tätig
                   als 1200 Sendungen produziert.               war, gehört zum Redaktionsteam.

4 | 2021                    | 22
Hintergrund
Foto: Radio Okerwelle

                        Gestalten „Blickpunkt Glaube“ (v.l.): Iris Fanger, Wolfram Bäse-Jöbges und Karen Hartmann.

                            Eine besondere Bedeutung haben für sie die Studio-              Für Radio Okerwelle ist „Blickpunkt Glaube“ nicht das
                        gäste, mit denen das Magazin „Blickpunkt Glaube“ vorab          einzige religiöse Format. Werktags, von montags bis frei-
                        produziert wird. Bei den Gesprächen im Studio kann es           tags, wird um 18.55 Uhr auch „Das Wort zum Alltag“, eine
                        auch mal philosophisch werden, und es kann um The-              fünf minütige Andacht aus dem Braunschweiger Dom
                        men gehen, die Menschen tief in ihrem Inneren berühren.         übertragen. Bäse-Jöbges: „Damit bringen wir die Men-
                            Besonders eindrucksvoll war für Bäse-Jöbges ein             schen mit einem guten Gedanken in den Feierabend.“
                        Gespräch mit Renate Wagner-Redding, der Vorsitzenden                Obwohl es an Themen aus dem kirchlichen Umfeld
                        der Jüdischen Gemeinde in Braunschweig, über jüdisches          nicht mangelt, freut sich die Redaktion über weitere Vor-
                        Leben und jüdische Kultur, über koscheres Essen und den         schläge. Dabei kann es um ehrenamtliches Engagement
                        Ruhetag Schabbat, über Respekt und Verständnis. „Da gab         in den Gemeinden gehen, um Jugend- und Konfirman-
                        es richtig viele Reaktionen“, freut sich Bäse-Jöbges.           denprojekte, um Vorträge oder Impulse. Und wer Spaß
                            Wenn Gäste kommen, dürfen sie ihre Musikwünsche             daran hat, ehrenamtlich in der Redaktion mitzuarbeiten,
                        mitbringen, die idealerweise zur Person und zum Thema           ist ebenfalls willkommen.
                        passen. Dabei ist das Spektrum breit gefächert: So ist              „Interessenten brauchen keine technische oder theo-
                        traditionelle Kirchenmusik zu hören, Klassik, aber auch         logische Ausbildung“, sagt Bäse-Jöbges. „Wir bespre-
                        Rock und Pop. Die Titel werden ebenso wie das Thema             chen, wie die Zusammenarbeit aussehen kann und wie
                        des Magazins „Blickpunkt Glaube“ wöchentlich auf der            sich Themen vorbereiten lassen.“ Melden können sie sich
                        Homepage des Senders ankündigt, auch in den Sozialen            unter: religion@okerwelle.de.                | Rosemarie Garbe
                        Medien ist das Bürger-Radio vertreten.

                                                                                                     4 | 2021                                    | 23
Fair und
                      ökologisch
 Viele Kirchen-
 gemeinden im
 Braunschweiger
 Land setzen sich

                      W
 für Nachhaltigkeit
                                       as können Kirchengemeinden tun, um sich für Nachhaltigkeit und
 und Klimaschutz                       den Klimaschutz einzusetzen? Viele Gemeinden in der Landeskirche
 ein. Gute Praxis,                     Braunschweig gehen kreative Wege. Wie zum Beispiel die Kirchen-
                                       gemeinde St. Georg in Goslar. Hier wurde ein elektrisches Lasten-
 die anregen und                       rad angeschafft, das nicht nur für Gemeindeeinkäufe und Aktionen
 Mut machen kann.     zur Verfügung steht. Der „LastenOhle“ kann von jedem Menschen aus dem Stadtteil
                      Jürgenohl ausgeliehen werden.
                         Finanziert wurde der LastenOhle unter anderem durch Crowdfunding: Inner-
                      halb von zweieinhalb Monaten kamen 3.100 Euro über die Crowdfunding-Plattform
                      „zusammen-gutes-tun.de“ der Evangelischen Bank zusammen. Dank der Volksbank
                      Nordharz, die 2.000 Euro spendete, und weiteren Sponsoren und Zuschüssen konnte
                      die Gesamtsumme von 5.500 Euro erreicht werden.
                         Ziel des Projektes ist es, eine Alternative zum Auto zu bieten und Menschen damit
                      zu nachhaltigem und klimafreundlichem Handeln zu ermutigen. Nicht nur darüber
                      sprechen, sondern auch wirklich etwas tun, um die Schöpfung zu bewahren, das ist
                      den Projektverantwortlichen um Diakonin Kathrin Lüddeke ein großes Anliegen.
                         Der LastenOhle ist nicht das erste nachhaltige Projekt der Gemeinde. Seit rund drei
                      Jahren steht hier ein Hochbeet, das von Kathrin Lüddeke und Küsterin Manuela Holowka
                      zusammen mit Teamern, Konfirmanden und der offenen Kindergruppe gepflegt wird.
                      Hier konnten bereits Salat, Erdbeeren, Tomaten und Kürbis geerntet werden.

4 | 2021                    | 24
Hintergrund

    Weitere Hochbeete sollen auf dem Gemeindegrund-
stück aufgebaut werden. „Die Menschen aus dem Stadt-
teil durch das gemeinsame Gärtnern anzusprechen und
zusammenzubringen“, das ist laut Melanie Grauer, Pfar-
rerin in St. Georg, das Ziel des Projekts.
    Auch in der Nachbargemeinde St. Peter und Paul am
Frankenberge ist das Interesse am gemeinschaftlichen
Gärtnern groß. Günter Eickhoff, Küster in der Franken-
berger Gemeinde, nahm sich dieses Wunsches an und
entwickelte gemeinsam mit Christiane Kalbe, Garten-
bauingenieurin in Goslar, ein Konzept für ein großes
„Urban Gardening“- Projekt auf der Frankenberger
Kirchwiese.
    „Urban Gardening“, damit ist das gemeinschaftli-
che Anbauen von Lebensmitteln im öffentlichen Raum
gemeint. Alle nötigen Vorkehrungen werden getroffen,
damit es im Frühjahr 2022 mit dem Einpflanzen losgehen
kann. Von dem fünf Meter breiten Streifen, der für das
Projekt vorgesehen ist, soll ein Meter zum Anpflanzen
von Blumen genutzt werden.
    Die Gemeinden Schladen und Densdorf haben sich
vor allem auf den Schutz von Insekten konzentriert. So
hat die Gemeinde Schladen unter anderem einem Insek-
                                                            Foto: Privat

tenhotel, das umgesiedelt werden musste, ein neues
Zuhause gegeben. Seit Herbst 2020 steht es auf dem
Friedhof.                                                                  Mit einem „Insektenhotel“ bietet die Kirchengemeinde
    „Im Frühjahr 2021 haben wir bereits Wildbienen                         Schladen Wildbienen ein Zuhause.
dort schlüpfen gesehen“, berichtet Sonja Achak, Pfar-
rerin im Pfarrverband Schöppenstedt-Süd. Obwohl der
Boden trocken und kalkhaltig ist, hat es die Gemeinde
geschafft, auf der Wiese des Schladener Friedhofs Blu-                     men aus dem eigenen Pfarrgarten für den Altar zu pflü-
men, Kräuter und Gräser anzupflanzen, die besonders                        cken, Müll zu vermeiden und Recyclingpapier zu nutzen.
wertvoll für die Bienen sind.                                                  Eine faire Gemeinde zeichnet sich dadurch aus, dass
    Die Gemeinde Denstorf wiederum legte auf ihrem                         sie sich mit vielen einfallsreichen und nachhaltigen Ideen
Friedhof eine etwa 45 Quadratmeter große Blühwiese                         dafür einsetzt, dass in der Gemeinde fair und ökologisch
mit 60 verschiedenen Sorten Blühpflanzen an. Da Insek-                     gehandelt wird. Auch Einrichtungen können sich zertifi-
ten wie Wildbienen, Hummeln und Schmetterlinge                             zieren lassen. Mehr Informationen zur Fairen Gemeinde
immer seltener geeignete Lebensbedingungen finden,                         gibt es im Internet: www.fairegemeinde-lkbs.de
wurde der Boden mit einem Mineralgemisch und Sand                              Ein weiteres Beispiel für Umweltschutz und CO2-
aufgefüllt, sodass sich die dort lebenden Insekten Höh-                    Vermeidung ist in Broitzem zu sehen. Mit einer Solar-
len bauen können.                                                          anlage auf dem Kirchendach der Versöhnungskirche war
    Einen großen Schritt Richtung Nachhaltigkeit und                       die Gemeinde sogar Vorreiter: Die Solaranlage gibt es
Klimaschutz gehen auch sieben Gemeinden aus den                            nämlich bereits seit 20 Jahren und war eine der ersten
Propsteien Braunschweig, Königslutter und Goslar,                          Solaranlagen der Region. Die dadurch gewonnene Ener-
denn sie sind bereits als „Faire Gemeinde“ zertifiziert.                   gie wird in das Stromnetz eingespeist. Wie viel das ist,
Sie verpflichten sich freiwillig, beispielsweise auf Öko-                  können Besucherinnen und Besucher direkt auf einer
strom umzusteigen, Mehrweggeschirr einzusetzen, Blu-                       Anzeigetafel vor der Kirche ablesen.           | Sabrina D. Seal

                                                                                        4 | 2021                                      | 25
Sie können auch lesen