Lost in time | Studien zu Zeit und Funktion in der Keramik

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Lost in time | Studien zu Zeit und Funktion in der Keramik
lost in time | Studien zu Zeit und Funktion in der Keramik

Dokumentation
Masterthesis praktischer Teil
                                Hochschule Luzern Design & Kunst | Major Product and Design Management 2012/2013
                                Erika Fankhauser Schürch | Betreuung praktischer Teil Christoph Zellweger | Luzern Januar 2013
Lost in time | Studien zu Zeit und Funktion in der Keramik
Während der Arbeit an der praktischen MA-Thesis              In der schriftlichen Thesis habe ich untersucht, wie
Einleitung   hat sich mein Blickwinkel verändert. Weg von der Ver-         Gestalter die Vergänglichkeit in ihrer Arbeit thematisieren,
             gänglichkeit der Materialität als primäres Thema, hin zur     wie sie darauf reagieren und wie die Vergänglichkeit als
             Vergänglichkeit der Funktion.                                 Gestaltungsmittel eingesetzt wird. Dabei klammerte ich die
                                                                           soziokulturelle Vergänglichkeit bewusst aus. In der prakti-
                                                                           schen Thesis wollte ich anschliessend aus dem Katalog der
                                                                           gesammelten Ausdrucksformen der Vergänglichkeit ein
                       Als Keramikerin arbeite ich mit einem Material, das neues Produkt entwickeln.
             normalerweise nicht zerfällt, sich nicht kompostieren lässt,
             nicht verrottet. Keramik gilt als archäologisches Leitfossil          Nach einer relativ langen Phase des Experimentie-
             im Gegensatz zu Holz, Papier, Textilien, Metallen, welche     rens mit keramischen Materialien, die mich unter anderem
             sich alle mehr oder weniger rasch zersetzen. Zu Beginn lag zu archäologischen Fundmaterialien führte, stellte sich die
             mein Fokus auf diesem Gegensatz.                              Frage nach der ideellen Vergänglichkeit. Woher und wohin
             Je dünner ich das an sich nicht zerstörbare Material ver-     gehen die Dinge? Wie verändern sie sich, wenn sie zwar
             arbeite, desto bewusster wird man seiner Fragilität. Und      noch vorhanden sind, aber nicht mehr gebraucht werden?
             doch lässt es sich nicht mehr auflösen. Wenn eine Tasse       Wie entwickeln sie sich weiter?
             nur noch aus Scherben besteht, lassen sich diese weder in
             ihre ursprüngliche Materialität noch in eine neue Mate-               Aus dieser Fokussierung auf einen Aspekt der
             rialität transformieren. Damit sich die Bestandteile von      Vergänglichkeit ergab sich die Untersuchung zu Zeit und
             gebranntem Porzellan, Feldspat, Quarz und Kaolin wieder       Funktion in der Keramik, exemplarisch durchgespielt an-
             trennen, bräuchte es eine Kernschmelze wie bei einem          hand des Porzellan-Kaffeefilters.
             Reaktorunfall in einem Atomkraftwerk, oder die Hitze des
             Erdinnern, das Magma.
Lost in time | Studien zu Zeit und Funktion in der Keramik
1. Vergänglichkeit in der Keramik						                                   1
Inhaltsverzeichnis            Was will ich von der Vergänglichkeit ?

                     2. Recherche zur Vergänglichkeit der Materialität
                             Materialversuche Frühling 2012					                               2
                             Materialversuche Herbst 2012 und daraus realisierte Prototypen    3
                             Frühere Arbeiten von mir zum Thema				                            6
                             Positionen anderer Gestalter mit keramischem Material zum Thema   7
                             Themenfindung, Projekt in hundert Worten				                      8
                             Fünf verworfene Unterthemen					                                  9

                     3. Eingrenzung
                              Vergänglichkeit der Funktion, das sechste Unterthema		           10
                              Wohin gehen die Dinge?						                                     12
                              Keramik als Träger von Kulturgeschichte				                      13

                     4. Der Kaffeefilter als exemplarisches Beispiel
                              Konzept								                                                  14
                              Soziokulturelle Bedeutung des Kaffeefilters, Verwendung heute    15
                              Versuche und Entscheid Material					                             16
                              Versuche und Entscheid Formgebung				                            17
                              Realisation							                                               18

                     5. Studien zu Zeit und Funktion in der Keramik
                              Bilder								                                                   22
                              Beschrieb							                                                 25
                              Bilder gross							                                              26
Lost in time | Studien zu Zeit und Funktion in der Keramik
Zu Beginn des Studiums stand das Thema der
1. Vergänglichkeit                                                   Zeit
                                                                                      emotionalen Bindung zwischen Objekt und Nutzer im
in der Keramik                                                                        Vordergrund meines Interesses. Jedes Objekt erzählt
                                                      Prozess                         Geschichten. Der Nutzer verbindet vielfältige Erin-
Was will ich von der Ver-                                                             nerungen mit dem Objekt, was dann die emotionale
gänglichkeit ?
                                                                                      Bindung ergibt. Bei meinen Untersuchungen stellte
                                                                 Transforma-          ich fest, dass ich als Gestalterin auf die emotionale
                                                                     tion
                                                                                      Bindung zwischen Objekt und Nutzer einen margina-
                                    Vergänglichkeit                                   len Einfluss habe.

                                                                                              In der Annahme, dass der teilweise oder voll-
                                                       emotionale Verbin-
                                                      dung zwischen Objekt            ständige Zerfall eines Objekts die emotionale Bindung
          Geschichten                                      und Nutzer                 stärkt, habe ich mich in der schriftlichen Thesis mit
                                    Emotionen                                         der Vergänglichkeit als Gestaltungsmittel beschäftigt.
                                    Empathie                                          Die These, dass eine emotionale Bindung zum Objekt
                                     Freude                                           Einfluss hat auf den Verbrauch von Gütern, hat sich
                                                                                      bestätigt. Insofern ist die Absicht, die Bindung zwi-
              Achtung, Respekt,                                                       schen Objekt und Nutzer zu stärken auch ein Beitrag
            Sorgfalt, Aufmerksam-                                                     zu nachhaltigerem Konsum.
             keit, Nachhaltigkeit         Bewusstsein für Prozesse der Vergänglich-
                                                           keit                              Mit meiner praktischen Arbeit will ich Be-
                                                                                      wusstsein schaffen für Prozesse der Vergänglichkeit.

                                                                                                                                               1
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2. Recherche zur
Vergänglichkeit
der Materialität
Materialversuche Frühling
2012

                            2
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Abrieb in der Trommelmühle
2. Recherche zur          - entspricht einem beschleu-
Vergänglichkeit           nigten Bachbett - oder durch
                          Sandstrahlen.
der Materialität          Die Objekte waren alle ge-
                          brannt bei rund 1000°C und
Materialversuche Herbst   somit relativ weich. Hochge-
2012                      brannte Scherben zeigten auch
Abrieb und Sandstrahlen   nach langem Mahlen fast keine
                          Abriebspuren.

                                                          3
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Steingutmasse (graubeige)
2. Recherche zur          und Porzellan (cremeweiss) in
Vergänglichkeit           Kombination.
                          Steingutstücke mit Porzellan-
der Materialität          haut überzogen (engobiert).
                          Beim Trocknen und beim Brand
Materialversuche Herbst   rissen sie auf.
2012 - Deformation im     Porzellanversuche mit Stein-
Brand bei 1250°C          gutmasse als durchgehender
                          Zwischenschicht versehen.

                                                          4
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sandstrahlen

                                            transluszenter
                                            Bone China-
                                            Porzellan

2. Recherche zur
Vergänglichkeit
der Materialität
Materialversuche Herbst
2012, daraus realisiserte
Prototypen

                            Steingut mit
                            Porzellan
                            verbinden und
                            bei 1250°C
                            brennen.

                            Steingut
                            schmilzt und
                            dehnt sich
                            aus.

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Adventskalenderkranz 2012

2. Recherche zur
Vergänglichkeit
der Materialität
                                entre les deux 2008               dingding 2012
Frühere Arbeiten von mir
zum Thema

                                       Gebse 2012

             Lichtbecher 2002                                                     Installation Schlachthof Schötz 2012

         Kostbare Welten 2009

                                                                                                                         6
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2. Recherche zur
Vergänglichkeit
der Materialität
Positionen anderer Ge-
stalter mit keramischem
Material zum Thema

                                  Joan Serra   Makiko Nakamura     Daniel Wehrli

               Arnold Annen   Claudia Biehne   Elisabetta Gendre   Marek Cecula

                                                                                   7
Von den Versuchen mit dem Steingutkern und                    Mein Fazit: Eine Fülle von Experimenten, faszi-
2. Recherche zur            Porzellanmantel hatte ich mir mehr versprochen. Beim ers-      niert und abgelenkt von der keramischen Materialität,
Vergänglichkeit             ten Brand waren sie sehr unberechenbar und lebendig im         aber kein Thema, keine Aussage.
                            Ofen. Beim zweiten Brand mit kleinen Hohlkörpern hat sich      Ich versuche, meine Absichten in Worte zu fassen und
des Materials               der Steingut nur wenig verformt (Bild S. 4 unten Mitte). Die   beschreibe mögliche Unterthemen:
                            Versuche mit Steingut in der Porzellanmasse zeigten bei
Themenfindung
                            den Prototypen, dass dies nur funktioniert, wenn die Ob-       Mein Projekt in hundert Worten, Stand November 12
Projekt in hundert Worten
                            jekte direkt hochgebrannt werden. Sonst entsteht zu viel       Auf einer grossen Fläche, regelmässig aber scheinbar zu-
                            Spannung im Material, die Objekte reissen (Bild S. 5 unten     fällig verteilt, liegen unzählige, handgrosse Dinge. Die Ga-
                            links).                                                        leriebesucher treten neugierig näher, haben den Wunsch,
                            Fasziniert bin ich von der Oberfläche und dem Spiel mit        die Objekte anzufassen, zu berühren.
                            der Wandstärke durch das Sandstrahlen. Die Becher aus          Jedes Objekt ist ein Unikat. Sind es kostbare Scherben aus
                            Knochenporzellan würde ich für die Produktion giessen,         archäologischen Ausgrabungen? Sind es Fundstücke, ge-
                            da Bone China sehr anspruchsvoll zu drehen ist. Zudem          sammelt am Strand, in Baugruben und Waldwegen? Oder
                            lenken die fein wahrnehmbaren Drehrillen von den Licht-        sind es gar Teile eines Meteoriten?
                            punkten ab. Wenn ein Becher beim Sandstrahlen zu starke        Die Bedeutung wird nicht ganz klar, doch die Faszination
                            Spannung erhält, zerreist er im Hochbrand (Bild S. 5 oben      bleibt. Krustige Oberflächen, abgeschabte Stellen, par-
                            links).                                                        tiell erkennbare Formen regen die Fantasie an, über das
                                                                                           Woher und Wohin zu rätseln. Die Betrachter dürfen die
                                   Gruppenbesprechung in Luzern am 8. Novem-               Objekte berühren und werden durch sie berührt. Erinne-
                            ber 2012 mit den Fragen: Was siehst du? Welche Fragen          rungen an alte Formen und an eigene Sammeltätigkeit
                            beantwortet diese Arbeit? Was ist die primäre, was die         werden wach, Parallelen zur eigenen Vergänglichkeit
                            sekundäre Aussage?                                             klingen an. Zwischen Stein, der zu Staub wird, liegen die
                            Welches Objekt trifft den Kern meiner Aussage?                 Dinge.

                                                                                                                                                          8
2. Recherche zur
 Vergänglichkeit
 der Materialität
 Themenfindung
 Fünf verschiedene
 Unterthemen

stehen gebliebene Zeit           poetisch erzählende An-         verkrustete Zeit                abgerieben schön              erstarrte Bewegung
                                 sammlung

Suppentopf                       Strandgut                       Ausgrabung                      Schmucke Scherben             verformte Flaschen
Zu alten Deckeln aus Por-        In grosser Menge liegen         Scherben, Bruchstücke von       Keramische Gefässe aus        Colaflaschen haben eine
zellan, Fabrikat Langenthal      Objekte auf einer begrenz-      unkenntlichen Objekten,         dem Brockenhaus werden        Form, welche weltweit
der 1920er bis 40er Jahre        ten Fläche, wie zufällig im     Gefässüberreste liegen in       in unterschiedlich grosse     jedes Kind kennt. Abgüsse
werden neue Gefässe aus          Sand liegen gebliebenes,        präziser Anordnung auf ei-      Scherben zerschlagen und      davon werden mit Steingut
keramisch fragilen, sich         angespühltes Strandgut.         nem Tisch. Dies erinnert an     anschliessend in der Trom-    gegossen und mit Porzellan
auflösenden Materialien          Einige Objekte erinnern an      eine archäologische Samm-       melmühle gemahlen und /       engobiert.
produziert.                      Stein, andere an deformier-     lung. Einige Objekte wirken     oder in der Sandstrahlan-     Anschliessend wird für
Es entsteht eine Spannung        te, abgeschabte Abfälle der     wie aufgeblasen, andere         lage bearbeitet. Es entste-   Steingut zu hoch gebrannt,
auf verschiedenen Ebenen:        Konsumgesellschaft.             verschmolzen, verkrustet        hen Scherben von hohem        bei 1250°C. Dadurch ver-
- Zeit - alte verzierte Griffe   Materialien und Formen          oder einfach zerbrochen         ästhertischen Wert, die nur   biegt sich der Steingutkör-
zu aktuellen Formen.             sind vielfältig. Die Ästhetik   und abgeschabt. Die teils er-   noch vage an die Herkunft     per. Die Porzellanhaut stützt
- Materialität - hartes,         der Objekte ist anspre-         kenntlichen, teils fragmen-     erinnern.                     ungleich, je nach Dicke der
solides Industrieporzellan       chend. Die Objekte wecken       tarischen Artefakte lassen                                    Schicht. Die Flaschen verbie-
zu zarten, zerbrechlichen,       Erinnerungen und laden ein,     Fragen über die Entwicklung                                   gen sich individuell.
Porzellanen, welche eventu-      eigene Geschichten dazu zu      der Menschheit, über Zeit                                     Die deformierten Körper
ell mit Glas versetzt sind.      erfinden.                       und Veränderung aufkom-                                       stehen in grosser Anzahl im
- Funktion - statt Essen nur                                     men.                                                          Raum und erinnern an die
Installation                                                                                                                   menschliche Figur.
Erlebte Geschichte               Erzählungen                     Archäologie                     Dekonstruktion                Kontrolle / Kontrollverlust

                                                                                                                                                               9
Ich will Vergänglichkeit bewusst machen. Präziser,     ins Museum, ins Brockenhaus oder auf die Schutthalde.
3. Eingrenzung           ich will Bewusstsein schaffen für Prozesse der Vergänglich-
                         keit. Denn diese kann an sich gar nicht gesehen werden.         Viele solcher Objekte kommen mir in den Sinn:
Vergänglichkeit der      So wie die Gegenwart nicht festgehalten werden kann,            • der Milchkrug, ersetzt durch Tetrapack und Plastikbeu-
Funktion                 weil sie sich nur aus der Vergangenheit und der Zukunft             tel
Das sechste Unterthema   erklärt, so lässt sich auch die Vergänglichkeit nicht genau     • die Kaffeekanne, da alle den Kaffee aus der Maschine
                         bestimmen. Sie ist, genau wie die Zeit, immer in Bewe-              direkt in die Tasse laufen lassen
                         gung. Vergänglichkeit ist ein Prozess und kein fixer Zustand.   • der Kaffeefilter, weil es nun Kaffemaschinen aller Sor-
                                  Folgedessen brauche ich ein Vehikel, das diesen            ten gibt
                         Prozess zeigt. Etwas, das viele Menschen kennen, das im         • de Suppentopf, weil die Haushalte kleiner wurden und
                         kollektiven Bewusstsein verankert ist. Objekte mit verlore-         die Suppe meist in der Pfanne auf den Tisch kommt
                         nener Geschichte. Objekte, denen ihre Funktion abhanden         • die Sauerkrautstande
                         gekommen ist.                                                   • die Milchgebse zum Milchaufrahmen
                                                                                         • der Nachthafen und die Waschschüssel
                                                                                         • die Öllampe und der Fidibus (Schwefelholzanzünder)
                         Formen-Kabinett (Arbeitstitel, das sechste Unterthe-            • das Nest-Ei, weil die Hühner heute mit Hormonen zum
                         ma, vgl. S. 9)                                                      Legen gebracht werden, statt mit Nest-Ei und Gockel
                         Alte, nicht mehr im Alltag verwendete Gebrauchsobjekte          • die Puddingform, ist heute aus Silikon
                         aus keramischen Materialien. Die Formen nachgebaut mit          • die Schnapsflasche
                         zum ehemaligen Inhalt passendem keramisch verfremde-            • die Bettflasche
                         tem Material.                                                   • der Wärmestein
                         Formen und Materialien entwickeln sich. Durch gesell-           •
                         schaftliche Veränderungen wird die Funktion und/oder die
                         Materialität überflüssig, aufgehoben. Die Dinge gelangen

                                                                                                                                                     10
11
3. Eingrenzung           Wohin gehen die Dinge?                                        rowelle und Backofen und vielleicht eine Salatschüssel und
                                  Keramische Gefässe werden seit jeher verwen-         eine Fruchtplatte.
                         det. Ihre Funktionen und ihre Formen verändern sich
Vergänglichkeit der                                                                             Nebst der Funktionalität hat sich die Formenspra-
                         entsprechend den Veränderungen in der Gesellschaft.
Funktion                                                                               che verändert. Der Zeitgeist von heute lässt die geblümte
                         Einige alte keramische Gegenstände sind heute aus dem
Wohin gehen die Dinge?                                                                 Suppenschüssel von 1920 alt aussehen, auch wenn die
                         Alltag verschwunden. Nachthafen, Waschschüssel und
                         Salbentiegel, Schmalztopf, Senftopf und Sauerkrautstande,     Schüssel ihre Funktion noch tadellos erfüllen könnte. Die
                         Milchgebse, Fidibus (Schwefelholz-Anzünder) und Nesteier      einst kostbare Schüssel aus der Aussteuer ist heute ein Ob-
                         braucht wahrscheinlich niemand mehr. Ähnlich geht es          jekt für Nostalgiker, wird vielleicht im Museum bewundert
                         dem Kaffeefilter, der Schnabeltasse und dem Bierhum-          oder verstaubt in der Brockenstube.
                         pen. Auch die Kaffeekanne und der Milchkrug sind meist
                         nicht mehr in der ursprünglich beabsichtigten Funktion in
                         Gebrauch, sondern werden nun vielleicht als Blumenvase
                         oder Wasserkrug verwendet. Puddingformen, früher aus
                         braun glasiertem Töpferton, sind heute meist aus Silikon –
                         und wer macht noch selber Pudding oder gar Griessköpfli?

                                 Vor 40 Jahren war es üblich, in Haushalt und
                         Küche vieles selbst zuzubereiten und zu konservieren. Das
                         bedingte eine Vielzahl verschiedener Gefässe und Geräte.
                         Heute werden oft Halbfertig- und Fertigprodukte konsu-
                         miert, wenn überhaupt zu Hause gegessen wird. Dafür
                         genügen flache und tiefe Teller, Bowls, Tassen, Teeschalen,
                         Gläser und Besteck. Dazu kommen wenige Pfannen, Mik-

                                                                                                                                                     12
Keramik ist ein wichtiger Kulturträger, einerseits    Theorien und Gedankenwelten entwickeln können. Alles
3. Eingrenzung           weil das Material so dauerhaft ist und dadurch lange als       was jetzt besteht, baut auf dem früheren Wissen und den
                         Beobachtungsobjekt zur Verfügung steht. Andererseits           früheren Artefakten auf. Das Neue ist zwingend auf Altes
Keramik als Träger von   weil Keramik ein weit verbreiteter Alltagsbegleiter ist. Das   angewiesen und wird nach gewisser Zeit selbst zum Nähr-
Kulturgeschichte         Material eignet sich sehr, um hygienische, kostengünstige      boden für Neues.
                         Gebrauchsobjekte für Küche und Bad herzustellen. Und
                         drittens, weil vor allem Porzellan immer auch für Reprä-
                         sentationsobjekte verwendet wird.

                                 Keramik ist in vielen Bereichen so banal, dass sie
                         gar nicht wahrgenommen wird. Wie sieht die Tasse aus,
                         aus der ich heute den Kaffee getrunken habe? Wie ist die
                         Form der Teller in der Mensa?

                                 Die Formen verändern sich in kleinen Variationen.
                         Die Tasse wird schlanker, bauchiger oder konisch, der Griff
                         dynamischer und ergonomischer. Das Material wird feiner,
                         die Wandung dünner. Sie passt neu unter alle Kaffeema-
                         schinentypen. Entsprechend den sich wandelnden Bedürf-
                         nissen und dem Zeitgeist verändern sich die Formen.

                                 Die alten Formen sind die Basis, damit Neues
                         entstehen kann. So wie auch die alten Ideen, Gedanken
                         und Theorien Voraussetzung sind, damit sich daraus neue

                                                                                                                                                   13
Konzept
4. Der Kaffeefilter   Den alten Formen und Funktionen erweist meine Arbeit            Die Referenz an alte Gebrauchsobjekte stellt die Frage,
als exemplarisches    Ehre. Es sind Objekte, welche gelebte Geschichten erzäh-        wann etwas alt wird, unbrauchbar, unbenutzbar. Sie regt
                      len. Sie erinnern an Handlungen und damit verbundene            an über Konsum und Gesellschaft nachzudenken. Es ist
Beispiel              Funktionen bei Gebrauchsgütern, die in unserer Kultur           eine Arbeit, die nach dem Woher und Wohin keramischer
                      heute nicht mehr in dieser Form benötigt werden. Erinne-        Dinge fragt. Formen, Funktionen und Materialien werden
Konzept
                      rungen werden berührt, mit den Gebrauchsgütern ver-             überflüssig, verändern sich, entwickeln sich weiter. Sie sind
                      bundene Geschichten werden wach. Sie erinnern an ihre           Spiegel der gesellschaftlichen Veränderungen.
                      unzählig oft verwendeten Vorfahren, sie erinnern an ihre
                      ehemalige Funktion, an frühere Tätigkeiten und Verwen-          Ich entscheide mich, ausschliesslich die Form des Kaffee-
                      dungsweisen. Und sie erinnern an Situationen und vor al-        filters als Ausgangslage für die Objekte zu verwenden. Ex-
                      lem an die Menschen, welche die Gefässe benutzt haben.          emplarisch mit der Form des breit bekannten Gebrauchs-
                                                                                      objekts, schaffe ich eine Sammlung nur „scheinbar“
                      Die Objekte in meiner Installation tragen die formalen          bekannter Objekte.
                      Informationen in sich und erinnern uns an deren Ursprung.
                      Funktional sind sie nicht mehr. Das Porzellan ist porös.
                      Flüssigkeit würde durch die Wandung rinnen. Werden die
                      Objekte längere Zeit der Vegetation ausgesetzt, werden sie
                      sich teilweise zersetzen. In ihren Rillen und Poren wird sich
                      Moos festsetzen und langsam die Objekte überwuchern.
                      Einige der Gefässe sehen zwar noch aus wie ihre Vorbilder,
                      aber sie sind nur noch Erinnerungsträger. Einige Objekte
                      zeigen, wie sich die Dinge weiterentwickeln könnten, wenn
                      sie zu neuem Leben erwachen.

                                                                                                                                                      14
Der Kaffeefilter aus Porzellan wurde
4. Der Kaffeefilter         1928 durch die Firma Melitta patentiert.
als exemplarisches          Danach hat Melitta die Form mehrmals
                            leicht verändert und durch verschiedene
Beispiel                    Porzellanfirmen produzieren lassen. Seit 60
                            Jahren ist der Filter Melitta 102 in unver-
Soziokulturelle Bedeutung
                            änderter Form erhältlich, nach wie vor
des Kaffeefilters
                            für ca Fr 25.- in Haushaltwarengeschäften
Verwendung heute
                            oder direkt bei Melitta. In einem Geschäft
                            in Burgdorf verkaufen sie etwa einen Filter
                            pro Monat. Die Grosshändler verkaufen nur
                            Plastikfilter und Goldfilter.

                                     Entgegen meiner Erwartung wird
                            der Filter wieder zunehmend verwendet.
                            Eine Benutzergruppe sind ältere Menschen,                 Juroren bei Kaffeewettbewerben
                            welche immer Filterkaffee getrunken ha-          verwenden den Goldfilter. Dieser ist eine
                            ben. Neu sind junge Kaffeetrinker wieder         Weiterentwicklung des Porzellanobjekts,
                            zum Porzellanfilter gekommen, weil dieser        bestehend aus einem feinen Metallsieb
                            eine ökologisch und ökonomisch günstige          und Kunststoff. (Auskunft Christine Schürch,
                            Alternative bietet zu Alu-Kapsel-Kaffee.         Spezialitätenrösterei, www.derkaffee.ch)

                                                                                                                            15
Versuche mit Porzellan:
4. Der Kaffeefilter      - unterschiedliche Brand-
als exemplarisches       temperaturen: 500°C, 600°C,
                         1000°C und 1250°C
Beispiel                 - unterschiedliche Zuschlag-
                         stoffe: Perlit (mineralischer
Versuche und Entscheid   Rohstoff), Rosshaar aus der
Material                 Sattlerei, Kokosfasern (Blumen-
                         erde-Ersatz) und Moos

                                                           16
Entscheid für Limoges-Porzel-
                               lan, gemischt mit Kokosfasern,
                               gebrannt bei 1000°C.
                               Erste Form von Hand gedreht:
                               (Bilder ganz rechts), zu wenig
                               präzis und das Porzellan mit Fa-
                               sern lässt sich schlecht drehen.
                               Entscheid: Gipskerne giessen
                               und mit der Überformtechnik
                               arbeiten.
                                                                       Prototype überformt und Versuche mit Lochung          gedreht, roh, unten glasiert, gebrannt bei 1250°C

4. Der Kaffeefilter
als exemplarisches
Beispiel
Versuche und Entscheid
Formgebung

                                                                  Bone China, der weisseste Porzellan hat bei 1000°C die gleich Farbe wie Limoges-Porzellan

                  mit Perlit                                      mit Kokosfasern

                                                                                                                                                                                 17
4. Der Kaffeefilter
als exemplarisches
Beispiel
Realisation

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4. Der Kaffeefilter
als exemplarisches
Beispiel
Realisation

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4. Der Kaffeefilter
als exemplarisches
Beispiel
Realisation

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4. Der Kaffeefilter
als exemplarisches
Beispiel
Realisation

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5. Studien zu Zeit
und Funktion in
der Keramik
Bilder der fertigen Objekte

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5. Studien zu Zeit
und Funktion in
der Keramik
Bilder der fertigen Objekte

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5. Studien zu Zeit
und Funktion in
der Keramik
Bilder der fertigen Objekte

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Die Arbeit ist eine Momentaufnahme. Sie unter-        zende Oberflächen von hochgebranntem Porzellan wären
5. Studien zu Zeit   sucht exemplarisch einen bekannten, keramischen Ge-            dieser Diskussion hinderlich. Das Porzellan nur auf 1000°C
und Funktion in      genstand in Bezug auf dessen Funktionalität und dessen         zu brennen, war zwingend, da so seine Fragilität und
                     Entwicklung. Gleichzeitig ist sie eine Beobachtung über        Körperhaftigkeit deutlicher wird. Diese Materialität wirkt
der Keramik          Zeit und Form, da Funktionalität immer in Abhängigkeit zu      warm und organisch. Das gleiche Porzellan bei 1250°C
                     Zeit steht. Veränderung wird dank der Erfahrung von Zeit       gebrannt wirkt kalt und abweisend, wie ein Laborutensil.
Beschrieb
                     wahrgenommen. Dafür braucht es die Gedächtnisleistung
                     des Erinnerns und die Gegenüberstellung von Früher und                  Die Arbeit ist eine Untersuchung zum Stand der
                     Heute. Die Objekte werden zu Erinnerungsträgern.               Dinge anhand des Kaffeefilters. Dieser steht stellvertretend
                                                                                    für alle Artefakte. Die einzelnen Objekte erzählen immer
                              Durch kleinere oder grössere Eingriffe an der         neue Geschichten, wecken Assoziationen. Sie bestätigen
                     Form des Objekts entstehen veränderte Funktionen. Diese        nicht das Wissen, wie ein Kaffeefilter zu sein hat, sondern
                     Interventionen bei den Griffen und Henkeln, bei der Anzahl     stellen gewohnte Sichtweisen in Frage. Historische Funk-
                     und der Lokalisation der Löcher, bei Standfuss und Rand        tionen und neue Funktionen stehen nebeneinander. Es ist
                     variieren von Objekt zu Objekt. Dadurch wird die bekannte      eine Spielerei. Es ist weder Design noch Kunst, könnte aber
                     industrielle Form individualisiert. Die Form der Massenwa-     als Ausgangslage sowohl für das eine wie für das andere
                     re bewegt sich zum autonomen Objekt. Das Bekannte löst         genutzt werden. Also eine gestalterische Fingerübung? Ja,
                     sich auf und entwickelt sich weiter. Daraus entsteht eine      und gleichzeitig viel mehr. Die Installation ist ein Statement
                     neue Wertschätzung gegenüber den weiterentwickelten            mit designgeschichtlichem Ansatz, der sich mit dem Woher
                     Objekten und auch gegenüber den altbekannten Formen.           und dem Wohin, mit Werden und Vergehen von Produkten
                                                                                    und deren Lebenszyklen beschäftigt. Der Bedeutungswan-
                              Die Materialität wurde, bei allen Objekten gleich,    del eines Kulturgegenstandes wird dabei sichtbar. Damit
                     verändert zu „unbrauchbarem“ Porzellan. Dies mit der           eng verknüpft ist die Auseinandersetzung mit soziokul-
                     Absicht, zu einer Diskussion um Veränderung und Vergäng-       turellen Veränderungen und deren Auswirkungen. Die
                     lichkeit von Funktionalität anzuregen. Makellose, glattglän-   Objekte widerspiegeln in ihrer Vielfalt unsere Zeit.
                                                                                                                                                     25
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