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QUANTENMECHANIK Universell in der Zeit Die Dynamik von Quantensystemen kann im zeitlichen Verlauf selbstähnlich werden. Maximilian Prüfer, Helmut Strobel und Markus Oberthaler Kirchhoff-Institut für Physik, Universität Heidelberg
Überblick Die Zeitentwicklung isolierter Systeme ist auf kleinsten Skalen durch die Gesetze der Quantenmechanik be- stimmt und kann sehr kompliziert ablaufen. Für große nicht-thermischer Fixpunkt Systeme besteht in extrem dynamischen Situationen die Möglichkeit, dass die Zeitentwicklung einfach wird Universalität und universelles Verhalten zeigt. Analoge Quanten- simulatoren helfen, dies zu untersuchen. Anfangs- S zustände ysteme fernab des Gleichgewichts zeichnen sich Gleichgewicht durch eine typischerweise komplexe dynamische tα Entwicklung beobachtbarer Größen aus. Als „ein- log fθ (k) facher“ Spezialfall besitzen isolierte Quantensysteme eine tβ Dynamik, die nur durch zwei Größen bestimmt wird: den log k Anfangszustand, z. B. in Form einer Dichtematrix, und den Hamilton-Operator. Daraus lässt sich mithilfe der Schrö- dinger-Gleichung bzw. der Von-Neumann-Gleichung die Abb. 1 Aus unterschiedlichen Anfangszuständen entwickelt sich Zeitentwicklung bestimmen und so auch die dynamische ein quantenmechanisches System zum Gleichgewicht. Dabei kann Entwicklung aller beobachtbaren Größen. Dies erscheint es einen nicht-thermischen Fixpunkt erreichen, der sich durch uni- konzeptionell sehr einfach, in der Praxis ist aber eine exakte verselle Dynamik auszeichnet: Die Form der Korrelationsfunktion fθ(k) bleibt gleich, während sich deren Amplitude und charakteris- Berechnung der Dynamik großer Systeme fast unmöglich. tische Längenskala mit zeitunabhängigen Exponenten α und β In extremen Situationen kann die Dynamik jedoch verändern. Die Form und beide Exponenten definieren die Univer- einfach bzw. universell werden, beispielsweise im Quark- salitätsklasse. Gluon-Plasma. Für diesen heißesten Aggregatzustand auf Erden, produziert am CERN, schlägt die Theorie univer- selle Dynamik vor. Erstmals beobachtet wurde das Phäno- men aber 21 mit ultrakalten Bose-Gasen, dem kältesten zustand, selbst wenn sie perfekt isoliert von der Umgebung Aggregatzustand auf Erden. Diese analogen Quantensimu- sind. Wie genau generische isolierte Quantensysteme latoren haben also beim Nachweis geholfen, dass univer- ein thermisches Gleichgewicht finden können, ist per se selle Quantendynamik in einer gegebenen physikalischen eine hochaktuelle Fragestellung. Wir interessieren uns hier Situation auftritt. Im Folgenden wollen wir zunächst die speziell für die transiente Zeitentwicklung auf dem Weg Charakteristika der universellen Quantendynamik detail- zum thermischen Gleichgewicht, bei der universelle Quan- lierter betrachten. tendynamik auftreten kann. Es ist a priori nicht klar, dass sich dynamische Phäno- mene fernab des Gleichgewichts einfach beschreiben lassen. Auf dem Weg zum Gleichgewicht Grundsätzlich kann die Dynamik sehr kompliziert ablaufen Um zu verstehen, was universelle Zeitentwicklung bedeu- und stark von verschiedenen Details abhängen. Allerdings tet, wollen wir uns zuerst einmal anschauen, wie sich eine haben Quantenfeldtheoretiker um Jürgen Berges vor mehr Situation fernab des Gleichgewichts von einer nahe des als zehn Jahren basierend auf komplexen Betrachtungen Gleichgewichts unterscheidet. Im thermischen Gleichge- vorhergesagt, dass sogenannte nicht-thermische Fixpunkte wicht zeigt ein System keine explizite Zeitentwicklung. Die existieren [1]. Das bedeutet konkret: Fernab des Gleichge- einzelnen Freiheitsgrade und deren Fluktuationen sind wichts kommt es vor, dass sich die Physik auf großen Län- vollständig durch einen Parameter – die Temperatur – be- genskalen für eine transiente Zeitspanne in der Entwick- stimmt. Daher folgen die Besetzungszahlen der Energie- lung hin zum Gleichgewicht auf einfache Weise beschreiben zustände, welche die Diagonalelemente der Dichtematrix lässt. Transient bedeutet, dass dieses Verhalten nur endlich sind, einer Boltzmann-Verteilung. Für den Spezialfall eines lange andauert. Das Regime ist durch universelle Dynamik Bose-Kondensats ist der energetisch niedrigste Zustand charakterisiert (Abb. 1). Das heißt, die Korrelationsfunkti- makroskopisch besetzt, und die Besetzung der angeregten onen zeigen bei großen Längenskalen eine selbstähnliche Zustände folgt der Bose-Einstein-Verteilung. Entwicklung. Für sehr lange Zeiten entwickeln sich die meisten Quan- Zwei Begriffe dieses Satzes gilt es, detailliert zu erklären: tensysteme hin zu einem (thermischen) Gleichgewichts- Korrelationsfunktion und Selbstähnlichkeit. Korrelationen detektieren Die Entwicklungsgleichung von Systemen mit vielen Frei- heitsgraden lässt sich nur schwer lösen; tatsächlich wächst Die künstlerische Darstellung dynamischer Quantenfelder die Schwierigkeit exponentiell mit der Anzahl der Frei- fernab des Gleichgewichts nutzt einen Wasserfall als Symbol: Ein extremer Anfangszustand (oben, verwirbeltes Wasser) heitsgrade. Daher helfen oft nur statistische Methoden, entwickelt sich über universelle Dynamik (Mitte) zu einem um Aussagen über beobachtbare Größen zu treffen. In der thermischen Gleichgewicht (unten, ruhiges Wasser). statistischen Physik und in der Quantenfeldtheorie sind © 2021 Wiley-VCH GmbH Physik Journal 2 (221) Nr. 2 37
Überblick ... n ge run sie ali Abb. 2 In quantenmechanischen Systemen Re fluktuiert der Wert von Observablen F(yi) in verschiedenen experimentellen Realisie- rungen. Die Korrelationsfunktionen 〈F(yi)〉 und 〈F(yj) F(yk)〉 beschreiben den Mittelwert der Observablen an einem Ort yi bzw. deren 〈F(y2)〉 〈F(y6) F(y9)〉 Wechselbeziehung an mehreren Orten yj und yk. Diese erlauben es zusammen mit Kor- relationsfunktionen höherer Ordnung, das System vollständig zu charakterisieren. Korrelationsfunktionen ein beliebtes Werkzeug [2, 3]. Wie niemals zur exakt gleichen Dynamik führen. Betrachtet ihr vom lateinischen correlatio (Wechselbeziehung) abge- man das System aber derart, dass die kleinsten Prozesse leiteter Name schon sagt, beschreiben sie, wie verschiedene nicht auflösbar sind, können die verlorenen Details für die Dinge miteinander in Verbindung stehen. Um uns das beobachteten Phänomene irrelevant sein. Diese grobkör- Konzept klarzumachen, stellen wir uns ein eindimensio- nige Betrachtung lässt sich in der Quantenfeldtheorie ef- nales System mit den Koordinaten yi für i = 1, ..., n und eine fektiv mit der Renormierungsgruppentheorie beschreiben, Observable F(yi) vor (Abb. 2). Als Beispiel eignet sich die wenn sich neue, relevante Freiheitsgrade finden. Kenneth Ausrichtung eines quantenmechanischen Spins an einem G. Wilson‚ Nobelpreisträger und ein Pionier der Technik, bestimmten Ort. Selbst wenn in einem System typischer- hat die Renormierungsgruppentheorie in thermischen weise fünf benachbarte Spins in die gleiche Richtung zeigen, Systemen eingeführt [4]. Eine Verallgemeinerung auf zeit- können thermische und quantenmechanische Effekte zu abhängige Situationen zeigt, dass am nicht-thermischen Fluktuationen der Spinstruktur führen. Um quantitative Fixpunkt Details der Anfangsbedingung und des Hamilton- Aussagen zu treffen, gilt es daher, Mittelwerte 〈O 〉 über Operators unwichtig werden. Dieser prinzipielle Verlust viele experimentelle Realisierungen zu bilden. Die Ein- an Detailgenauigkeit liegt der einfachen Beschreibung der punktfunktion 〈F(yi)〉 ist der einfachste dieser Mittelwerte, Dynamik im universellen Regime zugrunde. da die Observable F nur an einem Punkt yi ausgewertet Lehrbücher diskutieren Universalität bisher vor allem im wird. Entsprechend beschreibt die Zweipunktfunktion thermischen Gleichgewicht. So verhalten sich bestimmte 〈F(yj) F(yk)〉, wie die beobachtbare Größe an zwei Punkten charakteristische Größen in der Nähe von Phasenüber- miteinander korreliert ist. Für unterschiedliche Orte quan- gängen für unterschiedliche Systeme gleich. Wichtig ist es, tifiziert 〈F(yj) F(yk)〉, wie wahrscheinlich es ist, dass der Spin anstelle der absoluten Größen vor allem deren funktionale an den Orten yj und yk gleichzeitig in die gleiche Richtung Abhängigkeit zu vergleichen, beispielsweise die Korrelati- zeigt. onslänge als Funktion ihres „Abstands“ zum Phasenüber- Sowohl die Dichtematrix als auch das Set aller möglichen gang. Von Universalität spricht man, wenn diese Abhängig- Korrelationsfunktionen enthalten alles, was man über ein keit für verschiedene Systeme gleich aussieht. Im Gleich- System wissen kann. Die Zeitentwicklung der Korrela- gewicht ist Universalität experimentell sehr gut untersucht tionsfunktionen ist eindeutig durch den Hamilton-Ope- und es existiert ein detailliertes theoretisches Verständnis rator und die Anfangsbedingung bestimmt: Auf kleinsten von Universalitätsklassen [5]. Dagegen ist die universelle Skalen können zwei unterschiedliche Anfangsbedingungen Zeitentwicklung ein Phänomen, das erst seit einigen Jah- a t=4 Zoom t = 4 b t = 100 Abb. 3 Dieses Beispiel zeigt die ortsaufgelöste Ma- gnetisierung in einem zweidimensionalen schockge- kühlten Ising-Modell mit Flächen positiver (schwarz) und negativer (weiß) Werte. Deren Verteilung sieht für einen Zoom zum Zeitpunkt t = 4 (a) und das gesamte System zum Zeitpunkt t = 1 (b) ähnlich aus. Ein Reskalieren der Ortskoordinate mit der Zeit führt zu quantitativ gleichen Korrelationsfunktionen. Der Zoom_ muss dabei gemäß einem Potenzgesetz Beispiel generiert mit https://mattbierbaum.github.io/ising.js t –1/2 = 1/√t in der Zeit___ verändert __ werden; im gezeigten Beispiel ergibt sich √1 / √4 = 5. 38 Physik Journal 2 (221) Nr. 2 © 2021 Wiley-VCH GmbH
Überblick ren intensiv diskutiert und kürzlich erstmals experimentell gezeigt wurde. Fy Mit den Korrelationsfunktionen als Werkzeug gelingt es, universelle Dynamik zu beschreiben. Was aber lässt sich Fx unter einer selbstähnlichen Entwicklung intuitiv verstehen? Stellen wir uns vor, wir betrachten ein System zu einem –1 gegebenen Zeitpunkt t durch ein Mikroskop mit variabler Vergrößerung. Hier liegen Strukturen einer charakteris- Fx 0 tischen Größe vor, in unserem Beispiel quantenmecha- nischer Spins ist dies die Längenskala, auf der diese korre- 1 20 µm liert sind. Entwickelt sich das System nun dynamisch weiter, 1 verändert sich auch die Längenskala. Bei Selbstähnlichkeit Fy 0 sieht das System zu jedem Zeitpunkt gleich aus, wenn der Vergrößerungsfaktor des Mikroskops entsprechend ange- –1 passt wird (Abb. 3). Der Fall universeller Quantendynamik ist gegeben, sofern diese Selbstähnlichkeit zum Vorschein 〈F(y1)〉 〈F(y2) F(y3)〉 tritt, wenn die Vergrößerung des Mikroskops entsprechend einem Potenzgesetz t –β gewählt wird. Abb. 4 Aus der räumlich aufgelösten Messung der Richtung des Spins (Fx, Fy) ergeben sich die Korrelationsfunktionen 〈F(y1)〉 und Vom Universum über das CERN in den Keller 〈F(y2) F(y3)〉. Es scheint klar, dass das Universum kurz nach dem Urknall ein System fern des Gleichgewichts war. Nicht so offensicht- lich ist allerdings, dass es sich dabei auch um ein isoliertes extrahieren. Das hat uns vom Universum in den Keller ge- Quantensystem handelte. Um Phänomene zu untersu- führt: Dort werden am Kirchhoff-Institut die ultrakalten chen, die bei diesem tatsächlich einmaligen Experiment Gase produziert. auftraten, kollidieren am Large Hadron Collider des CERN hochgeladene Bleikerne mit Energien von mehreren Tera- elektronenvolt. Dabei entsteht ein extremes Nichtgleichge- Eine Plattform für analoge Quantensimulationen wichtssystem, das wir nun kurz etwas genauer betrachten Um Quantensimulationen durchzuführen, ist es grund- wollen, weil die beobachteten Phänomene die Theorie über sätzlich nötig, einen wohldefinierten quantenmechanischen universelle Dynamik motiviert haben. Anfangszustand zu präparieren. Eine Möglichkeit Die Experimente mit Schwerionenkollisionen sollen besteht darin, atomare Gase mithilfe von Laserlicht und grundlegende Fragen der Quantenchromodynamik klären. Verdampfungskühlen bis nahe an den absoluten Nullpunkt Dabei entstehen in natürlicher Weise isolierte Vielteilchen- abzukühlen – anstelle der Teraelektronenvolt (112 eV) bei systeme, deren Eigenschaften dem Materiezustand des frü- den CERN-Experimenten sprechen wir hier von Piko- hen Universums in den ersten Mikrosekunden nach dem elektronenvolt (1–12 eV). Eine Vakuumkammer macht Urknall nahekommen. Das System ist tatsächlich in sehr äußere Einflüsse vernachlässigbar, womit das System isoliert guter Näherung isoliert und befindet sich definitiv fernab ist. Quantengasexperimente beobachten typischerweise des thermischen Gleichgewichts: Anfangs sind viele Zu- die Dynamik zeit- und ortsaufgelöst. Es ist zum Beispiel in stände höher besetzt, als bei einem System im thermischen optischen Gittern möglich, durch die Detektion einzelner Gleichgewicht erwartet. Ein Szenario ist eine anfängliche Atome die Besetzung einzelner Gitterplätze zu bestimmen universelle Dynamik, die zu schneller Thermalisierung [] oder in kontinuierlichen Systemen ortsaufgelöst den führt, sodass sich die nachfolgende Dynamik des Quark- Spinfreiheitsgrad am Quantenlimit auszulesen []. Im Gluon-Plasmas hydrodynamisch beschreiben lässt. Das Folgenden konzentrieren wir uns auf die experimentellen erlaubt quantitative Vorhersagen der resultierenden Teil- Details zweier Experimente in Heidelberg und Wien, in chenproduktion. Allerdings ist es in diesen Experimenten denen die Beobachtung universeller Dynamik fast zeitgleich unmöglich, die frühe Dynamik direkt zu untersuchen, weil gelang [, ]. experimentell nur die Endprodukte, lange nach der Kolli- In unseren Experimenten in Heidelberg verwenden wir sion, detektierbar sind. Rubidium, das wir so weit herunterkühlen, bis die Atome Idealerweise möchte man die verschiedenen Quanten- ein Bose-Einstein-Kondensat bilden. Die Dipolkraft feldkonfigurationen direkt beobachten, daraus die Korrela- hält die Atome in einer elongierten optischen Falle, was tionen extrahieren und deren Zeitentwicklung bestimmen. zu einer zigarrilloförmigen Atomwolke führt. In dieser Mit quantenchromodynamischen Feldern erscheint dies Konfiguration erscheint den Atomen der Raum effektiv nicht machbar. Aber mit den Bose-Feldern eines ultrakal- eindimensional. Das optische Fallenpotential erlaubt ten Spin-1-Gases ist es möglich, die relevanten Felder sogar es, Atome in mehreren Hyperfeinzuständen gleichzeitig direkt zu beobachten. Hier lässt sich die Anfangsbedingung zu fangen. Die Atome tragen einen Quantenspin, der in einem großen Bereich verändern und es ist möglich, die sich klassisch als kleiner Magnet interpretieren lässt. Korrelationsfunktionen für verschiedene Zeitpunkte zu Die Nichtgleichgewichtssituation stellen wir her, indem © 2021 Wiley-VCH GmbH Physik Journal 2 (221) Nr. 2 39
Überblick wir Mikrowellenfelder einstrahlen, die schlagartig die der nach den Quenches und langen Evolutionszeiten uni- Wechselwirkung zwischen den Spins erlauben. Nach dieser verselle Dynamik zeigt. Der Nachweis gelang mit einer neu- Änderung, auch Quench genannt, ist das System instabil, artigen Auslesemethode [], in der messbare Atomdichten was zu einer hohen Anregung des Spinfreiheitsgrades die Extraktion der Spinrichtung erlauben (Abb. 4). Mit der [1] in verschiedenen räumlichen Zuständen führt und räumlichen Auflösung lassen sich die Korrelationsfunkti- das System nahe an einen nicht-thermischen Fixpunkt onen direkt berechnen. Als destruktive Detektionsmetho- heranbringt. de charakterisiert die verwendete Absorptionsmessung das Die Gruppe um Jörg Schmiedmayer hat im Wiener System und zerstört es gleichzeitig. Um die Korrelations- Experiment Rubidium mithilfe magnetischer Felder auf funktion mit hoher Präzision zu bestimmen, gilt es, das einem Atomchip gefangen. Die Präparation eines Systems Experiment für jeden Zeitschritt mehrere hundert Mal zu fernab des Gleichgewichts verläuft hier etwas anders: Die wiederholen. Gruppe entfernt schlagartig einen substanziellen Anteil der Das Phänomen der universellen Dynamik ist Atome mit den höchsten Energien aus der Falle, was einer nur bei vergleichsweise langen Evolutionszeiten zu Schockkühlung nahekommt. Das anschließende Erhöhen beobachten, weil es erst nach einer Vielzahl der typischen der Fallenpotentiale führt zu einem geschlossenen System. Wechselwirkungszeiten auftritt. In unserem Experiment Verglichen mit dem thermischen Gleichgewicht liegt nun entspricht dies einem Regime, das an die Grenzen von ein System mit sehr hoch besetzten Impulszuständen vor. Experimenten mit ultrakalten Atomen stößt. Die langen Evolutionszeiten verlangen zusammen mit der benötigten Statistik einen experimentellen Aufbau mit hoher Stabilität Zweifacher experimenteller Nachweis und Kontrolle. Unsere komplette Studie erforderte die Für die beiden Systeme in einer eindimensionalen Fallen- Möglichkeit, ungefähr vier Wochen bei konstanten geometrie gab es zuvor keine theoretischen Vorhersagen experimentellen Bedingungen zu messen. Währenddessen möglicher universeller Phänomene fernab des Gleichge- haben wir das System rund um die Uhr alle 5 Sekunden wichts. Es war per se nicht einmal klar, ob die Universalität neu präpariert: Das sind ungefähr 5 Realisierungen – in einer Dimension auftritt. Letztendlich entpuppten sich genauso viele Schwerionenkollisionen können am CERN die Systeme als perfekte Modelle, um universelle Nicht- pro Sekunde ablaufen. gleichgewichtssysteme experimentell zu untersuchen. Experimentell zeigt sich ein universelles Regime, wenn Um jedoch die universelle Dynamik zu beobachten, galt sich die funktionale Form der Korrelationsfunktion nicht es, den zugehörigen Freiheitsgrad zu identifizieren. Im ändert. Die Dynamik wird deutlich, weil Amplitude und Heidelberger Experiment handelte es sich dabei um den Längenskala gemäß der einfachen Potenzgesetze tα und tβ Spinfreiheitsgrad transversal zum angelegten Magnetfeld, mit der Zeit variieren. Die Art der Skalierungsfunktion ist aus [6] a b Zeit in s Längenskala λ in µm 4 5 6 7 8 9 400 200 100 50 100 100 reskalierte Amplitude (t/tref)–α fθ (k,t) Strukturfaktor fθ (k,t) 2 fθ (k,t) 10–1 10–1 1,5 (t/tref)α fS ((t/tref)β k) tα 1 log fθ (k) tβ 0,67 0,5 10–2 log k 10–2 0,0025 0,005 0,01 0,02 0,04 0,0025 0,005 0,01 0,02 0,04 0,0025 0,005 0,01 0,02 0,04 Impuls k in µm–1 reskalierter Impuls (t/tref)β k in µm–1 Abb. 5 Das Heidelberger Experiment bestimmte die Fourier-Transformierte der direkt extrahierten Spinkorrelationen als Funktion des zugehörigen Impulses (a) für verschiedene Zeitpunkte im Experiment von 4 Sekunden (dunkelgrün) bis 9 Sekunden (lila). Bei reskalierter Impuls- und Amplitudenachse (b) fallen alle Datenpunkte auf eine universelle Kurve (grau). Die Dynamik im System ist also universell. 4 Physik Journal 2 (221) Nr. 2 © 2021 Wiley-VCH GmbH
Überblick aus [7] a b 75 α (t/t0)–α n(k,t)/N(t) in µm 10–1 10–1 Zeit t in ms n(k,t)/N(t) in µm –β α = 0,09 ± 0,05 β = 0,10 ± 0,04 10–2 10–2 0,7 1 2 3 4 5 6 7 1 2 3 4 5 6 7 Impuls k in µm–1 (t/t0)β k in µm–1 Abb. 6 Mit der Flugzeitmethode ergaben sich beim Wiener Experiment Impulsverteilungen (a) für verschiedene Zeitpunkte im Experiment von ,7 Millisekunden (dunkelblau) bis 75 Millisekunden (dunkelrot). Bei reskalierter Impuls- und Amplitudenachse (b) fallen alle Daten- punkte auf eine universelle Kurve (grau). Die Dynamik im System ist also universell. eine Eigenschaft der Universalitätsklasse. Für das Spinsys- Anfangsbedingung zu testen. Im Heidelberger Experiment tem des Heidelberger Experiments ergibt sich als Fourier- haben wir zum Beispiel verschiedene räumliche Spinstruk- Transformierte der direkt extrahierten Spinkorrelationen turen präpariert. Im Wiener Experiment lässt sich die An- eine verallgemeinerte Lorentz-Funktion ( Abb. 5 ). Bei zahl der verwendeten Atome ändern, was indirekt auch die dem schockgekühlten Bose-Gas des Wiener Experiments mikroskopische Wechselwirkungsstärke variiert. Ein kürz- bildet die Flugzeitmethode als Standardverfahren die lich durchgeführtes Experiment in Cambridge konnte die Impulsverteilung auf eine Ortsverteilung ab. Das erlaubt es, Wechselwirkungsstärke direkt mithilfe von Feshbach-Reso- direkt die Besetzung der Impulsmoden zu bestimmen und nanzen verändern und die Unabhängigkeit der universellen führt auf eine Exponentialfunktion (Abb. 6). Damit haben Dynamik demonstrieren [11]. Die Experimente bestätigen die ersten beiden analogen Quantensimulationen direkt demnach alle die vorhergesagte Robustheit des Phänomens. zwei verschiedene universelle Korrelationsfunktionen Die Robustheit macht Systeme mit universeller Dynamik gefunden. interessant für Quantensimulationen und Quantenrech- Die universelle Zeitdynamik zeigt sich in beiden Fällen, nungen. Typischerweise verfolgen Quantensimulationen wenn man die Korrelationen als Funktion des Impulses mit ultrakalten Quantengasen den Ansatz [], einen Mo- für verschiedene Zeiten im Skalierungsregime aufträgt dell-Hamilton-Operator auf mikroskopischen Skalen mit und die Impulsachse mit tβ und die Amplituden mit t–α kontrollierten räumlichen Anordnungen und Wechselwir- reskaliert. Dabei fallen alle Datenpunkte auf eine universelle kungen zu implementieren – also auf dem Level einzelner Kurve. Für das Heidelberger Experiment ergeben sich als Atome. Damit lassen sich zum Beispiel Minimalmodelle universelle Exponenten α = ,33 ± , und β = ,54 ± ,; von Festkörpersystemen emulieren und grundlegende für das Wiener Experiment betragen sie α = , ± ,5 Mechanismen studieren. Hier kommt es jedoch im Detail und β = ,1 ± ,4. Da die beiden Experimente nicht nur sehr genau darauf an, alle Teile des Hamilton-Operators auf unterschiedliche Funktionen, sondern auch verschiedene mikroskopischer Ebene genauestens zu implementieren. Exponenten gefunden haben, könnte es tatsächlich mehr Im Fall universeller Dynamik wäre ein etwas anderes als eine Universalitätsklasse geben. Wann und warum diese Vorgehen möglich, weil ein neuer „effektiver Hamilton- existieren, ob es einen dahinter liegenden gemeinsamen Operator“ die makroskopischen, relevanten Freiheitsgrade Mechanismus gibt und welche anderen Klassen eventuell beschreibt. Dieser ist robust, denn er hängt nicht mehr vorliegen, gilt es nun herauszufinden. von mikroskopischen Details des Systems ab. Es ist sogar möglich, ihn mithilfe von Korrelationsfunktionen expe- rimentell zu bestimmen [12, 13]. Dieser komplementäre Robuste universelle Phänomene Ansatz für zukünftige Quantensimulationen ermöglicht Dabei gibt es eine spannende und sogleich nützliche Eigen- es, in Bereichen zu arbeiten, in denen die mikroskopische schaft des beschriebenen Phänomens: die erwartete Insen- Kontrolle aller Freiheitsgrade nicht mehr in höchstem Ma- sitivität gegenüber Details wie der Stärke der mikrosko- ße möglich ist, jedoch eine hochpräzise Auslese relevanter pischen Wechselwirkungen im Hamilton-Operator oder Freiheitsgrade gelingt. den Anfangsbedingungen. Die gute Kontrolle über ultra- kalte Atome erlaubt es, explizit die Abhängigkeit von der © 2021 Wiley-VCH GmbH Physik Journal 2 (221) Nr. 2 41
Überblick Vom Bose-Kondensat zu Quantensimulationen [6] I. Bloch et al., Nat. Phys. 8, 267 (2012) [7] P. Kunkel et al., Phys. Rev. Lett. 123, 063603 (2019) [8] M. Prüfer et. al., Nature 563, 217 (2018) Die beschriebenen Experimente zeigen, dass das vorge- [9] S. Erne et. al., Nature 563, 225 (2018) schlagene Szenario des nicht-thermischen Fixpunktes [10] D. M. Stamper-Kurn und M. Ueda, Rev. Mod. Phys. 85, 1191 (2013) tatsächlich in einem physikalischen System unter experi- [11] J. Glidden et al., arXiv:2006.0118 (2020) mentellen Umständen realisierbar ist. Dies weist den Weg, [12] M. Prüfer et al., Nat. Phys. 16, 1012 (2020) um zu testen, ob das Konzept der Universalität fernab des [13] T. V. Zache et al., Phys. Rev. X 10, 011020 (2020) [14] S. Johnstone et al., Science 364, 1267 (2019) Gleichgewichts tatsächlich genauso mächtig ist, wie es sich [15] G. Gauthier et al., Science 364, 1264 (2019) im Gleichgewicht darstellt. Das kontrollierte Erreichen des universellen Regimes erlaubt es außerdem, die fundamen- tale Frage zu beantworten, welche grundlegenden Bausteine die Zugehörigkeit zu einer Universalitätsklasse für dyna- mische Systeme definieren. Die vorhandene hohe Kontrol- le über Experimente mit ultrakalten Gasen ermöglicht es, Die Autoren gezielt Details des Systems so zu verändern, dass sich ein Maximilian Prüfer studierte Physik anderes oder gar kein universelles Verhalten mehr ergibt. an der U Heidelberg und promovierte Solche Untersuchungen helfen, die Mechanismen heraus- 2020 über experimentelle Tests zufinden, die zu universeller Dynamik führen. Mit weiteren quantenfeldtheoretischer Konzepte. Systemen, die zum Beispiel zwei- oder dreidimensionale Seitdem arbeitet er dort als Postdoc Kastenpotentiale nutzen [11, 14, 15], lassen sich in Zukunft und beschäftigt sich mit der Verbindungen zu anderen Phänomenen wie der Turbulenz Thermalisierung von Spinsystemen. Helmut Strobel promovierte 2016 an oder der Annihilation topologischer Anregungen herstellen der U Heidelberg zur Verschränkung und untersuchen. in Bose -Einstein-Kondensaten Die präsentierten Ergebnisse zeigen aber auch, dass die und Quantenmetrologie. Heute experimentellen Plattformen ultrakalter Bose-Gase ein experimentiert er dort mit ultrakalten neues Niveau der Kontrolle und der Detektion erreicht Bose-Gasen fern des Gleichgewichts haben. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, diese in reduzierten Dimensionen und mit experimentellen Systeme als analoge Quantensimulatoren einstellbarer Wechselwirkung. Markus Oberthaler (FV Quantenoptik einzusetzen, um fundamentale Fragen der Quantenfeld und Photonik) studierte Physik in theorie solide und ohne Näherung zu simulieren und damit Innsbruck. Nach der Promotion ihre verschiedenen Näherungsmethoden direkt zu testen. ging er als Postdoktorand nach Ein vielversprechender Ansatz ist hier die Extraktion der Oxford und als Emmy Noether- effektiven Theorie, die auch die Wechselwirkungen der re- Nachwuchsgruppenleiter 2000 an levanten Freiheitsgrade im universellen Regime beinhaltet die U Konstanz. Seit 2003 forscht er als Professor für Experimentalphysik [12, 13]. an der U Heidelberg unter anderem zur Verschränkung und zu Tests von Literatur Quantenfeldtheorien in ultrakalten [1] J. Berges et al., Phys. Rev. Lett. 101, 041603 (2008) Quantengasen. [2] H. Kleinert, Particles and quantum fields, World Scientific, Singa- pur (2016) Dr. Maximilian Prüfer, Dr. Helmut Strobel und Prof. Dr. Markus Oberthaler, Universität Heidelberg, Kirchhoff-Institut für Physik, Im [3] T. Schweigler et al., Nature 545, 323 (2017) Neuenheimer Feld 227, 69120 Heidelberg [4] K. G. Wilson, Scientific American (1979), PDF: bit.ly/3nGIvEN [5] P. C. Hohenberg und B. I. Halperin, Rev. Mod. Phys. 49, 435 (1977) 42 Physik Journal 20 (2021) Nr. 2 © 2021 Wiley-VCH GmbH
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