Universell in der Zeit - Die Dynamik von Quantensystemen kann im zeitlichen Verlauf selbstähnlich werden. Maximilian Prüfer, Helmut Strobel und ...

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Universell in der Zeit - Die Dynamik von Quantensystemen kann im zeitlichen Verlauf selbstähnlich werden. Maximilian Prüfer, Helmut Strobel und ...
QUANTENMECHANIK

Universell in der Zeit
Die Dynamik von Quantensystemen kann im zeitlichen Verlauf selbstähnlich werden.
Maximilian Prüfer, Helmut Strobel und Markus Oberthaler

                                                                    Kirchhoff-Institut für Physik, Universität Heidelberg
Universell in der Zeit - Die Dynamik von Quantensystemen kann im zeitlichen Verlauf selbstähnlich werden. Maximilian Prüfer, Helmut Strobel und ...
Überblick

Die Zeitentwicklung isolierter Systeme ist auf kleinsten
Skalen durch die Gesetze der Quantenmechanik be-
stimmt und kann sehr kompliziert ablaufen. Für große                                           nicht-thermischer
                                                                                                    Fixpunkt
Systeme besteht in extrem dynamischen Situationen
die Möglichkeit, dass die Zeitentwicklung einfach wird                                             Universalität
und universelles Verhalten zeigt. Analoge Quanten-
simulatoren helfen, dies zu untersuchen.
                                                                         Anfangs-

S
                                                                         zustände
       ysteme fernab des Gleichgewichts zeichnen sich
                                                                                                                                Gleichgewicht
       durch eine typischerweise komplexe dynamische
                                                                                                          tα
       Entwicklung beobachtbarer Größen aus. Als „ein-

                                                                                             log fθ (k)
facher“ Spezialfall besitzen isolierte Quantensysteme eine                                                      tβ
Dynamik, die nur durch zwei Größen bestimmt wird: den
                                                                                                                log k
Anfangszustand, z. B. in Form einer Dichtematrix, und den
Hamilton-Operator. Daraus lässt sich mithilfe der Schrö-
dinger-Gleichung bzw. der Von-Neumann-Gleichung die                Abb. 1 Aus unterschiedlichen Anfangszuständen entwickelt sich
Zeitentwicklung bestimmen und so auch die dynamische               ein quantenmechanisches System zum Gleichgewicht. Dabei kann
Entwicklung aller beobachtbaren Größen. Dies erscheint             es einen nicht-thermischen Fixpunkt erreichen, der sich durch uni-
konzeptionell sehr einfach, in der Praxis ist aber eine exakte     verselle Dynamik auszeichnet: Die Form der Korrelationsfunktion
                                                                   fθ(k) bleibt gleich, während sich deren Amplitude und charakteris-
Berechnung der Dynamik großer Systeme fast unmöglich.
                                                                   tische Längenskala mit zeitunabhängigen Exponenten α und β
   In extremen Situationen kann die Dynamik jedoch                 verändern. Die Form und beide Exponenten definieren die Univer-
einfach bzw. universell werden, beispielsweise im Quark-           salitätsklasse.
Gluon-Plasma. Für diesen heißesten Aggregatzustand auf
Erden, produziert am CERN, schlägt die Theorie univer-
selle Dynamik vor. Erstmals beobachtet wurde das Phäno-
men aber 21 mit ultrakalten Bose-Gasen, dem kältesten            zustand, selbst wenn sie perfekt isoliert von der Umgebung
Aggregatzustand auf Erden. Diese analogen Quantensimu-             sind. Wie genau generische isolierte Quantensysteme
latoren haben also beim Nachweis geholfen, dass univer-            ein thermisches Gleichgewicht finden können, ist per se
selle Quantendynamik in einer gegebenen physikalischen             eine hochaktuelle Fragestellung. Wir interessieren uns hier
Situation auftritt. Im Folgenden wollen wir zunächst die           speziell für die transiente Zeitentwicklung auf dem Weg
Charakteristika der universellen Quantendynamik detail-            zum thermischen Gleichgewicht, bei der universelle Quan-
lierter betrachten.                                                tendynamik auftreten kann.
                                                                      Es ist a priori nicht klar, dass sich dynamische Phäno-
                                                                   mene fernab des Gleichgewichts einfach beschreiben lassen.
Auf dem Weg zum Gleichgewicht                                      Grundsätzlich kann die Dynamik sehr kompliziert ablaufen
Um zu verstehen, was universelle Zeitentwicklung bedeu-            und stark von verschiedenen Details abhängen. Allerdings
tet, wollen wir uns zuerst einmal anschauen, wie sich eine         haben Quantenfeldtheoretiker um Jürgen Berges vor mehr
Situation fernab des Gleichgewichts von einer nahe des             als zehn Jahren basierend auf komplexen Betrachtungen
Gleichgewichts unterscheidet. Im thermischen Gleichge-             vorhergesagt, dass sogenannte nicht-thermische Fixpunkte
wicht zeigt ein System keine explizite Zeitentwicklung. Die        existieren [1]. Das bedeutet konkret: Fernab des Gleichge-
einzelnen Freiheitsgrade und deren Fluktuationen sind              wichts kommt es vor, dass sich die Physik auf großen Län-
vollständig durch einen Parameter – die Temperatur – be-           genskalen für eine transiente Zeitspanne in der Entwick-
stimmt. Daher folgen die Besetzungszahlen der Energie-             lung hin zum Gleichgewicht auf einfache Weise beschreiben
zustände, welche die Diagonalelemente der Dichtematrix             lässt. Transient bedeutet, dass dieses Verhalten nur endlich
sind, einer Boltzmann-Verteilung. Für den Spezialfall eines        lange andauert. Das Regime ist durch universelle Dynamik
Bose-Kondensats ist der energetisch niedrigste Zustand             charakterisiert (Abb. 1). Das heißt, die Korrelationsfunkti-
makroskopisch besetzt, und die Besetzung der angeregten            onen zeigen bei großen Längenskalen eine selbstähnliche
Zustände folgt der Bose-Einstein-Verteilung.                       Entwicklung.
   Für sehr lange Zeiten entwickeln sich die meisten Quan-            Zwei Begriffe dieses Satzes gilt es, detailliert zu erklären:
tensysteme hin zu einem (thermischen) Gleichgewichts-              Korrelationsfunktion und Selbstähnlichkeit.

                                                                   Korrelationen detektieren
                                                                   Die Entwicklungsgleichung von Systemen mit vielen Frei-
                                                                   heitsgraden lässt sich nur schwer lösen; tatsächlich wächst
   Die künstlerische Darstellung dynamischer Quantenfelder
                                                                   die Schwierigkeit exponentiell mit der Anzahl der Frei-
    fernab des Gleichgewichts nutzt einen Wasserfall als Symbol:
    Ein extremer Anfangszustand (oben, verwirbeltes Wasser)        heitsgrade. Daher helfen oft nur statistische Methoden,
    entwickelt sich über universelle Dynamik (Mitte) zu einem      um Aussagen über beobachtbare Größen zu treffen. In der
    thermischen Gleichgewicht (unten, ruhiges Wasser).             statistischen Physik und in der Quantenfeldtheorie sind

© 2021 Wiley-VCH GmbH                                                                                     Physik Journal 2 (221) Nr. 2        37
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Überblick

                              ...
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              Re

                                                                                                               fluktuiert der Wert von Observablen F(yi)
                                                                                                               in verschiedenen experimentellen Realisie-
                                                                                                               rungen. Die Korrelationsfunktionen ⟨F(yi)⟩
                                                                                                               und ⟨F(yj) F(yk)⟩ beschreiben den Mittelwert
                                                                                                               der Observablen an einem Ort yi bzw. deren
             ⟨F(y2)⟩                      ⟨F(y6) F(y9)⟩                                                        Wechselbeziehung an mehreren Orten yj und
                                                                                                               yk. Diese erlauben es zusammen mit Kor-
                                                                                                               relationsfunktionen höherer Ordnung, das
                                                                                                               System vollständig zu charakterisieren.

Korrelationsfunktionen ein beliebtes Werkzeug [2, 3]. Wie                                niemals zur exakt gleichen Dynamik führen. Betrachtet
ihr vom lateinischen correlatio (Wechselbeziehung) abge-                                 man das System aber derart, dass die kleinsten Prozesse
leiteter Name schon sagt, beschreiben sie, wie verschiedene                              nicht auflösbar sind, können die verlorenen Details für die
Dinge miteinander in Verbindung stehen. Um uns das                                       beobachteten Phänomene irrelevant sein. Diese grobkör-
Konzept klarzumachen, stellen wir uns ein eindimensio-                                   nige Betrachtung lässt sich in der Quantenfeldtheorie ef-
nales System mit den Koordinaten yi für i = 1, ..., n und eine                           fektiv mit der Renormierungsgruppentheorie beschreiben,
Observable F(yi) vor (Abb. 2). Als Beispiel eignet sich die                              wenn sich neue, relevante Freiheitsgrade finden. Kenneth
Ausrichtung eines quantenmechanischen Spins an einem                                     G. Wilson‚ Nobelpreisträger und ein Pionier der Technik,
bestimmten Ort. Selbst wenn in einem System typischer-                                   hat die Renormierungsgruppentheorie in thermischen
weise fünf benachbarte Spins in die gleiche Richtung zeigen,                             Systemen eingeführt [4]. Eine Verallgemeinerung auf zeit-
können thermische und quantenmechanische Effekte zu                                      abhängige Situationen zeigt, dass am nicht-thermischen
Fluktuationen der Spinstruktur führen. Um quantitative                                   Fixpunkt Details der Anfangsbedingung und des Hamilton-
Aussagen zu treffen, gilt es daher, Mittelwerte ⟨O ⟩ über                                Operators unwichtig werden. Dieser prinzipielle Verlust
viele experimentelle Realisierungen zu bilden. Die Ein-                                  an Detailgenauigkeit liegt der einfachen Beschreibung der
punktfunktion ⟨F(yi)⟩ ist der einfachste dieser Mittelwerte,                             Dynamik im universellen Regime zugrunde.
da die Observable F nur an einem Punkt yi ausgewertet                                       Lehrbücher diskutieren Universalität bisher vor allem im
wird. Entsprechend beschreibt die Zweipunktfunktion                                      thermischen Gleichgewicht. So verhalten sich bestimmte
⟨F(yj) F(yk)⟩, wie die beobachtbare Größe an zwei Punkten                                charakteristische Größen in der Nähe von Phasenüber-
miteinander korreliert ist. Für unterschiedliche Orte quan-                              gängen für unterschiedliche Systeme gleich. Wichtig ist es,
tifiziert ⟨F(yj) F(yk)⟩, wie wahrscheinlich es ist, dass der Spin                        anstelle der absoluten Größen vor allem deren funktionale
an den Orten yj und yk gleichzeitig in die gleiche Richtung                              Abhängigkeit zu vergleichen, beispielsweise die Korrelati-
zeigt.                                                                                   onslänge als Funktion ihres „Abstands“ zum Phasenüber-
    Sowohl die Dichtematrix als auch das Set aller möglichen                             gang. Von Universalität spricht man, wenn diese Abhängig-
Korrelationsfunktionen enthalten alles, was man über ein                                 keit für verschiedene Systeme gleich aussieht. Im Gleich-
System wissen kann. Die Zeitentwicklung der Korrela-                                     gewicht ist Universalität experimentell sehr gut untersucht
tionsfunktionen ist eindeutig durch den Hamilton-Ope-                                    und es existiert ein detailliertes theoretisches Verständnis
rator und die Anfangsbedingung bestimmt: Auf kleinsten                                   von Universalitätsklassen [5]. Dagegen ist die universelle
Skalen können zwei unterschiedliche Anfangsbedingungen                                   Zeitentwicklung ein Phänomen, das erst seit einigen Jah-

     a     t=4                      Zoom t = 4                      b          t = 100
                                                                                                      Abb. 3 Dieses Beispiel zeigt die ortsaufgelöste Ma-
                                                                                                      gnetisierung in einem zweidimensionalen schockge-
                                                                                                      kühlten Ising-Modell mit Flächen positiver (schwarz)
                                                                                                      und negativer (weiß) Werte. Deren Verteilung sieht
                                                                                                      für einen Zoom zum Zeitpunkt t = 4 (a) und das
                                                                                                      gesamte System zum Zeitpunkt t = 1 (b) ähnlich
                                                                                                      aus. Ein Reskalieren der Ortskoordinate mit der Zeit
                                                                                                      führt zu quantitativ gleichen Korrelationsfunktionen.
                                                                                                      Der Zoom_ muss dabei gemäß einem Potenzgesetz
                                     Beispiel generiert mit https://mattbierbaum.github.io/ising.js   t –1/2 = 1/√t in der Zeit___
                                                                                                                                verändert
                                                                                                                                     __ werden; im gezeigten
                                                                                                      Beispiel ergibt sich √1 / √4 = 5.

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Universell in der Zeit - Die Dynamik von Quantensystemen kann im zeitlichen Verlauf selbstähnlich werden. Maximilian Prüfer, Helmut Strobel und ...
Überblick

ren intensiv diskutiert und kürzlich erstmals experimentell
gezeigt wurde.                                                               Fy
    Mit den Korrelationsfunktionen als Werkzeug gelingt
es, universelle Dynamik zu beschreiben. Was aber lässt sich                          Fx
unter einer selbstähnlichen Entwicklung intuitiv verstehen?
Stellen wir uns vor, wir betrachten ein System zu einem
                                                                     –1
gegebenen Zeitpunkt t durch ein Mikroskop mit variabler
Vergrößerung. Hier liegen Strukturen einer charakteris-            Fx 0
tischen Größe vor, in unserem Beispiel quantenmecha-
nischer Spins ist dies die Längenskala, auf der diese korre-          1                    20 µm
liert sind. Entwickelt sich das System nun dynamisch weiter,          1
verändert sich auch die Längenskala. Bei Selbstähnlichkeit
                                                                   Fy 0
sieht das System zu jedem Zeitpunkt gleich aus, wenn der
Vergrößerungsfaktor des Mikroskops entsprechend ange-                –1
passt wird (Abb. 3). Der Fall universeller Quantendynamik
ist gegeben, sofern diese Selbstähnlichkeit zum Vorschein                 ⟨F(y1)⟩                              ⟨F(y2) F(y3)⟩
tritt, wenn die Vergrößerung des Mikroskops entsprechend
einem Potenzgesetz t –β gewählt wird.
                                                                 Abb. 4 Aus der räumlich aufgelösten Messung der Richtung des
                                                                 Spins (Fx, Fy) ergeben sich die Korrelationsfunktionen ⟨F(y1)⟩ und
Vom Universum über das CERN in den Keller                        ⟨F(y2) F(y3)⟩.

Es scheint klar, dass das Universum kurz nach dem Urknall
ein System fern des Gleichgewichts war. Nicht so offensicht-
lich ist allerdings, dass es sich dabei auch um ein isoliertes   extrahieren. Das hat uns vom Universum in den Keller ge-
Quantensystem handelte. Um Phänomene zu untersu-                 führt: Dort werden am Kirchhoff-Institut die ultrakalten
chen, die bei diesem tatsächlich einmaligen Experiment           Gase produziert.
auftraten, kollidieren am Large Hadron Collider des CERN
hochgeladene Bleikerne mit Energien von mehreren Tera-
elektronenvolt. Dabei entsteht ein extremes Nichtgleichge-
                                                                 Eine Plattform für analoge Quantensimulationen
wichtssystem, das wir nun kurz etwas genauer betrachten          Um Quantensimulationen durchzuführen, ist es grund-
wollen, weil die beobachteten Phänomene die Theorie über         sätzlich nötig, einen wohldefinierten quantenmechanischen
universelle Dynamik motiviert haben.                             Anfangszustand zu präparieren. Eine Möglichkeit
   Die Experimente mit Schwerionenkollisionen sollen             besteht darin, atomare Gase mithilfe von Laserlicht und
grundlegende Fragen der Quantenchromodynamik klären.             Verdampfungskühlen bis nahe an den absoluten Nullpunkt
Dabei entstehen in natürlicher Weise isolierte Vielteilchen-     abzukühlen – anstelle der Teraelektronenvolt (112 eV) bei
systeme, deren Eigenschaften dem Materiezustand des frü-         den CERN-Experimenten sprechen wir hier von Piko-
hen Universums in den ersten Mikrosekunden nach dem              elektronenvolt (1–12 eV). Eine Vakuumkammer macht
Urknall nahekommen. Das System ist tatsächlich in sehr           äußere Einflüsse vernachlässigbar, womit das System isoliert
guter Näherung isoliert und befindet sich definitiv fernab       ist. Quantengasexperimente beobachten typischerweise
des thermischen Gleichgewichts: Anfangs sind viele Zu-           die Dynamik zeit- und ortsaufgelöst. Es ist zum Beispiel in
stände höher besetzt, als bei einem System im thermischen        optischen Gittern möglich, durch die Detektion einzelner
Gleichgewicht erwartet. Ein Szenario ist eine anfängliche        Atome die Besetzung einzelner Gitterplätze zu bestimmen
universelle Dynamik, die zu schneller Thermalisierung            [] oder in kontinuierlichen Systemen ortsaufgelöst den
führt, sodass sich die nachfolgende Dynamik des Quark-           Spinfreiheitsgrad am Quantenlimit auszulesen []. Im
Gluon-Plasmas hydrodynamisch beschreiben lässt. Das              Folgenden konzentrieren wir uns auf die experimentellen
erlaubt quantitative Vorhersagen der resultierenden Teil-        Details zweier Experimente in Heidelberg und Wien, in
chenproduktion. Allerdings ist es in diesen Experimenten         denen die Beobachtung universeller Dynamik fast zeitgleich
unmöglich, die frühe Dynamik direkt zu untersuchen, weil         gelang [, ].
experimentell nur die Endprodukte, lange nach der Kolli-             In unseren Experimenten in Heidelberg verwenden wir
sion, detektierbar sind.                                         Rubidium, das wir so weit herunterkühlen, bis die Atome
   Idealerweise möchte man die verschiedenen Quanten-            ein Bose-Einstein-Kondensat bilden. Die Dipolkraft
feldkonfigurationen direkt beobachten, daraus die Korrela-       hält die Atome in einer elongierten optischen Falle, was
tionen extrahieren und deren Zeitentwicklung bestimmen.          zu einer zigarrilloförmigen Atomwolke führt. In dieser
Mit quantenchromodynamischen Feldern erscheint dies              Konfiguration erscheint den Atomen der Raum effektiv
nicht machbar. Aber mit den Bose-Feldern eines ultrakal-         eindimensional. Das optische Fallenpotential erlaubt
ten Spin-1-Gases ist es möglich, die relevanten Felder sogar     es, Atome in mehreren Hyperfeinzuständen gleichzeitig
direkt zu beobachten. Hier lässt sich die Anfangsbedingung       zu fangen. Die Atome tragen einen Quantenspin, der
in einem großen Bereich verändern und es ist möglich, die        sich klassisch als kleiner Magnet interpretieren lässt.
Korrelationsfunktionen für verschiedene Zeitpunkte zu            Die Nichtgleichgewichtssituation stellen wir her, indem

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Universell in der Zeit - Die Dynamik von Quantensystemen kann im zeitlichen Verlauf selbstähnlich werden. Maximilian Prüfer, Helmut Strobel und ...
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wir Mikrowellenfelder einstrahlen, die schlagartig die                                                                          der nach den Quenches und langen Evolutionszeiten uni-
Wechselwirkung zwischen den Spins erlauben. Nach dieser                                                                         verselle Dynamik zeigt. Der Nachweis gelang mit einer neu-
Änderung, auch Quench genannt, ist das System instabil,                                                                         artigen Auslesemethode [], in der messbare Atomdichten
was zu einer hohen Anregung des Spinfreiheitsgrades                                                                             die Extraktion der Spinrichtung erlauben (Abb. 4). Mit der
[1] in verschiedenen räumlichen Zuständen führt und                                                                            räumlichen Auflösung lassen sich die Korrelationsfunkti-
das System nahe an einen nicht-thermischen Fixpunkt                                                                             onen direkt berechnen. Als destruktive Detektionsmetho-
heranbringt.                                                                                                                    de charakterisiert die verwendete Absorptionsmessung das
   Die Gruppe um Jörg Schmiedmayer hat im Wiener                                                                                System und zerstört es gleichzeitig. Um die Korrelations-
Experiment Rubidium mithilfe magnetischer Felder auf                                                                            funktion mit hoher Präzision zu bestimmen, gilt es, das
einem Atomchip gefangen. Die Präparation eines Systems                                                                          Experiment für jeden Zeitschritt mehrere hundert Mal zu
fernab des Gleichgewichts verläuft hier etwas anders: Die                                                                       wiederholen.
Gruppe entfernt schlagartig einen substanziellen Anteil der                                                                        Das Phänomen der universellen Dynamik ist
Atome mit den höchsten Energien aus der Falle, was einer                                                                        nur bei vergleichsweise langen Evolutionszeiten zu
Schockkühlung nahekommt. Das anschließende Erhöhen                                                                              beobachten, weil es erst nach einer Vielzahl der typischen
der Fallenpotentiale führt zu einem geschlossenen System.                                                                       Wechselwirkungszeiten auftritt. In unserem Experiment
Verglichen mit dem thermischen Gleichgewicht liegt nun                                                                          entspricht dies einem Regime, das an die Grenzen von
ein System mit sehr hoch besetzten Impulszuständen vor.                                                                         Experimenten mit ultrakalten Atomen stößt. Die langen
                                                                                                                                Evolutionszeiten verlangen zusammen mit der benötigten
                                                                                                                                Statistik einen experimentellen Aufbau mit hoher Stabilität
Zweifacher experimenteller Nachweis                                                                                             und Kontrolle. Unsere komplette Studie erforderte die
Für die beiden Systeme in einer eindimensionalen Fallen-                                                                        Möglichkeit, ungefähr vier Wochen bei konstanten
geometrie gab es zuvor keine theoretischen Vorhersagen                                                                          experimentellen Bedingungen zu messen. Währenddessen
möglicher universeller Phänomene fernab des Gleichge-                                                                           haben wir das System rund um die Uhr alle 5 Sekunden
wichts. Es war per se nicht einmal klar, ob die Universalität                                                                   neu präpariert: Das sind ungefähr 5  Realisierungen –
in einer Dimension auftritt. Letztendlich entpuppten sich                                                                       genauso viele Schwerionenkollisionen können am CERN
die Systeme als perfekte Modelle, um universelle Nicht-                                                                         pro Sekunde ablaufen.
gleichgewichtssysteme experimentell zu untersuchen.                                                                                Experimentell zeigt sich ein universelles Regime, wenn
Um jedoch die universelle Dynamik zu beobachten, galt                                                                           sich die funktionale Form der Korrelationsfunktion nicht
es, den zugehörigen Freiheitsgrad zu identifizieren. Im                                                                         ändert. Die Dynamik wird deutlich, weil Amplitude und
Heidelberger Experiment handelte es sich dabei um den                                                                           Längenskala gemäß der einfachen Potenzgesetze tα und tβ
Spinfreiheitsgrad transversal zum angelegten Magnetfeld,                                                                        mit der Zeit variieren. Die Art der Skalierungsfunktion ist

                                                                                                                                                                                                                                                 aus [6]
               a                                                                                                                        b                                               Zeit in s
                                                             Längenskala λ in µm                                                                            4           5           6               7          8          9
                                        400               200              100              50

                                100                                                                                                                   100
                                                                                                         reskalierte Amplitude (t/tref)–α fθ (k,t)
     Strukturfaktor fθ (k,t)

                                                                                                                                                                2
                                                                                                                                                                            fθ (k,t)
                               10–1                                                                                                                  10–1    1,5      (t/tref)α fS ((t/tref)β k)

                                                   tα
                                                                                                                                                                1
                                      log fθ (k)

                                                            tβ
                                                                                                                                                            0,67

                                                                                                                                                             0,5
                               10–2                             log k                                                                                10–2           0,0025 0,005           0,01         0,02       0,04

                                      0,0025            0,005               0,01           0,02   0,04                                                       0,0025                 0,005              0,01                0,02           0,04
                                                                        Impuls k in µm–1                                                                                              reskalierter Impuls (t/tref)β k in µm–1

Abb. 5 Das Heidelberger Experiment bestimmte die Fourier-Transformierte der direkt extrahierten Spinkorrelationen als Funktion des
zugehörigen Impulses (a) für verschiedene Zeitpunkte im Experiment von 4 Sekunden (dunkelgrün) bis 9 Sekunden (lila). Bei reskalierter
Impuls- und Amplitudenachse (b) fallen alle Datenpunkte auf eine universelle Kurve (grau). Die Dynamik im System ist also universell.

4                               Physik Journal 2 (221) Nr. 2                                                                                                                                                               © 2021 Wiley-VCH GmbH
Universell in der Zeit - Die Dynamik von Quantensystemen kann im zeitlichen Verlauf selbstähnlich werden. Maximilian Prüfer, Helmut Strobel und ...
Überblick

                                                                                                                                                                                            aus [7]
        a                                                             b
                                                                                                                                                                              75
                               α

                                                                          (t/t0)–α n(k,t)/N(t) in µm
                        10–1                                                                           10–1

                                                                                                                                                                             Zeit t in ms
    n(k,t)/N(t) in µm

                                            –β                                                                α = 0,09 ± 0,05
                                                                                                              β = 0,10 ± 0,04
                        10–2                                                                           10–2
                                                                                                                                                                              0,7
                               1   2   3         4        5   6   7                                             1        2      3           4           5   6       7
                                       Impuls k in µm–1                                                                             (t/t0)β k in µm–1

Abb. 6 Mit der Flugzeitmethode ergaben sich beim Wiener Experiment Impulsverteilungen (a) für verschiedene Zeitpunkte im Experiment
von ,7 Millisekunden (dunkelblau) bis 75 Millisekunden (dunkelrot). Bei reskalierter Impuls- und Amplitudenachse (b) fallen alle Daten-
punkte auf eine universelle Kurve (grau). Die Dynamik im System ist also universell.

eine Eigenschaft der Universalitätsklasse. Für das Spinsys-                                            Anfangsbedingung zu testen. Im Heidelberger Experiment
tem des Heidelberger Experiments ergibt sich als Fourier-                                              haben wir zum Beispiel verschiedene räumliche Spinstruk-
Transformierte der direkt extrahierten Spinkorrelationen                                               turen präpariert. Im Wiener Experiment lässt sich die An-
eine verallgemeinerte Lorentz-Funktion ( Abb. 5 ). Bei                                                 zahl der verwendeten Atome ändern, was indirekt auch die
dem schockgekühlten Bose-Gas des Wiener Experiments                                                    mikroskopische Wechselwirkungsstärke variiert. Ein kürz-
bildet die Flugzeitmethode als Standardverfahren die                                                   lich durchgeführtes Experiment in Cambridge konnte die
Impulsverteilung auf eine Ortsverteilung ab. Das erlaubt es,                                           Wechselwirkungsstärke direkt mithilfe von Feshbach-Reso-
direkt die Besetzung der Impulsmoden zu bestimmen und                                                  nanzen verändern und die Unabhängigkeit der universellen
führt auf eine Exponentialfunktion (Abb. 6). Damit haben                                               Dynamik demonstrieren [11]. Die Experimente bestätigen
die ersten beiden analogen Quantensimulationen direkt                                                  demnach alle die vorhergesagte Robustheit des Phänomens.
zwei verschiedene universelle Korrelationsfunktionen                                                      Die Robustheit macht Systeme mit universeller Dynamik
gefunden.                                                                                              interessant für Quantensimulationen und Quantenrech-
   Die universelle Zeitdynamik zeigt sich in beiden Fällen,                                            nungen. Typischerweise verfolgen Quantensimulationen
wenn man die Korrelationen als Funktion des Impulses                                                   mit ultrakalten Quantengasen den Ansatz [], einen Mo-
für verschiedene Zeiten im Skalierungsregime aufträgt                                                  dell-Hamilton-Operator auf mikroskopischen Skalen mit
und die Impulsachse mit tβ und die Amplituden mit t–α                                                  kontrollierten räumlichen Anordnungen und Wechselwir-
reskaliert. Dabei fallen alle Datenpunkte auf eine universelle                                         kungen zu implementieren – also auf dem Level einzelner
Kurve. Für das Heidelberger Experiment ergeben sich als                                                Atome. Damit lassen sich zum Beispiel Minimalmodelle
universelle Exponenten α = ,33 ± , und β = ,54 ± ,;                                            von Festkörpersystemen emulieren und grundlegende
für das Wiener Experiment betragen sie α = , ± ,5                                                 Mechanismen studieren. Hier kommt es jedoch im Detail
und β = ,1 ± ,4. Da die beiden Experimente nicht nur                                               sehr genau darauf an, alle Teile des Hamilton-Operators auf
unterschiedliche Funktionen, sondern auch verschiedene                                                 mikroskopischer Ebene genauestens zu implementieren.
Exponenten gefunden haben, könnte es tatsächlich mehr                                                     Im Fall universeller Dynamik wäre ein etwas anderes
als eine Universalitätsklasse geben. Wann und warum diese                                              Vorgehen möglich, weil ein neuer „effektiver Hamilton-
existieren, ob es einen dahinter liegenden gemeinsamen                                                 Operator“ die makroskopischen, relevanten Freiheitsgrade
Mechanismus gibt und welche anderen Klassen eventuell                                                  beschreibt. Dieser ist robust, denn er hängt nicht mehr
vorliegen, gilt es nun herauszufinden.                                                                 von mikroskopischen Details des Systems ab. Es ist sogar
                                                                                                       möglich, ihn mithilfe von Korrelationsfunktionen expe-
                                                                                                       rimentell zu bestimmen [12, 13]. Dieser komplementäre
Robuste universelle Phänomene                                                                          Ansatz für zukünftige Quantensimulationen ermöglicht
Dabei gibt es eine spannende und sogleich nützliche Eigen-                                             es, in Bereichen zu arbeiten, in denen die mikroskopische
schaft des beschriebenen Phänomens: die erwartete Insen-                                               Kontrolle aller Freiheitsgrade nicht mehr in höchstem Ma-
sitivität gegenüber Details wie der Stärke der mikrosko-                                               ße möglich ist, jedoch eine hochpräzise Auslese relevanter
pischen Wechselwirkungen im Hamilton-Operator oder                                                     Freiheitsgrade gelingt.
den Anfangsbedingungen. Die gute Kontrolle über ultra-
kalte Atome erlaubt es, explizit die Abhängigkeit von der

© 2021 Wiley-VCH GmbH                                                                                                                       Physik Journal 2 (221) Nr. 2                  41
Überblick

Vom Bose-Kondensat zu Quantensimulationen                                  [6] I. Bloch et al., Nat. Phys. 8, 267 (2012)
                                                                           [7] P. Kunkel et al., Phys. Rev. Lett. 123, 063603 (2019)
                                                                           [8] M. Prüfer et. al., Nature 563, 217 (2018)
Die beschriebenen Experimente zeigen, dass das vorge-
                                                                           [9] S. Erne et. al., Nature 563, 225 (2018)
schlagene Szenario des nicht-thermischen Fixpunktes                       [10] D. M. Stamper-Kurn und M. Ueda, Rev. Mod. Phys. 85, 1191 (2013)
tatsächlich in einem physikalischen System unter experi-                  [11] J. Glidden et al., arXiv:2006.0118 (2020)
mentellen Umständen realisierbar ist. Dies weist den Weg,                 [12] M. Prüfer et al., Nat. Phys. 16, 1012 (2020)
um zu testen, ob das Konzept der Universalität fernab des                 [13] T. V. Zache et al., Phys. Rev. X 10, 011020 (2020)
                                                                          [14] S. Johnstone et al., Science 364, 1267 (2019)
Gleichgewichts tatsächlich genauso mächtig ist, wie es sich               [15] G. Gauthier et al., Science 364, 1264 (2019)
im Gleichgewicht darstellt. Das kontrollierte Erreichen des
universellen Regimes erlaubt es außerdem, die fundamen-
tale Frage zu beantworten, welche grundlegenden Bausteine
die Zugehörigkeit zu einer Universalitätsklasse für dyna-
mische Systeme definieren. Die vorhandene hohe Kontrol-
le über Experimente mit ultrakalten Gasen ermöglicht es,
                                                                          Die Autoren
gezielt Details des Systems so zu verändern, dass sich ein
                                                                                                            Maximilian Prüfer studierte Physik
anderes oder gar kein universelles Verhalten mehr ergibt.
                                                                                                            an der U Heidelberg und promovierte
Solche Untersuchungen helfen, die Mechanismen heraus-                                                       2020 über experimentelle Tests
zufinden, die zu universeller Dynamik führen. Mit weiteren                                                  quantenfeldtheoretischer Konzepte.
Systemen, die zum Beispiel zwei- oder dreidimensionale                                                      Seitdem arbeitet er dort als Postdoc
Kastenpotentiale nutzen [11, 14, 15], lassen sich in Zukunft                                                und beschäftigt sich mit der
Verbindungen zu anderen Phänomenen wie der Turbulenz                                                        Thermalisierung von Spinsystemen.
                                                                                                            Helmut Strobel promovierte 2016 an
oder der Annihilation topologischer Anregungen herstellen
                                                                                                            der U Hei­delberg zur Verschränkung
und untersuchen.                                                                                            in Bose -Einstein-Kondensaten
   Die präsentierten Ergebnisse zeigen aber auch, dass die                                                  und Quantenmetrologie. Heute
experimentellen Plattformen ultrakalter Bose-Gase ein                                                       experimentiert er dort mit ultrakalten
neues Niveau der Kontrolle und der Detektion erreicht                                                       Bose-Gasen fern des Gleichgewichts
haben. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, diese                                                     in reduzierten Dimensionen und mit
experimentellen Systeme als analoge Quantensimulatoren                                                      einstellbarer Wechselwirkung.
                                                                                                            Markus Oberthaler (FV Quantenoptik
einzusetzen, um fundamentale Fragen der Quantenfeld­                                                        und Photonik) studierte Physik in
theorie solide und ohne Näherung zu simulieren und damit                                                    Innsbruck. Nach der Promotion
ihre verschiedenen Näherungsmethoden direkt zu testen.                                                      ging er als Postdoktorand nach
Ein vielversprechender Ansatz ist hier die Extraktion der                                                   Oxford und als Emmy Noether-
effektiven Theorie, die auch die Wechselwirkungen der re-                                                   Nachwuchsgruppenleiter 2000 an
levanten Freiheitsgrade im universellen Regime beinhaltet                                                   die U Konstanz. Seit 2003 forscht er
                                                                                                            als Professor für Experimentalphysik
[12, 13].                                                                                                   an der U Heidelberg unter anderem
                                                                                                            zur Verschränkung und zu Tests von
Literatur                                                                                                   Quantenfeldtheorien in ultrakalten
[1] J. Berges et al., Phys. Rev. Lett. 101, 041603 (2008)                                                   Quantengasen.
[2] H. Kleinert, Particles and quantum fields, World Scientific, Singa-
    pur (2016)                                                               Dr. Maximilian Prüfer, Dr. Helmut Strobel und Prof. Dr. Markus
                                                                             Oberthaler, Universität Heidelberg, Kirchhoff-Institut für Physik, Im
[3] T. Schweigler et al., Nature 545, 323 (2017)                             Neuenheimer Feld 227, 69120 Heidelberg
[4] K. G. Wilson, Scientific American (1979), PDF: bit.ly/3nGIvEN
[5] P. C. Hohenberg und B. I. Halperin, Rev. Mod. Phys. 49, 435 (1977)

42        Physik Journal 20 (2021) Nr. 2                                                                                          © 2021 Wiley-VCH GmbH
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