Elise 2 - Kooperative Freinet ...

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Elise                                           2

Vereinszeitung der Freinet Gruppe Wien

                                         Herbst 2011
Elise 2 - Kooperative Freinet ...
Liebe Leserin, lieber Leser!

 Zu Beginn des neuen Schuljahres er-        Entscheidungsträger, sondern die als
 scheint die zweite Nummer unserer „Eli-    Kooperative arbeitende Klasse. Die Kin-
 se“. Wie das alte geendet hat, beginnt     der sollen Verantwortung übernehmen,
 das neue:                                  Konsequenzen für ihr eigenes Handeln
 Das Allermeiste, womit wir derzeit unter   tragen ... all das Ansprüche an uns, all
 dem Titel „Reformen“ beglückt werden,      das Beiträge zu pädagogischen Verbes-
 mangelt eines pädagogisch durchdach-       serungen - die mit unserem Menschen-
 ten Konzepts (zumindest ist ein solches    bild zu tun haben.
 nicht leicht zu erkennen, oder gehts nur   Und wir haben auch didaktisch Angebote
 mir so?...). Angefangen mit dem Ho-        gegen konzeptloses Dahinwerken in un-
 Ruck-Leseprojekt in der zweiten Schul-     seren Klassen - siehe die Artikel zur Na-
 woche hin zu den Bildungsstandards         türlichen Methode des Lesenlernens und
 und EUKompetenzkatalogen unter de-         zu „Mathematik, Freinet-Pädagogik und
 nen sich kaum jemand was Konkretes         Bildungsstandards“. Der dritte längere
 vorstellt, oder zumindest nicht viel Ge-   Artikel in dieser Elise „Lernen heißt Wis-
 meinsames ..., „Reform“ ist ja nicht nur   sen teilen“ beschäftigt sich mit freineti-
 in der Schule augenscheinlich schon län-   schen Ansätzen und Möglichkeiten in der
 ger zum Synonym für Verschlechterung       Erwachsenenbildung.
 geworden.                                  Außerdem findet ihr in dieser Zeitung ein
 Wir wollen und stehen für eine päda-       paar recht unterschiedliche Buchempfeh-
 gogisch durchdachte Bildungsreform,        lungen (spezieller Dank an Leon für sei-
 anstatt kurzweiligen Stückwerks und        nen Beitrag!), einen Bericht von den Er-
 angeblicherReformen, die Verschlechte-     findertagen in der VS Hagenbrunn sowie
 rungen bedeuten.                           jede Menge Termine und Ankündigungen
 Unsere Kinder haben das verdient und       (Bildungsvolksbegehren,       Ostertreffen
 auch wir selbst, schließlich liegt darin   2012, Ridef 2012, und die Stammtische
 Teil unserer gesellschaftlichen Verant-    der Freinet Gruppe Wien...)
 wortung, bekanntlich und freinetisch
 sind unsere Schulen, Klassen (und an-                                        Wanda G
 dere Bildungsinstitutionen) Ansatzorte
 für gesellschaftliche Veränderung.
 Wir wollen eine qualitätsvolle
 Bildung für alle, Gleichberech-
 tigung von Mädchen und Bu-
 ben (über „gegenderte“ Schul-
 bücher hinaus). Wir arbeiten
 an der Verwirklichung basis-
 demokratischer Formen - wie
 der Klassenrat eine sein kann
 - in unseren Klassen. Wir versu-
 chen, den Kindern Möglichkei-
 ten zu geben, Entscheidungen
 zu treffen - wirklich, und nicht
 nur pro forma. Wir üben und
 lernen, uns auf unterschiedli-
 che Weise zu artikulieren, mit
 anderen zu kommunizieren und
 zu kooperieren - denn nicht nur
 das einzelne Individuum muss
 lernen und ist wesentlich und
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Lesen lernen – lesen können – lesen wollen

           Einblicke in die natürliche Lesemethode der Freinet Pädagogik

Lesen, Lesefertigkeit, Leseverständnis,              Fünf Jahre hindurch (vom Alter von 1,8
sinnerfassendes Lesen, Pisa Testungen                Jahren bis zum Alter von 6,6 Jahren)
bei denen österreichische Schüler und                hat er alle von seiner Tochter zum Er-
Schülerinnen schlecht abschneiden,                   lernen des Schreibens durchgeführten
zahlreiche Initiativen, Lesetestungen,               tastenden Versuche gesammelt und auf-
Maßnahmen wie Soko-Lesen, verpflich-                 bewahrt - die Beherrschung des Lesens
tende Schwerpunktwochen zur Leseför-                 vollzog sich in gleicher Weise. (Er notiert
derung sind derzeit heiße Themen. Ma-                in der Tat mehrmals: „Sie entschließt
chen wir an den Schulen etwas falsch?                sich nicht zum Lesen.“) Auf diese rei-
Wie kann man das Problem beheben?                    che Dokumentation baut er sein Buch
Gibt es eine Möglichkeit, die Leseleis-              „Natürliche Methode des Lesenlernens“
tung der Kinder zu heben? Woran könn-                (Methode naturelle de lecture) auf.“1
te es liegen, dass unsere Kinder immer               In der Hinführung zum Thema erläutert
schlechter lesen und unseren Jugendli-               Freinet, dass niemand von uns auf die
chen oft die Lesefreude fehlt? Zu diesen             Idee käme, Kleinkindern das Sprechen
Fragen gibt es viele Diskussionen und                oder Gehen analytisch beizubringen.
Debatten.                                            Vielmehr lassen wir die natürliche Ent-
Bei meiner Sommerlektüre der „Pädago-                wicklung der Kinder zu. Wir freuen uns
gischen Werke von Célestin Freinet“ bin              über die ersten Laute, geben lautähnli-
ich auf höchst interessante Texte und                che Wörter als Antwort und kommuni-
Aussagen Freinets gestoßen.                          zieren mit den Babies. Nach und nach
                                                     erlernen die Kinder immer mehr Laute
Der Übersetzer der Pädagogischen Wer-                und Lautgruppen, plappern Wörter nach
ke Freinets, Hans Jörg schreibt zur NA-              und setzen Sprache bewusst ein. Die
TÜRLICHEn METHODE DES LESENS:                        Entwicklung geht explosionsartig vor
                                                     sich und die Kinder sind gierig nach neu-
„Eine der Grundlagen der Freinet-Päda-               en Begriffen, Sätzen und Gesprächen.
gogik ist die, daß eine gewisse Anzahl               Wie gesagt, niemand, nicht einmal „stu-
von schulischen Kenntnissen mit der                  dierte“ Eltern oder WissenschaftlerIn-
gleichen natürlichen Vorgehensweise                  nen kämen auf die Idee, den kindlichen
angeeignet werden kann, wie die ele-                 Spracherwerb nach einem fixen Lern-
mentaren Lebensvorgänge. Mit anderen                 und Förderprogramm zu lenken. Natür-
Worten, Freinet dachte, daß man das                  lich geben Eltern immer wieder korrekte
Lesen, Schreiben und Rechnen genauso                 Aussprache und neue Wörter, sowie Sät-
lernen kann, wie man lernt, aufrecht zu              ze vor und halten so die Sprachentwick-
gehen, zu laufen und zu sprechen. Diese              lungsdynamik am Laufen.
Vorgehensweise hat er ausführlich unter              Ebenso kämen Eltern nicht auf die Idee,
der Bezeichnung „Das tastende Versu-                 das Erlernen des Gehens zu strukturie-
chen“ (Tatonnement experimental) in                  ren und „unnütze“ Etappen, wie viel-
seinem Versuch einer Wahrnehmungs-                   leicht das Krabbeln zu unterbinden und
psychologie (Essai de psychologie sen-               gleich in den aufrechten Gang zu kom-
sible) beschrieben.                                  men (oder doch Gehlaufwagerl?). Auch
Er nimmt hier diese Darstellung wieder               hier unterstützen Eltern den Lernablauf
auf, indem er sie auf das Schreiben- und             des Kindes, lassen Fehlschläge, wie das
Lesenlernen bezieht.                                 Zurückplumpsen auf den Popo immer

1
 Celestin Freinet, Pädagogische Werke, Teil 2, dt. Ausg. und Übers. Hans Jörg unter Mitw. von Herwig
Zillgen. Paderborn, München, Wien, Zürich, Schoningh Verlag 2000, ISBN 3-506-72715-X) S. 319.

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wieder zu, motivieren das Kind mit Zure-          Durch diese Gegebenheiten ist es unfä-
den zu den ersten freien Schritten. Nie-          hig, die Erziehung im rechten Sinne zu
mand käme auf die Idee kleinen Kindern            erleichtern und vorzubereiten, eine Er-
theoretisch zu erklären, wie das Spre-            ziehung, die im Kind den Menschen von
chen oder das Gehen funktioniert. Auch            morgen heranbildet, der um seine Rech-
                                                  te weiß, der aber auch fähig ist, seine
das von Freinet so oft angeführte Rad
                                                  Aufgaben in der Welt zu erfüllen, die er
fahren können wir niemals in de Theorie           neu gestalten und beherrschen muß.
über die Mechanik des Fahrrads und die
Regeln des Gleichgewichts erlernen. Nur           Wir behaupten, und die Probe aufs Ex-
durch das handelnde Tun, durch Versuch            empel wird leicht sein, daß:
und Irrtum kommen wirzur Feinheit des
Rad fahrens und dem Halten des Gleich-            - die traditionelle Schule eine rein ver-
gewichts. Persönlicher Wunsch nach im-            bale Moral ohne jeglichen Einfluß auf das
mer besseren Leistungen ist der Antrieb           Verhalten der Kinder lehrt; eine Moral,
zum Erfolg.                                       die nur darauf aus ist, die schulischen
                                                  Praktiken passiven Gehorsams und dog-
„Natürliche Methode des Sprechen-                 matischer Belehrung zu verfestigen und
lernens                                           zu rechtfertigen.

Natürliche Methoden und traditionelle             - Wir müssen diese schulische Gepflo-
Methoden                                          genheit überwinden und beherzt auf
                                                  eine praktische und konstruktive Art der
Zwischen den traditionellen und unseren           Moralerziehung durch Kooperation in al-
natürlichen Methoden gibt es grundsätz-           len Bereichen zusteuern durch eine nor-
lich einen fundamentalen Unterschied.             male Organisation der Arbeit und durch
Ohne das Verstehen dieses Unterschie-             die Schaffung von menschlichen Bezie-
des werden alle Bewertungen immer un-             hungen zwischen Lehrern und Schülern
richtig und irreführend sein. Die traditio-       in einem pädagogisch günstigen Milieu.
nellen Methoden sind reine Schulmetho-
den, geschaffen, erprobt und mehr oder            - Es ist sowohl die soziale als auch
weniger zurechtgemacht für ein schu-              menschliche Ausrichtung der Schule
lisches Milieu, das seine Ziele, seine            selbst, die wir neu bedenken müssen.
Lebens- und Arbeitsweisen, seine Mo-
ral und seine Gesetze hat, die grund-             - Wir behaupten, daß die traditionelle
verschieden sind von den Zielen, den              Schule beim Schreiben eines Aufsatzes,
Lebens- und Arbeitsweisen des außer-              beim Rechnen, Zeichnen oder im Musik-
schulischen Bereiches, den wir als den            unterricht Arbeitsweisen anwendet, die
Bereich des wirklichen Lebens bezeich-            bis ins kleinste Detail auf ihren Einsatz
nen werden. Wir kritisieren weder die-            im schulischen Milieu zugeschnitten zu
se Methoden noch diejenigen, die sie im           sein scheinen, die aber keinerlei Bezug
besonderen Rahmen des Schulmilieus                zum individuellen Verhalten der Schü-
anwenden aus einem Vorurteil heraus,              lerund zu den sozialen Anforderungen
und wir garantieren auch nicht, daß un-           im außerschulischen Bereich haben.“
sere natürlichen Methoden sich besser
und mit größerem Erfolg in diesen Rah-            - Daraus entsteht eine falsche Bildung,
men einordnen würden. Alleine das Vor-            die niemals in das menschliche Leben
handensein dieses schulischen Milieus,            integriert ist und die deshalb zu einem
so wie es ist, wird von uns als unver-            sozialen und menschlichen Fehlverhal-
nünftig, rückständig und auf gefährliche          ten führt.
Weise von dem sozialen und lebendigen
Umfeld unserer Zeit losgelöst beurteilt.          - Die Beseitigung der Kluft zwischen der
                                                  Schule und der Umwelt ist es, die wir

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behaupten, durch die Anpassung der               natürliche Methode, der es mit hundert-
Arbeitstechniken an das Leben zu errei-          prozentigem Erfolg gelingt, die Aneig-
chen. Dass wir Lösungen anbieten, die            nung der Sprache zu erreichen, nicht
von nun an die Möglichkeit ihrer Bewäh-          zu dem gleichen Erfolg führen würde,
rung haben.                                      wenn es sich um das Schreiben-und Le-
- Wenn ihr glaubt, die hier vorgebrachte         senlernen handelt, die nur einen zwei-
Kritik sei falsch oder übertrieben, wenn         ten Schritt in diesem Prozeß darstellen.
ihr denkt, daß die Schule ihre Rolle in          Und wenn diese natürliche Methode für
unserer Gesellschaft des Jahres 1956             das Schreiben und Lesen gut ist, warum
normal erfüllt und die Kinder nicht nur          sollte sie es nicht auch für die übrigen
ausgebildet, sondern auch so erzogen             schulischen Disziplinen sein? Wir glau-
sind, wie ihr es wünscht; wenn ihr entge-        ben nicht, daß irgendeine wissenschaft-
gen allem Augenschein davon überzeugt            liche Begründung gegen diese Gewißheit
seid, daß die von euch angewendeten              angeführt werden könnte.
Methoden das Kind darauf vorbereiten,            Auch sollte uns nicht die Tatsache, daß
das Leben mit einem Maximum an Erfolg            auf allen Stufen und in allen Schulen
zu bewältigen, dann bleibt bei dem Alt-          dieser Welt die Paukmethode der Lern-
hergebrachten.                                   schule allgemein verbreitet ist, in unse-
                                                 rer Sichtweise des Vorhabens behindern.
- Unsere natürlichen Methoden würden             Der Erfinder wäre kein Erfinder, wenn er
dann ganz unnötig eure Gewohnheiten              nicht zuerst die einhellige Meinung der-
und eure Seelenruhe stören.                      jenigen gegen sich hätte, die noch nicht
                                                 von dem unternommenen Versuch auf-
- Wenn ihr aber feststellt, daß die Schule       geklärt wurden. Darum stellen wir je-
des Jahres 1956 noch nach den Grundsät-          den Tag diesen gewaltigen Nachteil der
zen und in der Atmosphäre vom Beginn             traditionellen Methoden fest. Kinder, die
des Jahrhunderts funktioniert, wenn ihr          nach diesen Methoden lesen und schrei-
begreift, daß sie noch weniger als die in-       ben gelernt haben, sind selbstverständ-
dustriellen und wirtschaftlichen Organi-         lich fähig, und das manchmal in Rekord-
sationen anachronistisch sein dürfe und          zeit, Einzelelemente, deren Handhabung
deshalb Reformen unverzüglich durch-             man ihnen beigebracht hat, richtig ein-
zuführen seien, dann profitiert von den          zufügen und ohne Fehler Sätze, die man
Ergebnissen unserer breiten gemein-              ihnen vorlegt, zu lesen, sie stellen aber
schaftlich gemachten Erfahrung, und ihr          keine Verbindung zwischen dieser Lek-
werdet mit kritischem und dialektischem          türe und dem Denken, den Fakten und
Verstand die wichtige Aufgabe unserer            den Ereignissen, die sie wiedergibt, her.
laizistischen und demokratischen Volks-          Es handelt sich hier einerseits um das
erziehung in Angriff nehmen.                     mechanische Lesen und andererseits
                                                 um das Verstehen, so wie es beim Fahr-
- Eine solche grundsätzlich neue Be-             rad die Mechanik und das durch Versu-
trachtungsweise von einer Schule, die            che erreichte Halten des Gleichgewichts
uns selbst lange geprägt hat und wo die          gibt.
Tendenz besteht, sie als eine Tatsache           Das Kind kann die Buchstaben entziffern,
hinzunehmen, stellt, dessen sind wir ge-         aber es kann nicht lesen, denn es setzt
wiß, ein gewaltiges Vorhaben dar.                die Worte nicht in Gedanken um. Es hat
                                                 sich eine Kluft aufgetan, die manchmal
- Wir sollten daher nicht zurückschre-           endgültig ist und die zum Ursprung der
cken vor den zahlreichen Fragen und              Auflösung der Kultur wird, zu einem der
Einwendungen, die manchmal die noch              großen Übel unserer Zeit. Wir werden
Zögernden verwirren.                             zeigen, wie durch die natürliche Metho-
                                                 de das Lesen und Schreiben zu einem
- Ihrer Beantwortung werden wir jetzt            Teil des gleichen Ausdrucks prozesses
den ersten Teil unserer Arbeit widmen.           werden, dessen erster Abschnitt das Er-
Es wäre deshalb unbegreiflich, daß die           lernen der Sprache ist.

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Das Kind, das man durch die traditionel-          lichen Wunsch des persönlichen Wachs-
le Methode in diesen Prozeß eingeführt            tums kommt das Kind zum Schreiben und
hat, liest seine Texte rein mechanisch.           Lesen. Kinder schreiben einander gegen-
Bei ihm stellen Lesen und Schreiben zwei          seitig Notizen und Briefe und lesen diese.
verschiedene Aspekte des Vorganges dar.           Schreiben und Lesen dient der Mitteilung.
Die Schule brüstet sich mit der Aneignung         Die Ängste vieler Lernschul-PädagogIn-
der Mechanismen, ohne daran                       nen und Eltern sind, dass Kinder, die vor-
zu denken, daß die Mutter, die spürt, daß         erst rein phonetisch schreiben, in diesem
ihr Kind lebt, sich darüber aufregen könn-        Stadium verharren würden und sich so
te, wenn sie sieht, wie es vielleicht bis         falsche Schreibweisen einprägen würden.
zur Perfektion die Wörter und Sätze beim          Allerdings treibt der natürliche Wunsch
Sprechen wiederholt und ohne Rücksicht            nach Weiterentwicklung und Perfektion
auf die mögliche Bedeutung anordnet,              die Kinder an, ihre Schreibweise zu ver-
was gewöhnlich als besonderes Zeichen             bessern, ebenso wie den Ausdruck, den
der Unterentwicklung und Debilität ange-          Wortschatz und die dahinter gelegene
sehen wird.                                       Grammatik.
Wir berühren hier- und man wird ver-              Freinet sieht in der Grundschule keinen
stehen, daß wir darauf bestehenden we-            Sinn in isolierten Übungen, sondern die
sentlichen Mangel der Methoden, deren             Basis der Arbeit des Schreibens und Le-
Schwächen wir anprangern, und wir wei-            sens sind immer die eigenen Texte der
sen auf die Notwendigkeit neuer Vorge-            Kinder, die sie einander vorlesen, zum
hensweisen hin, die alleine schon                 Lesen geben und die bearbeitet werden.
von ihren Prinzipien her bedeutende Ele-          Freinet weist darauf hin, dass Kinder im-
mente der Bildung darstellen.“ 2                  mer über Versuchen und Üben zum Kön-
                                                  nen kommen. Selten lernen Kinder aus
Lesen wir obigen Abschnitt, wird klar, dass       dem reinen Beobachten und den Erklä-
Freinet bereits 1959 auf die Grenzen des          rungen der Großen. Das Kind benötigt
Lesen-Lernens in der Lernschule hinwies.          sein tastendes Versuchen, um sich weiter
Er beschreibt hier das rein mechanische           zu entwickeln.
Lesen, das aus dem Zusammenlauten                 In der unnatürlichen Umgebung der Lern-
von Phonemen entsteht, aber vom wirk-             schulen sieht das Kind wenig Bedürfnis
lichen Verstehen und Erfassen der Texte           sich persönlich zu entwickeln, da es von
ganz verschieden und                              PädagogInnen in eine nicht existieren-
unabhängig ist. Wir leben im 21. Jahr-            de „Normentwicklung auf vorgegebenen
hundert. Über 50 Jahre nachdem Freinet            Wegen“ gedrängt wird. Der persönliche
diese Texte verfasste, stehen wir inmitten        Handlungs- und Spielrahmen ist derart
einer großen „Lesekrise“ der heutigen Ju-         reduziert, dass es einfach die von ihm
gend und Kinder. Bereits vor 50 Jahren            verlangten Handlungen und Aufträge er-
erkannte Freinet die Nachteile des ana-           füllt, aber nicht mehr an seiner eigenen
lytischen Lesen-Lernens, wo der Bezug             natürlichen Vervollkommnung arbeitet.
zum Leben der Kinder, der persönliche             Aber gerade dieser persönliche Drang
freie Ausdruck und die Eigenmotivation            nach Steigerung der Lebenskräfte ist die
zur persönlichen Vervollständigung feh-           Motivation und die souveräne Grund-
len. Der Ansatz der natürlichen Lese- und         lage des tastenden Versuchens. Es ist
Schreibmethode Freinets ist, dass die             aber selbstverständlich, dass der ganze
Kinder über Zeichnungen, zu denen die             Mechanismus des tastenden Versuchens
PädagogInnen die Geschichte, die im Bild          durcheinander gebracht wird, wenn die
erzählt wird, aufschreiben zum Schreiben          Motivation und das vitale Bedürfnis nach
und Lesen kommen. Nach und nach wird              Weiterentwicklung nicht mehr vorhanden
so das Schreiben imitiert, aus dem natür-         sind.

2
    ebd. S. 339

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Freinet beschreibt die natürliche Metho-          Die Schuldruckerei hat in die tägliche Pra-
de zum schriftlichen Ausdruck und zum             xis unserer Schulen den freien Ausdruck
Lesen als auf Beobachtung gegründete              und das kreative Tun unserer Schüler
Erfahrung – wie oben erwähnt auch an              einziehen lassen. Durch wirksamere Er-
der Entwicklung seiner Tochter Baluette           fahrungen als die angeblich wissen-
(Bal). Dies ist ein Bericht aus der Praxis,       schaftlichen Begründungen hat sie neue
wie der Ablauf vom Zeichnen zum Schrei-           Horizonte für eine Pädagogik eröffnet, die
ben und Lesen in natürlicher Methode              auf den tatsächlichen Interessen und kre-
verlaufen kann. Ich kann Interessierten           ativen Kräften des Lebens und der Arbeit
nur empfehlen, diese Seiten zu studieren,         aufgebaut ist. Sie hat ebenfalls die Ein-
die genauere Wiedergabe würde hier den            heit des Denkens und Tuns und des kind-
Rahmen sprengen.                                  lichen Lebens wiederhergestellt. Sie hat
Im Anschluss sind wieder Originaltexte            die Schule in den normalen Prozeß der in-
Freinets. Leider irrte sich Freinet (siehe        dividuellen und sozialen Entwicklung der
Ende des Artikels) als er sehr euphorisch         Schüler integriert.
schrieb, dass ein goldenes Zeitalter ko
mmen werde, in dem die lernschulmäßi-             - Diese Überlegungen sind für uns we-
ge Verdummung der Vergangenheit an-               sentlich und fundamental.
gehören würde.
                                                  - Das Kind, das ein Ziel seines Arbei-
„Die Schuldruckerei ist sicherlich ein            tens vor Augen hat, das sich ganz einer
großer Fortschritt,“ hat man uns ge-              nicht mehr schulmäßigen, sondern sozi-
sagt, „aber wir können sie nicht als ein          alen und menschlichen Aktivität widmen
Allheilmittel ansehen.“ Die Erzieher, die         kann, dieses Kind spürt, daß in ihm ein
diese nicht stichhaltige Kritik übten, ha-        mächtiges Bedürfnis zum Handeln, For-
ben ohne Zweifel die Ausrede, unsere Ar-          schen und kreativen Tun frei wird. Mit Er-
beiten nicht aus der Nähe beobachtet zu           staunen haben wir festgestellt, daß die so
haben. Sie hätten bemerkt, daß wir sehr           erstarkten und neu eingestimmten Schü-
oft die Notwendigkeit betont haben, sie           ler freiewillig eine in Qualität und Quan-
nicht als eine Methode anzusehen, son-            tität wesentlich bessere Arbeit lieferten
dern in ihr nur eine freie und kreative Ar-       als die, welche die alten unterdrückenden
beitstechnik im Dienste einer wirklichen          Methoden verlangten.
Erziehung zu sehen.                               ...
                                                  Wenn, wie wir es beweisen, der Schüler
- Diese Innovation bringt jedoch neue,            endlich im Sinne seiner Persönlichkeit ar-
besondere Möglichkeiten, durch die sie            beiten darf und es nicht mehr nötig hat,
der Pädagogik ohne Zweifel einen Stem-            weder gerügt noch aufgemuntert zu wer-
pel aufdrücken wird. Die besten zeitge-           den, um eine gewissenhafte Arbeit abzu-
nössischen Erzieher priesen die freie Kin-        liefern, dann stürzt das ganze alte Schul-
dertätigkeit und den vertrauten Ausdruck          konzept zusammen.
der Persönlichkeit. Die Verbindung von
Erfahrungen, bei denen man dem Kind               - Das Kind schien von Natur aus ein Fau-
ein größeres Vertrauen geschenkt hatte,           lenzer, Schwindler, Lügner und Feind al-
konnte nicht ohne Auslösung von Begeis-           ler Anstrengung zu sein. Um die von den
terung bleiben. Aus vielerlei materiellen,        Vorschriften verlangten Erziehungsziele
individuellen und sozialen Gründen konn-          zu erreichen, mußte man Zug um Zug
ten sich leider unsere armen, überfüll-           Zwang ausüben, belohnen, bestrafen,
ten und durch die Angst vor den Lehr-             den Unterricht attraktiv machen durch
programmen und Prüfungen gelähmten                Spiele und neuerdings durch die trügeri-
Volksschulklassen nicht für diesen neuen          schen Bilder, alles Vorgehensweisen, die
Weg engagieren.                                   zu Genüge ihre Ohnmacht beim definiti-

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ven Lösen der komplexen Probleme der            - Hier kommt unverblümt die neue Orien-
schulischen Interessen bewiesen haben.          tierung unserer Pädagogik zum Ausdruck:
                                                Bei dem Lehrbuch ist es das Buch, das
- Hier ist die Erneuerung:                      immer künstlich das Interesse weckt.
Das Kind dürstet                                                       Wir erklären, daß
nach Leben und                                                         das ein schwerer
Aktivität. Wir nut-                                                    Irrtum ist. Das
zen dieses Ver-                                                        Buch darf in der
langen aus, in-                                                        Schule nur dazu
dem wir ihm die                                                        dienen, das Inte-
„Instrumente“ zur                                                      resse des Kindes
Unterrichtung und                                                      zu    befriedigen
Erziehung, die wir                                                     und zu vertiefen.
für seine Ausbil-                                                      - Wir haben die-
dung erforderlich                                                      sem     Interesse
halten, zur Verfü-                                                     ermöglicht, sich
gung stellen, und                                                      voll zu offenba-
indem wir an der                                                       ren. Wie nutzen
Realisierung     der                                                   wir es für unsere
materiellen      und                                                   Erziehungszie-
sozialen Bedingun-                                                     leund vor allem
gen arbeiten, die dies ermöglichen.             beim Lesenlernen aus?

- Das ist gewiß eine besondere Vorstel-         - Zuerst lassen wir die Kinder sich äußern.
lung von der Erziehungsumwelt, eine zu          Wir helfen ihnen und ermuntern sie. Wir
den zur Zeit üblichen Vorgehensweisen           halten ihre Gedanken fest und verbreiten
vollkommen im Widerspruch stehende              sie, damit diese Mitteilung ihren wahren
andere Arbeitstechnik, eine Arbeitstech-        Sinn und ihre Daseinsberechtigung erhält.
nik, die sich nicht zufrieden geben kann        Wir führen keine sachkundige (lernschul-
mit den alten Arbeitsmitteln und beson-         mäßige) Einstufung herbei: alle Wörter,
ders nicht mit den Lehrbüchern, den Sym-        alle mündlich geäußerten Gedanken des
bolen der pädagogischen Unterdrückung.          Kindes dürfen und müssen ohne Behin-
                                                derung die Möglichkeit erhalten, gedruckt
- Jede Pädagogik ist verfälscht, die sich       zu werden. Wir helfen selbst den langsa-
nicht zuerst nach dem zu Erziehenden            men, zurückgebliebenen und schwieri-
und seinen Bedürfnissen, seinen Empfin-         gen Kindern ihre Mitteilung, die darauf
dungen und seinen intimsten Bestrebun-          wartet, geäußert zu werden, zu vervoll-
gen ausrichtet. Wir erforschen daher die        kommnen.
Seele des Kindes, und wir haben, um das
zu erreichen, eine Technik, die sich als        - Schließlich erhalten alle Kinder in perfek-
hinreichend brauchbar erwiesen hat, den         tes Französisch übertragene Exemplare
freien Text, die Schuldruckerei und den         von den kindlichen Improvisationen,und
Schülerkorrespondenzaustausch.                  die Druckerei gibt diesem kindlichen Aus-
Diese spontanen Ausdrucksmöglichkeiten          druck eine erhabene, vollkommene und
führen gleichzeitig zu einer Anregung der       endgültige Form.
Persönlichkeit und zu einer schulischen
Gelegenheit des Lernens, der Verstärkung        - Zeichnen, Kolorieren, Musik und mimi-
und Präzisierung in den unterschiedlichen       scher Ausdruck verstärken noch die durch
Lernbereichen wie etwa: Sprache, Gram-          diese Lebenselemente vorgezeichnete
matik, Wortschatz, Naturwissenschaften,         Spur, die wir auf diese Weise meisterhaft
Geschichte, Geographie und Moral, in-           auf Papier übertragen haben.
dem sie logischerweise dem so geäußer-
ten kindlichen Interesse die im Lehrpro-        - Wie beim Sprechenlernen vollbringt
gramm enthaltene Disziplin aufpfropft.          die Natur dann das Wunder. Das so ver-

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standene und angeregte Kind empfindet           - Durch künstliche und autoritäre Vorge-
ganz sicher das Bedürfnis zu schreiben          hensweisen kann man dem Kind beibrin-
und ganzheitlich ohne Unterrichtslektio-        gen, einige Wörter schneller lesen und
nen zu lesen! Fotographisch getreu und          schreiben zu lernen, so wie man einem
drängend nimmt es die gerade gesetzte           Papagei beibringt, die Vorübergehenden
Zeile oder jenes Wort, das es betroffen         anzusprechen und einer Amsel, die Mar-
gemacht hat, in sich auf. Die Druckseite        seillaise zu pfeifen. Das geht aber immer
selbst, die aus der Druckpresse kommt,          zu Lasten der Ausgeglichenheit der Indi-
ist vielleicht für immer im Geist unserer       viduen.
Kinder festgehalten. Bei diesem Vorgang
wird das ideale ganzheitliche Lesen ver-        - Die Zeit, die ihr glaubtet für die Ein-
wirklicht.                                      führung zu gewinnen, werdet ihr später
                                                wieder verlieren, denn der Schule gelingt
- Wie beim Sprechen berühren sich Sät-          es nicht mehr, das Gleichgewicht herzu-
ze und Wörter beim bewußten Ausdruck            stellen und die feinen Fäden neu zu knüp-
sehr nahe. Dann liest und versteht das          fen, die aus dem Lesen eine Mitteilung
Kind ganze Sätze bis zu dem Tag, an dem         und nicht eine ewige und hoffnungslose
es neugierig ist, endlich das Problem des       Unterrichtslektion machen. Diese ist vor
Lesens in Angriff zu nehmen, bei dem es         allem nicht in der Lage, wieder das Ver-
den Mechanismus der Wörter und Silben           trauen in das Leben und diese neue Be-
aufdeckt.                                       geisterung zu entfachen, die der Kindheit
                                                eigen sind, und ohne die auch die sorgfäl-
- Ebenso wie die Mutter euch bestätigen         tigste Wissenschaft niemals mehr als ein
kann, sie, die schon immer die Erfahrung        häßliches und leeres Mauerwerk errichten
auf ihrer Seite hat, daß das Kind nach          kann.
unseren Techniken des freien Ausdrucks
sprechen lernt, ebenso lernt es natürlich       - Das ist der Grund dafür, daß die Kinder
ohne jede besondere Unterrichtslektion          der Grundschule nach einem Jahr Schul-
das Lesen und Schreiben, also ohne ir-          besuch lesen können und mit dreizehn
gendeinen lästigen Zwang.                       Jahren, nach sechs Jahren Anstrengung,
- Man darf sich allerdings nicht drängen        noch nicht einmal vollkommen den Me-
lassen.                                         chanismus des Lesens beherrschen. Sie
                                                sind weit davon entfernt, obwohl drei
- Das Kind benötigt zwei oder drei Jahre,       oder vier Jahre des freien Tätigseins für
um sprechen zu lernen. Wenn es Pädago-          das Kind ausgereicht haben, sich die voll-
gen einfallen würde, diesen Lernprozeß          kommene und endgültige Beherrschung
anormal durch teuflische Überforderung          der Muttersprache anzueignen.
zu beschleunigen, dann würde es ihnen
tatsächlich gelingen, bestimmte Wör-            - Es ist nötig, daß wir ernstlich über diese
ter schneller aussprechen zu lassen, das        Zusammenhänge nachdenken, und daß
aber würde immer zu Lasten einer har-           wir uns der uralten Lernschulfehler ent-
monischen Bildung des Kindes gehen.             ledigen, um uns vertrauensvoll auf den
                                                Weg zu begeben, den die Natur, der ge-
- Seien wir deutlicher: Wenn es den Pä-         sunde Menschenverstand und das Leben
dagogen einfallen würde, ihre Methoden          schon seit langem vorgezeichnet haben.
auf die Familien zu übertragen, würden          - Ein anderer, nach Ansicht der Lernschu-
unsere Kinder selbst nicht mehr sprechen        le, vorhandener Mangel unserer Techni-
lernen, denn die fortwährende Behinde-          ken: Man kann nichts kontrollieren! Es ist
rung ihres Mitteilungsbedürfnisses durch        doch so bequem, am Morgen die Schu-
die Lernschule würde bestimmt ihre Ent-         le zu betreten und zu sagen: „Ich werde
wicklung aufhalten.                             meinen Kindern den Laut -ou- beibrin-
                                                gen,“ und am Abend in dem ruhigen Be-
- So geschieht dies beim Lesen und              wußtsein heimkehren, die Aufgabe erle
Schreiben.

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digt zu haben, denn man hat den Kindern           nis feststellen? Welche sichere Gewißheit
den Laut -ou- beigebracht.                        könnt ihr mir geben?“
                                                  - In der Tat keine, es sei denn die bewe-
- Auch der Schulinspektor hat das Be-             gende Vorführung einer lebendigen und
dürfnis zu kontrollieren und zwar nicht so        begeisterten Klasse, die vorwärts schrei-
sehr die Arbeit der Kinder, als vor allem         tet und aufwärts strebt und die, weil sie
die Anstrengung des Lehrers. Deshalb ist          voranschreitet, unfehlbar die durch die
es notwendig, daß er beim Betreten der            Lehrprogramme und amtlichen Bestim-
Klasse fragen kann: „Na, wie weit sind            mungen vorgegebenen oder vorgeschrie-
denn die Kinder?“                                 benen Ziele erreicht und sogar übertrifft.
                                                  - In Anbetracht des menschlichen Pro-
- Wenn der gleiche Inspektor beauftragt           blems, das wir vorstellen, müssen wir
wäre, die Fortschritte der Kinder beim            uns alle eine verständnisvolle und tole-
Sprechenlernen und den Fleiß der Müt-             rante Haltung, ein neues Vertrauen in
ter bei ihrer pädagogischen Aufgabe zu            die Bedeutung der erzieherischen Dyna-
kontrollieren, und er würde ebenfalls eine        mik aneignen, die unsere stärkste Kraft
Mutter fragen: „Na, wie weit ist denn ihr         und unsere einzige Hoffnung auf Erfolg
Kind?“ Dann würde die Mutter ihm strah-           ist. An dem Tag, an dem sich alle Erzie-
lend antworten:                                   her wieder ganz in die Schule der Mütter
                                                  zurückbegeben haben; an dem Tag, an
- „Oh, es ist wunderbar! Ich habe niemals         dem auch die Eltern selbst diese Ähnlich-
ein so intelligentes Kind gesehen. Den            keit zwischen der Technik des Sprechen-
ganzen Tag plappert es. Es hört nicht auf         lernens und des Lesen- und Schreiben-
zu sprechen, und ich verstehe alles, was          lernens begriffen haben; an dem Tag, an
es sagt!“                                         dem die einen und die andern die langen
                                                  Irrtümer der Lernschule, die sie leider so
- „ Na, schau nur,“ würde der Schulins-           vollständig geprägt hat, aufgedeckt ha-
pektorsagen, „schau nur mein Kind, wie-           ben; an dem Tag, an dem auch die Vor-
derhole einmal, was ich sage! „Der Krei-          gesetzten menschlicher und nicht als Bü-
sel dreht sich, wenn man ihn aufzieht.“           rokraten über das Leben nachdenken und
                                                  nicht nur sterile Aufgaben zu erfüllen ver-
- Dem Kind würde es nicht einmal gelin-           mögen, an diesem Tag wird ohne beson-
gen, diese Worte, deren Entstehungsur-            dere Lektionen das angekündigte Wunder
sache es nicht kennt, zu wiederholen. -           geschehen. Durch den freien Ausdruck
Alle unsere Kinder lesen mit Begeisterung         und das durch die Schuldruckerei in die
ihre eigenen Texte, sie versuchen, auch           Schule eingelassene Leben werden die
ganzheitlich einige Texte ihrer Korrespon-        Kinder in einem normalen Zeitabschnitt
denten zu lesen. Sie erkennen nur einige          die Fertigkeiten des Lesens und Schrei-
Wörter und die nicht immer vollkommen.            bens beherrschen, die zur Zeit einer der
In ihrem Innern aber haben sie, fest ver-         Alpträume der Grundschule sind. Keine
bunden mit ihrem ganzen seelischen und            Leseübungen mehr, kein einzelnes oder
sozialen Leben, das verschwommene Bild            kollektives Ablesen von der Tafel mehr,
einer Menge von Wörtern, die plötzlich            Schluß mit den mehr oder weniger sinn-
ganz mit ihrer wirklichen Bedeutung zu            vollen Übungen, die einen aufreiben und
Tage treten. Dann aber kann unser Kind            entmutigen! Keine Mißerfolge mehr!
lesen und zwar für immer, denn dieses             Was für ein schöner Tag ist das, liebe Kin-
natürliche Lernen vereinigt sich mit dem          der! Und was für ein schöner Tag ist das
Leben selbst und mit dem Entwicklungs-            heute auch für euch, liebe Kollegen! So-
prozeß des Kindes.                                bald ihr es könnt, bittet darum, die Klas-
                                                  sen verlassen zu dürfen, in denen man
-„Aber im Augenblick,“ könnte der In-             lesen lernt, als ob der Erzieher in dem
spektor sagen, „wie kann ich ein Ergeb-           Maße befördert würde, in dem er sich von

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der kindlichen Lebhaftigkeit entfernt!           Überprüfungsverfahren unseren neuen
Diese Klassen aber sind es, die dann             Arbeitsbedingungen angepaßt hat, was
die angenehmsten und freundlichsten              tun? Die neue Technik wird nicht fix und
sein werden, so wie die Zeit unvergeß-           fertig vom Himmel fallen; der neue Geist
bar bewegend bleibt, in der das Baby             wird nicht die Masse der Interessierten
ganz alleine und mutig sich zu unserem           berühren, so wie eine gnädige Erleuch-
Entzücken der Sprache bemächtigt und             tung. Es liegt an uns selbst, praktisch
fröhlich und hartnäckig in die geheim-           und versuchsweise zu beweisen, daß
nisvolle Welt des Wissens vordringt. Ein         wir Recht haben, daß man uns eines
goldenes Zeitalter des Schulwesens!              Tages folgt, bis zur vollständigen Erfah-
Aber ja! Ein goldenes Zeitalter vor allem        rung, die wir für zutreffend halten. Je-
deshalb, weil damit die lange lernschul-         der Lehrer schafft sich im übrigen seine
mäßige Verdummung                                eigene Lehrmethode nach den von uns
beendet sein wird. Das Leben wird sei-           angegebenen Grundsätzen, aber mit be-
ne triumphale Revanche nehmen! Ein               rechtigten Varianten im einzelnen Falle,
Traum? Näher der Verwirklichung als              die durch die verwaltungsmäßigen oder
man glaubt. Aber bis dahin? Was soll             menschlichen Bedingungen der Klasse
man praktisch tun? In der Erwartung,             gerechtfertigt werden.
daß unsere Kinder sich in unseren Klas-
sen durch Schreiben und Lesen aus-               Ich fürchte, wir sind immer noch mitten
drücken dürfen, nicht nur einige Minu-           im Zeitalter der Lernschule, mit mehr
ten am Tag, nicht nur einige Stunden,            Druck nach „messbarer“ oder „vergleich-
sondern zu jeder Zeit, bei allen schuli-         barer“ Leistung als je.
schen Aktivitäten, so wie das Baby plap-         Für mich persönlich haben sich viele Fra-
pert, probiert, sucht und ohne Unterlaß          gen zum Thema „Lesen und Schreiben
spricht, um unablässig seine hartnäcki-          lernen“ durch meine Sommerlektüre be
gen Tastversuche fortzusetzen. In Er-            antwortet.
wartung, daß die Eltern verstanden ha-
ben, und daß der Schulinspektor seine                                   Eva Obernberger

                                            11
Immer noch der Zeit voraus?
                        Freinetpädagogik, Mathematik
                            und die Bildungsstandards
 Der Freinetpädagogik wird oftmals nach-            Schmied), trotzdem stellt sich für mich
 gesagt, dass die Idee für Deutsch, Sach-           die Frage, ist die „Schule Neu“, die uns
 unterricht, Zeichnen, Werken, etc. ja              hier versprochen wird, doch schon alt?
 ganz gut passe, aber: „Was macht ihr               Ganz ehrlich: Unterrichten wir oft mit
 FreinetpädagogInnen eigentlich mit Ma-             den Unterlagen, die wir vor mehr als 6
 thematik?“ Diese Fragestellung beschäf-            Jahren ausgearbeitet haben? Wohl eher
 tigt mich schon länger, hinzugekommen              selten.
 sind in meinem Nachdenken jetzt noch
 die Bildungsstandards, die uns in der              Ich habe die Unterlagen zu BIST und
 Freinetgruppe Wien mehr oder weniger               Mathematik studiert und möchte meine
 quälen (manche sitzen ein Wochenende               Überlegungen darlegen:
 monatlich zur Fortbildung an ihrer Schu-
 le, wir wurden noch wenig „fortgebildet“              • Die Inhalte sind nicht neu-
 und unsere SonderschullehrerInnen                       trotzdem sollen sie unsere
 betrifft das alles gar nicht, weil die Bil-             Bildungsqualität sichern- Wo-
 dungsstandards für die Integrationskin-                 durch? - durch eine Verordnung
 der nicht „relevant“ sind;)                             vom 1.1.2009 (Danke, Parlamen-
                                                         tarierInnen!)
 In der Diskussion rund um die Bildungs-
 standards kam in Freinet-Kreisen von                  • Kann eine externe Überprü-
 zwei „alten Hasen“, von Luzia Bäck und                  fung von Ergebnissen wirklich
 von Martin Merz, unabhängig voneinan-                   unser Bildungssystem ver-
 der die Aussage, dass wir in der Freinet-               bessern? Die BIST bringen nicht
 pädagogik schon lange diese Mathema-                    mehr Ressourcen für die Klasse,
 tik machen würden, die in den Bildungs-                 sie bringen keine Hilfestellungen
 standards verlangt wird. Dem möchte                     für Kinder mit Migrationshinter-
 ich in diesem Artikel auf den Grund ge-                 grund,    sprachlichen Defiziten
 hen. Sicher ist, dass Mathematik in der                 oder Kinder aus bildungsfernen
 Freinetklasse mehr ist als Ziffern schrei-              Schichten; die Kinder mit SPF
 ben, Einmaleins-Auswendiglernen, Re-                    kommen gar nicht vor. Was wird
 chenoperationen üben oder eine Sach-                    dann sein, mit all diesen Kinder,
 rechnung nach einem gelernten Schema                    wenn sie den „zu erwarteten Leis-
 lösen. Ist die Freinetpädagogik wieder                  tungen“ nicht entsprechen kön-
 einmal „der Zeit voraus“?1                              nen?

 Ich bat unsere Schul-Koordinatorin für             Wir Lehrerinnen „…sind verpflichtet, …
 Bildungsstandards (BIST), ob ich die               den Leistungsfortschritt der Schüler/in-
 Unterlagen für Mathematik haben könn-              nen in diesen Bereichen (der Kompeten-
 te, die wir frisch an die Schule bekom-            zen der BIST, Anm.) besonders zu beo-
 men haben. Beim Lesen staunte ich                  bachten, zu fördern und die erreichten
 nicht schlecht: die Version 2.2 der Bil-           Leistungen nachhaltig zu sichern.“3 Wie
 dungsstandards für Mathematik2 war                 wir das machen sollen, würde ich gerne
 vom Stand des Februar 2006 (und bei                wissen. Wir fördern individuell seit vielen
 mir war Juni 2011, als 5 ½ Jahre spä-              Jahren, mehr wird nicht möglich sein.
 ter) und zu allem Überfluss lachte mir
                                                       •   Die Theoretischen Überlegun-
 im Vorwort Bundesministerin Elisabeth
                                                           gen lesen sich ganz passabel,
 Gehrer entgegen. Haben wir nicht der-
                                                           aber was bedeutet das für unseren
 zeit die 2. Periode von Bundesministerin
                                                           Schulalltag, für unsere Schulreali-
 Claudia Schmied? Ich hatte doch ge-
                                                           täten? Ich als Lehrerin soll mit den
 hofft, dass die Zeit der Elisabeth Gehrer
                                                           BIST die Möglichkeit bekommen,
 schon vorbei war… ;) Mittlerweile sind
                                                           meinen Unterricht zu reflektie-
 Inhalte der BIST im Internet zu finden
                                                           ren und auch umzustellen. Wird
 (hier sogar mit dem Vorwort von Claudia
                                                           dies eine Möglichkeit sein oder

                                               12
wird aus dieser Möglichkeit bald            Texte schreiben oder Malen. Beim RIDEF
       ein „muss“ werden? Wird es von              2000 in Österreich gab es 2 Langzeitate-
       der Direktorin oder der Inspekto-           liers zur Mathematik, in den Wiener PH-
       rin abhängen, wer welche Daten              Fortbildungen erzählten uns im letzten
       bekommt4? Der Druck geht zurück             Jahr Denisa Achleitner und Barbara Peyrl
       in die Klassen auf uns LehrerInnen          von ihrem Zugang und ihrer Arbeit in Ma-
       und auf die SchülerInnen. Auf der           thematik.
       Strecke bleibt die didaktische Frei-
       heit, vielleicht auch der Spaß am           Ein französischer Freinetpädagoge be-
       Arbeiten.                                   fasste sich intensiv mit der Natürlichen
                                                   Methode und Mathematik: Paul Le Bohec.
   • Ängste und Zweifel tun sich auf:              In seinem Buch „Verstehen heißt Wieder-
     Werden unsere freinetpäda-                    erfinden“6 beschreibt er seinen Weg der
     gogisch unterrichteten Kinder                 Natürlichen Mathematik; seine Schulkin-
     diese Standards schaffen?                     der aus altersgemischten Klassen erar-
                                                   beiteten mathematische Erfindungen, die
   •   Noch eine      ganz andere Frage:           in Gesprächskreisen präsentiert und dis-
       Warum werden die BIST vom „bi-              kutiert wurden. Er beschreibt, seine Er-
       fie- Bundesinstitut, Bildungs-              fahrungen und betont dass sehr viel Ma-
       forschung, Innovation und Ent-              thematik (und alles, was Lehrstoff war) in
       wicklung des österreichisches               das Schulleben eingeflossen sind. Der Ti-
       Schulwesens“ (Sitz in Salzburg)             tel „Verstehen heißt Wiedererfinden“ be-
       ausgearbeitet und nicht vom Mi-             zieht sich auf ein Zitat von Piaget, es be-
       nisterium? Warum wurde das klas-            schreibt gut, worum es in der Mathematik
       sisch kapitalistisch „ausgelagert“?         gehen sollte: selbst auf Lösungen kom-
       Da konnte sich ein privater Verein          men, entdecken, forschen - eben Wieder-
       für die nächsten 10 Jahre sein Be-          erfinden und dadurch verstehen. Paul Le
       stehen sichern, das BMUKK zahlt,            Bohec schreibt über die Rolle des Lehrers
       die Kosten konnten somit wahr-              in den Gesprächskreisen über Erfindun-
       scheinlich „minimiert“ werden, ein          gen: „Aber jeder Schritt vorwärts, den
       Versorgungposten für politische             der Lehrer vorschlägt, muß ein sehr vor-
       Lieblinge ist geschaffen.                   sichtiger Schritt sein, weil er genau weiß,
                                                   daß er- wenn er zu forsch vorangeht-die
   •   Mir scheint, wir LehrerInnen wer-           Kinder in seine ´Welt´ hinüberzieht und
       den „eingedeckt“ mit weiteren               sie gefangennimmt. Er lenkt sie von ihren
       Arbeiten, „zugedeckt“, damit uns            eigenen Wegen ab. Dann geht es nicht
       keine Zeit mehr bleibt zum selber           mehr um die Angelegenheiten der Kin-
       Denken, zum Reflektieren oder so-           der, sondern um seine. Er enteignet sie
       gar mal zum Protestieren (pfui!).           sozusagen und betrachtet sie als sein Ei-
       Wir werden im Kapitalismus mit              gentum. Also, anstatt die Kinder auf sei-
       Aufgaben „betraut“, damit wir das           ne Gebiete zu drängen, ist es besser, sie
       System nicht kritisieren können.            ihre eigenen erforschen zu lassen, da sie
                                                   ihrer Realität mehr entsprechen.“7
Vielleicht sollten wir einfach warten, bis
die BIST an uns vorbeigezogen sind- so             In den BIST8 heißt es u.a. im Teilbereich
wie die andere „Launen der Pädagogik“,             Mathematik unter „Modellieren“ bzw.
die wir in Wien in den letzten Jahren hat-         „Problemlösen“:
ten.5
                                                   „Modellieren bedeutet also nicht nur Re-
Wie ist das nun mit der Mathematik                 chenoperationen durchzuführen, sondern
und der Freinetpädagogik?                          Mathematik und die Wirklichkeit verbin-
                                                   den.“9
Bei genauerer Betrachtung ist die Mathe-
matik nicht das Stiefkind der Freinetpäd-          Weiter unter im Text unter „Problemlö-
agogik. Es ist einfach etwas schwerer in           sen“: „Es gilt also nicht nur vorher Ein-
Fortbildungen zu vermitteln als z.B.: freie        gelerntes zu reproduzieren, sondern auch

                                              13
durch eigenes Kombinieren einen Lö-                 am Beginn der Woche vor, nie-
sungsweg zu finden.“10                              mand von uns weiß die Antwort,
                                                    alle Kinder, die mitschätzen und
In der Freinetpädagogik versuchen wir               raten möchten, tragen ihre Schät-
dies doch schon längere Zeit. Oder etwa             zung in eine Liste ein (kein Kind
nicht?                                              muss!); am Freitag löst eine Grup-
                                                    pe von Kindern das Rätsel auf und
Ich möchte ein paar Beispiele für Natür-            zählt z.B.: die Kastanien oder die
liche Methode und Mathematik aus unse-              Knöpfe.
rem Schulalltag geben, die sich mit den
„Kompetenzbereichen“ der BIST völlig
decken. Stellenweise klingen diese BIST-
Forderungen ähnlich wie Paul Le Bohec.

   • Bausteine, Geometrie, Erfin-
     dungen mit Material: Wir ha-
     ben in unserer Klasse 2000 Würfel
     (2x2cm), mit diesen „Bausteinen“
     bauen fast alle Kinder gerne Bau-
     werke. Diese Würfel haben wir bei
     Martin Plakner (http://www.spiel-
     zeugmacher.at) über die Schul-
     buchaktion besorgt. Vor einigen
     Jahren gab es eigene „Mädchen-
     Bausteintage“, weil die Buben               • Geometrische Körper: Die ge-
     sonst immer gebaut hätten und die             ometrischen Körper haben einen
     Mädchen nicht zum Zug gekommen                großen Anreiz schon bei Erstklass-
     wären. Kappla-Steine sind teurer,             lern. Bei uns dürfen die Kinder mit
     aber bieten noch mehr Möglichkei-             den Körpern auch bauen, Körper-
     ten.                                          schnitte zeichnen, neue Körper er-
                                                   finden,…
Von einem anderen Material der Schul-
buchbestellung (Super- Sortier-Box) ha-          • 1000m = 1 km gehen: In der
ben wir alle kleinen Plastikplättchen zu-          3. oder 4. Klasse gehen wir beim
sammengegeben, mit denen lassen sich               Thema „Kilometer“ einen Kilome-
tolle Muster legen und somit schöne ge-            ter und messen, wie lange wir dazu
ometrische Figuren erfinden. Zündhölzer            brauchen. Da der Kilometer in un-
eignen sich auch gut.                              serer unmittelbaren Schulumge-
                                                   bung nicht direkt auszumessen ist,
   • Rechengeschichten selber er-
                                                   „messen“ wir den km zuerst am
     finden: Schon Erstklassler kön-
                                                   Stadtplan, dann gehen wir ihn in
     nen einfach Rechengeschichten
                                                   Etappen (100m, 200m, 500m) ab,
     erfinden, dazu schnitten wir aus
                                                   markieren mit Straßenkreiden die
     Katalogen Bilder aus und die Kin-
                                                   Etappen, am Ende machen wir ein
     der schrieben ihre Geschichte am
                                                   Foto. Bei unserem Versuch den Ki-
     PC dazu. Foliert ergaben die Ge-
                                                   lometer mit Schnüren zu messen,
     schichten eine schöne Rechenge-
                                                   scheiterten wir am Autoverkehr.
     schichten-Kartei mit persönlichem
                                                   Wir brauchen ca. 15-17 Minuten,
     Bezug, die anderen Kinder wieder-
                                                   insgesamt dauert der Ausflug et-
     um konnten die Rechengeschich-
                                                   was mehr als eine Unterrichtsstun-
     ten rechnen.
                                                   de, die Kids merken sich den Ki-
   • Schätzen: Zu manchen Zeiten                   lometer gut. In verkehrsärmeren
     gibt es ein Schätzspiel, z.B.: eine           Gegenden ist es vielleicht doch
     Schüssel voller Knöpfe, ein Stapel            auch möglich, einen langen Faden
     Papier, ein Packerl Nudeln, Kasta-            zu spannen ;)
     nien,… Wir stellen das Schätzspiel
                                            14
• 1000er Projekt: Gemeinsam mit                        • Diagramme: In den diversen
       unserer Nachbarklasse FA hatten                        Zeitungen finden sich mehrmals
       wir in den letzten Jahren 2 1000er-                    jährlich Diagramme, die bewei-
       Ausstellungen arrangiert. Dazu                         sen sollen, dass die jeweilige Zei-
       überlegten sich alle 3.-Klässler,                      tung die meistgelesenste ist. Mit
       was sie gerne ausstellen möchten.                      den Kindern der 4. Klasse erga-
       Hier einige Beispiele: Geschichten                     ben sich daraus gute Gespräche
       mit 1000 Wörtern, 1000er-Kette                         über Diagramme und wir gestal-
       fädeln, Bauwerk aus 1000 Bau-                          teten unsere eigenen Schaubilder
       steinen, 1000 Nudeln (die haben                        z.B.: Lieblingsblumen der Kinder
       wir auch gegessen), 1000 Bil-                          der Klasse, Schuhgrößen, Lieb-
                                                              lingsfarben, Körpergröße,… Gut
                                                              an dieser Arbeit fand ich nicht nur
                                                              den mathematischen Inhalt, son-
                                                              dern auch dass die Kinder mit al-
                                                              len Kindern der Klasse sprechen
                                                              mussten (auch mit Kindern, mit
                                                              denen sie sonst nicht viel zu tun
                                                              haben), weil sie von allen Kin-
                                                              dern z.B.: die Lieblingsfarbe wis-
                                                              sen mussten. Das Kind mit dem
                                                              Schuhgrößen-Diagramm musste
                                                              mit vielen Kindern in die Garde-
                                                              robe gehen, um die Schuhgrößen
         der zu einem großen kleben, bis                      nachzuschauen.
         1000 zählen und es aufnehmen,
         1000 mal die Zahl 1000 stem-
         peln oder schreiben, 1000 Namen
         sammeln, einen Tausendfüssler                   Diese Liste aus der Praxis ließe sich pro-
         basteln. Einmal hatten wir sogar                blemlos erweitern. Wahrscheinlich soll-
         einen Tausendfüssler zu Gast und                ten wir uns von dem Lärm rund um die
         das Kind erzählte uns so manches                Bildungsstandards nicht von unserer
         Wissenswertes. Zur Ausstellungs-                freinetpädagogischen Arbeit ablenken
         präsentation luden wir nicht nur                lassen. Wir FreinetpädaogoInnen sind
         alle Kinder unserer Klassen ein,                am richtigen Weg und in Österreich päd-
         sondern auch andere Klassen der                 agogisch gerade „top-modern“!
         Schule.                                                                          Eva Neureiter

Fußnoten
1
  Titel des 1996 erschienenen Buches von J. Hering, W. Hövel: „Immer noch der Zeit voraus- Kindheit, Schule und
Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Freinetpädagogik“, Pädagogik-Kooperative e.V., Reihe moderne Schule
2
  des Zukunftsministeriums, bm:bwk
3
  Bifie/ Bildung- Standards- Bildungsstandards für höchste Qualität an Österreichs Schulen: Seite 3.
4
   Ähnlich dem „Salzburger Lesetest“, dessen Ergebnisse zu Beginn der Testungen „nicht weitergegeben werden
dürfen“, jedoch 7 Jahre später die „Krisenergebnisse“ an die Frau BSI weitergeleitet werden müssen. Der „Wiener
Lesetest“ wurde gleich so konzipiert, dass ein schlechtes Ergebnis eine AHS-Reife ausschließt.
5
  Vor 4 Jahren war 1+1 das Zukunftsmodell und wir hatten 4jährige Schuleinschreiblinge, im letzten Schuljahr war
es die „Sprachförderung“, die alles retten sollte, im nächsten Schuljahre wird es die „Leseförderung“,…
6
   Paul Le Bohec: Verstehen heißt Wiedererfinden- Natürliche Methode und Mathematik, Pädagogik Kooperative,
Bremen 1994. Buchbesprechung im Heft weiter hinten.
7
   Paul Le Bohec: Verstehen heißt Wiedererfinden- Natürliche Methode und Mathematik, Pädagogik Kooperative,
Bremen 1994: Seite 196
8
   Nachzulesen unter: http://www.bifie.at/bildungsstandards oder in der Broschüre: Bifie/ Bildung- Standards-
Bildungsstandards für höchste Qualität an Österreichs Schulen.
9
  Bifie/ Bildung- Standards- Bildungsstandards für höchste Qualität an Österreichs Schulen: Seite 10.
10
    Bifie/ Bildung- Standards- Bildungsstandards für höchste Qualität an Österreichs Schulen: Seite 11.
                                                    15
Büchertipp:
                                                        Paul Le Bohec:
Verstehen heißt Wiedererfinden-
        Natürliche Methode und Mathematik

Reihe Moderne Schule, Freinet-Kooperative e.V.,
2. Auflage 1997, TB, 275 Seiten, € 16,-

Le Bohec stellt einen kreativen Mathematikunterricht vor, der von mathematischen
Erfindungen der Kinder ausgeht und im Gespräch über diese Erfindungen
mathematisches Denken und Verstehen fördert. Die Kinder lernen Mathematik indem
sie „wiedererfinden“.

Paul Le Bohec war ein Freund von Elise und Celestin Freinet, Elise schreibt in einem
Brief an ihn: „Lieber Paul Le Bohec! (…) Was mich an ihrer Arbeit besonders begeis-
tert, ist die Haltung des Lehrers, der sich auf
leichte und natürliche Weise ständig in einem
wechselseitigen und einfühlsamen Austausch
mit den Kindern befindet und uns damit einen
wunderbaren Weg zeigt. Wir erleben hier wirk-
liches „tastendes Versuchen“, das völlig unbe-
lastet von abgehobenen Erklärungen ist. Das
„tasstende Versuchen“ erscheint hier in seiner
Dynamik von gegenseitigem Austausch, Kom-
munikation und Beziehung, Schöpfung und Er-
findung und miteinander Teilen.“

Das Buch ist es derzeit vergriffen, es soll aber
demnächst als PDF im Netz zum Herunterla-
den zu finden sein oder ihr könnt das Exemp-
lar der Freinetgruppe Wien ausborgen!

                                           16
Lernen heißt “Wissen teilen”

Einige Überlegungen zum freinetischen Arbeiten
                                   in der Erwachsenenbildung
  Die Theorien und die Praxis Freinets wer-          in der Schule anzweifeln? Allerdings ist an
  den zumeist auf die Grundschule bezo-              dieser Stelle nicht die Ausführung vorge-
  gen und dort haben sie heute sicherlich            gebener Aufgaben in Partner- oder Grup-
  auch die höchste Verbreitung. Die Kern-            penarbeit gefragt, sondern der Wissen-
  bereiche der Freinetpädagogik: Koopera-            saustausch zwischen Lehrenden und Ler-
  tion und Kollaboration, Selbstbestimmung           nenden, der auch auf einen Rollentausch
  und Selbstorganisation, mediale / direkte          und die gesellschaftliche Kommunikation
  Kommunikation und Artikulation, die „na-           hinausläuft. Zumeist dauert es einige Zeit
  türliche Methode“ sowie das kreative ganz-         ehe die Studierenden den Unterschied zwi-
  heitliche Lernen hat mich schon während            schen „gemeinsam Lernen“ und „Zeug-
  meiner Ausbildung zum Hauptschullehrer             nisse einsammeln“ erkennen. Es treffen
  fasziniert. Eine praktische Umsetzung in           hier schlichtweg zwei sich erfahrungsge-
  der Arbeit mit Kindern fand sich dann vor          mäß widersprechende Dinge aufeinan-
  allem in meiner Zeit als Alternativschul-          der. Zumeist werden SchülerInnen darauf
  lehrer bzw. Hauptschullehrer. Was damals           trainiert zu lernen, um entsprechende in-
  (ca. 1980) noch in kleinen reformpäda-             stitutionelle Qualifikationen (Zeugnisse)
  gogischen Gruppen diskutiert und prak-             zu erlangen, die scheinbar als Grundlage
  tiziert wurde, hat heute Eingang in den            für berufliche Karrieren wichtig sind. An-
  Schulalltag1 aber auch teilweise in Erläs-         dererseits sind die meisten Studierenden
  se der Schulverwaltung und des bmukk2              jedoch sehr an der inhaltlichen Ausein-
  gefunden. Dies bedeutet leider eine ge-            andersetzung mit den aus ihrer Sicht re-
  ringe quantitative Steigerung, verweist            levanten Themen interessiert. Es würde
  jedoch auf einen qualitativen Diskurs und          den Rahmen dieses Beitrages sprengen
  eine Verankerung im öffentlichen Schul-            dies hier weiter auszuführen. Schlagworte
  system. Dass der Wert der freinetischen            dazu: „Bildung versus Ausbildung“3 oder
  Pädagogik jedoch weniger an formalisier-           auch „Lohnarbeit versus Grundeinkom-
  ten, institutionellen Schulungsangeboten           men“4.
  sondern vielmehr an der gelebten Praxis
  zu messen ist, will ich nun an einigen Bei-        Diese Widersprüche und Erfahrungen dür-
  spielen aufzeigen.                                 fen nicht ignoriert werden, müssen jedoch
                                                     in Frage gestellt und überwunden werden.
  Seit über zwei Jahrzehnten bin ich nun -           Der Wert der gemeinsamen Erkenntnis
  zuerst zusätzlich, zuletzt ausschließlich -        und des Lernprozesses muss daher in den
  in der Erwachsenenbildung, primär in der           Vordergrund treten.
  LehrerInnenaus- und -fortbildung, tätig            Zu Beginn jedes Seminars gilt es die vor-
  und dabei haben die theoretischen Grund-           liegenden Fragen der TeilnehmerInnen
  gedanken Freinets nichts an Aktualität             aufzugreifen. Nur wer Fragen formulieren
  verloren. Im Gegenteil durch die techno-           kann, wird sich auf den Weg nach Antwor-
  logischen und gesellschaftlichen Entwick-          ten begeben. Eine lange Liste entsteht,
  lungen erscheinen mir die Kernbereiche             wenn nur jedeR der 20 Seminarteilneh-
  immer wichtiger.                                   merInnen 3 Fragen einbringt. Aus den in-
                                                     dividuellen Interessen werden kollektive
                                                     - das in der Gruppe bereits vorhandene
  Kooperation und Kollaboration                      Wissen gilt es sichtbar zu machen. Bald
                                                     schon lässt sich nicht mehr feststellen,
  Wer würde Teamarbeit heute als wesentli-           wer da welche Antworten eingebracht hat
  che Arbeitsform sowohl im Beruf als auch           (bzw. es wird unwichtig und aufwändig)

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