"Mein Tod gehört mir" - Die Niederlande und die Sterbehilfe

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Deutschlandfunk
                                        Gesichter Europas
                       Samstag, den 17. März 2012, 11.05 - 12.00 Uhr

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                                   „Mein Tod gehört mir“ –
                              Die Niederlande und die Sterbehilfe
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                              Mit Reportagen von Kerstin Schweighöfer
                                Musikauswahl/ Regie: Babette Michel
                       Ton und Technik: Hans-Martin Renz, Jutta Stein
                                 Am Mikrophon: Katrin Michaelsen

Urheberrechtlicher Hinweis

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bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

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- unkorrigiertes Exemplar –
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Eine Ärztin über Sterbehilfe:

Als niederländische Ärztin habe ich den Eid abgelegt, einen Patienten zu heilen
oder sein Leiden zu lindern. Und manchmal kann das Leiden nur gelindert
werden, indem man dem Patienten erlaubt, in Würde zu sterben.

Ein Arzt über andere Auswege:

Ich sage meinen Patienten: ‘Egal, wie entstellt du bist, egal, wie sehr du stinkst
oder wie seltsam du dich aufgrund der Medikamente, die du schlucken musst,
benimmst: Du bist wichtig, wir wollen weiterhin mit dir zu tun haben, wir sind
für dich da.

Und ein Rentner über Entmündigung:

Wenn ich dort sehe, wie Menschen an ihr Ende kommen müssen…Sie tragen
Windeln, sie werden mit einem Kran aus dem Bett gehievt, sie müssen gefüttert
und gewaschen werden.… So will ich nicht enden.

Mein Tod gehört mir – Die Niederlande und die Sterbehilfe. Gesichter Europas mit
Reportagen von Kerstin Schweighöfer. Am Mikrofon Katrin Michaelsen

Wer bestimmt über Leben und Tod? Wann ist ein Leben nicht mehr lebenswert? Und
wer darf einen anderen Menschen in Anspruch nehmen, um sich töten zu lassen?
Sterbehilfe ist ein Thema aus der Tabuzone. Eines, das Unbehagen und Abwehr
provoziert und auch bei uns immer wieder auf die Tagesordnung kommt.

Dem haben sich die Niederländer gestellt. Mit einer breiten gesellschaftlichen
Diskussion und mit einem aufsehenerregenden Gesetz. Als erstes Land weltweit haben
die Niederländer die aktive Sterbehilfe erlaubt. Seit April 2002 hat jeder Niederländer
unter bestimmten Umständen das Recht, sein Leben auf eigenen Wunsch zu beenden.
Damals, vor zehn Jahren, ein internationaler Alleingang, inzwischen sind einige
wenige Staaten dem niederländischen Vorbild gefolgt: Belgien, Luxemburg und die
Schweiz.

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Auch in den Niederlanden ist Sterbehilfe nach wie vor strafbar. Wichtig ist, dass sich
der begleitende Arzt an bestimmte Richtlinien hält: er muss überprüfen, ob sich der
Patient in einer aussichtslosen Lage befindet, ob sein Leiden unerträglich ist, und er
muss darauf achten, dass der Patient den Todeswunsch tatsächlich selbst formuliert
hat. Außerdem hat er die Pflicht, einen unabhängigen Kollegen zu Rate ziehen und den
Fall hinterher einer Prüfkommission zu melden.

Ein langer Weg, den der Hausarzt von Jacqueline van Putten bereit war zu gehen.
Auch ihre Familie. Und doch war es ein Abschied mit Umwegen.

Reportage 1

Der Friedhof Rozenburgh am Stadtrand von Voorschoten bei Den Haag. Er liegt nur
einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt und ist an allen Seiten von Grachten umgeben.
Das Grab von Jacqueline van Putten liegt ganz hinten links, unter einem Baum, direkt
am Wasser.

Fleur besucht das Grab ihrer Mutter regelmäßig. Dann jätet sie Unkraut oder schmückt
es mit neuen Pflanzen und Blumen. Fleur war Jacquelines einziges Kind. Heute ist sie
26 und erwartet in wenigen Wochen selbst ihr erstes Kind.

An diesem Morgen hat die hübsche junge Frau mit den langen dunklen Locken ein
paar Narzissen als erste Frühlingsboten mitgebracht.

Fleurs Mutter litt an Brustkrebs. Sie starb am 6. Mai 2005, kurz nach ihrem 59.
Geburtstag. “Ich werde euch von meiner weissen Wolke aus im Auge behalten”,
pflegte sie in den Tagen vor ihrem Tod zu sagen. Diese Worte stehen auch auf ihrem
Grabstein.

Sechs Jahre lang hatte Jacqueline van Putten gegen den Krebs gekämpft - vergeblich.
Als sie wusste, dass es keine Aussicht auf Heilung mehr gab und ihr allerhöchstens
noch ein paar Wochen blieben, bat sie ihren Hausarzt um Sterbehilfe. “Mein Vater und
ich haben das respektiert”, erzählt ihre Tochter. Fleur spricht ruhig und gefasst, ohne
zu stocken. Sie hat den Tod ihrer Mutter gut verarbeitet, das merkt man ihr an:
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Natürlich bekommt man im ersten Moment einen Schreck, es ist so definitiv.
Aber meine Mutter wurde immer schwächer, es war furchtbar, sie so leiden zu
sehen. Der Zeitpunkt des endgültigen Abschiednehmens rückte sowieso immer
näher. ‘Es ist vorbei’, sagte sie. Und diese letzten, diese allerschlimmsten Wochen
- die wollte sie sich ersparen. Sie wollte friedlich sterben. Und in Würde.

Am ersten Maiwochenende 2005 beschloss Jacqueline, den Kampf gegen den Krebs
aufzugeben. Mit ihrem Hausarzt hatte sie in den Monaten zuvor bereits mehrmals über
Sterbehilfe gesprochen. Sobald ihr Leiden unerträglich werden würde, ohne Hoffnung
auf Heilung, so hatte er versprochen, würde er ihr helfen – vorausgesetzt, so betont
Fleur beim Verlassen des Friedhofes, ihre Mutter würde den Wunsch dann erneut
mehrfach selbst deutlich äußern.

Aber als die Familie van Putten an jenem Sonntagabend Anfang Mai versuchte, ihren
Hausarzt zu erreichen, musste sie feststellen, dass er im Urlaub war. Zwar gab es eine
Vertretung. Dieser Arzt jedoch weigerte sich aus Glaubensgründen, Sterbehilfe zu
leisten.

Allerdings war der Vertretungs-Arzt bereit, den van Puttens weiterzuhelfen: Er gab
ihnen die Adresse eines weiteren Kollegen, von dem er wusste, dass er Sterbehilfe
leistete. “Dieser Arzt war bereit, meiner Mutter zu helfen”, erzählt Fleur, als sie
zuhause angekommen ist. Und dieser hinzugezogene unabhängige Kollege
bescheinigte nach einem Besuch am Krankenbett von Fleurs Mutter, dass auch er in
diesem Falle Sterbehilfe leisten würde und nichts dagegen spräche.

Der Besuch dieses Scen-Arztes war an einem Mittwochabend, vor dem
Himmelsfahrtstag. Meine Mutter starb dann am Freitag. Sie musste noch einen
Tag warten, am Donnerstag konnte sie nicht sterben, weil das ein Feiertag war.

Jacqueline van Putten wollte in einem weißen Sarg begraben werden, auch die
Trauergäste sollten weiße, helle Kleider tragen und von ihrem Haus aus hinter dem
Auto mit dem Sarg zum nahegelegenen Friedhof Rozenburgh laufen. Zusammen mit
ihrem Mann und ihrer Tochter wählte Jacqueline van Putten auch noch die Musik für

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ihre Beerdigung aus. ‘Ave Maria’ sollte gespielt werden, erzählt Fleur. Und eine
niederländische Ballade mit dem Titel ‘Gib’mir deine Angst’.

Am Abend vor ihrem Tod rief die Sterbende alle Freunde an, die nicht mehr in der
Lage waren, vorbeizukommen, und verabschiedete sich von ihnen: “Es ist soweit, ich
gehe auf die Reise”, teilte sie ihnen mit.

Als am Freitagvormittag dann der Vertretungsarzt eintraf, saß Fleur zusammen mit
ihrem Vater am Bett ihrer Mutter. Es dauerte keine 5 Minuten, dann war alles vorbei:
Erst versetzte der Hausarzt Jacqueline van Putten mit einer Spritze in tiefen Schlaf,
dann folgte die zweite, die tödliche Injektion. “Papa und ich hielten ihre Hand”,
erinnert sich Fleur.

Meine Mutter sagte noch, wie sehr sie uns liebte, mehr konnte sie nicht sagen, so
geschwächt war sie bereits. Und mehr brauchte sie auch nicht zu sagen: Was
gesagt werden musste, hatten wir uns in den Tagen zuvor ohnehin bereits gesagt.
Wir hatten Zeit, ganz bewusst Abschied zu nehmen. Und dann ist meine Mutter
friedlich eingeschlafen.

Die junge Frau geht nach oben ins Kinderzimmer. Dort steht die alte Kommode, ein
Erbstück, das ihre Mutter als Wickelkommode nutzte. Bald wird Fleur darauf ihr
eigenes Kind wickeln. Auch den alten Kleiderschrank ihrer Mutter hat sie zusammen
mit ihrem Freund Niels abgeschleift und neu gestrichen.

Darin will sie die unzähligen Strampelhosen, Schlabberlätzchen, Decken und Tücher
einräumen, die sie für ihr Baby bereits gekauft hat.

Seit sie schwanger ist, fehlt Fleur die Mutter ganz besonders, es gibt so viele Fragen,
die sie ihr gerne gestellt hätte. Aber Fleur ist dankbar darüber, dass ihre Mutter selbst
entscheiden konnte, wann sie ihr Leben beenden wollte. “Es ist gut, wie wir
Niederländer das geregelt haben, wir sind privilegiert”, findet Fleur:

Jedem, der gegen den Tod kämpft und eines Tages akzeptieren muss, dass er
diesen Kampf nicht mehr gewinnen kann, dem gönne ich das Recht, sagen zu
dürfen: Bitte, Doktor, helfen Sie mir beim Sterben! Wenn man so krank ist, dass

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man nichts mehr, aber auch gar nichts mehr zu melden hat, dann muss einem
doch zumindest dieses eine Recht bleiben – dieses letzte Recht sagen zu können:
Ich muss gehen – aber lasst mich das auf würdevolle Weise tun.

Lyrik 1

Matthias Claudius
Christiane
Es stand ein Sternlein am Himmel,
Ein Sternlein guter Art;
Das tät so lieblich scheinen,
so lieblich und so zart!

Ich wußte seine Stelle
Am Himmel, wo es stand;
Trat abends vor die Schwelle
Und suchte, bis ichs fand;

Und blieb dann lange stehen,
Hatt große Freud in mir
Das Sternlein anzusehen,
Und dankte Gott dafür.

Das Sternlein ist verschwunden;
Ich suche hin und her,
Wo ich es sonst gefunden,
Und find es nun nicht mehr.

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Kaum verwunderlich, dass die Niederländer die Wegbereiter für die aktive Sterbehilfe
waren. Denn es ist „common sense“ in der niederländischen Gesellschaft: Was
Schwierigkeiten macht, wird nicht versteckt. Was heimlich geschieht, wird sichtbar
gemacht. Deswegen dulden die Niederländer den Konsum weicher Drogen in Coffee-
Shops, deshalb tolerieren sie Prostituierte hinter Schaufenstern und darum sind sie
auch diejenigen, die unheilbar Erkrankten den Freitod im Kreise von Angehörigen und
Hausarzt ermöglichen.

Auch die gesetzliche Sterbehilferegelung im Jahr 2002 war der vorläufige
Schlusspunkt einer jahrzehntelangen, breit geführten gesellschaftlichen Debatte
zwischen Befürwortern und Gegnern. Maßgebliche Wortführerin war die
niederländische Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende. Ein Verband mit
inzwischen 130.000 Mitgliedern, heute arbeiten 20 Mitarbeiter in der Amsterdamer
Zentrale. Ganz klar bezieht die NVVE Stellung pro Euthanasie. Sie berät Politiker und
informiert die Öffentlichkeit.

Reportage 2

Ein einfaches Backsteinhaus mitten im Amsterdamer Grachtengürtel, zweiter Stock.
Der Schreibtisch von Renée Meijer steht direkt am Fenster. Moderne Hochsteckfrisur,
die 67 Jahre sieht man ihr nicht an. Renée hat kein Auge für das bunte Treiben unten
auf dem Wasser, wo ein Boot nach dem anderen vorbeizieht.

Die schlanke, hochgewachsene Frau sitzt in einem modernen Büro mit Computern und
langen Schreibtischen - in der Telefondienstzentrale der NVVE, wie sich die
niederländische Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende kurz nennt. Auch an
diesem Nachmittag blickt Renée so wie ihre vier Kolleginnen konzentriert auf einen
Computer-Bildschirm - vor den Lippen ein Mikrophon und an den Ohren einen
Kopfhörer, aus dem die Stimme einer Frau schallt.

Renée leitet das Gespräch an ihre Kollegin Annemarie Koch weiter, die neben ihr sitzt.
Denn die Anruferin kommt aus Deutschland, und Annemaries
Fremdsprachenkenntnisse sind besser.
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Die Frau möchte wissen, ob sie mit ihrer todkranken Mutter zum Sterben nach Holland
reisen kann. 1 min Annemarie Koch teilt ihr mit, dass dies nicht möglich ist. Ein
solcher Sterbehilfe-Tourismus, so die 72Jährige, sei ausgeschlossen:

Wer Sterbehilfe bekommen will, braucht zwar nicht die niederländische
Staatsbürgerschaft, aber seinen Wohnsitz muss er schon in den Niederlanden haben.
Annemarie hilft der Frau deshalb mit Adressen in Deutschland weiter.

Es gibt Tage, da erhalten die NVVE-Mitarbeiterinnen in der Telefondienstzentrale bis
zu 200 Anrufe pro Tag. Bei Anfragen aus dem Ausland handelt es sich fast
ausschließlich um Deutsche, die erfahren müssen, dass sie in den Niederlanden keine
Sterbehilfe bekommen können. Den anderen Anrufern können wir in der Regel
weiterhelfen, erzählt Renée Meijer:

Die einen wollen Informationen über unsere geplante Lebensende-Klinik, andere
möchten Mitglied werden. Viele bestellen das Formular für eine schriftliche
Sterbehilfeerklärung. Es gibt auch Menschen, die wollen wissen, mit welchen
Medikamenten sie ihrem Leben selbst ein Ende setzen können. Oder sie rufen an,
weil ihr Hausarzt keine Sterbehilfe leisten will. Kein Gespräch gleicht dem
anderen.

Am anderen Ende des Ganges sitzt Petra de Jong hinter ihrem Schreibtisch und
bereitet sich auf den nächsten Termin vor. Die 58jährige Lungenärztin mit dem
blonden Kurzhaarschnitt ist seit September 2008 Direktorin der NVVE:

Ich habe 20 Jahre als Lungenärztin gearbeitet und in diesen 20 Jahren 16 Mal
Sterbehilfe geleistet. Die Patienten wollten nicht weiter leiden, ich habe diesen
Wunsch respektiert. Als niederländische Ärztin habe ich den Eid abgelegt, einen
Patienten zu heilen oder sein Leiden zu lindern. Und manchmal kann das Leiden
nur gelindert werden, indem man dem Patienten erlaubt, in Würde zu sterben –
vorausgesetzt, er hat diese Bitte ausdrücklich geäußert. Ich kann diesen Wunsch
als Doktor natürlich ignorieren, aber dann, so finde ich, lässt man seinen
Patienten im Stich.

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Dass ausgerechnet die Niederländer als erste den internationalen Alleingang wagten,
ist für Petra de Jong kein Zufall. Die niederländischen Patienten gelten als
außerordentlich mündig, die mitreden wollen.

Das hat mit unserer Kultur zu tun, wir Niederländer legen sehr viel Wert auf
Ehrlichkeit und Transparenz, wir wollen nicht, dass etwas heimlich geschieht.
Deshalb haben wir auch die Sterbehilfe gesetzlich geregelt.

Das allerdings geschah erst nach einer fast 30 Jahre langen gesellschaftlichen Debatte.
Schliesslich standen mehr als 80 % aller Bürger hinter der geplanten Regelung, erzählt
die NVVE-Direktorin auf dem Weg ins Archiv. Sie braucht noch ein Dokument.

Die Richtlinien für Sterbehilfe galten in der Praxis bereits seit 1994, erst im April
2002, nachdem auch der Senat grünes Licht gegeben hatte, wurden die Richtlinien
dann in einer Ausnahmeklausel im Strafgesetzbuch verankert. Ein historisches Datum,
auf das die NVVE noch heute stolz ist:

Unvergessen allerdings ist auch die Lawine der Kritik, die das kleine Land im
Rheindelta wie ein Tsunami überrollte. Von einer “Lizenz zum Töten” war die Rede,
der Vatikan sprach von einer “Schändung der menschlichen Würde”. Auch in
Deutschland war das Entsetzen groß. NVVE-Mitarbeiterin Walburg de Jong zeigt ihrer
Direktorin ein paar Zeitungsartikel aus dieser Zeit:

Die Todesspritze ein Horror. Uschi Glas kämpft gegen die aktive Sterbehilfe wie
sie jetzt in Holland erlaubt ist. Sie fürchtet einen großen Missbrauch.

Dabei können wir nach zehn Jahren konstatieren, dass unsere Ärzte mit der
Sterbehilferegelung äußerst sorgfältig umgehen, das haben ihnen die regionalen
Prüfkommissionen bislang jedes Jahr bescheinigt. Von einem Dammbruch oder
vom Anfang des Endes, wie es unsere Gegner prophezeit haben, kann keine Rede
sein!

Ein Blick auf die Uhr erinnert sie an den Termin, gleich in ihrem Büro. Es geht um
eine Vertragsunterzeichnung zur geplanten Lebensendeklinik.

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Sie soll noch in diesem Jahr eröffnet werden. Zielgruppe sind Patienten, die alle
Kriterien erfüllen, um für Sterbehilfe in Frage zu kommen, aber keinen Arzt finden,
der bereit ist, sie zu leisten. Speziell für diese Patienten sind seit dem ersten März auch
mobile Sterbehilfeteams im Einsatz: Sie reisen durch das Land und ermöglichen es
todkranken Menschen, zuhause zu sterben. Selbstverständlich müssten sich sowohl die
Ärzte dieser mobilen Teams als auch die in der Sterbehilfeklinik an die geltenden
Richtlinien halten, erklärt NVVE-Mitarbeiterin Walburg de Jong, als sie ihre Chefin
zurück in ihr Büro begleitet.

Sonst machen sie sich strafbar, sagt Walburg de Jong:

Außerdem wollen wir uns verstärkt für Demenz– und Psychiatriepatienten
einsetzen, das Gesetz bietet auch ihnen die Möglichkeit, um Sterbehilfe zu bitten.
Aber darüber sind sich die wenigsten Menschen bewusst – Ärzte wie Patienten.

Direktorin de Jong kann ihrer Mitarbeiterin da nur beipflichten. Zeit, sich zu diesem
Thema weiter zu äußern, bleibt ihr allerdings nicht: Die Vertragspartner für die
Lebensendeklinik warten bereits in ihrem Büro auf sie: Jetzt muss sie sich wirklich
verabschieden!

Lyrik 2

Hans Sahl

Strophen

Ich gehe langsam aus der Welt heraus
in eine Landschaft jenseits aller Ferne,
und was ich war und bin und was ich bleibe,
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile
in ein bisher noch nicht betretenes Land.

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Ich gehe langsam aus der Zeit heraus
in eine Zukunft jenseits aller Sterne,
und was ich war und bin und immer bleiben werde,
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile,
als wär ich nie gewesen oder kaum.

Die Gegner der Sterbehilfe-Praxis haben Unrecht behalten. Zu einem Dammbruch, zu
einer Sterbehilfe-Welle ist es nicht gekommen. Aber, in den letzten Jahren zeigt sich
eine Tendenz: Die Zahl der Fälle steigt kontinuierlich an. Im Jahr 2009 waren es 2.600
Fälle, 2010 3.000 und für 2011 werden sogar 4.000 Fälle erwartet.

Sämtliche Sterbehilfe-Fälle werden fünf regionalen Kommissionen gemeldet. In
diesen Kommissionen sitzen jeweils ein Arzt, ein Ethiker und ein Jurist. Sie haben
nicht nur den Überblick über die Zahlen, sondern sie überprüfen auch in jedem
einzelnen Fall ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist.

Außerdem wissen sie neben der offiziellen Statistik auch über die Dunkelziffer recht
gut Bescheid. Aufgrund einer anonymen Befragung, in der Ärzte alle fünf Jahre
darüber Auskunft geben können, was in Krankhäusern und bei Hausbesuchen wirklich
geschieht.

Alles soll ans Licht kommen. Das findet auch die Juristin Willie Swildens. Obwohl es
für die 67jährige richtig viel Arbeit bedeutet.

Reportage 3

Willie Swildens kommt gerade von einem langen Spaziergang mit ihrem blonden
Labrador Max zurück. Viermal pro Tag führt sie ihn Gassi, zweimal lang und zweimal
kurz. Die langen Runden dauern immer mindestens eine Stunde. Dann kann sie gut
über ihre Arbeit nachdenken und sich die aktuellen Sterbehilfefälle, die sie gerade
beurteilen muss, nochmals durch den Kopf gehen lassen.

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Das Problem ist bloss, dass ich stehen bleibe, wenn ich anfange, tief
nachzudenken - und dass Max weiterläuft.

Rote Glasperlenkette auf grauem Rollkragenpullover. Graues kräftiges
kurzgeschnittenes Haar. Wachsame Augen hinter ovalen Brillengläsern: Willie
Swildens arbeitet als stellvertretende Koordinatorin für die fünf regionalen Sterbehilfe-
Prüfkommissionen. Als Juristin ist sie darüber hinaus selbst in einer dieser
Meldestellen vertreten und direkt mit den Fällen konfrontiert: Zusammen mit einem
Arzt und einem Ethiker prüft sie nach, ob ein Arzt den Tod eines Patienten sorgfältig
und sachgerecht herbeigeführt hat - oder ob der Fall doch an die Staatsanwaltschaft
weitergeleitet werden muss. Diese prüft ihn dann erneut und entscheidet, ob es zu
einer Strafverfolgung kommen muss oder nicht:

Im Unterschied zu Deutschland gilt in den Niederlanden das
Opportunitätsprinzip, d.h., die Staatsanwaltschaft hat die Möglichkeit, von Fall
zu Fall zu entscheiden, ob sie verfolgen will oder nicht. In Deutschland hingegen
muss ein Staatsanwalt immer aktiv werden, ob er es für angebracht hält oder
nicht, dort gilt das so genannte Legalitätsprinzip.

Mit den beiden anderen Mitgliedern ihrer Prüfkommission trifft sich Willie Swildens
einmal im Monat, dann werden rund 50 Fälle besprochen.

Zur Vorbereitung muss sie das Dossier des jeweiligen Arztes lesen: Es enthält die
detailliert dokumentierte Krankengeschichte des Patienten und das Gutachten des so
genannten Scen-Arztes, der als zweiter unabhängiger Arzt zu Rate gezogen werden
muss.

Möglicherweise liegt dem Dossier auch eine schriftliche Sterbehilfe-Erklärung des
Patienten bei. Auf keinen Fall fehlen, so Swildens, darf das ausgefüllte
Meldeformular des Arztes, der die Sterbehilfe geleistet hat:

Der erste Punkt auf diesem Formular ist der allerwichtigste: der freie Wille des
Patienten. Sein Arzt muss nachweisen, dass er diese Entscheidung wohlüberlegt und
ohne Druck und Einfluss von Dritten gefällt und darüber hinaus auch mehrfach
wiederholt hat. Weitere Punkte betreffen die Aussichtslosigkeit und Unerträglichkeit
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des Leidens, erklärt sie. Die Krankheits-Ursache muss medizinisch-wissenschaftlich
anerkannt sein. Lebensmüdigkeit zum Beispiel ist damit als Kriterium ausgeschlossen.
Der Arzt muss auch genauestens angeben, wie er die Sterbehilfe ausgeführt hat:
Welche Zusammenstellung die tödliche Spritze hatte oder das tödliche Getränk, das
der Patient zu sich nahm.

Sind seine Erläuterungen nicht eindeutig, fragt die Prüfkommission nach und fordert
zusätzliche Informationen an. Reichen auch die nicht aus, wird der Arzt vorgeladen:

Wir haben 12 Sitzungen pro Jahr, bei acht von ihnen hören wir auch Ärzte an.
Manchmal werden gleich mehrere geladen, sieben oder acht, die rufen wir dann
hintereinander auf. Wir sind uns darüber bewusst, dass es für die Ärzte eine
große emotionale Belastung ist, sie müssen für diesen Tag auch eine
Praxisvertretung finden. Aber wir müssen nun einmal jeden Zweifel aus der Welt
schaffen – auch wenn so mancher Arzt sichtlich nervös mit weichen Knien vor
uns erscheint.

Bei Zweifeln muss die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden. Doch dazu kam es
bislang nur in Ausnahmefällen. Denn von groben Verstößen gegen die Richtlinien
konnte bislang keine Rede sein.

Von kleinen Verstößen hingegen schon. Doch auch die müssen von den
Kommissionen an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden: 2009 und 2010 waren
es jeweils zehn Fälle, 2006 nur einer. Aber noch nie hat es die Staatsanwaltschaft
ihrerseits für nötig befunden, die betroffenen Ärzte dann auch wirklich strafrechtlich
zu verfolgen.

So zum Beispiel, erzählt die resolute, nüchterne Juristin, sei die Dosierung oder
Zusammenstellung der Mittel nicht immer optimal. Manchmal verschlechtere sich der
Zustand des Patienten auch so schnell, dass keine Zeit mehr bleibe, rechtzeitig einen
Scen-Arzt herbeizurufen, dann fehle dessen Gutachten im Dossier.

In 80 % aller Fälle geht es um Krebspatienten im Endstadium. In den letzten Jahren
allerdings leisten die Ärzte auch immer mehr Sterbehilfe bei Alzheimer- und auch

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Psychiatriepatienten. So etwa halfen sie im letzten Jahr zwei Patienten mit schweren
Depressionen beim Sterben.

Insbesondere die Zahl der Demenzfälle steigt: 2009 waren es sechs Fälle, 2010 bereits
21. Dabei sind Ärzte und Patienten auf schriftliche Erklärungen angewiesen, und die
sind umstritten, da der Patient sie oft Jahre vor seinem Tod, wenn er noch klar denken
kann, aufstellen muss, und - wenn er zu lange wartet - den Wunsch nach Sterbehilfe
selbst dann nicht mehr deutlich äußern kann.

Das sei auch im März 2011 bei einer 64jährigen Alzheimerpatientin der Fall gewesen.
Die schriftliche Sterbehilfeerklärung hatte sie bereits 2005 aufgesetzt. Der Fall
erschütterte die niederländische Öffentlichkeit, denn die Frau starb, ohne zu wissen,
was mit ihr geschah, dazu war sie bereits zu verwirrt. Der Arzt habe lange gezögert
und gezweifelt, aber sorgfältig gehandelt, sagt Juristin Swildens. Sie und ihre Kollegen
von den Prüfkommissionen sahen keinen Grund, seinen Fall an die Staatsanwaltschaft
weiterzuleiten:

Ich weiß, dass Ärzte bei Alzheimer wegen der schriftlichen
Sterbehilfeerklärungen sehr zurückhaltend sind, aber diese schriftlichen
Erklärungen sind als Möglichkeit ausdrücklich in unserem
Sterbehilfeparagraphen verankert.

Die Zahl der gemeldeten Sterbehilfefälle steigt. 2011 waren es gut 16 % mehr als
2010.

Swildens sieht die Hauptursache in der Vergreisung der Gesellschaft: Die Babyboom-
Nachkriegsgeneration hat das Rentenalter erreicht und wird zunehmend mit Krankheit
und Tod konfrontiert:
Seufzend weist die Juristin auf die hohen Stapel auf ihrem Schreibtisch. Die
Prüfkommissionen sind dem Anstieg nicht gewachsen und müssen dringend verstärkt
werden, der Jahresbericht 2011 wird deshalb nicht rechtzeitig im April vorliegen.

Denn einfach einen höheren Gang einschalten und die Fälle schneller abhandeln, das
gehe nicht, stellt Swildens klar. Dazu sind sie emotional zu belastend.

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Sie erzählt von dem jungen Fußballer, der von einem Tag auf den anderen vom
Fusßßballfeld verschwand und ans Krankenbett gefesselt war. Und von der jungen
Mutter, die unerträglich an Krebs litt, aber es noch unerträglicher fand, dass sie ihre
Kinder nicht mehr ertragen konnte.
Das gehe an die Substanz, sagt die resolute Juristin, das berühre einen tief. Und da
kann sie sich noch so nüchtern geben: Manchmal wird es auch ihr zuviel:

Aber zum Glück ist da ja noch Max, der blonde Labrador. Mit dem macht sie dann
einen langen Spaziergang.

Lyrik 3

Friedrich Rückert
Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen

Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen,
Bald werden sie wieder nach Haus gelangen,
Der Tag ist schön, o sei nicht bang,
Sie machen nur einen weitern Gang.

Jawohl, sie sind nur ausgegangen,
Und werden jetzt nach Haus gelangen,
O sei nicht bang, der Tag ist schön,
Sie machen den Gang zu jenen Höhn.

Sie sind uns nur vorausgegangen,
Und werden nicht hier nach Haus verlangen,
Wir holen sie ein auf jenen Höhn
Im Sonnenschein, der Tag ist schön.

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Es ist besonders für die Ärzte in den Niederlanden eine schwierige Gratwanderung.
Für die Hausärzte, für die Klinikärzte, die trotz transparenter juristischer Regeln in der
Praxis allein darüber entscheiden müssen, ob sie einen Menschen in den Tod begleiten
wollen oder nicht. Die sehen, dass der medizinische Fortschritt die Menschen zwar
älter werden lässt, was aber nicht bedeutet, dass sie unbedingt gesund bleiben. Die
niederländischen Ärzte sind für ihre Patienten schon immer mehr als ein medizinischer
Ratgeber gewesen. Ihre Aufgaben und ihre Rolle haben sich in den letzten Jahren stark
verändert. Gewachsen ist die Verantwortung für ihre Patienten. Und längst nicht alle
sehen es ein, dass Schwerkranke ihr Leben abkürzen dürfen. 17 Prozent der Mediziner
lehnen Sterbehilfe prinzipiell ab.

Reportage 4

7 Uhr 30, Krebsklinik Daniel den Hoed in Rotterdam. Doktor Paul Lieverse betritt die
Intensivstation. Ein schmaler Mann, kurzes graues Haar. Er trägt eine unauffällige
Brille. Wie immer um diese Zeit beginnt Paul Lieverse mit seiner morgendlichen
Inspektionsrunde.

Gutgelaunt begrüßt der 58jährige Kollegen und Schwestern und begibt sich dann
sogleich ans erste Krankenbett. Dem Patienten wurde am Tag zuvor ein Tumor
entfernt.

Paul Lieverse ist Anästhesist. Zusätzlich hat er sich auf die Palliativmedizin
spezialisiert, auf die Schmerz-Linderung. Der Tod gehört zu seiner Arbeit, aber, so
betont der ruhige, überaus höfliche Mann: Beim Sterben geholfen hat er einem seiner
Patienten noch nie:

Ich arbeite seit mehr als 20 Jahren hier, und ich kann nicht mit absoluter
Sicherheit ausschließen, dass ich niemals Sterbehilfe leisten werde. Aber bislang
war es nicht nötig, es soweit kommen zu lassen. Ich habe immer eine andere
Möglichkeit gefunden, meinen Patienten zu helfen. Und eigentlich gehe ich davon
aus, dass dies auch so bleiben wird.

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Als gläubiger Christ lehnt Lieverse Sterbehilfe ab. Für ihn verliert das Leben nie
seinen Sinn, schließlich stehe in der Bibel “Du sollst nicht töten”.

Doch diese christlichen Argumente seien persönlich, sagt er. Und deshalb macht er sie
nie geltend, wenn er Kollegen und Patienten seinen Standpunkt erläutern muss.
Andere Argumente hält er für viel wichtiger:

Erstens bin ich gegen Sterbehilfe, weil ich finde, dass die anderen Möglichkeiten,
Leiden zu lindern, dann nicht voll ausgeschöpft wurden. Zweitens, weil
Sterbehilfe für den Patienten im Grunde genommen bedeutet: ‘Du zählst nicht
mehr mit, du bist es nicht mehr wert, weiter zu leben. Und gerade das ist ja der
wichtigste Aspekt der Palliativ-Medizin. Ich sage meinen Patienten: ‘Egal, wie
entstellt du bist, egal, wie sehr du stinkst oder wie seltsam du dich aufgrund der
Medikamente, die du schlucken musst, benimmst: Du bist wichtig, wir wollen
weiterhin mit dir zu tun haben, wir sind für dich da.’ Das ist etwas ganz Anderes
als auszustrahlen: “Du zählst nicht mehr mit, es kann besser vorbei sein.

Paul Lieverse lehnt es ab, Patienten, die dennoch sterben möchten, an einen anderen
Arzt weiter zu verweisen. Da ist er ganz konsequent: “Das wäre Beihilfe zur
Sterbehilfe”, sagt er:

Immerhin informiere er seine Patienten in einem frühen Stadium über seinen
Standpunkt, erklärt er, als er auf dem Weg zum OP noch schnell in seinem Büro
vorbeischaut. Dann bleibe ihnen genug Zeit, einen anderen Arzt zu finden.

Die weitaus meisten Patienten akzeptieren meinen Standpunkt, ich bin weiterhin
ihr Arzt für palliative Fragen und lindere ihre Schmerzen. Aber da manche sich
die Möglichkeit der Sterbehilfe offen halten wollen, suchen sie sich dafür
rechtzeitig noch einen zweiten Arzt.

Allerdings gab es auch Patienten und auch Kollegen, die er mit seiner Einstellung vor
den Kopf stieß. Sie brachen den Kontakt mit ihm ab. Lieverse musste erst lernen, die
richtigen Worte zu wählen:

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Die Aktionen der niederländischen Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende
NVVE verfolgt er genau. Er kann sie nicht gutheißen. Weder die geplante
Lebensendeklinik noch die mobilen Sterbehilfeteams.

Für Lieverse ist nicht Sterbehilfe der letzte Ausweg, sondern palliative Sedierung.
Wenn Patienten in Atemnot geraten, Angst- und Panik-Anfälle bekommen oder zu
ersticken drohen, versetzt er sie in tiefen Schlaf, aus dem sie nicht mehr aufwachen.
Nach ein paar Tagen sterben sie.

Doch dieses Schlafmittel verabreicht er seinen Patienten nicht mit der Absicht, ihr
Leben zu verkürzen. Das sei ein wesentlicher Unterschied, betont er. Und manchmal
lehnen Patienten trotz unerträglichen Leidens auch diesen letzten Ausweg ab:

Einmal hatte ich eine Patientin, die drohte durch eine Blutung im Hals zu
ersticken, doch sie sagte zu mir: ‘Ich werde sterben und dabei will ich nicht
bewusstlos sein. Ich sterbe nur einmal, das lasse ich mir von Ihnen nicht
abnehmen.

Kollegen, die Sterbehilfe leisten, verurteilt Paul Lieverse nicht. Im Gegenteil. Er hat
sogar manchmal das Bedürfnis sie in Schutz zu nehmen. Die Kollegen, die er kennt,
würden alle sorgfältig und nicht leichtfertig handeln, betont er beim Betreten des
Krankenhausflügels, wo sich die Palliativ-Abteilung befindet. Auch hier wird er
herzlich begrüßt.

Dennoch habe die Verabschiedung des Sterbehilfeparagraphen zu einer gefährlichen
Entwicklung geführt. Besonders große Sorgen bereiten ihm die Patienten, die immer
mündiger auftreten und immer mehr fordern. Inzwischen, so seufzt Lieverse, gebe es
sogar eine Bürgerinitiative, die das Recht auf die so genannte “Letzter Wille-Pille”
fordere: Alle Senioren über 75, auch wenn sie kerngesund sind, sollten das Recht
bekommen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, wenn sie es als vollendet betrachten.

Sterbehilfe ist für viele ein ganz selbstverständliches Recht geworden, auf das sie
pochen und dann erwarten, dass die Ärzte spuren und Gehorsam leisten. Von
denen jedoch, so habe ich beobachtet, treten viele zunehmend auf die Bremse,

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ihnen geht das viel zu schnell. Die lassen sich nicht zwingen und sind es müde,
sich den Patienten gegenüber immer wieder rechtfertigen zu müssen.

Außerdem bereitet es dem Anästhesisten Sorgen, dass sich die Zielgruppe der
Sterbehilfe-Patienten vergrößert. Es sind nicht mehr nur Krebs-Erkrankte im
Endstadium:

Inzwischen bekommen auch Alzheimer- und selbst Psychiatriepatienten
Sterbehilfe! Das ist eine ganz andere Kategorie.

Lieverse erinnert an den Fall aus dem Jahre 2011, der die niederländische Gesellschaft
erschütterte: jene 64jährige Alzheimerpatientin, die sechs Jahre nach dem Aufstellen
einer Sterbehilfeerklärung von ihrem Hausarzt getötet wurde. Die
Prüfungskommissionen sahen keinen Grund, die Staatsanwaltschaft einzuschalten.
Aber, so sagt Paul Lieverse, bevor er sich in den OP verabschiedet: Hier wurde eine
rote Linie überschritten:

Unsere Richtlinien sind zum Nährboden geworden für neue, gefährliche
Gedanken über Krankheit, alte Menschen und Tod. Mit dem Einhalten von
Regeln allein ist es nicht getan, es gibt auch so etwas wie Ethik. Wer sich bloß an
die Regeln hält, ohne über die ethischen Aspekte nachzudenken, der handelt
ebenfalls unsorgfältig.

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Lyrik 4

Hermann Hesse

Leb wohl, Frau Welt

Es liegt die Welt in Scherben

Einst liebten wir sie sehr,

Nun hat für uns das Sterben

Nicht viele Schrecken mehr.

Man soll die Welt nicht schmähen,

Sie ist so bunt und wild,

Uralte Zauber wehen

Noch immer um ihr Bild.

Wir wollen dankbar scheiden

Aus ihrem großen Spiel;

Sie gab uns Lust und Leiden,

Sie gab uns Liebe viel.

Leb wohl du Welt, und schmücke

Dich wieder jung und glatt,

Wir sind von deinem Glücke

Und deinem Jammer satt.
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Wieder diskutieren die Niederländer über ein Tabu. Wieder machen sie es sich nicht
leicht. Und wieder geht es darum, eine Grenze zu überschreiten. Alten Menschen zu
erlauben, ihr Leben zu beenden, wenn sie selbst meinen, dass dafür der Zeitpunkt
gekommen ist. Und das auch, wenn sie kerngesund sind. Denn niemand ist verpflichtet
zu leben, so das Argument der Bürgerinitiative „Uit vrije will“ - zu deutsch „Aus
freiem Willen“. Inzwischen gibt es 160.000 Unterstützer. Doch trotz des großen
Zuspruchs, für ein Gesetzes-Initiative hat es nicht gereicht. Gerade erst hat das
niederländische Parlament die Vorlage abgelehnt.

Indes geht die Debatte um die Wertschätzung alter Menschen, um ihre Einsamkeit und
um Todeswünsche weiter. Pieter Jiiskoot möchte eigentlich nicht mehr diskutieren. Er
hat sich entschieden.

Reportage 5

Ein Couchtisch mit Sofa und Sessel; gegenüber ein alter Eichenholzschrank; daneben
ein Schreibtisch. Und in der Küchenecke ein Esstisch mit vier Stühlen.

Viele Möbel stehen nicht im Apartment von Pieter Jiskoot. Es ist aufgeräumt. Und
still. So still, dass die alte Wanduhr über dem Sofa umso lauter zu ticken scheint.

„Die haben wir schon vor 60 oder 70 Jahren gekauft”, erzählt der alte Mann, nachdem
er mit einem Kopje Koffie aus der Küche zurückgekommen ist.

So ganz genau weiß er das nicht mehr, es war in den ersten Ehejahren. Manchmal lässt
ihn sein Gedächtnis im Stich, es ist alles schon so lange her. Pieter Jiskoot ist 91 Jahre
alt.

Wenn er sein Geburtsdatum nennt, wollen es die meisten Menschen nicht glauben:

5. Februari 1921.

Die meisten schätzen ihn auf 75, 80 Jahre. Pieter Jiskoot ist ein vitaler Mann. Eine
Gehhilfe braucht er nicht, sein Gesicht ist von erstaunlich wenig Falten durchzogen.

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Ich schlucke weder Pillen noch irgendein anderes Medikament, das einzige, was
mir zu schaffen macht, sind die Augen. Mein Optiker meinte, ich hätte früher
zuviel den Frauen hinterher geschaut.”

Aber bis auf die Augen sei alles in Ordnung. Dennoch hält Pieter Jiskoot sein Leben
für vollendet:

Ein Mensch kann auch geistig verschlissen sein, nicht bloß körperlich! Das
schwarze Loch, in das ich falle, ist manchmal so unvorstellbar, so unerträglich
tief.

Seit zwei Jahren ist er Witwer, seine Frau litt an Alzheimer. Vier Wochen später starb
seine Tochter an Krebs. Mit seinem Sohn hat er vor Jahren den Kontakt abgebrochen,
warum, darüber will er nicht reden.

Die wenigsten können sich das vorstellen, aber wenn man nach so vielen Jahren
den Partner verliert, so spät im Leben wie ich, dann kann man sich auch nichts
mehr Neues aufbauen. Und wenn man dann auch noch seine Tochter verliert, ja,
dann wird man einsam. Sehr einsam. Manchmal sitze ich hier alleine und kann
die Tränen kaum zurückhalten. Dabei finde ich Selbstmitleid furchtbar, aber es
ist nicht anders.

Im Glauben findet er weder Trost noch Hoffnung, er ist Atheist. Im letzten Jahr hätte
Pieter Jiskoot seinem Leben beinahe ein Ende gesetzt: Er spielte mit dem Gedanken,
aus dem Fenster zu springen.

Dass er immer noch lebt, sagt er und steht auf, liege an der Alternative, die er sich
inzwischen beschaffen konnte. Das gebe ihm innere Ruhe.

Er läuft in sein Schlafzimmer und macht die Nachttischschublade auf. Sie ist voller
Pillenschachteln.

Mit Hilfe der niederländischen Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende NVVE hat
sich der alte Mann drei verschiedene Medikamente besorgt, mit denen er sich töten
kann. Das ist in den Niederlanden nicht verboten, man darf Mitbürger darüber

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informieren, wie sie sich töten können; strafbar macht man sich erst, wenn man ihnen
auch dabei hilft. Die drei Medikamente sind ein Menu, sagt Pieter Jiskoot:

Het is eigenlijk een voorgerecht, een hoofdgerecht en en nagerecht.

Er geht zurück ins Wohnzimmer, um sich wieder zu setzen. Das Stehen strengt ihn zu
sehr an.

Die Malariapillen gebe es eigentlich nur auf Rezept, erzählt er, sie würden auch von
Rheumapatienten geschluckt werden. Doch jenseits der Grenze, in der belgischen
Stadt Antwerpen, ist es Pieter Jiskoot gelungen, sich damit einzudecken. Er ging dort
in mehrere Apotheken und erzählte, er sei ein Rheumapatient auf der Durchreise nach
Frankreich und habe seine Pillen vergessen.

Die Pillen sind seine Versicherung, wie er es nennt. Sobald das schwarze Loch zu tief
wird, will er sie schlucken. Oder – und das ist für den alten Mann mindestens genauso
wichtig – sobald ihn sein Körper im Stich lässt. Er weist aus dem Fenster auf das
Pflegeheim, das gegenüber liegt. Dort trinkt er manchmal eine Tasse Kaffee.

Wenn ich dort sehe, wie Menschen an ihr Ende kommen müssen. Sie tragen
Windeln, sie werden mit einem Kran aus dem Bett gehievt, sie müssen gefüttert
und gewaschen werden. So will ich nicht enden!

Und deshalb will ich selbst dafür sorgen können, dass es nicht so weit kommt.
Das lasse ich mir nicht verbieten, sicher nicht von Politikern unter 60, die keine
Ahnung haben, was es heißt, alt zu sein! Wieso können junge Leute darüber
entscheiden, wie und wann ich zu sterben habe? Das ist doch undenkbar!

Aber das tödliche Menu zusammenzustellen, das sei umständlich, das bereitet ihm ein
bisschen Sorgen. Dabei ginge es doch so viel leichter: mit der “Letzer-Wille-Pille”.
Alle alten Menschen sollten sie griffbereit in der Nachttischschublade liegen haben,
dann bräuchten sie nicht mehr aus dem Fenster zu springen oder sich selbst in Brand
zu setzen, wie es in Altersheimen immer wieder passiere:

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Aber, seufzt Pieter Jiskoot: Auf dem Todeswunsch von Senioren ruhe ein großes Tabu.
Das Leben sei ein Geschenk, das könne man nicht einfach zurückgeben - erst recht
nicht, so lange man gesund sei. So wie er.

Sein Leben sei reich gewesen, interessant und erfüllt, dafür ist er dankbar. Als
Maschinenbauer fuhr er über alle Weltmeere, hat Teile von Ölbohrtürmen transportiert
und in 14 Ländern Brücken und Schleusen gebaut. Seine Augen beginnen zu leuchten,
als er davon erzählt:

Jemen, Saudi-Arabien, Emirate, Tunesien.

Eine fantastische Zeit sei das gewesen. Immer habe er die Regie über sein Leben
geführt, immer wurde von ihm erwartet, alles selbstständig zu regeln und
Entscheidungen zu treffen. Nur die allerwichtigste Entscheidung, die über seinen Tod,
die werde ihm abgenommen, da werde er auf einmal entmündigt und behandelt wie ein
Kind:

Ich finde es eine Torheit, eine Verblendung dieser Gesellschaft, dass sie ihre alten
Menschen so behandelt – alte Menschen, die ganz genau wissen, was sie wollen
und warum sie es wollen! Warum müssen diese alten Menschen sinnlos leiden?
Warum wird alles getan, um sie bis zum bitteren Ende am Leben zu erhalten?

Mein Tod gehört mir – Die Niederlande und die Sterbehilfe. Das waren Gesichter
Europas mit Reportagen von Kerstin Schweighöfer. Die Gedichte hat
Josef Tratnik gelesen. Musik und Regie übernahm Babette Michel, am Mikrofon war
Katrin Michaelsen

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