Der Lauf der Mode - Ästhetik & Ausbeutung - Außerdem t Proteste in Irak/Iran t Ausstellung "Fiktion Kongo" t Interview mit Léonora Miano

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Der Lauf der Mode - Ästhetik & Ausbeutung - Außerdem t Proteste in Irak/Iran t Ausstellung "Fiktion Kongo" t Interview mit Léonora Miano
Der Lauf der Mode –
                                     Ästhetik & Ausbeutung              März/April 2020
                                                                        Ausgabe q 377
                                     Außerdem t Proteste in Irak/Iran   Einzelheft 6 6,–

                                     t Ausstellung »Fiktion Kongo«      Abo 6 36,–

                                     t Interview mit Léonora Miano
iz3w t informationszentrum 3. welt
Der Lauf der Mode - Ästhetik & Ausbeutung - Außerdem t Proteste in Irak/Iran t Ausstellung "Fiktion Kongo" t Interview mit Léonora Miano
In dies er Aus gabe . . . . . . . . .

                                                                            		Schwerpunkt: Mode
      Titelbild: Brunel Johnson / unsplash
                                                                              15     Editorial
                                                                              16     Spinning around the world
                                                                                     Baumwolle ist der Urstoff kapitalistischer Inwertsetzung
                                                                                     von Sascha Klemz

                                                                              19     Schneller!
                                                                                     Fast Fashion ist Mode zum Wegschmeißen
                                                                                     von den Fashion Lovers im iz3w
 3     Editorial
                                                                              20     Was zieht mich an?
                                                                                     Gegen die Exklusivität der Mode
		 Politik und Ökonomie                                                              von Dagmar Venohr

 4     Iran/Irak I: Bagdads Tahrir-Platz                                      22     »Rechte sind modebewusst geworden«
       Die Situation im Irak ähnelt in vielem dem                                    Interview mit Sarah Held über textile Codes und Botschaften
       Arabischen Frühling                                                    24     Fashion Victims oder starke Frauen?
       von Thomas von der Osten-Sacken                                               In Bangladesch kämpfen Textilarbeiter*innen
 4     Iran/Irak II: Raketen und Heiligenbilder                                      um ihre Rechte
       Protest, Ideologie und Dominanz im Iran                                       von Annika Salingré
       von Laleh Ardestaninejad                                               26     Siegel ohne Glaubwürdigkeit
 8     Bolivien:»Ein kollektiver Aufschrei«                                          Auf das Textilbündnis folgt der Grüne Knopf,
       Die gesellschaftliche Spaltung vertieft sich                                  aber kein Gesetz
       von Tobias Boos                                                               von Gisela Burckhardt

10     Costa Rica: Sodom und Gomorra im Tropenparadies                        28     Geschäftsidee Gleichheit
       Progressive Reformen erzürnen die Rechte                                      Hip-Hop-Mode öffnet neue Handlungsfelder
       von René Thannhäuser                                                          für junge Frauen in Vietnam
                                                                                     von Sandra Kurfürst
12     Brasilien: Vergiftet und verkauft
       Die agrarökologische Bewegung gerät in Bedrängnis                      30     »Selbstorganisierung von Frauen ist der Schlüssel«
       von Mireille Remesch                                                          Interview mit den Gewerkschafterinnen Dian Septi Trisnanti
                                                                                     und Chamila Thushari aus Indonesien und Sri Lanka

                                                                              31     »Kleidung, die intelligent ist«
                                                                                     Die südafrikanische Mode ist im Aufbruch begriffen
                                                                                     von Daniela Goeller

                                                                              34     Zwischen Konsum und Underground
                                                                                     Modebeziehungen von Dubai über Teheran bis Istanbul
                                                                                     von Nargess Khodabakhshi

                                                                              36     Kleider machen Frauen
                                                                                     Tradition und alte Normen bestimmen in China die Mode
                                                                                     von Astrid Lipinsky

                                                                              38     Frömmigkeit und Konsum
                                                                                     Die Mode in Indonesien ist augenscheinlich
                                                                                     muslimischer geworden
                                                                                     von Antje Missbach
		 Kultur und Debatte

 40      Ausstellung: Wer repräsentiert wen?
         »Fiktion Kongo« wirft Fragen auf
         von Katja Behrens

 42      Literatur: »Neue Kapitel unserer
         gemeinsamen Geschichte«
         Interview mit Léonora Miano über ihren Roman
         »Rouge Impératrice«

 45      Erinnerung: Bedingungslos Blitze schleudern
                                                                                                                46    Rezensionen
         iz3w-Autor*innen über konkret-Herausgeber
         Hermann L. Gremliza                                                                                    50    Szene / Impressum

                                                        iz3w • März / April 2020 q 377
Der Lauf der Mode - Ästhetik & Ausbeutung - Außerdem t Proteste in Irak/Iran t Ausstellung "Fiktion Kongo" t Interview mit Léonora Miano
Editorial

Maximal borniert
  Mitte Januar war es wieder einmal soweit. Deutsche                        N   ach der Berliner Konferenz ging es in Deutschland
  Politiker*innen und ihre Entourage bei den staatstragenden            erwartungsgemäß weiter mit der außenpolitischen Ange-
  Medien liefen zu Hochform auf in Sachen eitler außenpo-               berei. Bundeskanzlerin Angela Merkel resümierte zufrieden,
  litischer Selbstbespiegelung. Anlass war die internationale           man habe sich darauf geeinigt, das vom UN-Sicherheitsrat
  Libyenkonferenz, zu der die Bundesregierung mit dem                   verhängte Waffenembargo »respektieren« zu wollen. Au-
  Segen der UN nach Berlin geladen hatte. Schon im Vorfeld              ßenminister Heiko Maas bekräftigte: »Wir haben unsere
  wurden altbekannte Narrative bemüht, etwa jenes, Deutsch-             Ziele erreicht«. Das mag sein, aber die Ziele müssen sehr
  land sei in der Weltpolitik ein »ehrlicher Makler« (so die            bescheiden gewesen sein. Ein konsistenter Friedensplan für
  Titelzeile im SPIEGEL 4/2020). Den Vogel schoss der eins-             Libyen kann nicht dazu gezählt haben. Selbst für einen
  tige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel ab, als er twit-              Waffenstillstand hat es nicht gereicht.
  terte: »In der Welt harter Interessenpolitik erreichen manch-            So muss zum Beispiel das in Berlin ausgehandelte, un-
  mal die Interessenlosen mehr. Wir haben stärkeres als                 präzise Agreement erst vom UN-Sicherheitsrat bestätigt
  Waffen & Geld: Legitimität! Wir waren nicht am Libyen-Krieg           werden, bevor Verstöße in Libyen dagegen sanktioniert
  beteiligt u. nie Kolonialstaat. Gut, dass Deutschland Libyen          werden könnten. Das ist nicht gerade wahrscheinlich, be-
  nicht den Autokraten überlässt. #FriedenfürLibyen.«                   denkt man die gängige Praxis der Vetomacht Russland und
                                                                        ihre klare Unterstützung der Kriegspartei rund um General
                                                                        Khalifa Haftar. Offen bleibt auch, inwieweit Deutschland
     D    ass Deutschland nie Kolonialstaat gewesen ist, hat            die EU in die Libyenpolitik »einbeziehen« will, wie Maas
  Gabriel exklusiv. Dass er nichts wissen will von deutschen            ankündigte. Einzig konkret im Raum steht die Wiederbele-
  Waffenexporten an Länder, die in Libyen mitmischen, wie               bung der EU-Marinemission »Sophia«. Ihre Aufgabe ist die
  etwa die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Ägypten               Flüchtlingsabwehr, bekanntlich ein besonders gut geeigne-
  und die Türkei: Geschenkt. Aber dass ausgerechnet er,                 tes Instrument zur Friedensicherung.
  dessen Wahl in den Aufsichtsrat der Deutschen Bank kurz                  In internationalen Medien stieß die Libyenkonferenz
  bevor steht, von Interesselosigkeit schwadroniert, entbehrt           denn auch auf deutlich weniger Lob als hierzulande. Insbe-
  nicht der Komik. (Fun Fact am Rande: Der Kritik am Wech-              sondere in Libyen selbst waren die Reaktionen verhalten.
  sel zur Deutschen Bank begegnete Gabriel mit den Worten               »Ich weiß nicht, was ich von den Ergebnissen der Berliner
  »Ich werde auch in Zukunft nicht anders denken und                    Konferenz halten soll, sie sind sehr allgemein gehalten«,
  handeln als vorher«. Das wirft in erster Linie ein bezeich-           sagte beispielsweise Youssef Alheri, Leiter des Auswärtigen
  nendes Licht auf sein Denken und Handeln bei der SPD.)                Ausschusses des libyschen Parlaments und Haftar-Unter-
      Was von der Schimäre zu halten ist, deutsche Außen-               stützer, gegenüber der taz. Und auch in Tripolis, dem Sitz
  politik sei interesselos, haben Karl Marx und Friedrich Engels        der »Regierung der nationalen Übereinkunft« des Haftar-
  schon vor 175 Jahren in ihrem Manuskript »Die deutsche                Widersachers Fajez as-Sarradsch, war man wenig begeistert.
  Ideologie« festgehalten: »Wenn die nationale Borniertheit             Ein Reporter der Nachrichtenagentur afp hörte sich dort
  überall widerlich ist, so wird sie namentlich in Deutschland          auf den Straßen um und zitiert den Bewohner Abdul Rahman
  ekelhaft, weil sie hier mit der Illusion, über die Nationalität       Miloud mit den Worten: »In Wahrheit war die Berliner
  und über alle wirklichen Interessen erhaben zu sein, den-             Konferenz nicht anders als die vorherigen Konferenzen in
  jenigen Nationalitäten entgegengehalten wird, die ihre                Skhirat, Frankreich oder Rom (…) Es gab keine Notwendig-
  nationale Borniertheit und ihr Beruhen auf wirklichen In-             keit für eine weitere Konferenz.«                             3
  teressen offen eingestehen.« Das klingt wie ein hochaktu-                Miloud ergänzte: »Das Wichtigste ist, dass es unter den
  eller Kommentar zur Tatsache, dass Frankreich, Italien,               Libyer*innen selbst einen Konsens gibt.« Und weiter: »Um
  Russland oder die Türkei niemanden über ihre knallharten              unser Land versöhnen zu können, ist eine Schlichtung in
  Machtinteressen in Libyen im Unklaren lassen. Scharfe                 Libyen notwendig.« Genau dies sollte man sich nicht nur
  Kritik an deren Libyenpolitik ist selbstverständlich dennoch          in Berlin hinter die Ohren schreiben, findet
  notwendig.
                                                                                                                      die redaktion

                                                    iz3w • März / April 2020 q 377
Der Lauf der Mode - Ästhetik & Ausbeutung - Außerdem t Proteste in Irak/Iran t Ausstellung "Fiktion Kongo" t Interview mit Léonora Miano
Bagdads Tahrir-Platz
    Die Situation im Irak ähnelt in vielem dem Arabischen Frühling

    Im vergangenen Herbst entstand im Irak eine bis dahin unge-                 Dauerkrise. Auch sie mussten erleben, wie sich Parteien und poli-
    kannte Protestbewegung. Sie richtet sich nicht nur gegen die                tische Klasse als notorisch unfähig und unwillig erwiesen, auch nur
    unfähige eigene Regierung, sondern auch gegen die iranische                 eines der unzähligen drängenden Probleme anzugehen. So mangelt
    Einflussnahme. Wer sind die Protagonist*innen dieser Bewe-                  es bis heute im Süden des Landes selbst an Strom- und Wasserver-
    gung? Was sind ihre politischen Anliegen, und wie sind ihre                 sorgung. Gelder versickern in den Kassen einer chronisch korrupten
    Erfolgsaussichten einzuschätzen?                                            Verwaltung, in der Gruppenzugehörigkeit eine wichtigere Rolle
                                                                                spielt als Kompetenz: Politik organisierte sich im Irak, ähnlich wie
                                                                                im Libanon, streng entlang konfessioneller oder ethnischer Zuge-
    von Thomas von der Osten-Sacken                                             hörigkeiten.
                                                                                    Nach 2003 sahen schiitische Parteien ihre Stunde gekommen:
    tt  Irak hat eine der jüngsten Bevölkerungen im Nahen Osten. Wenn           Mit Hilfe des Iran gelang es ihnen, die Sunnit*innen zu marginali-
    hunderttausende Irakis auf die Straße gehen, handelt es sich also           sieren und sich des Staatsapparates zu bemächtigen. Denn wer
    automatisch um eine Jugendrevolte. Und genau das ist die Protest-           diesen kontrolliert, verfügt über auch die Einnahmen aus dem Öl-
    bewegung, die seit Oktober 2019 gegen Korruption und allgemei-              und Gasverkauf, die bis heute knapp 95 Prozent der irakischen
    ne Perspektivlosigkeit aufbegehrt. Es geht bei diesen Massen­               Wirtschaftsleistung ausmachen. Dieses Rentiersystem stützt sich auf
    demonstrationen um Vieles, vor allem aber um die Zukunft einer              Klientelismus und einen künstlich aufgeblähten staatlichen Sektor,
    Generation, die größtenteils keine Erinnerungen mehr hat an die             in dem bis zu drei Viertel der arbeitenden Bevölkerung irgendwie
    Zeiten unter Saddam Hussein und die für sich keinen Platz in den            ihr Auskommen finden. Fällt der Ölpreis, wie dies nach 2014 geschah,
    bestehenden Strukturen sieht. Fast jede*r dritte Jugendliche im Irak        gerät das gesamte System in eine tiefe Krise. Folgerichtig wächst
    ist arbeitslos, während gleichzeitig die Zahl der Armen steigt. Die         seit Jahren vor allem im Süden des Landes und in Bagdad der Unmut.
    Menschen im Irak sind aber nicht nur jung, sondern auch über-               Bereits 2018 kam es immer wieder zu Demonstrationen.
    durchschnittlich gut gebildet. Nur fehlt ihnen in der Regel jedwede
    Chance, später auch einen entsprechenden bezahlten Job zu finden.
                                                                                Citizenship versus Konfessionalismus
        Aufgewachsen sind diese Protestierenden in einem destabilisie-
    renden Bürgerkrieg, der das Land nach 2005 spaltete und auch                tt  Zwar waren schon die Proteste 2018 dem Namen nach gesamt­
    den Aufstieg des Islamischen Staates ermöglichte. Schon ihre Eltern         irakisch. Aber sie beschränkten sich fast ausschließlich auf den Süden
    kannten wenig außer Krieg, Sanktionen und eine traumatisierende             des Landes sowie schiitische Stadtviertel in Bagdad. Erst mit der

    Raketen und Heiligenbilder
    Protest, Ideologie und Dominanz im Iran                                                              von Laleh Ardestaninejad

    tt  Zu sagen, dass die Islamische Republik Iran einen unruhigen             Vor diesem Hintergrund entfachte die Verdreifachung des Benzin-
    Winter erlebt, grenzt an Euphemismus: Erst die massiven Proteste            preises Mitte November wütende Proteste, auch wenn die Einkünf-
4   gegen die Spritpreiserhöhung und die Internetsperre durch das               te offiziell der Armutsbekämpfung dienen sollten. Der Unmut
    Regime, dann das Attentat auf General Soleymani und die folgen-             richtete sich gegen staatliche Banken, aber auch andere Regie-
    de Welle der nationalen Mobilisierung und schließlich erneute               rungsgebäude oder Tankstellen, die teilweise niedergebrannt wur-
    Proteste, nachdem das Regime zugeben musste, nach dem Ver-                  den. Die Protestierenden positionierten sich mit ihren Slogans nicht
    geltungsschlag gegen einen US-Militärstützpunkt im Irak aus Ver-            nur gegen die Preiserhöhung, sondern auch gegen die Kosten der
    sehen ein ukrainisches Passagierflugzeug abgeschossen zu haben.             iranischen Militäreinsätze im Ausland (»Nicht für Gaza, nicht für
        Im 41. Jahr des Bestehens der Islamischen Republik haben die            Libanon«), oder sie brachten grundsätzliche Opposition zum Aus-
    wenigsten Iraner*innen Grund zum Feiern. Die wirtschaftliche Si-            druck (»Nicht für die Armee, nicht für die Regierung«). Beide
    tuation ist miserabel, und sowohl die Korruption des Regimes als            Slogans endeten aber mit »mein Leben für den Iran«.
    auch die Sanktionen der USA nach dem Rückzug von US-Präsident
    Trump aus dem Atomabkommen 2018 sind dafür mitverantwort-
                                                                                »Das war mein General«
    lich. Die Mieten in der Hauptstadt Teheran sind im Verhältnis zum
    Durchschnittslohn kaum bezahlbar. Vielen erscheint Migration als            tt Das Regime reagierte mit brutaler Gewalt: Sicherheitskräfte
    einziger Ausweg aus der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit.               schossen ohne Vorwarnung mit scharfer Munition auf Demonst-

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Der Lauf der Mode - Ästhetik & Ausbeutung - Außerdem t Proteste in Irak/Iran t Ausstellung "Fiktion Kongo" t Interview mit Léonora Miano
Iran/Irak

Symbol des Protests: Das türkische Restaurant am Tahrir-Platz in Bagdad                                                        Foto: Hassan Majed

Ausweitung der Bewegung im Herbst 2019 zeigte sich, dass die                   Auch im Irak begehren nun immer mehr Bürger*innen gegen den
neue Generation die festgefahrenen konfessionellen und ethnischen              allumfassenden Einfluss von Religion und Klerus auf Politik und
Trennungen überwinden will. Wie schon im Arabischen Frühling                   Staat auf. Wie überall in der arabischen Welt schwindet die Akzep-
2011 spielt dabei ein für die ganze Region neues Verständnis von               tanz islamischer Parteien besonders unter Jugendlichen. »Die Tren-
Citizenship eine zentrale Rolle, ein Momentum, das in Europa üb-               nung von Religion und Staat ist wichtiger als die von Frau und
rigens nicht als solches wahrgenommen wurde. Mit Ausnahme von                  Mann«, brachte ein junger Demonstrant auf dem Tahrir-Platz in
Tunesien gibt es in keinem Land der gesamten MENA-Region eine                  Bagdad die Botschaft der Protestbewegung auf den Punkt.
Idee der Gleichheit der Bewohner*innen als freie und gleiche                       Die Demonstrierenden auf Iraks Straßen wollen nichts weniger
Staatsbürger*innen vor dem Gesetz, sondern Geschlecht und Kon-                 als eine Revolution, sie verlangen nicht nur politische Reformen,
fession bestimmen in zivil- und eherechtlichen Fragen.                         sondern grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. War Protest

rierende, teilweise von Helikoptern und Häuserdächern aus. Amnesty  Teilen der Bevölkerung als Bezwinger des Islamischen Staats verehrt.
International geht von mindestens 300 Todesopfern aus, ein Reu-     Seine große Popularität beruhte auch darauf, dass er sich als ein-
ters-Bericht spricht unter Berufung auf Quellen im iranischen In-   facher »Soldat der Revolution« bezeichnete, eine Präsidentschafts-
nenministerium von 1.500. Zur Unterbindung weiterer Proteste        kandidatur ablehnte und im innenpolitischen Konflikt zwischen
legte das Regime das Internet für etwa eine Woche fast vollständig  Moderaten und Hardlinern nicht auf eine Seite stellte, sogar per-
lahm. Die Universität von Teheran, traditioneller Unruheherd, glich sönliche Kontakte zu geächteten Unterstützern der »Grünen Revo-
an manchen Abenden einer belagerten Fes-                                               lution« aufrecht erhielt. Bereits kurz nach seinem
tung, und die Motorradmilizen der Basiji                                               Tod war sein Gesicht an jeder Ecke Teherans zu
streiften durch die benachbarten Straßen.          Trump hat dem religiösen            sehen, teils auf großen Videoleinwänden, teils in            5
    Im Dezember kam es vereinzelt zu wei-          Führer Khamenei einen               den Rückfenstern der Taxis, teils mit Sprüchen,
teren Protesten und Festnahmen, unter              großen Gefallen getan               die Vergeltung ankündigten, teils auf Bildern, die
anderem bei Trauerfeierlichkeiten für die                                              die Ankunft des Märtyrers im Paradies darstellten.
erschossenen Demonstrierenden. Sowohl                                                  Nur wenige Kritiker*innen wiesen auf Soleymanis
den Schusswaffeneinsatz gegen die eigene Bevölkerung als auch       Rolle bei der Stabilisierung des Assad-Regimes in Syrien und der
die Internetsperre hatte es in dieser massiven Form im Iran noch    blutigen Niederschlagung von Aufständen im Irak hin, konnten
nicht gegeben, selbst nicht in der unvergleichlich breiteren, orga- aber nicht riskieren, dies öffentlich zu tun. Die Menschenmassen,
nisierteren und länger anhaltenden »Grünen Revolution« nach der     die seinen Trauerzug begleiteten – es dürften mehr als eine Million
Wahl 2009, die ebenfalls gewaltsam niedergeschlagen worden war.     gewesen sein – können nicht allein auf die Rekrutierung von Staats-
    In dieser Situation kam das Attentat der USA Anfang Januar auf  bediensteten zurückgeführt werden. Viele, auch Moderate und
den Befehlshaber der Quds-Brigaden, Qassem Soleymani, dem           Oppositionelle, waren ehrlich betroffen und empört über die Arro­
Regime sehr gelegen. Soleymani, Architekt der iranischen Militär-   ganz des »großen Satans« USA. »Das war mein General«, sagte
strategie im Irak, in Syrien und im Libanon, wurde von weiten       beispielsweise die Soziologiestudentin Maryam.

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bisher weitgehend Männersache, beteiligen sich inzwischen auffäl-hatten. Als sich auch der einflussreiche irakische Klerus in Karbala
    lig viele junge Frauen und trotzen den Repressionen, die bislang zu
                                                                     und Najaf hinter die Demonstrierenden stellte und den Abzug aller
    über 400 Toten und zehntausend Verletzten geführt haben. Auf     fremden Truppen, also auch der iranischen, aus dem Land forder-
    dem Tahrir-Platz in Bagdad herrsche schon jetzt eine Gleichberech-
                                                                     te und den Rücktritt von Premier Adel Abdel Mahdi erzwang,
    tigung, die man für die ganze Gesellschaft wolle, heißt es immer wurde die Lage für Teheran bedrohlich.
    wieder in Gesprächen mit Demonstrantinnen. Dabei gebe es keinen      Der schiitische Klerus im Irak wird für die Machthaber im Iran
    Ausschluss, die meisten Protestschilder auf dem Tahrir-Platz in  seit Jahren zu einem wachsenden Problem. Traditionell vertreten
    Bagdad sind zweisprachig in Arabisch und Kurdisch geschrieben.   irakische Ayatollahs eine theologische Sicht, die im Gegensatz zur
    Und immer wieder berichten mitdemonstrierende Yesidi*innen und   Lehre Khomeneis von der Statthalterschaft der Rechtsgelehrten
    Christ*innen, wie willkommen sie geheißen werden.                (Welāyat-e Faqih) steht. Laut irakischer Schia sollen Kleriker lediglich
                                                                     beratende und moralische Vorbilder sein, nicht aber selbst regieren.
                                                                     Deshalb unterstützt die Mehrheit der Kleriker im Irak seit 2003 die
    Aufstand gegen iranischen Einfluss
                                                                     demokratische Verfassung des Landes, und selbst religiösen Partei-
    tt Als im Herbst Milizen, die formal der irakischen Regie-                                           en käme es nie in den Sinn, Kleriker
    rung unterstellt sind, de facto aber ihre Befehle aus dem                                            in die Regierung zu entsenden.
    Iran erhalten, auf Demonstrierende schossen, entlud sich   Die Solidarität im Irak                   Indem die Ayatollahs im Irak offen
    die angestaute Wut gegen die eigene Regierung auch         mit den jüngsten Protesten                die iranische Einmischung und die
    gegen die des östlichen Nachbarlandes: In Najaf zünde-     im Iran ist groß                          Gewalt gegen die Protestbewe-
    ten Protestierende mehrmals das iranische Konsulat an,                                               gung kritisierten, legitimierten sie
    überall gingen Bilder von Ayatollah Khomeini und Ali                                                 sie als keineswegs »gottlos« oder
    Khamenei in Flammen auf und wurden die Büros irantreuer Partei-  vom Westen gesteuert, wie es die proiranische Propaganda gerne
    en und Milizen zerstört. Iranische Waren werden seitdem mittels  verbreitet. Konnte sich die Islamische Republik Iran bisher immer
    der gezielten Kampagne »Lasst sie verfaulen« boykottiert.        als Sprachrohr der Schiit*innen in der arabischen Welt inszenieren,
       Diese offene Ablehnung überraschte die Machthaber im Iran,    hat sie es nun mit Demonstrationen zu tun, die sich ganz dezidiert
    die den Irak bislang weitgehend unter ihrer Kontrolle geglaubt   gegen ihren Einfluss richten. Umso größer war daher auch die
                                                                                       Solidarität auf irakischen Straßen mit den jüngsten
                                                                                       Protesten im Iran, die mit bislang unbekannter
                                                                                       Radikalität das Teheraner Regime kritisierten und
                                                                                       ein Ende seiner theokratischen Verfassung for­
                                                                                       derten.
                                                                                       Je blutiger Sicherheitskräfte im Irak gegen die
                                                                                       Protestierenden vorgehen, desto entschlossener

                                                                                                                          John Bolton, mit dem Attentat auf Soleymani sei
                                                                                                                          der Regime Change im Iran näher gerückt, könn-
                                                                                                                          te kaum weiter daneben liegen.
                                                                                                                          Erschreckend deutlich wurde in der Reaktion auf
                                                                                                                          den Drohnenangriff auf Soleymani, wie verbreitet
                                                                                             Foto: Laleh Ardestaninejad

                                                                                                                          Nationalismus selbst bei jenen Iraner*innen ist,
                                                                                                                          die dem Regime kritisch bis ablehnend gegen-
                                                                                                                          überstehen. Auch wenn sie das Regime für korrupt
6                                                                                                                         und undemokratisch halten, empfinden viele (ab-
                                                                                                                          gesehen von einer linken Minderheit) einen Angriff
                                                                                                                          auf Funktionäre des ungeliebten Staates doch als
                                                                                                                          einen Angriff auf eine Gemeinschaft, zu der sie
    Die Wut auf das Regime ist groß: Abgefackelte Bank in Nahsimshahr bei Teheran                                         sich zugehörig fühlen. »Der Zauber der Ideologie«
                                                                                                                          sei dies, meinte ein befreundeter Anthropologe.

    Insofern hat US-Präsident Trump dem religiösen Führer der Islami-
                                                                                   Ein unverzeihlicher Fehler
    schen Republik, Ajatollah Khamenei, einen unschätzbaren Gefallen
    getan. Trump hat eine ungeahnte nationale Mobilisierung für den                tt Doch die Freude auf Seiten des Regimes kann nicht lange an-
    »Kriegshelden« Soleymani ebenso ermöglicht wie ein Comeback                    gehalten haben. Nach dem moderat ausgefallenen Vergeltungs-
    angestaubter außenpolitischer Feindbilder, die beide die massive               schlag der iranischen Regierung hat diese zwar drei Tage lang
    innenpolitische Krise verdrängt haben. Niemand hat mehr über                   beteuert, mit dem wenig später abgestürzten ukrainischen Passa-
    Benzinpreise geredet. Die Einschätzung des US-Sicherheitsberaters              gierflugzeug nichts zu tun zu haben. Unter erdrückenden Bewei-

                                                                 iz3w • März / April 2020 q 377
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Iran/Irak

scheinen diese, ihre besetzten Plätze zu verteidigen. Kompromis-            dass sie vermutlich selbst mit gutem Willen, der innerhalb des
se mit der Regierung scheinen deshalb immer unwahrscheinlicher.             Machtapparates nirgends zu erkennen ist, nicht reformierbar
Die Wut nimmt zu, während die Parteien in Bagdad bislang keinen             wären. Zudem fehlt es zwischen Demonstrierenden und System
Ausweg aus der Krise finden. Monatelang stritten sie um die                 an vermittelnden Institutionen und Akteur*innen.
Nachfolge des zurückgetretenen Premiers. Selbst wenn nun eine                  Vor einem ähnlichen Dilemma standen die Aktivist*innen des
Regierungsbildung gelingt, wird diese mit an Sicherheit grenzen-            Arabischen Frühlings schon vor knapp zehn Jahren; seitdem hat
der Wahrscheinlichkeit nicht nur von der Straße abgelehnt, sondern          die Situation sich keineswegs verbessert. Die meisten Staaten der
sich als unfähig erweisen, die geforderten Reformen umzusetzen.             Region haben weiter abgewirtschaftet und sind bankrott. Die
Denn würde eine neue Regierung auch nur partiell den Forderun-              Gesellschaften sind tief gespalten in zwei unversöhnliche Lager:
gen der Straße nachkommen, müsste sie in der Lage sein, sich                Die Gegner*innen der herrschenden (Un-)Ordnung und deren
souverän gegenüber dem Iran zu zeigen.                                      überall schrumpfende Anhängerschaft. Letztere verfügt zwar über
                                                                            Waffen, Geld und den erklärten Willen zum unbedingten Macht-
                                                                            erhalt, hat in den Augen großer Teile der Bevölkerung aber jedwe-
Keine guten Perspektiven
                                                                            de Legitimität verloren. Währenddessen fällt es den Apparaten
tt  Herrschte 2011 während des Arabischen Frühlings noch der                zunehmend schwerer, ihr Klientel mit Gratifikationen bei der Stan-
Glaube, eine bessere Zukunft hinge nur vom Sturz der bestehen-              ge zu halten.
den Regimes ab, haben die Erfahrungen der vergangenen Dekade                   Trotz der Schwäche der alten Systeme gibt es aber keine guten
gelehrt, dass sich die miserable Situation damit nicht ändert,              Perspektiven für die Protestbewegung. Sie steht weitgehend isoliert
sondern kurzfristig oft sogar eher verschlechtert. Solche Illusionen        da, mit nennenswerter internationaler Unterstützung kann sie nicht
gibt es heute nicht mehr: Die neue Generation, ob im Irak oder              rechnen. Wer sich außerdem mit dem Iran anlegt, hat es mit einem
anderen Ländern der Region, ist aufgewachsen in dysfunktionalen             Gegner zu tun, der zu allem bereit scheint, um Macht und Einfluss
Trümmerlandschaften. Die jungen Leute mussten miterleben, wie               zu bewahren. Auch wenn sich die Demonstrierenden im Irak den
Syrien zerbombt wurde, Jemen in Chaos versank und der Islamische            Sicherheitskräften und Milizen bisher eindrucksvoll entgegenstellten,
Staat seine Terrorherrschaft ausübte. Sie kennen nur wirtschaftliche        wird ihr Widerstand nicht ewig währen. Einfach nur gewaltsam
Misere, Massenflucht und ein politisches Establishment, das sich            niederschlagen lässt diese Protestbewegung sich aber auch nicht,
hemmungslos selbst bereichert, aber ihnen nichts zu bieten hat.             wie die letzten Wochen zeigten. Das wissen die Machthaber. Eine
Abgesehen von der Brutalität, mit der die eigene Regierung gegen            Rückkehr zum alten Status quo scheint somit ebenfalls undenkbar.
jede Dissidenz vorgeht, bleiben meist nur abgegriffene Parolen
von ‚Widerstand und Kampf gegen Imperialismus und Zionismus‘.
    Dieser »alte Nahe Osten« liegt in Agonie darnieder und reagiert         tt Thomas von der Osten-Sacken ist Publizist und Geschäfts-
reflexhaft mit Gewalt und Propaganda auf die sich verschärfenden            führer der im Irak aktiven NGO WADI. Eine längere Fassung dieses
Krisen. Die bestehenden Strukturen sind inzwischen so marode,               Beitrags steht auf www.iz3w.org.

sen musste sie schließlich doch eingestehen, dass ein »bedauer-            Die Zahl der Protestierenden scheint mit bestenfalls einigen Tausend
liches Versehen« des Militärs für die 176 Toten verantwortlich war.        nicht allzu groß. »Aber wenn es eine Garantie gäbe, dass Polizei,
Einige Journalist*innen staatlicher Medien erklärten daraufhin             Milizen und Revolutionswächter die Leute in Ruhe lassen, würden
ihren Rücktritt. Ungeachtet der brutalen Gewalt im November                morgen fünf Millionen Menschen auf die Straße gehen«, versichert
begannen erneut Proteste in mehreren Städten, bei denen unter              Reza, der in einer linken politischen Gruppe aktiv ist.
anderem skandiert wurde: »Unser Feind ist hier, sie lügen wenn                Ein interessantes Detail in diesem Zusammenhang ist, dass der
sie sagen dass es Amerika ist«, »Wir wollen keine islamische Re-           Versuch einer erneuten antiamerikanischen und antiisraelischen
publik« und »Tod dem Diktator«. Dass einige der Protestierenden            Mobilisierung an der Beheshti Universität in Tehran im Januar nach
eine Woche vorher bei den Trauerfeierlichkeiten dabei waren,               hinten losging: Die meisten Studierenden vermieden es, auf die           7
empfanden sie nicht als Widerspruch. »Was die USA gemacht                  auf den Boden gemalten Flaggen der USA und Israels zu treten.
haben, ist einfach nicht in Ordnung. Das ist Imperialismus«, sagt          Eine klare Botschaft, sich nicht mehr für die Staatsideologie inst-
Abdullah, ein Medizinstudent. Andere jedoch rissen die Bilder              rumentalisieren lassen zu wollen.
Soleymanis von den Wänden. Auch diese Proteste wurden nie-                    Ungeachtet der erfolgreichen Mobilisierung nach dem Tod
dergeschlagen, diesmal allerdings mehr mit Tränengasgranaten               Soleymanis kann sich das Regime weitgehend nur noch auf
als mit tödlicher Munition.                                                ­Dominanz und Gewalt stützen, aber nicht auf Zustimmung und
    Zwar hat Irans Präsident Rouhani den Abschuss als »unverzeih-           Hegemonie. Bislang jedoch hält diese Stütze noch.
lichen Fehler« bezeichnet, in seiner Ansprache im Freitagsgebet
nahm der religiöse Führer Khamenei jedoch das Militär vor den
Vorwürfen in Schutz – auch wenn er nicht so weit ging wie der              tt Laleh Ardestaninejad ist Politikwissenschaftlerin, derzeit an
seinerzeitige US-Vizepräsident George Bush senior, der 1988 den            einer Teheraner Universität. Sie hat mit zahlreichen Protestierenden
Abschuss einer iranischen Passagiermaschine durch ein US-Kriegs-           gesprochen.
schiff als »angemessenes Verhalten« rechtfertigte.

                                                           iz3w • März / April 2020 q 377
Der Lauf der Mode - Ästhetik & Ausbeutung - Außerdem t Proteste in Irak/Iran t Ausstellung "Fiktion Kongo" t Interview mit Léonora Miano
Damals mag die Parole noch gestimmt haben: Anhänger von Morales 2013 in Cochabamba                                         Foto: Fernanda LeMarie

    »Ein kollektiver Aufschrei«
    In Bolivien vertieft sich die gesellschaftliche Spaltung

    Seit der Absetzung von Evo Morales und der Ernennung von                     2016, das ihm dies verbot, hinweggesetzt hat. Doch trotz alledem
    Jeanine Áñez zur Präsidentin Boliviens antwortet die Regierung               lässt der Lokalaugenschein wenig Zweifel am repressiven Charakter
    auf Kritik und Widerstand mit Repression. Ein Lokalaugen-                    der Áñez-Regierung: Die Menschen berichten über Verfolgung,
    schein in der Hauptstadt La Paz und dem benachbarten El Alto                 Einschüchterungen und revanchistische Übergriffe durch die Polizei.
    bringt tiefgreifende Konflikte der Gesellschaft zum Vorschein.               Vor allem aber ist eine Art ständiger Ausnahmezustand spürbar, ein
                                                                                 Zustand des permanenten Misstrauens, der Unsicherheit und Des-
                                                                                 orientierung.
    von Tobias Boos                                                                  In der Woche zuvor hatte die Repression gegen die Anhänger*innen
                                                                                 von Morales durch die de-facto-Regierung unter Áñez ihren Höhe-
    tt La Paz/El Alto, Ende November 2019: Benzin und einige Lebens-             punkt erreicht. Die verschärfte Versorgungslage hatte das Militär
    mittel sind Mangelware, bedingt durch Straßenblockaden in den                dazu veranlasst, die Blockade einer Gasspeicherstation in El Alto
8   umliegenden Provinzen und in El Alto. Bis zum Tag vor meiner                 gewaltsam aufzulösen. Bei diesem »Massaker von Senkata« wurden
    Ankunft war auch die Zufahrt des Flughafens teilweise blockiert.             acht Menschen getötet und es gab zahlreiche Verletzte. Den Trauer­
    Die Lage ist schwer zu überschauen. Seit zwei Wochen ist die                 marsch hinunter nach La Paz zwei Tage nach den Ereignissen in
    rechte Regierung unter Jeanine Áñez im Amt. Die bestimmende                  Senkata stoppte das Militär mit Tränengas, so dass die Marschie-
    Frage in internationalen Medien dazu lautet: »War es ein Putsch              renden die Särge bei ihrer Flucht zurücklassen mussten.
    oder nicht?«.                                                                    Ähnlich brutal gingen Polizei und Militär in Sacaba im Departa-
       Nicht wenige Beobachter*innen verwiesen zu Recht auf voran-               mento von Cochabamba vor. Die Bilanz: 32 Tote, 832 Verletzte und
    gegangene fragwürdige Vorgehensweisen der bisherigen Regie-                  1513 Festgenommene innerhalb von knapp zwei Wochen verzeich-
    rungspartei von Morales, dem MAS (Movimiento al Socialismo).                 nete die Delegation des Parlasur, die in jenen Tagen angereist war,
    Die MAS-Regierung hatte soziale Bewegungen und Organisationen                um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Gedeckt wur-
    demobilisiert und gespalten, die ursprünglich zur Unterstützer*innen­        de der Einsatz der Sicherheitskräfte durch ein Dekret der de-facto-
    schaft von Morales zählten. Berechtigten Unmut gab es auch da-               Präsidentin, welches sie unmittelbar nach ihrer Ernennung erlassen
    rüber, dass Morales im Oktober 2019 erneut zu den Wahlen ange-               hatte: Jenen Militärs, die bei der »Herstellung der inneren Ordnung
    treten war und sich damit über das verlorene Referendum von                  und öffentlichen Stabilität« helfen, wurde Straffreiheit zugesichert.

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Bolivien

Zwei Wochen später musste Áñez das Dekret jedoch auf interna­                eine Restaurantbesitzerin. Von falschen Angaben über die existie-
tionalen Druck hin wieder zurücknehmen.                                      renden Gasvorkommen und manipulierten Zahlen über die Staats-
    Nachdem die de-facto-Regierung gemeinsam mit den MAS-                    schulden ist die Rede. Der Diskurs des »Fraude«, des Wahlbetrugs
Abgeordneten ein Wahlgesetz verabschiedete, kehrte ein wenig                 durch Morales, dreht sich schon lange nicht mehr allein um die
Alltag ein. Doch unter der Oberfläche sind die gesellschaftlichen            Wahlen. Stattdessen stellt er die wirtschaftlichen und sozialpolitischen
Spaltungen nicht zu übersehen. Wahrnehmungen und Beschrei-                   Errungenschaften der Morales-Regierung grundlegend infrage.
bungen der Ereignisse in den vergangenen Wochen könnten un-                     Einen gewichtigen Anteil an diesen gegensätzlichen Wahrneh-
terschiedlicher nicht sein. Worin jedoch die meisten übereinstimmen,         mungen haben die Medien. Auch die MAS-Regierung hatte in den
ist, dass sich die aktuelle Lage nicht in einer Frontstellung zwischen       Jahren zuvor versucht, die Medien zu beeinflussen. Mittels bezahl-
Regierung und MAS erschöpft.                                                 ter Anzeigen wurden gewogene Medien gefördert, während die
                                                                             Sprachrohre der alten Eliten teilweise außen vor blieben. Auch
                                                                             deshalb schlugen diese sich unmittelbar nach dem Putsch auf die
»Wut und Empörung«
                                                                             Seite der de-facto-Regierung. Statt kritische Fragen zu stellen,
tt  Die Missachtung der Verfassung durch die MAS-Regierung und               übernehmen die großen Medien des Landes derzeit einfach die
die Ränkespiele, um die Kandidatur von Morales ein weiteres Mal              Version der Regierung. Nach dem Massaker von Senkata in El Alto
zu ermöglichen, werden teilweise auch von MAS-Sympathisant*innen             und den Toten in Sacaba machten sie sich kurzerhand die Erzählung
skeptisch gesehen. Allerdings hatte niemand erwartet, dass sich              der Regierung zu eigen, in der die Demonstrant*innen als bewaff-
die Ereignisse so überschlagen würden. Stadtteil-Aktivist*innen aus          nete Terrorist*innen dargestellt wurden.
El Alto berichten, dass sie die Proteste der Opposition gegen Mo-
rales im Nachgang der Wahlen zunächst relativ gelassen betrach-
                                                                      Der erste digitale Krieg
teten. Dann wurden sie jedoch von den Ereignissen überrollt. Der
Putsch und die Flucht von Evo Morales, erst nach Chapare und          tt Alternative Medien und ausländische Journalist*innen werden
dann aus dem Land, sorgten für viel Empörung und Trauer. »Ein         hingegen kriminalisiert. Aktivist*innen eines Stadtteilradios in El Alto
kollektiver Aufschrei« sei an jenem 10. November durch El Alto        berichten von Drohungen in den Sozialen Medien. Ähnliches
gegangen. Die emotionale und beinahe familiäre Verbundenheit          ­wiederfuhr auch einem Journalisten der linken Onlinezeitung La
mit »ihrem« Präsidenten Evo wog in diesem Moment stärker als           Izquierda Diario. Per Whatsapp seien er und seine Kolleg*innen in
jede Kritik, die man in der Vergangenheit                                                    den letzten Wochen bedroht worden. Die
an der MAS-Regierung gehabt haben mag.                                                       Polizei wiederum akzeptiert ihre Akkreditie-
    Für viel Wut sorgt aber vor allem auch,       Die    großen   Medien                     rungen häufig nicht, klagt er.
was folgte: Abwertende Äußerungen der             übernehmen derzeit einfach                 Die Rolle der digitalen Medien im derzeitigen
Putschregierung hinsichtlich der indigenen        die Version der Regierung                  Konflikt ist in Bolivien neuartig. Aktivist*innen
Kultur, gegen die sie die Bibel in Stellung                                                  und Mitarbeiter*innen von NGOs sprechen
brachte, die symbolische Verächtlichma-                                                      vom »ersten digitalen Krieg« in der politischen
chung der Wiphala, wie die Flagge der Indigenen genannt wird,          Geschichte Boliviens. In den sozialen Netzwerken zirkulieren mas-
rassistische Übergriffe durch Polizei und Zivile – all das wurde von   senhaft Falschnachrichten. Diese finden dann häufig ihren Weg in
vielen in El Alto als tiefe Erniedrigung empfunden. Einen organisa-    die reichweitenstarken Medien. Auch ich werde während dieser
torischen Ausdruck hat die daraus resultierende Wut noch nicht         Tage Zeuge der Effekte dieser Berichterstattung. Immer wieder
gefunden. Eines versichern die Leute jedoch: Sie seien nicht mehr      zeigen mir Gesprächspartner*innen Falschnachrichten, die sie per
dieselben wie noch vor zwanzig Jahren: »Nie wieder werden wir          Handy erreichen. Página Siete, eine der wichtigsten Tageszeitungen
so auf uns herumtrampeln lassen.«                                      des Landes, verbreitet aus dem Internet aufgegriffene Falschmel-
                                                                       dungen über eine der Menschenrechtsdelegationen, die ich in jenen
                                                                       Tagen begleite. Organisationen wie InternetBolivia dokumentieren
»Betrug« durch indigene »Horden«
                                                                       Vorfälle bei Demonstrationen, bei denen die Polizei Teilnehmende
tt Die Stimmung in den Stadtteilen der Mittelklasse von La Paz ist     zur Herausgabe ihrer Handys auffordert und diese nach »verdäch-
hingegen eine andere. In den Tagen der Proteste geisterten Berich-     tigen Material« durchsucht. Aktivistinnen eines feministischen Kol-
te durch die Medien und sozialen Netzwerke über Plünderungen           lektivs erzählen mir von ähnlichen Vorfällen; sie löschen ihre Chats
durch die »Horden der MAS«, die aus den Bergen hinabsteigen            und Fotos regelmäßig.                                                            9
würden, um die Stadt zu verwüsten. Bekannte berichten von einer           Mittlerweile hat die de-facto-Regierung für den 3. Mai Neuwah-
beinahe psychotischen Stimmung der Angst in jenen Tagen. Als           len angekündigt. Auch wenn Morales nicht mehr antreten darf,
sich der Staub etwas gelegt hatte, blickte man sich um und war         wird die MAS kandidieren. Inwieweit sie die Kraft für eine politische
teilweise erschrocken über das eigene Verhalten – hatte man sich       Erneuerung aufbringt, bleibt abzuwarten. Der Wahlausgang wird
doch auf die Seite der sonst nicht sehr vertrauenserweckenden          aber vor allem davon abhängen, ob die Rechte es schafft, einen
Polizei geschlagen und fälschlicherweise gehofft, dass diese für       gemeinsamen Kandidaten aufzustellen. Die Verhandlungen im
Recht und Ordnung sorge. Dass die eigene Kritik an der Morales-        Hintergrund haben bereits im Dezember begonnen. Immer mehr
Regierung von den alten Eliten vor allem aus dem Osten des             Kandidat*innen beginnen Ansprüche anzumelden. Der Zugriff auf
Landes und einer rechtsextremen Agenda gekapert wurde, ist für         die Gas- und Lithiumvorräte des Landes ist verlockend.
viele mittlerweile offensichtlich.
    Andere hingegen sind froh, dass »die korrupte Regierung« von
Morales endlich weg ist. Ein einziger riesiger »Betrug« seien die      tt Tobias Boos ist Politikwissenschaftler im Bereich Internationale
letzten Jahre gewesen, sagten mir zum Beispiel ein Taxifahrer und     Politik an der Universität Wien.

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Co s t a R i c a

     Sodom und Gomorra im Tropenparadies
     Progressive Reformen in Costa Rica erzürnen die Rechte

     Die costa-ricanische Regierung hat eine rechtliche Grauzone               forderte die Regierung unter dem Präsidenten Solís auf, das durch
     zum medizinischen Schwangerschaftsabbruch geschlossen.                    die Verfassung gedeckte Recht auf Schwangerschaftsabbruch zu
     Konservative, Evangelikale und die katholische Kirche laufen              garantieren.
     Sturm gegen die vermeintliche Legalisierung der Abtreibung.
     Dies ist nur ein weiterer Akt in einer Reihe von Auseinander-
                                                                               Religiöse gegen Reformen
     setzungen, die zwischen der sozialdemokratischen Regierung
     und der konservativen Opposition ausgetragen werden.                 tt Mit der neuen Technischen Norm wurde dies nun getan. Sie
                                                                          definiert und regelt die medizinischen Abläufe und das Verfahren
                                                                          einer eventuellen Abtreibung. Mit dem Gesetz bleiben aber weiter­
     von René Thannhäuser                                                 hin nur Schwangerschaftsabbrüche bei Gefährdung der Gesund-
                                                                          heit oder des Lebens der Mutter straffrei. Costa Rica bleibt damit
     tt Einem Teil der costa-ricanischen Gesellschaft wird der 12. De-    im internationalen Vergleich weiterhin eines der repressiveren
     zember 2019 als Tag des modernen Sündenfalls des Landes in           Länder.
     Erinnerung bleiben. An diesem Tag unterzeichnete Präsident ­Carlos       Deshalb äußern auch Feminist*innen Kritik an der Technischen
     Alvarado die »Technische Norm über die medizinische Unterbre-        Norm. Die Anwältin und Menschrechtsaktivistin Larissa Arroyo fasst
     chung der Schwangerschaft«. Der evangelikale Parlamentsabge-         diese wie folgt zusammen: »Die Technische Norm und der legale
     ordnete Jonathan Prendas kommentierte dies so: »Sie sind eine        Schwangerschaftsabbruch sind zwei verschiedene Kämpfe, die
     Schande der Nation und haben das Land in Trauer gestürzt«. Auch      jedoch unter demselben Schirm des Selbstbestimmungsrechtes
     die costa-ricanische Bischofskonferenz positioniert sich eindeutig:  geführt werden. Der Zugang zu straffreien Schwangerschaftsab-
     Katholik*innen, die die Technische Norm unterstützen, soll künftig   brüchen ist das mindeste, was in einem Land gefordert werden
     der Empfang der Kommunion während der Heiligen Messe ver-            kann, in dem dieser bereits durch das Strafgesetzbuch von 1970
     weigert werden.                                                      als Recht anerkannt ist.«
         Nach einem Gesetz von 1970 sind Abtreibungen in Costa Rica           Der harsche Protest der selbsternannten »Front für das Leben«
     strafbar. Mit Artikel 121 des Strafgesetzbuchs wurden jedoch zwei    gegen diese vermeintliche Legalisierung der Abtreibung überrascht
     straffreie Ausnahmen bestimmt, nämlich die Abtreibung im Fall        nicht. Seit ihrem erstmaligen Regierungsantritt 2014 hat die sozi-
     der Gefährdung des Lebens oder der                                                aldemokratische PAC progressive gesellschaftspolitische
     Gesundheit der Mutter. In dem Gesetz                                              Reformen unternommen, mit denen sie die konserva-
     wurden jedoch keine Vorgaben zu den             Jährlich werden mehr              tiven Sektoren des Landes gegen sich aufgebracht hat.
     Regularien der Eingriffe gemacht. Diese         als 24.000 illegalisierte         So schaffte es eine Gruppe linker Parlamentarierinnen,
     rechtliche Grauzone und die stark durch         Eingriffe vorgenommen             dass die Beschränkung für den Verkauf der »Pille da-
     die katholische Kirche beeinflusste öf-                                           nach« aufgehoben wurde. Außerdem wurde ein die
     fentliche Meinung sorgten dafür, dass                                             Diversität lehrender Sexualunterricht in Schulen vor-
     es in Costa Rica keine öffentlichen Kliniken und niedergelassenen    angetrieben. Zudem erlaubte ein Gericht 2015 eingetragene
     Ärzt*innen gab, die auf offiziellem Wege Abtreibungen durchführ-     Partnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare. Evangelikale und
     ten. Schwangerschaftsbrüche wurden bisher also illegal und im        die katholische Kirche befinden sich seitdem in einem regelrechten
     Geheimen durchgeführt. Schätzungen gehen davon aus, dass in          Krieg gegen die PAC und die progressiven Milieus des Landes.
     dem fünf Millionen Einwohner*innen zählenden Land jährlich mehr      Diese betrieben eine »Frühsexualisierung der Kinder« und zersetz-
     als 24.000 solcher Eingriffe vorgenommen werden. Jedes Jahr          ten mit ihrer »Gender-Ideologie« die traditionelle Familie sowie
10   sollen etwa 5.000 Frauen Krankenhäuser aufgrund von Komplika-        die von Gott gewollte Verbindung zwischen Mann und Frau.
     tionen während einer Abtreibung aufsuchen.
         Die Regierung unter Präsident Carlos Alvarado von der sozial-
                                                                          IDH-Urteil beeinflusste Wahlkampf
     demokratischen PAC hat nun ein Wahlkampfversprechen von 2018
     eingelöst. Dieses geht noch auf die Vorgängerregierung unter         tt 2018 war die PAC angeschlagen in den Wahlkampf für die Par-
     ­Alvarados Parteikollegen Luis Guillermo Solís (2014 – 2018) zurück. laments- und Präsidentschaftswahlen gestartet. Mitten in den
      Zwei Frauen hatten 2007 und 2013 vor der Interamerikanischen        Wahlkampf fiel am 9. Januar 2018 eine Resolution des in Costa Rica
      Kommission für Menschenrechte (CIDH) Klage gegen Costa Rica         ansässigen Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte
      erhoben. Beide Frauen hatten Schwangerschaftskomplikationen         (IDH), die den gesamten Wahlkampf auf den Kopf stellte. Das IDH
      und bekamen schon früh diagnostiziert, dass ihre Kinder außerhalb   urteilte, dass Costa Rica die Ehe auch für gleichgeschlechtliche
      der Gebärmutter nicht lebensfähig sein würden. Es war jedoch        Paare öffnen müsse und befand außerdem, dass Transpersonen ein
      nicht möglich, Ärzt*innen zu finden, die einen Schwangerschafts-    hürdenfreier Wechsel des juristischen Geschlechts zustünde.
      abbruch durchführen wollten. Auch Klagen der beiden Frauen vor          Das Urteil polarisierte die Bevölkerung (siehe iz3w 366) und
      dem costa-ricanischen Verfassungsgericht scheiterten. Die CIDH      Carlos Alvarado, Kandidat der PAC und klarer Befürworter des

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Proteste für das Recht auf Abtreibung                                                                            Foto: Aborto Legal Costa Rica

Gerichtsurteiles, und Fabricio Alvarado, ein evangelikaler Prediger,  Die Regierung von Carlos Alvarado hat seit ihrem Amtsantritt 2018
schafften es unerwartet in die zweite Runde der Präsidentschafts-     Maßnahmen vollzogen, die die Konservativen weiter erzürnt haben,
wahl. Beide Kandidaten dümpelten in Umfragen zuvor abgeschla-         wobei der Erlass der Technischen Norm über den Schwangerschafts-
gen im einstelligen Prozentbereich.                                                         abbruch nur die letzte ist. Die Regierung folg-
Fabricio Alvarado führte dann einen                                                         te der Weisung des IDH und verabschiedete
aggressiv antifeministischen, homo-          Nur 10 Prozent der Bevölkerung                 ein Gesetz, welches mit Gültigkeit zum 26.
und transphoben Wahlkampf.                   befürworten die komplette                      Mai 2020 die gleichgeschlechtliche Ehe zu-
    Carlos Alvarado gewann die zweite        Legalisierung von Abtreibung                   lässt. Mit Enrique Sánchez ist zum ersten Mal
Runde der Präsidentschaftswahl im                                                           ein offen homosexueller Minister ernannt
März 2018 schließlich deutlich, wenn-                                                       worden. Zur Frauenministerin hat Alvarado
gleich seine Partei nach starken Verlusten nur noch die drittgrößte   die linke Feministin Patricia Mora ernannt. Sie war in der vergan-
Fraktion im Parlament stellt. Das Ergebnis für seinen evangelikalen   genen Legislaturperiode eine der Wortführerinnen der Gruppe von
Kontrahenten wiederum deutet auf eine massive politische Ver-         Parlamentarierinnen, die die gesellschaftspolitisch progressiven
schiebung hin. Wie überall in Lateinamerika wächst die Gruppe der     Reformen vorangetrieben hatte.
Evangelikalen auch im traditionell römisch-katholischen Costa Rica       Aber der Rückhalt für den Präsidenten schwindet, zumal er nicht
rasant, dennoch machen sie nach neuesten Schätzungen nur etwa         nur die Konservativen gegen sich aufgebracht hat. Als Maßnahme
ein Viertel der Bevölkerung des Landes aus. Fabricio Alvarado         gegen die hohe Staatsverschuldung beschloss die Regierung am
konnte jedoch fast 40 Prozent der Stimmen auf sich vereinen und       3. Dezember 2018 eine Fiskalreform. Daraufhin kam es in Costa
seine Partei, die ultrakonservative PRN, zog als zweitstärkste Partei Rica zum Generalstreik. Als Reaktion hat nun das costa-ricanische
ins Parlament ein.                                                    Parlament am 9. Januar dieses Jahres Regierungsplänen zugestimmt,
                                                                      die eine Einschränkung des Streikrechts vorsehen.
                                                                         Die einzigen Parteien, die sowohl den Generalstreik der Gewerk-         11
Rechte auf dem Vormarsch
                                                                      schaften unterstützen als auch die Einschränkung des Streikrechts
tt Im konservativen Costa Rica sind sowohl die Aktualisierung des     ablehnten, waren die marginalisierte linke Frente Amplio sowie der
Abtreibungsrechts als auch die Gleichstellung der gleichgeschlecht-   evangelikale Block. Aus der generellen Unzufriedenheit der Costa-
lichen Ehe keine populären Themen. Je nach Umfragen unterstützt       Ricaner*innen über die wirtschaftliche Situation des Landes, der
nur ein Drittel bis 40 Prozent der Befragten die Legalisierung der    Entfremdung von Teilen der Arbeiter*innenklasse von der PAC und
»Homo-Ehe«. Während zwei Drittel der gläubigen Katholik*innen         der scharfen gesellschaftspolitischen Polarisierung könnte die ­Rechte
diese ablehnen, sind es unter Evangelikalen über 90 Prozent. Im       daher als große Gewinnerin hervortreten. Denn schon bei den
Fall des Schwangerschaftsabbruchs unterstützt eine Mehrheit des-      Wahlen 2018 zeigte sich: Gerade in ländlichen und ärmeren urba-
sen Möglichkeit bei Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit         nen Wahlkreisen, die bei den Wahlen 2014 noch Hochburgen der
der Mutter, also den rechtlichen Status Quo seit 1970. Die Legali-    Linken waren, konnten die Evangelikalen gewinnen.
sierung der Abtreibung auf Verlangen befürworten jedoch nur 10
Prozent der Costa-Ricaner*innen und keine der im Parlament
vertretenen Parteien.                                                 tt René Thannhäuser ist Soziologe und freier Journalist.

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Vergiftet und verkauft
     Die agrarökologische Bewegung in Südbrasilien gerät in Bedrängnis

     Agroindustrieller Soja-Anbau in Paraná                                                                                   Foto: Cleverson Beje

     Im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná zeigt eine starke                Sie haben sich nicht in das Paket der so genannten Grünen Revo-
     soziale Bewegung konkrete Alternativen zum agrarindustriel-               lution mit ihrem Einsatz von Pestiziden und synthetischen Dünge-
     len ­Modell auf. Vielen Menschen, die vorher nie eine Chance              mitteln integriert. Stattdessen haben sie Methoden entwickelt, um
     dazu hatten, wird damit die Möglichkeit gegeben, sich an der              im Einklang mit der Natur zu produzieren. Maßgeblich an dieser
     Weitergabe von Wissen zu beteiligen und an gesellschaftlichen             Entwicklung beteiligt ist die Landlosenbewegung MST (Movimen-
     Entscheidungen teilzuhaben. Doch nicht nur diese wichtige                 to dos Trabalhadores Rurais Sem Terra).
     Errungenschaft will die Regierung Bolsonaro zerstören.
                                                                               Für ein Leben ohne Pestizide
     von Mireille Remesch                                                Der Kampf um Land prägt diese Region seit vielen Jahrzehnten. In
                                                                         Brasilien besitzen etwa zehn Prozent der Bevölkerung rund 80
     tt Helena und Roque Goncalves Gandin bauen auf ihren zehn           Prozent des Landes. In Paraná haben tausende Familien ihr Land
     Hektar Land eine Vielfalt an Nahrungspflanzen an. Zuckerrohr,       beim Bau von Staudämmen an den Flüssen Cantu, Quiri und G      ­ uacu
     Maniok, Reis, Süßkartoffeln, Bohnen, Mais und weitere Gemüse-       verloren. Der bekannteste Staudamm ist Itaipu in Foz de Iguazu,
     und Obstsorten wachsen in ihrem Garten. Große Araukarien spen-      es ist der zweitgrößte der Welt. Auch im Zuge der Grünen Revo-
     den Schatten. Von März bis Juni werden die Pinhão genannten         lution verloren Kleinbauern und -bäuerinnen ihr Land.
     Früchte dieser Bäume geerntet. Es gibt Schweine, Hühner, Rinder,        Als Reaktion darauf gründete sich 1984 in Cascavel in Paraná
     Schafe und Fische. Verarbeitet wird all das von den Gandins selbst, die Landlosenbewegung MST.
     auf ihrem Hof. Sie schlachten die Tiere, stellen Schmalz her und        In Paraná liegt das größte Gebiet in Lateinamerika, in dem die
     produzieren Rohrzucker.                                             Agrarreform zum Tragen kam. In ihr wurde aufgrund der ungleichen
         Das Ehepaar lebt in Porto Barreiro, einem kleinem Ort in Süd-   Landverteilung eine Umverteilung und ein »Sozialer Nutzen« von
     brasilien im Bundesstaat Paraná. In ihrer Region sind sie Teil der  Land gesetzlich festgelegt. Unter der Präsidentschaft von Lula ­Inácio
     Bewegung für Agrarökologie1. Dies ist kein leichtes Unterfangen,    da Silva wurde 2004 der Nationale Plan der Agrarreform gestartet,
     denn allein in Paraná wurden im Jahr 2019 auf einer riesigen Fläche innerhalb dessen rund 500.000 Familien bis Ende 2007 Land er-
     von 5,5 Millionen Hektar Land gentech-                                                       hielten oder ihre Landtitel anerkannt wur-
12   nisch veränderte Soja (GV-Soja) ange-                                                        den. Dieser Prozess ist bereits mit Ende der
     pflanzt. Auch die Nachbarn der Gandins        Bolsonaro ließ direkt nach Amts-               Regierung Lula ins Stocken geraten. 2017
     bauen GV-Soja und Tabak an. Lässt man         antritt 290 neue Pestizide zu                  kam die Agrarreform in Brasilien laut einem
     den Blick über die Landschaft schweifen,                                                     Bericht des Nachrichtenportals UOL dann
     sieht man die Monokulturalisierung des                                                       vollständig zum Stillstand.
     Landes: Soja, Mais oder Weizen, soweit das Auge reicht. Nicht           Hauptaktivität der Landlosenbewegung ist die Besetzung von
     umsonst ist Brasilien der größte Pestizidmarkt der Welt, mit ver-   Land in Großgrundbesitz, das illegal angeeignet worden war,
     heerenden Folgen für die Bevölkerung vor Ort.                       oftmals zur bloßen Spekulation. »Grilagem« nennen Brasilianer*innen
         Und dennoch ist es in dieser Region gelungen, viele kleinbäuer­ diese Praxis der illegalen Landnahme. In Paraná sind rund 2,3
     liche Familien, Landlose und Indigene bei der Entwicklung von       Millionen Hektar Land davon betroffen. In Folge der Landbeset-
     nachhaltigen landwirtschaftlichen Methoden zu unterstützen und      zungen, mit denen Landlose (wieder) ein eigenes Stück Land
     den Weg für eine agrarökologische Landwirtschaft zu bereiten.       ­erlangen wollen, kommt es entweder zur rechtlichen Anerkennung
     Diese Entwicklung speist sich aus dem Widerstand vieler Bauern       im Zuge der staatlichen Agrarreform – oder zur Vertreibung durch
     und Bäuerinnen gegen die großflächige industrielle Landwirtschaft.   Privatmilizen und Militärpolizei.

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Brasilien

                                                                                                                Agrarökologisch angebauter
                                                                                                                Maniok, ein wichtiges
                                                                                                                Grund­nahrungsmittel in
                                                                                                                Brasilien.

                                                                                                                Foto: Jaine Amorin

Die MST hat über die Besetzung von Land viel dazu beigetragen,             sozialdemokratische Regierung der Arbeiterpartei (PT) unter Präsi-
dass Familien innerhalb der Agrarreform dauerhaft angesiedelt              dent Lula Inácio da Silva. Lula startete unmittelbar nach seinem
wurden. Derzeit leben in der Region mehr als 5.000 Familien in             Amtsantritt die Programme Fome Zero (Null Hunger) und Bolsa
legalisierten Assentamentos (Siedlungen), 4.000 Familien leben auf         Familia (Familienhilfe). Bedürftige Brasilianer*innen erhielten mo-
besetztem Land in Acampamentos (Camps). Letztere leben in                  natliche Zuschüsse und Hilfspakete und bekamen damit dauerhaft
ständiger Ungewissheit und können jederzeit von der Polizei ver-           Zugang zu Grundnahrungsmitteln. Einzige Bedingung für die
trieben werden. Unter dem jetzigen rechtsradikalen Präsidenten             Auszahlung der Gelder: Die Kinder mussten regelmäßig in die
Jair Bolsonaro hat sich die Lage für diese Menschen sehr zugespitzt.       Schule und zum Arzt.
Es ist mehr denn je ungewiss, ob sie endlich eigenes Land bekom-              Die Landlosenbewegung MST kämpfte gemeinsam mit Orga-
men. Anfang 2019 hat Bolsonaro per Dekret jegliche Art von                 nisationen wie CEAGRO, CAPA und ASSESOAR für die Etablierung
Landverteilung innerhalb des Nationalen Plans der Agrarreform für          von Programmen zur Unterstützung der Familienlandwirtschaft.
unbestimmte Zeit eingestellt.                                              Im Rahmen von Programmen wie PRONAF und PRONERA wurden
                                                                           zum Beispiel Kreditlinien für Kleinbauern und -bäuerinnen und
                                                                           Schulungen in Agrarökologie auf den Weg gebracht.
Agrarökologie stärkt soziale Bewegung
tt  In der MST-Siedlung »Assentamento 8 de Junho« leben 105
                                                                           Universitäten im ländlichen Raum
Familien. Zehn von ihnen praktizieren Agrarökologie. Eine dieser
Familien sind Darci und Marli Teresa da Silva, die dort seit 22 Jah-       tt  Und noch mehr wurde erreicht. Auf Druck der sozialen Bewe-
ren gemeinsam mit einem Bruder leben und seit 15 Jahren erfolg-            gungen öffnete 2009 die staatliche Universität UFFS (Universidade
reich 12,5 Hektar agrarökologisch bewirtschaften. Ihre Geschichte          Federal da Fronteira Sul) in Laranjeiras do Sul. Die Universität liegt
zeigt, wie Familien sich mit Agrarökologie unabhängig machen               in einer Siedlung der MST und verschafft dort bäuerlichen Fami­lien,
können. Anfangs haben sie mit 15 Kühen konventionell Milch                 Landlosen, Indigenen und insbesondere Frauen Zugang zu Bildung.
produziert. Doch dies hat für sie nicht gut funktioniert, obwohl sie       In Paraná ist sie eine von sechs staatlich geförderten Universitäten
die größten Milchproduzent*innen in der Siedlung waren. Noch               im ländlichen Raum mit Schwerpunkt Agrarökologie. Die Univer-
heute müssen sie den Kredit abbezahlen, der damals für die Pro-            sität arbeitet eng mit CEAGRO und ­ASSESOAR zusammen, mit dem
duktion notwendig war.                                                     Ziel, die Landbevölkerung zu stärken und in Agrarökologie auszu-         13
    Darci beschreibt das Problem so: »Wir haben nur Milch produ-           bilden.
ziert und nichts für die Ernährung der Familie.« Daraufhin hat er              Diese gemeinsamen Anstrengungen fruchteten, es wurden
eine Rechnung aufgemacht: Wie viel Geld müssen sie innerhalb               wichtige Ausbildungsprogramme zur Umsetzung von Agrarökolo-
von zehn Jahren für Einkäufe im Supermarkt ausgeben? Es zeigte             gie gestartet. Dabei liegt der Fokus neben der praktischen Arbeit
sich, dass Milchproduktion für den Markt nicht der richtige Weg            auch auf der politischen Bildung. Es geht darum, Wissen zu pro-
ist. Danach hat die Familie neu angefangen. Über die Arbeit der            duzieren, das zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Men-
Landpastorale CPT (Comissão Pastoral da Terra) kam es zum Um-              schen führt und Raum schafft für politische Teilhabe. Mithilfe von
denken zugunsten von Agrarökologie. Die CPT, eine Organisation             Agrarökologie konnten nicht nur die Einkommen der bäuerlichen
der Katholischen Kirche, fordert seit langem eine ökologische und          Familien erhöht und ihre Ernährung verbessert werden, sie half
soziale Ausrichtung der Landwirtschaft und setzt sich ebenfalls für        auch bei der Vernetzung und Organisierung von Menschen, was
die Landreform ein.                                                        wiederum die soziale Bewegung in Südbrasilien sehr stark machte.
    Seit dem Jahr 2000 wurde die agrarökologische Bewegung in                  Aus dieser Initiative heraus konnten sich in Parána Bauernmärk-
Paraná immer stärker. Unterstützung bekam sie ab 2003 durch die            te entwickeln und es entstanden Kooperativen – ein wesentlicher

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