Der Lauf der Mode - Ästhetik & Ausbeutung - Außerdem t Proteste in Irak/Iran t Ausstellung "Fiktion Kongo" t Interview mit Léonora Miano
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Der Lauf der Mode – Ästhetik & Ausbeutung März/April 2020 Ausgabe q 377 Außerdem t Proteste in Irak/Iran Einzelheft 6 6,– t Ausstellung »Fiktion Kongo« Abo 6 36,– t Interview mit Léonora Miano iz3w t informationszentrum 3. welt
In dies er Aus gabe . . . . . . . . . Schwerpunkt: Mode Titelbild: Brunel Johnson / unsplash 15 Editorial 16 Spinning around the world Baumwolle ist der Urstoff kapitalistischer Inwertsetzung von Sascha Klemz 19 Schneller! Fast Fashion ist Mode zum Wegschmeißen von den Fashion Lovers im iz3w 3 Editorial 20 Was zieht mich an? Gegen die Exklusivität der Mode Politik und Ökonomie von Dagmar Venohr 4 Iran/Irak I: Bagdads Tahrir-Platz 22 »Rechte sind modebewusst geworden« Die Situation im Irak ähnelt in vielem dem Interview mit Sarah Held über textile Codes und Botschaften Arabischen Frühling 24 Fashion Victims oder starke Frauen? von Thomas von der Osten-Sacken In Bangladesch kämpfen Textilarbeiter*innen 4 Iran/Irak II: Raketen und Heiligenbilder um ihre Rechte Protest, Ideologie und Dominanz im Iran von Annika Salingré von Laleh Ardestaninejad 26 Siegel ohne Glaubwürdigkeit 8 Bolivien:»Ein kollektiver Aufschrei« Auf das Textilbündnis folgt der Grüne Knopf, Die gesellschaftliche Spaltung vertieft sich aber kein Gesetz von Tobias Boos von Gisela Burckhardt 10 Costa Rica: Sodom und Gomorra im Tropenparadies 28 Geschäftsidee Gleichheit Progressive Reformen erzürnen die Rechte Hip-Hop-Mode öffnet neue Handlungsfelder von René Thannhäuser für junge Frauen in Vietnam von Sandra Kurfürst 12 Brasilien: Vergiftet und verkauft Die agrarökologische Bewegung gerät in Bedrängnis 30 »Selbstorganisierung von Frauen ist der Schlüssel« von Mireille Remesch Interview mit den Gewerkschafterinnen Dian Septi Trisnanti und Chamila Thushari aus Indonesien und Sri Lanka 31 »Kleidung, die intelligent ist« Die südafrikanische Mode ist im Aufbruch begriffen von Daniela Goeller 34 Zwischen Konsum und Underground Modebeziehungen von Dubai über Teheran bis Istanbul von Nargess Khodabakhshi 36 Kleider machen Frauen Tradition und alte Normen bestimmen in China die Mode von Astrid Lipinsky 38 Frömmigkeit und Konsum Die Mode in Indonesien ist augenscheinlich muslimischer geworden von Antje Missbach Kultur und Debatte 40 Ausstellung: Wer repräsentiert wen? »Fiktion Kongo« wirft Fragen auf von Katja Behrens 42 Literatur: »Neue Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte« Interview mit Léonora Miano über ihren Roman »Rouge Impératrice« 45 Erinnerung: Bedingungslos Blitze schleudern 46 Rezensionen iz3w-Autor*innen über konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza 50 Szene / Impressum iz3w • März / April 2020 q 377
Editorial Maximal borniert Mitte Januar war es wieder einmal soweit. Deutsche N ach der Berliner Konferenz ging es in Deutschland Politiker*innen und ihre Entourage bei den staatstragenden erwartungsgemäß weiter mit der außenpolitischen Ange- Medien liefen zu Hochform auf in Sachen eitler außenpo- berei. Bundeskanzlerin Angela Merkel resümierte zufrieden, litischer Selbstbespiegelung. Anlass war die internationale man habe sich darauf geeinigt, das vom UN-Sicherheitsrat Libyenkonferenz, zu der die Bundesregierung mit dem verhängte Waffenembargo »respektieren« zu wollen. Au- Segen der UN nach Berlin geladen hatte. Schon im Vorfeld ßenminister Heiko Maas bekräftigte: »Wir haben unsere wurden altbekannte Narrative bemüht, etwa jenes, Deutsch- Ziele erreicht«. Das mag sein, aber die Ziele müssen sehr land sei in der Weltpolitik ein »ehrlicher Makler« (so die bescheiden gewesen sein. Ein konsistenter Friedensplan für Titelzeile im SPIEGEL 4/2020). Den Vogel schoss der eins- Libyen kann nicht dazu gezählt haben. Selbst für einen tige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel ab, als er twit- Waffenstillstand hat es nicht gereicht. terte: »In der Welt harter Interessenpolitik erreichen manch- So muss zum Beispiel das in Berlin ausgehandelte, un- mal die Interessenlosen mehr. Wir haben stärkeres als präzise Agreement erst vom UN-Sicherheitsrat bestätigt Waffen & Geld: Legitimität! Wir waren nicht am Libyen-Krieg werden, bevor Verstöße in Libyen dagegen sanktioniert beteiligt u. nie Kolonialstaat. Gut, dass Deutschland Libyen werden könnten. Das ist nicht gerade wahrscheinlich, be- nicht den Autokraten überlässt. #FriedenfürLibyen.« denkt man die gängige Praxis der Vetomacht Russland und ihre klare Unterstützung der Kriegspartei rund um General Khalifa Haftar. Offen bleibt auch, inwieweit Deutschland D ass Deutschland nie Kolonialstaat gewesen ist, hat die EU in die Libyenpolitik »einbeziehen« will, wie Maas Gabriel exklusiv. Dass er nichts wissen will von deutschen ankündigte. Einzig konkret im Raum steht die Wiederbele- Waffenexporten an Länder, die in Libyen mitmischen, wie bung der EU-Marinemission »Sophia«. Ihre Aufgabe ist die etwa die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Ägypten Flüchtlingsabwehr, bekanntlich ein besonders gut geeigne- und die Türkei: Geschenkt. Aber dass ausgerechnet er, tes Instrument zur Friedensicherung. dessen Wahl in den Aufsichtsrat der Deutschen Bank kurz In internationalen Medien stieß die Libyenkonferenz bevor steht, von Interesselosigkeit schwadroniert, entbehrt denn auch auf deutlich weniger Lob als hierzulande. Insbe- nicht der Komik. (Fun Fact am Rande: Der Kritik am Wech- sondere in Libyen selbst waren die Reaktionen verhalten. sel zur Deutschen Bank begegnete Gabriel mit den Worten »Ich weiß nicht, was ich von den Ergebnissen der Berliner »Ich werde auch in Zukunft nicht anders denken und Konferenz halten soll, sie sind sehr allgemein gehalten«, handeln als vorher«. Das wirft in erster Linie ein bezeich- sagte beispielsweise Youssef Alheri, Leiter des Auswärtigen nendes Licht auf sein Denken und Handeln bei der SPD.) Ausschusses des libyschen Parlaments und Haftar-Unter- Was von der Schimäre zu halten ist, deutsche Außen- stützer, gegenüber der taz. Und auch in Tripolis, dem Sitz politik sei interesselos, haben Karl Marx und Friedrich Engels der »Regierung der nationalen Übereinkunft« des Haftar- schon vor 175 Jahren in ihrem Manuskript »Die deutsche Widersachers Fajez as-Sarradsch, war man wenig begeistert. Ideologie« festgehalten: »Wenn die nationale Borniertheit Ein Reporter der Nachrichtenagentur afp hörte sich dort überall widerlich ist, so wird sie namentlich in Deutschland auf den Straßen um und zitiert den Bewohner Abdul Rahman ekelhaft, weil sie hier mit der Illusion, über die Nationalität Miloud mit den Worten: »In Wahrheit war die Berliner und über alle wirklichen Interessen erhaben zu sein, den- Konferenz nicht anders als die vorherigen Konferenzen in jenigen Nationalitäten entgegengehalten wird, die ihre Skhirat, Frankreich oder Rom (…) Es gab keine Notwendig- nationale Borniertheit und ihr Beruhen auf wirklichen In- keit für eine weitere Konferenz.« 3 teressen offen eingestehen.« Das klingt wie ein hochaktu- Miloud ergänzte: »Das Wichtigste ist, dass es unter den eller Kommentar zur Tatsache, dass Frankreich, Italien, Libyer*innen selbst einen Konsens gibt.« Und weiter: »Um Russland oder die Türkei niemanden über ihre knallharten unser Land versöhnen zu können, ist eine Schlichtung in Machtinteressen in Libyen im Unklaren lassen. Scharfe Libyen notwendig.« Genau dies sollte man sich nicht nur Kritik an deren Libyenpolitik ist selbstverständlich dennoch in Berlin hinter die Ohren schreiben, findet notwendig. die redaktion iz3w • März / April 2020 q 377
Bagdads Tahrir-Platz Die Situation im Irak ähnelt in vielem dem Arabischen Frühling Im vergangenen Herbst entstand im Irak eine bis dahin unge- Dauerkrise. Auch sie mussten erleben, wie sich Parteien und poli- kannte Protestbewegung. Sie richtet sich nicht nur gegen die tische Klasse als notorisch unfähig und unwillig erwiesen, auch nur unfähige eigene Regierung, sondern auch gegen die iranische eines der unzähligen drängenden Probleme anzugehen. So mangelt Einflussnahme. Wer sind die Protagonist*innen dieser Bewe- es bis heute im Süden des Landes selbst an Strom- und Wasserver- gung? Was sind ihre politischen Anliegen, und wie sind ihre sorgung. Gelder versickern in den Kassen einer chronisch korrupten Erfolgsaussichten einzuschätzen? Verwaltung, in der Gruppenzugehörigkeit eine wichtigere Rolle spielt als Kompetenz: Politik organisierte sich im Irak, ähnlich wie im Libanon, streng entlang konfessioneller oder ethnischer Zuge- von Thomas von der Osten-Sacken hörigkeiten. Nach 2003 sahen schiitische Parteien ihre Stunde gekommen: tt Irak hat eine der jüngsten Bevölkerungen im Nahen Osten. Wenn Mit Hilfe des Iran gelang es ihnen, die Sunnit*innen zu marginali- hunderttausende Irakis auf die Straße gehen, handelt es sich also sieren und sich des Staatsapparates zu bemächtigen. Denn wer automatisch um eine Jugendrevolte. Und genau das ist die Protest- diesen kontrolliert, verfügt über auch die Einnahmen aus dem Öl- bewegung, die seit Oktober 2019 gegen Korruption und allgemei- und Gasverkauf, die bis heute knapp 95 Prozent der irakischen ne Perspektivlosigkeit aufbegehrt. Es geht bei diesen Massen Wirtschaftsleistung ausmachen. Dieses Rentiersystem stützt sich auf demonstrationen um Vieles, vor allem aber um die Zukunft einer Klientelismus und einen künstlich aufgeblähten staatlichen Sektor, Generation, die größtenteils keine Erinnerungen mehr hat an die in dem bis zu drei Viertel der arbeitenden Bevölkerung irgendwie Zeiten unter Saddam Hussein und die für sich keinen Platz in den ihr Auskommen finden. Fällt der Ölpreis, wie dies nach 2014 geschah, bestehenden Strukturen sieht. Fast jede*r dritte Jugendliche im Irak gerät das gesamte System in eine tiefe Krise. Folgerichtig wächst ist arbeitslos, während gleichzeitig die Zahl der Armen steigt. Die seit Jahren vor allem im Süden des Landes und in Bagdad der Unmut. Menschen im Irak sind aber nicht nur jung, sondern auch über- Bereits 2018 kam es immer wieder zu Demonstrationen. durchschnittlich gut gebildet. Nur fehlt ihnen in der Regel jedwede Chance, später auch einen entsprechenden bezahlten Job zu finden. Citizenship versus Konfessionalismus Aufgewachsen sind diese Protestierenden in einem destabilisie- renden Bürgerkrieg, der das Land nach 2005 spaltete und auch tt Zwar waren schon die Proteste 2018 dem Namen nach gesamt den Aufstieg des Islamischen Staates ermöglichte. Schon ihre Eltern irakisch. Aber sie beschränkten sich fast ausschließlich auf den Süden kannten wenig außer Krieg, Sanktionen und eine traumatisierende des Landes sowie schiitische Stadtviertel in Bagdad. Erst mit der Raketen und Heiligenbilder Protest, Ideologie und Dominanz im Iran von Laleh Ardestaninejad tt Zu sagen, dass die Islamische Republik Iran einen unruhigen Vor diesem Hintergrund entfachte die Verdreifachung des Benzin- Winter erlebt, grenzt an Euphemismus: Erst die massiven Proteste preises Mitte November wütende Proteste, auch wenn die Einkünf- 4 gegen die Spritpreiserhöhung und die Internetsperre durch das te offiziell der Armutsbekämpfung dienen sollten. Der Unmut Regime, dann das Attentat auf General Soleymani und die folgen- richtete sich gegen staatliche Banken, aber auch andere Regie- de Welle der nationalen Mobilisierung und schließlich erneute rungsgebäude oder Tankstellen, die teilweise niedergebrannt wur- Proteste, nachdem das Regime zugeben musste, nach dem Ver- den. Die Protestierenden positionierten sich mit ihren Slogans nicht geltungsschlag gegen einen US-Militärstützpunkt im Irak aus Ver- nur gegen die Preiserhöhung, sondern auch gegen die Kosten der sehen ein ukrainisches Passagierflugzeug abgeschossen zu haben. iranischen Militäreinsätze im Ausland (»Nicht für Gaza, nicht für Im 41. Jahr des Bestehens der Islamischen Republik haben die Libanon«), oder sie brachten grundsätzliche Opposition zum Aus- wenigsten Iraner*innen Grund zum Feiern. Die wirtschaftliche Si- druck (»Nicht für die Armee, nicht für die Regierung«). Beide tuation ist miserabel, und sowohl die Korruption des Regimes als Slogans endeten aber mit »mein Leben für den Iran«. auch die Sanktionen der USA nach dem Rückzug von US-Präsident Trump aus dem Atomabkommen 2018 sind dafür mitverantwort- »Das war mein General« lich. Die Mieten in der Hauptstadt Teheran sind im Verhältnis zum Durchschnittslohn kaum bezahlbar. Vielen erscheint Migration als tt Das Regime reagierte mit brutaler Gewalt: Sicherheitskräfte einziger Ausweg aus der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit. schossen ohne Vorwarnung mit scharfer Munition auf Demonst- iz3w • März / April 2020 q 377
Iran/Irak Symbol des Protests: Das türkische Restaurant am Tahrir-Platz in Bagdad Foto: Hassan Majed Ausweitung der Bewegung im Herbst 2019 zeigte sich, dass die Auch im Irak begehren nun immer mehr Bürger*innen gegen den neue Generation die festgefahrenen konfessionellen und ethnischen allumfassenden Einfluss von Religion und Klerus auf Politik und Trennungen überwinden will. Wie schon im Arabischen Frühling Staat auf. Wie überall in der arabischen Welt schwindet die Akzep- 2011 spielt dabei ein für die ganze Region neues Verständnis von tanz islamischer Parteien besonders unter Jugendlichen. »Die Tren- Citizenship eine zentrale Rolle, ein Momentum, das in Europa üb- nung von Religion und Staat ist wichtiger als die von Frau und rigens nicht als solches wahrgenommen wurde. Mit Ausnahme von Mann«, brachte ein junger Demonstrant auf dem Tahrir-Platz in Tunesien gibt es in keinem Land der gesamten MENA-Region eine Bagdad die Botschaft der Protestbewegung auf den Punkt. Idee der Gleichheit der Bewohner*innen als freie und gleiche Die Demonstrierenden auf Iraks Straßen wollen nichts weniger Staatsbürger*innen vor dem Gesetz, sondern Geschlecht und Kon- als eine Revolution, sie verlangen nicht nur politische Reformen, fession bestimmen in zivil- und eherechtlichen Fragen. sondern grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. War Protest rierende, teilweise von Helikoptern und Häuserdächern aus. Amnesty Teilen der Bevölkerung als Bezwinger des Islamischen Staats verehrt. International geht von mindestens 300 Todesopfern aus, ein Reu- Seine große Popularität beruhte auch darauf, dass er sich als ein- ters-Bericht spricht unter Berufung auf Quellen im iranischen In- facher »Soldat der Revolution« bezeichnete, eine Präsidentschafts- nenministerium von 1.500. Zur Unterbindung weiterer Proteste kandidatur ablehnte und im innenpolitischen Konflikt zwischen legte das Regime das Internet für etwa eine Woche fast vollständig Moderaten und Hardlinern nicht auf eine Seite stellte, sogar per- lahm. Die Universität von Teheran, traditioneller Unruheherd, glich sönliche Kontakte zu geächteten Unterstützern der »Grünen Revo- an manchen Abenden einer belagerten Fes- lution« aufrecht erhielt. Bereits kurz nach seinem tung, und die Motorradmilizen der Basiji Tod war sein Gesicht an jeder Ecke Teherans zu streiften durch die benachbarten Straßen. Trump hat dem religiösen sehen, teils auf großen Videoleinwänden, teils in 5 Im Dezember kam es vereinzelt zu wei- Führer Khamenei einen den Rückfenstern der Taxis, teils mit Sprüchen, teren Protesten und Festnahmen, unter großen Gefallen getan die Vergeltung ankündigten, teils auf Bildern, die anderem bei Trauerfeierlichkeiten für die die Ankunft des Märtyrers im Paradies darstellten. erschossenen Demonstrierenden. Sowohl Nur wenige Kritiker*innen wiesen auf Soleymanis den Schusswaffeneinsatz gegen die eigene Bevölkerung als auch Rolle bei der Stabilisierung des Assad-Regimes in Syrien und der die Internetsperre hatte es in dieser massiven Form im Iran noch blutigen Niederschlagung von Aufständen im Irak hin, konnten nicht gegeben, selbst nicht in der unvergleichlich breiteren, orga- aber nicht riskieren, dies öffentlich zu tun. Die Menschenmassen, nisierteren und länger anhaltenden »Grünen Revolution« nach der die seinen Trauerzug begleiteten – es dürften mehr als eine Million Wahl 2009, die ebenfalls gewaltsam niedergeschlagen worden war. gewesen sein – können nicht allein auf die Rekrutierung von Staats- In dieser Situation kam das Attentat der USA Anfang Januar auf bediensteten zurückgeführt werden. Viele, auch Moderate und den Befehlshaber der Quds-Brigaden, Qassem Soleymani, dem Oppositionelle, waren ehrlich betroffen und empört über die Arro Regime sehr gelegen. Soleymani, Architekt der iranischen Militär- ganz des »großen Satans« USA. »Das war mein General«, sagte strategie im Irak, in Syrien und im Libanon, wurde von weiten beispielsweise die Soziologiestudentin Maryam. iz3w • März / April 2020 q 377
bisher weitgehend Männersache, beteiligen sich inzwischen auffäl-hatten. Als sich auch der einflussreiche irakische Klerus in Karbala lig viele junge Frauen und trotzen den Repressionen, die bislang zu und Najaf hinter die Demonstrierenden stellte und den Abzug aller über 400 Toten und zehntausend Verletzten geführt haben. Auf fremden Truppen, also auch der iranischen, aus dem Land forder- dem Tahrir-Platz in Bagdad herrsche schon jetzt eine Gleichberech- te und den Rücktritt von Premier Adel Abdel Mahdi erzwang, tigung, die man für die ganze Gesellschaft wolle, heißt es immer wurde die Lage für Teheran bedrohlich. wieder in Gesprächen mit Demonstrantinnen. Dabei gebe es keinen Der schiitische Klerus im Irak wird für die Machthaber im Iran Ausschluss, die meisten Protestschilder auf dem Tahrir-Platz in seit Jahren zu einem wachsenden Problem. Traditionell vertreten Bagdad sind zweisprachig in Arabisch und Kurdisch geschrieben. irakische Ayatollahs eine theologische Sicht, die im Gegensatz zur Und immer wieder berichten mitdemonstrierende Yesidi*innen und Lehre Khomeneis von der Statthalterschaft der Rechtsgelehrten Christ*innen, wie willkommen sie geheißen werden. (Welāyat-e Faqih) steht. Laut irakischer Schia sollen Kleriker lediglich beratende und moralische Vorbilder sein, nicht aber selbst regieren. Deshalb unterstützt die Mehrheit der Kleriker im Irak seit 2003 die Aufstand gegen iranischen Einfluss demokratische Verfassung des Landes, und selbst religiösen Partei- tt Als im Herbst Milizen, die formal der irakischen Regie- en käme es nie in den Sinn, Kleriker rung unterstellt sind, de facto aber ihre Befehle aus dem in die Regierung zu entsenden. Iran erhalten, auf Demonstrierende schossen, entlud sich Die Solidarität im Irak Indem die Ayatollahs im Irak offen die angestaute Wut gegen die eigene Regierung auch mit den jüngsten Protesten die iranische Einmischung und die gegen die des östlichen Nachbarlandes: In Najaf zünde- im Iran ist groß Gewalt gegen die Protestbewe- ten Protestierende mehrmals das iranische Konsulat an, gung kritisierten, legitimierten sie überall gingen Bilder von Ayatollah Khomeini und Ali sie als keineswegs »gottlos« oder Khamenei in Flammen auf und wurden die Büros irantreuer Partei- vom Westen gesteuert, wie es die proiranische Propaganda gerne en und Milizen zerstört. Iranische Waren werden seitdem mittels verbreitet. Konnte sich die Islamische Republik Iran bisher immer der gezielten Kampagne »Lasst sie verfaulen« boykottiert. als Sprachrohr der Schiit*innen in der arabischen Welt inszenieren, Diese offene Ablehnung überraschte die Machthaber im Iran, hat sie es nun mit Demonstrationen zu tun, die sich ganz dezidiert die den Irak bislang weitgehend unter ihrer Kontrolle geglaubt gegen ihren Einfluss richten. Umso größer war daher auch die Solidarität auf irakischen Straßen mit den jüngsten Protesten im Iran, die mit bislang unbekannter Radikalität das Teheraner Regime kritisierten und ein Ende seiner theokratischen Verfassung for derten. Je blutiger Sicherheitskräfte im Irak gegen die Protestierenden vorgehen, desto entschlossener John Bolton, mit dem Attentat auf Soleymani sei der Regime Change im Iran näher gerückt, könn- te kaum weiter daneben liegen. Erschreckend deutlich wurde in der Reaktion auf den Drohnenangriff auf Soleymani, wie verbreitet Foto: Laleh Ardestaninejad Nationalismus selbst bei jenen Iraner*innen ist, die dem Regime kritisch bis ablehnend gegen- überstehen. Auch wenn sie das Regime für korrupt 6 und undemokratisch halten, empfinden viele (ab- gesehen von einer linken Minderheit) einen Angriff auf Funktionäre des ungeliebten Staates doch als einen Angriff auf eine Gemeinschaft, zu der sie Die Wut auf das Regime ist groß: Abgefackelte Bank in Nahsimshahr bei Teheran sich zugehörig fühlen. »Der Zauber der Ideologie« sei dies, meinte ein befreundeter Anthropologe. Insofern hat US-Präsident Trump dem religiösen Führer der Islami- Ein unverzeihlicher Fehler schen Republik, Ajatollah Khamenei, einen unschätzbaren Gefallen getan. Trump hat eine ungeahnte nationale Mobilisierung für den tt Doch die Freude auf Seiten des Regimes kann nicht lange an- »Kriegshelden« Soleymani ebenso ermöglicht wie ein Comeback gehalten haben. Nach dem moderat ausgefallenen Vergeltungs- angestaubter außenpolitischer Feindbilder, die beide die massive schlag der iranischen Regierung hat diese zwar drei Tage lang innenpolitische Krise verdrängt haben. Niemand hat mehr über beteuert, mit dem wenig später abgestürzten ukrainischen Passa- Benzinpreise geredet. Die Einschätzung des US-Sicherheitsberaters gierflugzeug nichts zu tun zu haben. Unter erdrückenden Bewei- iz3w • März / April 2020 q 377
Iran/Irak scheinen diese, ihre besetzten Plätze zu verteidigen. Kompromis- dass sie vermutlich selbst mit gutem Willen, der innerhalb des se mit der Regierung scheinen deshalb immer unwahrscheinlicher. Machtapparates nirgends zu erkennen ist, nicht reformierbar Die Wut nimmt zu, während die Parteien in Bagdad bislang keinen wären. Zudem fehlt es zwischen Demonstrierenden und System Ausweg aus der Krise finden. Monatelang stritten sie um die an vermittelnden Institutionen und Akteur*innen. Nachfolge des zurückgetretenen Premiers. Selbst wenn nun eine Vor einem ähnlichen Dilemma standen die Aktivist*innen des Regierungsbildung gelingt, wird diese mit an Sicherheit grenzen- Arabischen Frühlings schon vor knapp zehn Jahren; seitdem hat der Wahrscheinlichkeit nicht nur von der Straße abgelehnt, sondern die Situation sich keineswegs verbessert. Die meisten Staaten der sich als unfähig erweisen, die geforderten Reformen umzusetzen. Region haben weiter abgewirtschaftet und sind bankrott. Die Denn würde eine neue Regierung auch nur partiell den Forderun- Gesellschaften sind tief gespalten in zwei unversöhnliche Lager: gen der Straße nachkommen, müsste sie in der Lage sein, sich Die Gegner*innen der herrschenden (Un-)Ordnung und deren souverän gegenüber dem Iran zu zeigen. überall schrumpfende Anhängerschaft. Letztere verfügt zwar über Waffen, Geld und den erklärten Willen zum unbedingten Macht- erhalt, hat in den Augen großer Teile der Bevölkerung aber jedwe- Keine guten Perspektiven de Legitimität verloren. Währenddessen fällt es den Apparaten tt Herrschte 2011 während des Arabischen Frühlings noch der zunehmend schwerer, ihr Klientel mit Gratifikationen bei der Stan- Glaube, eine bessere Zukunft hinge nur vom Sturz der bestehen- ge zu halten. den Regimes ab, haben die Erfahrungen der vergangenen Dekade Trotz der Schwäche der alten Systeme gibt es aber keine guten gelehrt, dass sich die miserable Situation damit nicht ändert, Perspektiven für die Protestbewegung. Sie steht weitgehend isoliert sondern kurzfristig oft sogar eher verschlechtert. Solche Illusionen da, mit nennenswerter internationaler Unterstützung kann sie nicht gibt es heute nicht mehr: Die neue Generation, ob im Irak oder rechnen. Wer sich außerdem mit dem Iran anlegt, hat es mit einem anderen Ländern der Region, ist aufgewachsen in dysfunktionalen Gegner zu tun, der zu allem bereit scheint, um Macht und Einfluss Trümmerlandschaften. Die jungen Leute mussten miterleben, wie zu bewahren. Auch wenn sich die Demonstrierenden im Irak den Syrien zerbombt wurde, Jemen in Chaos versank und der Islamische Sicherheitskräften und Milizen bisher eindrucksvoll entgegenstellten, Staat seine Terrorherrschaft ausübte. Sie kennen nur wirtschaftliche wird ihr Widerstand nicht ewig währen. Einfach nur gewaltsam Misere, Massenflucht und ein politisches Establishment, das sich niederschlagen lässt diese Protestbewegung sich aber auch nicht, hemmungslos selbst bereichert, aber ihnen nichts zu bieten hat. wie die letzten Wochen zeigten. Das wissen die Machthaber. Eine Abgesehen von der Brutalität, mit der die eigene Regierung gegen Rückkehr zum alten Status quo scheint somit ebenfalls undenkbar. jede Dissidenz vorgeht, bleiben meist nur abgegriffene Parolen von ‚Widerstand und Kampf gegen Imperialismus und Zionismus‘. Dieser »alte Nahe Osten« liegt in Agonie darnieder und reagiert tt Thomas von der Osten-Sacken ist Publizist und Geschäfts- reflexhaft mit Gewalt und Propaganda auf die sich verschärfenden führer der im Irak aktiven NGO WADI. Eine längere Fassung dieses Krisen. Die bestehenden Strukturen sind inzwischen so marode, Beitrags steht auf www.iz3w.org. sen musste sie schließlich doch eingestehen, dass ein »bedauer- Die Zahl der Protestierenden scheint mit bestenfalls einigen Tausend liches Versehen« des Militärs für die 176 Toten verantwortlich war. nicht allzu groß. »Aber wenn es eine Garantie gäbe, dass Polizei, Einige Journalist*innen staatlicher Medien erklärten daraufhin Milizen und Revolutionswächter die Leute in Ruhe lassen, würden ihren Rücktritt. Ungeachtet der brutalen Gewalt im November morgen fünf Millionen Menschen auf die Straße gehen«, versichert begannen erneut Proteste in mehreren Städten, bei denen unter Reza, der in einer linken politischen Gruppe aktiv ist. anderem skandiert wurde: »Unser Feind ist hier, sie lügen wenn Ein interessantes Detail in diesem Zusammenhang ist, dass der sie sagen dass es Amerika ist«, »Wir wollen keine islamische Re- Versuch einer erneuten antiamerikanischen und antiisraelischen publik« und »Tod dem Diktator«. Dass einige der Protestierenden Mobilisierung an der Beheshti Universität in Tehran im Januar nach eine Woche vorher bei den Trauerfeierlichkeiten dabei waren, hinten losging: Die meisten Studierenden vermieden es, auf die 7 empfanden sie nicht als Widerspruch. »Was die USA gemacht auf den Boden gemalten Flaggen der USA und Israels zu treten. haben, ist einfach nicht in Ordnung. Das ist Imperialismus«, sagt Eine klare Botschaft, sich nicht mehr für die Staatsideologie inst- Abdullah, ein Medizinstudent. Andere jedoch rissen die Bilder rumentalisieren lassen zu wollen. Soleymanis von den Wänden. Auch diese Proteste wurden nie- Ungeachtet der erfolgreichen Mobilisierung nach dem Tod dergeschlagen, diesmal allerdings mehr mit Tränengasgranaten Soleymanis kann sich das Regime weitgehend nur noch auf als mit tödlicher Munition. Dominanz und Gewalt stützen, aber nicht auf Zustimmung und Zwar hat Irans Präsident Rouhani den Abschuss als »unverzeih- Hegemonie. Bislang jedoch hält diese Stütze noch. lichen Fehler« bezeichnet, in seiner Ansprache im Freitagsgebet nahm der religiöse Führer Khamenei jedoch das Militär vor den Vorwürfen in Schutz – auch wenn er nicht so weit ging wie der tt Laleh Ardestaninejad ist Politikwissenschaftlerin, derzeit an seinerzeitige US-Vizepräsident George Bush senior, der 1988 den einer Teheraner Universität. Sie hat mit zahlreichen Protestierenden Abschuss einer iranischen Passagiermaschine durch ein US-Kriegs- gesprochen. schiff als »angemessenes Verhalten« rechtfertigte. iz3w • März / April 2020 q 377
Damals mag die Parole noch gestimmt haben: Anhänger von Morales 2013 in Cochabamba Foto: Fernanda LeMarie »Ein kollektiver Aufschrei« In Bolivien vertieft sich die gesellschaftliche Spaltung Seit der Absetzung von Evo Morales und der Ernennung von 2016, das ihm dies verbot, hinweggesetzt hat. Doch trotz alledem Jeanine Áñez zur Präsidentin Boliviens antwortet die Regierung lässt der Lokalaugenschein wenig Zweifel am repressiven Charakter auf Kritik und Widerstand mit Repression. Ein Lokalaugen- der Áñez-Regierung: Die Menschen berichten über Verfolgung, schein in der Hauptstadt La Paz und dem benachbarten El Alto Einschüchterungen und revanchistische Übergriffe durch die Polizei. bringt tiefgreifende Konflikte der Gesellschaft zum Vorschein. Vor allem aber ist eine Art ständiger Ausnahmezustand spürbar, ein Zustand des permanenten Misstrauens, der Unsicherheit und Des- orientierung. von Tobias Boos In der Woche zuvor hatte die Repression gegen die Anhänger*innen von Morales durch die de-facto-Regierung unter Áñez ihren Höhe- tt La Paz/El Alto, Ende November 2019: Benzin und einige Lebens- punkt erreicht. Die verschärfte Versorgungslage hatte das Militär mittel sind Mangelware, bedingt durch Straßenblockaden in den dazu veranlasst, die Blockade einer Gasspeicherstation in El Alto 8 umliegenden Provinzen und in El Alto. Bis zum Tag vor meiner gewaltsam aufzulösen. Bei diesem »Massaker von Senkata« wurden Ankunft war auch die Zufahrt des Flughafens teilweise blockiert. acht Menschen getötet und es gab zahlreiche Verletzte. Den Trauer Die Lage ist schwer zu überschauen. Seit zwei Wochen ist die marsch hinunter nach La Paz zwei Tage nach den Ereignissen in rechte Regierung unter Jeanine Áñez im Amt. Die bestimmende Senkata stoppte das Militär mit Tränengas, so dass die Marschie- Frage in internationalen Medien dazu lautet: »War es ein Putsch renden die Särge bei ihrer Flucht zurücklassen mussten. oder nicht?«. Ähnlich brutal gingen Polizei und Militär in Sacaba im Departa- Nicht wenige Beobachter*innen verwiesen zu Recht auf voran- mento von Cochabamba vor. Die Bilanz: 32 Tote, 832 Verletzte und gegangene fragwürdige Vorgehensweisen der bisherigen Regie- 1513 Festgenommene innerhalb von knapp zwei Wochen verzeich- rungspartei von Morales, dem MAS (Movimiento al Socialismo). nete die Delegation des Parlasur, die in jenen Tagen angereist war, Die MAS-Regierung hatte soziale Bewegungen und Organisationen um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Gedeckt wur- demobilisiert und gespalten, die ursprünglich zur Unterstützer*innen de der Einsatz der Sicherheitskräfte durch ein Dekret der de-facto- schaft von Morales zählten. Berechtigten Unmut gab es auch da- Präsidentin, welches sie unmittelbar nach ihrer Ernennung erlassen rüber, dass Morales im Oktober 2019 erneut zu den Wahlen ange- hatte: Jenen Militärs, die bei der »Herstellung der inneren Ordnung treten war und sich damit über das verlorene Referendum von und öffentlichen Stabilität« helfen, wurde Straffreiheit zugesichert. iz3w • März / April 2020 q 377
Bolivien Zwei Wochen später musste Áñez das Dekret jedoch auf interna eine Restaurantbesitzerin. Von falschen Angaben über die existie- tionalen Druck hin wieder zurücknehmen. renden Gasvorkommen und manipulierten Zahlen über die Staats- Nachdem die de-facto-Regierung gemeinsam mit den MAS- schulden ist die Rede. Der Diskurs des »Fraude«, des Wahlbetrugs Abgeordneten ein Wahlgesetz verabschiedete, kehrte ein wenig durch Morales, dreht sich schon lange nicht mehr allein um die Alltag ein. Doch unter der Oberfläche sind die gesellschaftlichen Wahlen. Stattdessen stellt er die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Spaltungen nicht zu übersehen. Wahrnehmungen und Beschrei- Errungenschaften der Morales-Regierung grundlegend infrage. bungen der Ereignisse in den vergangenen Wochen könnten un- Einen gewichtigen Anteil an diesen gegensätzlichen Wahrneh- terschiedlicher nicht sein. Worin jedoch die meisten übereinstimmen, mungen haben die Medien. Auch die MAS-Regierung hatte in den ist, dass sich die aktuelle Lage nicht in einer Frontstellung zwischen Jahren zuvor versucht, die Medien zu beeinflussen. Mittels bezahl- Regierung und MAS erschöpft. ter Anzeigen wurden gewogene Medien gefördert, während die Sprachrohre der alten Eliten teilweise außen vor blieben. Auch deshalb schlugen diese sich unmittelbar nach dem Putsch auf die »Wut und Empörung« Seite der de-facto-Regierung. Statt kritische Fragen zu stellen, tt Die Missachtung der Verfassung durch die MAS-Regierung und übernehmen die großen Medien des Landes derzeit einfach die die Ränkespiele, um die Kandidatur von Morales ein weiteres Mal Version der Regierung. Nach dem Massaker von Senkata in El Alto zu ermöglichen, werden teilweise auch von MAS-Sympathisant*innen und den Toten in Sacaba machten sie sich kurzerhand die Erzählung skeptisch gesehen. Allerdings hatte niemand erwartet, dass sich der Regierung zu eigen, in der die Demonstrant*innen als bewaff- die Ereignisse so überschlagen würden. Stadtteil-Aktivist*innen aus nete Terrorist*innen dargestellt wurden. El Alto berichten, dass sie die Proteste der Opposition gegen Mo- rales im Nachgang der Wahlen zunächst relativ gelassen betrach- Der erste digitale Krieg teten. Dann wurden sie jedoch von den Ereignissen überrollt. Der Putsch und die Flucht von Evo Morales, erst nach Chapare und tt Alternative Medien und ausländische Journalist*innen werden dann aus dem Land, sorgten für viel Empörung und Trauer. »Ein hingegen kriminalisiert. Aktivist*innen eines Stadtteilradios in El Alto kollektiver Aufschrei« sei an jenem 10. November durch El Alto berichten von Drohungen in den Sozialen Medien. Ähnliches gegangen. Die emotionale und beinahe familiäre Verbundenheit wiederfuhr auch einem Journalisten der linken Onlinezeitung La mit »ihrem« Präsidenten Evo wog in diesem Moment stärker als Izquierda Diario. Per Whatsapp seien er und seine Kolleg*innen in jede Kritik, die man in der Vergangenheit den letzten Wochen bedroht worden. Die an der MAS-Regierung gehabt haben mag. Polizei wiederum akzeptiert ihre Akkreditie- Für viel Wut sorgt aber vor allem auch, Die großen Medien rungen häufig nicht, klagt er. was folgte: Abwertende Äußerungen der übernehmen derzeit einfach Die Rolle der digitalen Medien im derzeitigen Putschregierung hinsichtlich der indigenen die Version der Regierung Konflikt ist in Bolivien neuartig. Aktivist*innen Kultur, gegen die sie die Bibel in Stellung und Mitarbeiter*innen von NGOs sprechen brachte, die symbolische Verächtlichma- vom »ersten digitalen Krieg« in der politischen chung der Wiphala, wie die Flagge der Indigenen genannt wird, Geschichte Boliviens. In den sozialen Netzwerken zirkulieren mas- rassistische Übergriffe durch Polizei und Zivile – all das wurde von senhaft Falschnachrichten. Diese finden dann häufig ihren Weg in vielen in El Alto als tiefe Erniedrigung empfunden. Einen organisa- die reichweitenstarken Medien. Auch ich werde während dieser torischen Ausdruck hat die daraus resultierende Wut noch nicht Tage Zeuge der Effekte dieser Berichterstattung. Immer wieder gefunden. Eines versichern die Leute jedoch: Sie seien nicht mehr zeigen mir Gesprächspartner*innen Falschnachrichten, die sie per dieselben wie noch vor zwanzig Jahren: »Nie wieder werden wir Handy erreichen. Página Siete, eine der wichtigsten Tageszeitungen so auf uns herumtrampeln lassen.« des Landes, verbreitet aus dem Internet aufgegriffene Falschmel- dungen über eine der Menschenrechtsdelegationen, die ich in jenen Tagen begleite. Organisationen wie InternetBolivia dokumentieren »Betrug« durch indigene »Horden« Vorfälle bei Demonstrationen, bei denen die Polizei Teilnehmende tt Die Stimmung in den Stadtteilen der Mittelklasse von La Paz ist zur Herausgabe ihrer Handys auffordert und diese nach »verdäch- hingegen eine andere. In den Tagen der Proteste geisterten Berich- tigen Material« durchsucht. Aktivistinnen eines feministischen Kol- te durch die Medien und sozialen Netzwerke über Plünderungen lektivs erzählen mir von ähnlichen Vorfällen; sie löschen ihre Chats durch die »Horden der MAS«, die aus den Bergen hinabsteigen und Fotos regelmäßig. 9 würden, um die Stadt zu verwüsten. Bekannte berichten von einer Mittlerweile hat die de-facto-Regierung für den 3. Mai Neuwah- beinahe psychotischen Stimmung der Angst in jenen Tagen. Als len angekündigt. Auch wenn Morales nicht mehr antreten darf, sich der Staub etwas gelegt hatte, blickte man sich um und war wird die MAS kandidieren. Inwieweit sie die Kraft für eine politische teilweise erschrocken über das eigene Verhalten – hatte man sich Erneuerung aufbringt, bleibt abzuwarten. Der Wahlausgang wird doch auf die Seite der sonst nicht sehr vertrauenserweckenden aber vor allem davon abhängen, ob die Rechte es schafft, einen Polizei geschlagen und fälschlicherweise gehofft, dass diese für gemeinsamen Kandidaten aufzustellen. Die Verhandlungen im Recht und Ordnung sorge. Dass die eigene Kritik an der Morales- Hintergrund haben bereits im Dezember begonnen. Immer mehr Regierung von den alten Eliten vor allem aus dem Osten des Kandidat*innen beginnen Ansprüche anzumelden. Der Zugriff auf Landes und einer rechtsextremen Agenda gekapert wurde, ist für die Gas- und Lithiumvorräte des Landes ist verlockend. viele mittlerweile offensichtlich. Andere hingegen sind froh, dass »die korrupte Regierung« von Morales endlich weg ist. Ein einziger riesiger »Betrug« seien die tt Tobias Boos ist Politikwissenschaftler im Bereich Internationale letzten Jahre gewesen, sagten mir zum Beispiel ein Taxifahrer und Politik an der Universität Wien. iz3w • März / April 2020 q 377
Co s t a R i c a Sodom und Gomorra im Tropenparadies Progressive Reformen in Costa Rica erzürnen die Rechte Die costa-ricanische Regierung hat eine rechtliche Grauzone forderte die Regierung unter dem Präsidenten Solís auf, das durch zum medizinischen Schwangerschaftsabbruch geschlossen. die Verfassung gedeckte Recht auf Schwangerschaftsabbruch zu Konservative, Evangelikale und die katholische Kirche laufen garantieren. Sturm gegen die vermeintliche Legalisierung der Abtreibung. Dies ist nur ein weiterer Akt in einer Reihe von Auseinander- Religiöse gegen Reformen setzungen, die zwischen der sozialdemokratischen Regierung und der konservativen Opposition ausgetragen werden. tt Mit der neuen Technischen Norm wurde dies nun getan. Sie definiert und regelt die medizinischen Abläufe und das Verfahren einer eventuellen Abtreibung. Mit dem Gesetz bleiben aber weiter von René Thannhäuser hin nur Schwangerschaftsabbrüche bei Gefährdung der Gesund- heit oder des Lebens der Mutter straffrei. Costa Rica bleibt damit tt Einem Teil der costa-ricanischen Gesellschaft wird der 12. De- im internationalen Vergleich weiterhin eines der repressiveren zember 2019 als Tag des modernen Sündenfalls des Landes in Länder. Erinnerung bleiben. An diesem Tag unterzeichnete Präsident Carlos Deshalb äußern auch Feminist*innen Kritik an der Technischen Alvarado die »Technische Norm über die medizinische Unterbre- Norm. Die Anwältin und Menschrechtsaktivistin Larissa Arroyo fasst chung der Schwangerschaft«. Der evangelikale Parlamentsabge- diese wie folgt zusammen: »Die Technische Norm und der legale ordnete Jonathan Prendas kommentierte dies so: »Sie sind eine Schwangerschaftsabbruch sind zwei verschiedene Kämpfe, die Schande der Nation und haben das Land in Trauer gestürzt«. Auch jedoch unter demselben Schirm des Selbstbestimmungsrechtes die costa-ricanische Bischofskonferenz positioniert sich eindeutig: geführt werden. Der Zugang zu straffreien Schwangerschaftsab- Katholik*innen, die die Technische Norm unterstützen, soll künftig brüchen ist das mindeste, was in einem Land gefordert werden der Empfang der Kommunion während der Heiligen Messe ver- kann, in dem dieser bereits durch das Strafgesetzbuch von 1970 weigert werden. als Recht anerkannt ist.« Nach einem Gesetz von 1970 sind Abtreibungen in Costa Rica Der harsche Protest der selbsternannten »Front für das Leben« strafbar. Mit Artikel 121 des Strafgesetzbuchs wurden jedoch zwei gegen diese vermeintliche Legalisierung der Abtreibung überrascht straffreie Ausnahmen bestimmt, nämlich die Abtreibung im Fall nicht. Seit ihrem erstmaligen Regierungsantritt 2014 hat die sozi- der Gefährdung des Lebens oder der aldemokratische PAC progressive gesellschaftspolitische Gesundheit der Mutter. In dem Gesetz Reformen unternommen, mit denen sie die konserva- wurden jedoch keine Vorgaben zu den Jährlich werden mehr tiven Sektoren des Landes gegen sich aufgebracht hat. Regularien der Eingriffe gemacht. Diese als 24.000 illegalisierte So schaffte es eine Gruppe linker Parlamentarierinnen, rechtliche Grauzone und die stark durch Eingriffe vorgenommen dass die Beschränkung für den Verkauf der »Pille da- die katholische Kirche beeinflusste öf- nach« aufgehoben wurde. Außerdem wurde ein die fentliche Meinung sorgten dafür, dass Diversität lehrender Sexualunterricht in Schulen vor- es in Costa Rica keine öffentlichen Kliniken und niedergelassenen angetrieben. Zudem erlaubte ein Gericht 2015 eingetragene Ärzt*innen gab, die auf offiziellem Wege Abtreibungen durchführ- Partnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare. Evangelikale und ten. Schwangerschaftsbrüche wurden bisher also illegal und im die katholische Kirche befinden sich seitdem in einem regelrechten Geheimen durchgeführt. Schätzungen gehen davon aus, dass in Krieg gegen die PAC und die progressiven Milieus des Landes. dem fünf Millionen Einwohner*innen zählenden Land jährlich mehr Diese betrieben eine »Frühsexualisierung der Kinder« und zersetz- als 24.000 solcher Eingriffe vorgenommen werden. Jedes Jahr ten mit ihrer »Gender-Ideologie« die traditionelle Familie sowie 10 sollen etwa 5.000 Frauen Krankenhäuser aufgrund von Komplika- die von Gott gewollte Verbindung zwischen Mann und Frau. tionen während einer Abtreibung aufsuchen. Die Regierung unter Präsident Carlos Alvarado von der sozial- IDH-Urteil beeinflusste Wahlkampf demokratischen PAC hat nun ein Wahlkampfversprechen von 2018 eingelöst. Dieses geht noch auf die Vorgängerregierung unter tt 2018 war die PAC angeschlagen in den Wahlkampf für die Par- Alvarados Parteikollegen Luis Guillermo Solís (2014 – 2018) zurück. laments- und Präsidentschaftswahlen gestartet. Mitten in den Zwei Frauen hatten 2007 und 2013 vor der Interamerikanischen Wahlkampf fiel am 9. Januar 2018 eine Resolution des in Costa Rica Kommission für Menschenrechte (CIDH) Klage gegen Costa Rica ansässigen Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte erhoben. Beide Frauen hatten Schwangerschaftskomplikationen (IDH), die den gesamten Wahlkampf auf den Kopf stellte. Das IDH und bekamen schon früh diagnostiziert, dass ihre Kinder außerhalb urteilte, dass Costa Rica die Ehe auch für gleichgeschlechtliche der Gebärmutter nicht lebensfähig sein würden. Es war jedoch Paare öffnen müsse und befand außerdem, dass Transpersonen ein nicht möglich, Ärzt*innen zu finden, die einen Schwangerschafts- hürdenfreier Wechsel des juristischen Geschlechts zustünde. abbruch durchführen wollten. Auch Klagen der beiden Frauen vor Das Urteil polarisierte die Bevölkerung (siehe iz3w 366) und dem costa-ricanischen Verfassungsgericht scheiterten. Die CIDH Carlos Alvarado, Kandidat der PAC und klarer Befürworter des iz3w • März / April 2020 q 377
Proteste für das Recht auf Abtreibung Foto: Aborto Legal Costa Rica Gerichtsurteiles, und Fabricio Alvarado, ein evangelikaler Prediger, Die Regierung von Carlos Alvarado hat seit ihrem Amtsantritt 2018 schafften es unerwartet in die zweite Runde der Präsidentschafts- Maßnahmen vollzogen, die die Konservativen weiter erzürnt haben, wahl. Beide Kandidaten dümpelten in Umfragen zuvor abgeschla- wobei der Erlass der Technischen Norm über den Schwangerschafts- gen im einstelligen Prozentbereich. abbruch nur die letzte ist. Die Regierung folg- Fabricio Alvarado führte dann einen te der Weisung des IDH und verabschiedete aggressiv antifeministischen, homo- Nur 10 Prozent der Bevölkerung ein Gesetz, welches mit Gültigkeit zum 26. und transphoben Wahlkampf. befürworten die komplette Mai 2020 die gleichgeschlechtliche Ehe zu- Carlos Alvarado gewann die zweite Legalisierung von Abtreibung lässt. Mit Enrique Sánchez ist zum ersten Mal Runde der Präsidentschaftswahl im ein offen homosexueller Minister ernannt März 2018 schließlich deutlich, wenn- worden. Zur Frauenministerin hat Alvarado gleich seine Partei nach starken Verlusten nur noch die drittgrößte die linke Feministin Patricia Mora ernannt. Sie war in der vergan- Fraktion im Parlament stellt. Das Ergebnis für seinen evangelikalen genen Legislaturperiode eine der Wortführerinnen der Gruppe von Kontrahenten wiederum deutet auf eine massive politische Ver- Parlamentarierinnen, die die gesellschaftspolitisch progressiven schiebung hin. Wie überall in Lateinamerika wächst die Gruppe der Reformen vorangetrieben hatte. Evangelikalen auch im traditionell römisch-katholischen Costa Rica Aber der Rückhalt für den Präsidenten schwindet, zumal er nicht rasant, dennoch machen sie nach neuesten Schätzungen nur etwa nur die Konservativen gegen sich aufgebracht hat. Als Maßnahme ein Viertel der Bevölkerung des Landes aus. Fabricio Alvarado gegen die hohe Staatsverschuldung beschloss die Regierung am konnte jedoch fast 40 Prozent der Stimmen auf sich vereinen und 3. Dezember 2018 eine Fiskalreform. Daraufhin kam es in Costa seine Partei, die ultrakonservative PRN, zog als zweitstärkste Partei Rica zum Generalstreik. Als Reaktion hat nun das costa-ricanische ins Parlament ein. Parlament am 9. Januar dieses Jahres Regierungsplänen zugestimmt, die eine Einschränkung des Streikrechts vorsehen. Die einzigen Parteien, die sowohl den Generalstreik der Gewerk- 11 Rechte auf dem Vormarsch schaften unterstützen als auch die Einschränkung des Streikrechts tt Im konservativen Costa Rica sind sowohl die Aktualisierung des ablehnten, waren die marginalisierte linke Frente Amplio sowie der Abtreibungsrechts als auch die Gleichstellung der gleichgeschlecht- evangelikale Block. Aus der generellen Unzufriedenheit der Costa- lichen Ehe keine populären Themen. Je nach Umfragen unterstützt Ricaner*innen über die wirtschaftliche Situation des Landes, der nur ein Drittel bis 40 Prozent der Befragten die Legalisierung der Entfremdung von Teilen der Arbeiter*innenklasse von der PAC und »Homo-Ehe«. Während zwei Drittel der gläubigen Katholik*innen der scharfen gesellschaftspolitischen Polarisierung könnte die Rechte diese ablehnen, sind es unter Evangelikalen über 90 Prozent. Im daher als große Gewinnerin hervortreten. Denn schon bei den Fall des Schwangerschaftsabbruchs unterstützt eine Mehrheit des- Wahlen 2018 zeigte sich: Gerade in ländlichen und ärmeren urba- sen Möglichkeit bei Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit nen Wahlkreisen, die bei den Wahlen 2014 noch Hochburgen der der Mutter, also den rechtlichen Status Quo seit 1970. Die Legali- Linken waren, konnten die Evangelikalen gewinnen. sierung der Abtreibung auf Verlangen befürworten jedoch nur 10 Prozent der Costa-Ricaner*innen und keine der im Parlament vertretenen Parteien. tt René Thannhäuser ist Soziologe und freier Journalist. iz3w • März / April 2020 q 377
Vergiftet und verkauft Die agrarökologische Bewegung in Südbrasilien gerät in Bedrängnis Agroindustrieller Soja-Anbau in Paraná Foto: Cleverson Beje Im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná zeigt eine starke Sie haben sich nicht in das Paket der so genannten Grünen Revo- soziale Bewegung konkrete Alternativen zum agrarindustriel- lution mit ihrem Einsatz von Pestiziden und synthetischen Dünge- len Modell auf. Vielen Menschen, die vorher nie eine Chance mitteln integriert. Stattdessen haben sie Methoden entwickelt, um dazu hatten, wird damit die Möglichkeit gegeben, sich an der im Einklang mit der Natur zu produzieren. Maßgeblich an dieser Weitergabe von Wissen zu beteiligen und an gesellschaftlichen Entwicklung beteiligt ist die Landlosenbewegung MST (Movimen- Entscheidungen teilzuhaben. Doch nicht nur diese wichtige to dos Trabalhadores Rurais Sem Terra). Errungenschaft will die Regierung Bolsonaro zerstören. Für ein Leben ohne Pestizide von Mireille Remesch Der Kampf um Land prägt diese Region seit vielen Jahrzehnten. In Brasilien besitzen etwa zehn Prozent der Bevölkerung rund 80 tt Helena und Roque Goncalves Gandin bauen auf ihren zehn Prozent des Landes. In Paraná haben tausende Familien ihr Land Hektar Land eine Vielfalt an Nahrungspflanzen an. Zuckerrohr, beim Bau von Staudämmen an den Flüssen Cantu, Quiri und G uacu Maniok, Reis, Süßkartoffeln, Bohnen, Mais und weitere Gemüse- verloren. Der bekannteste Staudamm ist Itaipu in Foz de Iguazu, und Obstsorten wachsen in ihrem Garten. Große Araukarien spen- es ist der zweitgrößte der Welt. Auch im Zuge der Grünen Revo- den Schatten. Von März bis Juni werden die Pinhão genannten lution verloren Kleinbauern und -bäuerinnen ihr Land. Früchte dieser Bäume geerntet. Es gibt Schweine, Hühner, Rinder, Als Reaktion darauf gründete sich 1984 in Cascavel in Paraná Schafe und Fische. Verarbeitet wird all das von den Gandins selbst, die Landlosenbewegung MST. auf ihrem Hof. Sie schlachten die Tiere, stellen Schmalz her und In Paraná liegt das größte Gebiet in Lateinamerika, in dem die produzieren Rohrzucker. Agrarreform zum Tragen kam. In ihr wurde aufgrund der ungleichen Das Ehepaar lebt in Porto Barreiro, einem kleinem Ort in Süd- Landverteilung eine Umverteilung und ein »Sozialer Nutzen« von brasilien im Bundesstaat Paraná. In ihrer Region sind sie Teil der Land gesetzlich festgelegt. Unter der Präsidentschaft von Lula Inácio Bewegung für Agrarökologie1. Dies ist kein leichtes Unterfangen, da Silva wurde 2004 der Nationale Plan der Agrarreform gestartet, denn allein in Paraná wurden im Jahr 2019 auf einer riesigen Fläche innerhalb dessen rund 500.000 Familien bis Ende 2007 Land er- von 5,5 Millionen Hektar Land gentech- hielten oder ihre Landtitel anerkannt wur- 12 nisch veränderte Soja (GV-Soja) ange- den. Dieser Prozess ist bereits mit Ende der pflanzt. Auch die Nachbarn der Gandins Bolsonaro ließ direkt nach Amts- Regierung Lula ins Stocken geraten. 2017 bauen GV-Soja und Tabak an. Lässt man antritt 290 neue Pestizide zu kam die Agrarreform in Brasilien laut einem den Blick über die Landschaft schweifen, Bericht des Nachrichtenportals UOL dann sieht man die Monokulturalisierung des vollständig zum Stillstand. Landes: Soja, Mais oder Weizen, soweit das Auge reicht. Nicht Hauptaktivität der Landlosenbewegung ist die Besetzung von umsonst ist Brasilien der größte Pestizidmarkt der Welt, mit ver- Land in Großgrundbesitz, das illegal angeeignet worden war, heerenden Folgen für die Bevölkerung vor Ort. oftmals zur bloßen Spekulation. »Grilagem« nennen Brasilianer*innen Und dennoch ist es in dieser Region gelungen, viele kleinbäuer diese Praxis der illegalen Landnahme. In Paraná sind rund 2,3 liche Familien, Landlose und Indigene bei der Entwicklung von Millionen Hektar Land davon betroffen. In Folge der Landbeset- nachhaltigen landwirtschaftlichen Methoden zu unterstützen und zungen, mit denen Landlose (wieder) ein eigenes Stück Land den Weg für eine agrarökologische Landwirtschaft zu bereiten. erlangen wollen, kommt es entweder zur rechtlichen Anerkennung Diese Entwicklung speist sich aus dem Widerstand vieler Bauern im Zuge der staatlichen Agrarreform – oder zur Vertreibung durch und Bäuerinnen gegen die großflächige industrielle Landwirtschaft. Privatmilizen und Militärpolizei. iz3w • März / April 2020 q 377
Brasilien Agrarökologisch angebauter Maniok, ein wichtiges Grundnahrungsmittel in Brasilien. Foto: Jaine Amorin Die MST hat über die Besetzung von Land viel dazu beigetragen, sozialdemokratische Regierung der Arbeiterpartei (PT) unter Präsi- dass Familien innerhalb der Agrarreform dauerhaft angesiedelt dent Lula Inácio da Silva. Lula startete unmittelbar nach seinem wurden. Derzeit leben in der Region mehr als 5.000 Familien in Amtsantritt die Programme Fome Zero (Null Hunger) und Bolsa legalisierten Assentamentos (Siedlungen), 4.000 Familien leben auf Familia (Familienhilfe). Bedürftige Brasilianer*innen erhielten mo- besetztem Land in Acampamentos (Camps). Letztere leben in natliche Zuschüsse und Hilfspakete und bekamen damit dauerhaft ständiger Ungewissheit und können jederzeit von der Polizei ver- Zugang zu Grundnahrungsmitteln. Einzige Bedingung für die trieben werden. Unter dem jetzigen rechtsradikalen Präsidenten Auszahlung der Gelder: Die Kinder mussten regelmäßig in die Jair Bolsonaro hat sich die Lage für diese Menschen sehr zugespitzt. Schule und zum Arzt. Es ist mehr denn je ungewiss, ob sie endlich eigenes Land bekom- Die Landlosenbewegung MST kämpfte gemeinsam mit Orga- men. Anfang 2019 hat Bolsonaro per Dekret jegliche Art von nisationen wie CEAGRO, CAPA und ASSESOAR für die Etablierung Landverteilung innerhalb des Nationalen Plans der Agrarreform für von Programmen zur Unterstützung der Familienlandwirtschaft. unbestimmte Zeit eingestellt. Im Rahmen von Programmen wie PRONAF und PRONERA wurden zum Beispiel Kreditlinien für Kleinbauern und -bäuerinnen und Schulungen in Agrarökologie auf den Weg gebracht. Agrarökologie stärkt soziale Bewegung tt In der MST-Siedlung »Assentamento 8 de Junho« leben 105 Universitäten im ländlichen Raum Familien. Zehn von ihnen praktizieren Agrarökologie. Eine dieser Familien sind Darci und Marli Teresa da Silva, die dort seit 22 Jah- tt Und noch mehr wurde erreicht. Auf Druck der sozialen Bewe- ren gemeinsam mit einem Bruder leben und seit 15 Jahren erfolg- gungen öffnete 2009 die staatliche Universität UFFS (Universidade reich 12,5 Hektar agrarökologisch bewirtschaften. Ihre Geschichte Federal da Fronteira Sul) in Laranjeiras do Sul. Die Universität liegt zeigt, wie Familien sich mit Agrarökologie unabhängig machen in einer Siedlung der MST und verschafft dort bäuerlichen Familien, können. Anfangs haben sie mit 15 Kühen konventionell Milch Landlosen, Indigenen und insbesondere Frauen Zugang zu Bildung. produziert. Doch dies hat für sie nicht gut funktioniert, obwohl sie In Paraná ist sie eine von sechs staatlich geförderten Universitäten die größten Milchproduzent*innen in der Siedlung waren. Noch im ländlichen Raum mit Schwerpunkt Agrarökologie. Die Univer- heute müssen sie den Kredit abbezahlen, der damals für die Pro- sität arbeitet eng mit CEAGRO und ASSESOAR zusammen, mit dem duktion notwendig war. Ziel, die Landbevölkerung zu stärken und in Agrarökologie auszu- 13 Darci beschreibt das Problem so: »Wir haben nur Milch produ- bilden. ziert und nichts für die Ernährung der Familie.« Daraufhin hat er Diese gemeinsamen Anstrengungen fruchteten, es wurden eine Rechnung aufgemacht: Wie viel Geld müssen sie innerhalb wichtige Ausbildungsprogramme zur Umsetzung von Agrarökolo- von zehn Jahren für Einkäufe im Supermarkt ausgeben? Es zeigte gie gestartet. Dabei liegt der Fokus neben der praktischen Arbeit sich, dass Milchproduktion für den Markt nicht der richtige Weg auch auf der politischen Bildung. Es geht darum, Wissen zu pro- ist. Danach hat die Familie neu angefangen. Über die Arbeit der duzieren, das zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Men- Landpastorale CPT (Comissão Pastoral da Terra) kam es zum Um- schen führt und Raum schafft für politische Teilhabe. Mithilfe von denken zugunsten von Agrarökologie. Die CPT, eine Organisation Agrarökologie konnten nicht nur die Einkommen der bäuerlichen der Katholischen Kirche, fordert seit langem eine ökologische und Familien erhöht und ihre Ernährung verbessert werden, sie half soziale Ausrichtung der Landwirtschaft und setzt sich ebenfalls für auch bei der Vernetzung und Organisierung von Menschen, was die Landreform ein. wiederum die soziale Bewegung in Südbrasilien sehr stark machte. Seit dem Jahr 2000 wurde die agrarökologische Bewegung in Aus dieser Initiative heraus konnten sich in Parána Bauernmärk- Paraná immer stärker. Unterstützung bekam sie ab 2003 durch die te entwickeln und es entstanden Kooperativen – ein wesentlicher iz3w • März / April 2020 q 377
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