Missbrauch von Opioiden und mögliche Auswege aus der Opioid-Krise
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24 Übersichtsartikel Missbrauch von Opioiden und mögliche Auswege aus der Opioid-Krise Madlaina Matter1, Stefan Mühlebach2,3, Maxim Puchkov1,3 und Jörg Huwyler1,3 1 Abteilung für Pharmazeutische Technologie, Departement Pharmazeutische Wissenschaften, Universität Basel 2 Abteilung für Klinische Pharmazie und Epidemiologie, Departement Pharmazeutische Wissenschaften, Universität Basel 3 Schweizerische Akademie der Pharmazeutischen Wissenschaften, SAPhW, Bern Zusammenfassung: Opioide zur Schmerztherapie werden zunehmend missbraucht. Dies hat in Anbetracht zahlreicher Todes- fälle vor allem in den USA zu einer «Opioid-Krise» geführt. Wir zeigen im Folgenden das Ausmass dieses Problems auf und diskutieren aus der Perspektive der Schweiz geeignete Massnahmen im gesundheitspolitischen Bereich und bei der Entwick- lung neuer oder alternativer analgetischer Medikamente. Ein Fokus liegt dabei auf missbrauchgeschützten Formulierungen («abuse-deterrent formulations»), die primär den parenteralen Abusus erschweren durch physikalische oder pharmakologi- sche Veränderung der Produkte. Abuse deterrent drug formulations for opioids Abstract: Misuse of opioids is an increasing problem. Significant medical and social consequences including overdose-relat- ed deaths have led to the declaration of an “opioid crisis”. The present review article discusses the extent of the problem with a special focus on the situation in Switzerland. Measures are proposed including training of health care providers, regulatory intervention and technical solutions such as the design of abuse-deterrent formulations. Ausgangslage fälle wegen Drogenüberdosis und der Trend ist immer noch steigend. Etwa 25 % dieser Fälle werden durch ver- Pharmakologisch aktive Wirkstoffe wie Amphetamine, schreibungspflichtige Opioide verursacht [1]. Dies hat Benzodiazepine, Barbiturate oder Opioide haben neben dazu geführt, dass US-Präsident Trump am 26. Oktober ihrem therapeutischen Einsatz auch ein hohes Miss- 2017 den nationalen Gesundheitsnotstand in Amerika brauchspotential. Dies gilt insbesondere für Opioide, die ausgerufen hat [2]. Aber nicht nur die USA leiden unter der durch eine Interaktion mit µ-Rezeptoren eine starke zent- Opioid-Krise. Auch europäische Länder wie Frankreich rale schmerzstillende, aber auch belohnende Wirkung er- oder die Schweiz zählen zu Ländern, in denen Opioide in zielen. Als unerwünschte Nebenwirkung beobachtet man grossem Umfang verschrieben werden: In Frankreich ha- Obstipation, Atemdepression, Sedierung, Euphorie und ben sich die Todesfälle an Opioid-Überdosen seit 2000 Abhängigkeit. Die betroffenen Medikamente werden um 172 % erhöht [3]. In der Schweiz ist laut einem Artikel missbraucht, indem durch höhere Dosierungen als verord- der «Revue Médicale Suisse» der Opioid-Konsum zwi- net, durch Manipulation der Darreichungsform oder durch schen 1985 und 2015 von 18 auf 421 mg / Einwohner / Jahr nasale oder intravenöse Einnahme ein euphorischer Zu- gestiegen [4]. Damit platziert sich die Schweiz im World- stand herbeigeführt wird. Ranking des Opioid-Konsums pro Einwohner auf Platz sie- ben. Wie in Abbildung 1 ersichtlich, liegt die Eidgenossen- schaft damit klar über dem europäischen Durchschnitt. Diese Zunahme ist auf eine intensivere Behandlung von Die Situation in der Schweiz Patienten mit schweren chronischen Schmerzen, die Überalterung unserer Gesellschaft, aber auch auf eine Besonders Nordamerika ist stark vom Problem des Opio- freizügigere Verschreibung von Opioiden zurückzuführen. id-Missbrauches betroffen, da über viele Jahre Opioide Eine bedenkliche Entwicklung, da laut Schätzungen etwa leichtfertig von Ärztinnen und Ärzten verschrieben wur- zehn Prozent der Patienten mit chronischen Schmerzen den. Im Jahr 2017 zählte man in den USA 72'000 Todes unter Behandlung mit Opioiden abhängig werden [4]. Therapeutische Umschau (2020), 77(1), 24–28 © 2020 Hogrefe https://doi.org/10.1024/0040-5930/a001147
M. Matter et al., Missbrauch von Opioiden 25 Therapie ist ausschleichend abzusetzen, damit keine Entzugserscheinungen hervorgerufen werden [5]. Eine be- sondere Herausforderung sind Hochdosis-Patienten oder solche mit bestehender Abhängigkeit, um Risiken wäh- rend der Therapie und die Rückfallquote nach Absetzen der Therapie tief zu halten. Dies erfordert meist eine multidisziplinäre Betreuung. Dennoch muss an dieser Stelle ausdrücklich festgehalten werden, dass die ver- Abbildung 1. Konsum von Opioiden in ausgewählten Ländern. Adap- mehrte Verabreichung von Opioiden nicht grundsätzlich tiert von [4]. mit einem Missbrauch verbunden sein muss. Opioide sind nach wie vor für viele Patienten die einzige therapeutische Dies umfasst Abhängigkeit aufgrund von Toleranz («de- Option und oft unverzichtbar. pendence»), körperliches und psychisches Verlangen und Kontrollverlust bezüglich Häufigkeit und Umfang der Ein- nahme («substance use disorder / addiction»). Gesundheitspolitische Massnahmen Über gesundheitspolitische Massnahmen wird derzeit in- tensiv diskutiert. Unser weltweites Gesundheitssystem entwickelt sich stetig weiter. Immer neuere Medikamente, Mögliche Massnahmen innovativere Therapien und Präventionssysteme werden und Vorschläge eingeführt. Wir entfernen uns damit zwar fortwährend weiter von einem verfrühten Lebensende, sind aber umso Im Sinne eines verantwortungsvollen Umgangs mit Opio- mehr mit altersbedingten Schmerzen konfrontiert. Mit iden und zur Vorbeugung einer Opioid-Krise in der steigender Tendenz werden Patienten Analgetika zur Be- Schweiz können und sollten verschiedene Massnahmen handlung von Arthrose, Rücken-, Krebs- oder post-opera- diskutiert werden. Verschiedene Möglichkeiten sollen im tiven Schmerzen verschrieben. Es wurde deshalb gegen- Folgenden vorgestellt werden. über der Pharmaindustrie der schwere Vorwurf erhoben, dass Opioide in den USA zu aggressiv beworben wurden [6] und somit zu sehr auf eine Maximierung des Umsatzes Information und Schulung geachtet wurde. Die Regierungen der betroffenen Länder des medizinischen Personals versuchen unterdessen mit besserer Aufklärung, Suchtbe- ratung und -hilfe der Opioid-Abhängigkeit entgegenzuwir- Vordringlich und naheliegend ist die Vermeidung einer ken. Dies schliesst Opioid-Agonisten-Therapie (OAT) bei leichtfertigen und nicht Evidenz-basierten Abgabe von Opioidabhängigkeit (früher Substitution genannt), also Opioiden ganz im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes. zum Beispiel die ärztlich verordnete Abgabe von Metha- Medizinerinnen und Mediziner sollten sich der Problema- don, ein. Angesprochen ist auch die entsprechende Aus- tik bewusst sein und darauf achten, dass Opioide nur bei und Weiterbildung, insbesondere der Ärzte, um den ratio- klar begründeter Indikation und wenn möglich zeitlich nalen und verantwortungsvollen Einsatz dieser wertvollen befristet eingesetzt werden. Besondere Vorsicht ist bei Medikamente zu garantieren. Dabei wird allerdings be- Patienten mit Abhängigkeitspotential geboten. Anhalts- tont, dass die Bewältigung der Opioid-Krise nicht nur eine punkte für eine korrekte Anwendung liefert das WHO- Frage des Wissens über das Abhängigkeitspotential auf Stufenschema, das zwischen der Schwere der Schmerz Seiten der Medizinalpersonen und der Patienten sei. Re- belastung (Stufe 1 – 3), Co-Medikation und ergänzenden gulatorische Behörden sind aufgefordert, bereits auf der Massnahmen unterscheidet. Opioide sollten nicht zusam- Ebene der Herstellung der Opioide und deren Vermark- men mit Rauschmitteln, wie zum Beispiel Alkohol, einge- tung bei allen Marktteilnehmern Anpassungen einzufor- nommen werden und zurückhaltend mit potenziell wir- dern. kungsverstärkenden Arzneimitteln, wie Benzodiazepinen, kombiniert werden. Es sollten immer alternative Therapi- en mit Nicht-Opioid-Schmerzmitteln oder auch nicht- Alternative Opioidrezeptor-Liganden pharmakologische Therapien in Betracht gezogen werden. Bei der Therapie muss ein enges und vertrauensvolles Ver- Pharmakologisch betrachtet wäre es wünschenswert neue hältnis zwischen medizinischem Personal und Patient Klassen von Opioiden zu entwickeln, bei denen die oder Patientin gewährleistet sein, damit beide Seiten über schmerzhemmende Wirkung des µ-Opioidrezeptors von den aktuellen Therapieverlauf informiert sind und früh- den sekundären Effekten getrennt ist. Obwohl solche Sub- zeitig bei Problemen interveniert werden kann. Die Thera- stanzen derzeit nicht verfügbar sind, gibt es in dieser Hin- pie sollte dokumentiert werden, wobei es für das derzeitig sicht interessante neue Ansätze. Sie basieren auf der Beob- gebräuchliche Schmerztagebuch sicherlich auch elektro achtung, dass eine Vielzahl von Agonisten verschiedene nische Alternativen gäbe. Eine länger dauernde Opioid- Signalwege gleichzeitig aktivieren und somit unterschied- © 2020 Hogrefe Therapeutische Umschau (2020), 77(1), 24–28
26 M. Matter et al., Missbrauch von Opioiden liche physiologische Effekte auslösen können. Im Falle des fügbarkeit hat (≤ 2 %) kommt der zentrale antagonistische analgetischen Effektes des µ-Opioidrezeptors handelt es Effekt nach oraler Gabe nicht zum Tragen. Naloxon ver- sich um einen GI-Protein-gekoppelten Signalweg. Die Se- hindert im Darm zusätzlich eine Blockade von Opioid kundäreffekte wie Atemdepression oder Sucht sind dem rezeptoren und wirkt so günstig auf die Darmperistaltik ß-Arrestin-Signalweg zuzuschreiben. Um eine bessere Ef- (Obstipation verhindernd). Dies im Gegensatz zu einer fizienz des Medikamentes zu erreichen, müsste man also missbräuchlichen intravenösen Verabreichung nach Auf- einen Agonisten finden, der den Signalweg über das inhi- lösung der Tabletten oder der intranasalen Inhalation bitorische G-Protein bevorzugt. Es gibt bereits einen sol- zerstossener Tabletten. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt chen Agonisten (TRV130), welcher erfolgreich in klini- Troxyca® ER (Oxycodon / Naltrexon). Hier werden nicht schen Phase-2-Versuchen getestet wurde [7]. Ausserdem unterscheidbare Pellets gleicher Grösse und Dichte in ei- wurde vorgeschlagen, dass alternative Opioidrezeptoren ner Kapsel kombiniert. Die Pellets enthalten entweder den mit weniger Nebenwirkungen, wie zum Beispiel der Agonisten Oxycodon oder den Antagonisten Naltrexone. κ-Rezeptor, ebenfalls als Target für die analgetische The- Letzterer wird oral verabreicht im Verdauungssystem rapie dienen könnten [8]. Zu erwähnen ist auch Buprenor- nicht freigesetzt jedoch sehr wohl beim Auflösen oder Zer- phin, ein partieller μ-Opioidrezeptor Agonist. Dies bedeu- stossen der Pellets zu einem Pulver. tet, dass bei hohen Dosen ein antagonistischer Effekt Einen anderen Ansatz verfolgen Produkte, bei denen dominiert («ceiling effect»). Dieser Saturierungseffekt das Opioid durch physikalische Barrieren geschützt wird. und die Interaktion der Substanz mit vier Opioidrezepto- Morphabond ER® (Morphinsulfat) besteht aus Tabletten, ren gleichzeitig führt zu einem möglicherweise reduzier- die mit einer äusseren Polymerschicht beschichtet sind. ten Suchtpotential und einem Schutz bei Überdosierung Diese Diffusionsbarriere enthält Morphin und hat die Auf- [9]. gabe, den Wirkstoff verzögert freizugeben. Diese Poly- merschicht ist untrennbar mit einer zweiten inneren Poly- merschicht verbunden, die mechanische Stabilität verleiht Missbrauchgeschützte Formulierungen und für den Wirkstoff undurchdringlich ist. Somit sind die für Opioide Tabletten mechanisch gegen Zerreiben geschützt. Beim Zerstossen entstehen Fragmente, die noch immer mit der Ein sehr attraktiver und bereits erfolgreich angewandter stabilisierenden Schicht verbunden sind und somit eine technischer Ansatz besteht in der Verwendung miss- verzögerte Wirkstofffreisetzung besitzen. Durch Zugabe brauchverhindernder Formulierungen. Diese «abuse-de- von Polyethylenoxid (PEO) wie bei Arymo® ER (Morphin- terrent-formulations» (ADF) erschweren oder verhindern sulfat) kann zusätzlich eine Extraktion des Wirkstoffes den Abusus auf physikalischem oder pharmakologischem verhindert werden. PEO verwandelt sich bei Kontakt mit Weg [10 – 12]. Solche Formulierungen wiederspiegeln auch Lösungsmitteln in eine visköse Masse, die nicht intravenös das berechtigte Bedürfnis der pharmazeutischen Industrie injiziert werden kann [13]. Thermisch gesintertes hoch- auf Schutz der eigenen Produkte vor Missbrauch. Es muss molekulares PEO wird auch bei Oxycontin® (Oxycodon) auch betont werden, dass jede nicht bestimmungsgemässe als physikalische Barriere gebraucht. Das Polymer führt zu Anwendung von Medikamenten mit erheblichen Risiken einer verzögerten Wirkstofffreigabe und verhindert me- verbunden ist. Im Folgenden werden drei verschiedene chanisch ein Zerreiben oder eine Extraktion des Wirkstof- Strategien anhand von ausgesuchten Beispielen vorge- fes. Gleiches kann erreicht werden durch die INTAC® stellt. Sie basieren auf der Beobachtung, dass bei chroni- Technologie der Firma Grünenthal [14]. Hierbei wird eine schen Schmerzen Patienten selbstständig Arzneiformen Wirkstoffe-enthaltende PEO Matrix durch Extrusion bei einnehmen, bei denen der Wirkstoff kontrolliert und lang- hohen Temperaturen hergestellt. Anschliessend werden sam über längere Zeiträume freigesetzt wird. Bei einem daraus zugeschnittenen Rohlinge mechanisch zu Tablet- Missbrauch wird dieser Depot-Mechanismus bewusst au- ten geformt. sser Kraft gesetzt, indem der Wirkstoff extrahiert und an- Schliesslich ist als weitere Strategie eine Vergällung des schliessend intravenös verabreicht oder geschnupft wird. Produktes zu nennen, die eine Injektion oder das Inhalie- Dies führt zu einer unmittelbaren und überhöhten Wir- ren verhindern soll. Acurox® (Oxycodon / Niacin) wurde kung («dose dumping»). Die schnelle Freisetzung aus der ursprünglich mit Niacin (Vitamin B3) versetzt. In hohen Formulierung und entsprechend rasche und hohe Verfüg- Dosen verursacht Niacin eine harmlose Hautrötung («red barkeit des Wirkstoffes im Organismus ist gleichermassen flushing»), die mit Juckreiz und einem brennenden Gefühl gefährlich wie euphorisierend und führt zu Abhängigkeit verbunden ist [15]. Später wurde Niacin durch Natriumlau- und Sucht. rylsulfat ersetzt (Oxectal®), das Haut und Schleimhäute Mit Hilfe einer Arzneimittelformulierung, die eine ge- angreift und deshalb eine Inhalation oder eine Injektion schickte und sinnvolle Kombination von Opioidrezeptor verhindert. Ähnliche Effekte können durch Capsaicin er- Agonisten und Antagonisten enthält, kann einem Miss- reicht werden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sol- brauch vorgebeugt werden. Bei Targin® Retard (Oxyco- che Inhaltsstoffe auch bei korrekter oraler Anwendung bei don / Naloxon) wird Oxycodon zusammen mit dem Anta- empfindlichen Patienten zu unangenehmen Reizungen gonisten Naloxon kombiniert und oral verabreicht. des gastrointestinalen Traktes führen können. Nachdem Naloxon eine vernachlässigbare orale Biover- Therapeutische Umschau (2020), 77(1), 24–28 © 2020 Hogrefe
M. Matter et al., Missbrauch von Opioiden 27 Haltung und Massnahmen wichtige Rolle in der Behandlung der Patientinnen und Patienten spielen, auszudehnen. der regulatorischen Behörden Im Gegensatz zu diesen positiven Entwicklungen bewil- ligt die FDA aber auch neue Opioide wie zum Bespiel Dsu- Zusammenfassend kann man betreffend ADF Technologi- via® (Sulfentanil, Zulassung in Amerika 2018), welches en festhalten, dass der gewünschte Effekt auf verschiede- nicht gegen Missbrauch geschützt ist, aber über ein hohes ne Arten erzielt werden kann. Neben den erwähnten Abhängigkeitspotential verfügt. Der ehemalige FDA Beispielen gibt es eine grössere Anzahl von weiteren Pro- Commissioner Scott Gottlieb begründete dies folgender dukten und patentierten Verfahren. In jedem Fall muss massen. Zitat: «The crisis of opioid addiction is an issue of aber der Hersteller einen erheblichen zusätzlichen Ent- great concern for our nation. Addressing it is a public health wicklungsaufwand in Kauf nehmen, um eine behördliche priority for the FDA. The agency is taking new steps to more Zulassung für ein ADF basiertes Produkt zu erhalten. actively confront this crisis, while also paying careful attention Mehrkosten und finanzielle Risiken entstehen durch zu- to the needs of patients and physicians managing pain» [20]. sätzlich benötigte Produktionsschritte, toxikologische Anzumerken ist, dass das Arzneimittel nur über ein einge- Abklärungen für nicht konventionelle Hilfsstoffe und schränktes Programm verfügbar ist (DSUVIA REMS-Pro- schliesslich auch den Nachweis, dass ein Missbrauch des gramm) und nur von einem Gesundheitsdienstleister in Arzneimittels zuverlässig und ohne Risiken für den Patien- einem zertifizierten medizinisch überwachten Gesund- ten verhindert werden kann. Ein nicht leichtes Unterfan- heitsumfeld verabreicht werden darf [21]. Kritisch muss gen in Anbetracht der vielfältigen und kreativen Versuche man hier aber trotzdem festhalten, dass diese Einzelfall- von Abhängigen jede neue Technologie und Schutzmass- bezogene Praxis zu einer erheblichen Verunsicherung bei nahme zu umgehen [16]. den Herstellern geführt hat. Dies umso mehr als die Ent- Die «U.S. Food and Drug Administration (FDA)» ver- wicklung und Produktion von missbrauchgeschützten Me- hält sich bezüglich der Thematik «abuse deterrent formu- dikamenten, wie erwähnt, mit beträchtlichen Investitio- lations» widersprüchlich. Einerseits wird die Entwicklung nen und Mehrkosten verbunden sind. Die Zulassung von von missbrauchgeschützten Opioiden gezielt unterstützt. nicht-missbrauchverhindernder Produkten schafft also Dies wird konkret im «FDA Opioids Action Plan» festge- falsche finanzielle Anreize und wirkt wettbewerbsver halten [17]. Bisher wurden zwei Empfehlungen («guidance zerrend. Ausserdem kann man argumentieren, dass nur documents») durch die FDA für Originalpräparate und ein missbrauchgeschützter Opioid-Markt erreicht werden Generika publiziert, die laufend überarbeitet und neuen kann, wenn alle verfügbaren Produkte einen verbindli- Herausforderungen angepasst werden. ADF Formulierun- chen Standard einhalten. Ansonsten wird es Opioidabhän- gen werden basierend auf den verwendeten Technologien gigen leicht gemacht, auf nicht geschützte Produkte aus- in Kategorien eingeteilt. Benötigte Untersuchungen vor zuweichen. und nach Markteinführung werden definiert. Dies umfasst Experimente zur in vitro Manipulation von Formulierun- gen, pharmakokinetische Studien und klinische Studien zum Missbrauchspotenzial. Nach Markteinführung wer- Schlussfolgerung den eine epidemiologische Überwachung und Folgestudi- en verlangt [10]. Zudem hat die FDA im Juli 2012 ein «Risk Aus Sicht der Schweizerischen Akademie der Pharmazeu- Evaluation and Mitigation Strategy (REMS)» Programm tischen Wissenschaften (SAPhW) ist die Opioid-Krise ein für Opioid-Analgetika ins Leben gerufen [18, 19]. Hierbei ernstes Problem. Die Schweiz ist in einem geringeren Aus- haben sich verschiedene Arzneimittelhersteller, unter an- mass als die USA betroffen. Dies nicht zuletzt wegen eines derem die Firmen Pfizer und Sandoz, zu «REMS Program sehr gut ausgebauten Sozial- und Gesundheitssystems für Companies (RPC)» zusammengeschlossen. Ein koordi- alle Bevölkerungsschichten sowie OAT-Möglichkeiten in niertes Vorgehen erlaubt es, opioidverordnende Personen Form einer ärztlich verordneten Abgabe von Methadon, gezielt auszubilden, damit Opioide korrekt verschrieben Morphin oder Buprenorphin sowie der Abgabe von Heroin und angewendet werden. Des Weiteren können so Patien- oral und intravenös. Der Artikel soll jedoch aufzeigen, tinnen und Patienten erreicht und über den sicheren Ge- dass in der Aus- und Fortbildung Bedarf für optimierte In- brauch und alle Risiken der Opioidanalgetika aufgeklärt formation besteht und ein pharmazeutischer Ansatz mit werden. Diese Ziele wurden mit Ideen wie Call Centers missbrauchsverhindernden Formulierungen interessante und Websites zur Patientenaufklärung unterstützt. Durch Möglichkeiten bietet. Dabei besteht aber die Gefahr, dass die Ausbildung von verordnenden Medizinerinnen und Abhängige auf illegal vertriebene Produkte wie Heroin Medizinern konnte unter den Patientinnen und Patienten und sogenannte Designer-Opioide (Fentanylderivate) bereits eine Verkleinerung der Anzahl unangemessener ausweichen. Aus gesundheitspolitischer Sicht sind Aufklä- Verschreibungen und eine deutliche Abnahme von Miss- rung und Schulung des medizinischen Personals aber auch brauch, Sucht und Überdosis registriert werden. Es ist der Patienten eine wichtige Aufgabe. Dies umfasst auch wichtig, diese Ausbildung auf weitere Gesundheitsfach- alternative analgetische Therapien. kräfte wie Apothekerinnen und Apotheker oder Kranken- Aus Sicht der pharmazeutischen Technologie sollten pflegerinnen und Krankenpfleger, welche ebenso eine alle neu registrierten Depot-Formulierungen für Opioide © 2020 Hogrefe Therapeutische Umschau (2020), 77(1), 24–28
28 M. Matter et al., Missbrauch von Opioiden einen Schutz vor Missbrauch bieten. Es gibt eine Vielzahl 10. Ahmad R, Alaei S, Omidian H. Safety and performance of cur- von entsprechenden Formulierungsstrategien. Diese bie- rent abuse-deterrent formulations. Expert Opin Drug Metab Toxicol. 2018; 14: 1255 – 71. ten dem Hersteller Gewähr, dass seine Produkte bestim- 11. Rauck RL. Mitigation of IV Abuse Through the Use of Abuse- mungsgemäss eingesetzt werden. Es kann allerdings kei- Deterrent Opioid Formulations: An Overview of Current Tech- nen absoluten Schutz vor Missbrauch geben. Vielmehr nologies. Pain Pract. 2019; 19: 443 – 54. müssen wir mit möglichst kosteneffizienten Technologien 12. Schaeffer T. Abuse-Deterrent Formulations, an Evolving Tech- nology Against the Abuse and Misuse of Opioid Analgesics. J und einfachen Mitteln einen Missbrauch erschweren oder Med Toxicol. 2012; 8: 400 – 7. unattraktiv machen und dies in der Praxis evaluieren. 13. Meruva S, Donovan MD. Polyethylene Oxide (PEO) Molecular Dazu können Pharmazeuten einen wichtigen Beitrag Weight Effects on Abuse-Deterrent Properties of Matrix Tab- durch den direkten Kontakt zu den Anwendern und Ver- lets. AAPS PharmSciTech. 2019; 21: 28. 14. Cicero T, Ellis M, Kasper Z. A tale of 2 ADFs: differences in the schreibern leisten. Dies mit dem Ziel auch in Zukunft un- effectiveness of abuse-deterrent formulations of oxymor- sere Schmerzpatienten optimal zu versorgen unter Ver- phone and oxycodone extended-release drugs. Pain. 2016; meidung unnötiger gesundheitlicher Risiken und des 157: 1232 – 8. allgegenwärtigen Problems des Medikamentenmiss- 15. Webster LR, Rolleri RL, Pixton GC, Sommerville KW. Rand- omized, double-blind, placebo-controlled and active-con- brauchs. trolled study to assess the relative abuse potential of oxyco- done HCl-niacin tablets compared with oxycodone alone in nondependent, recreational opioid users. Subst Abuse Reha- bil. 2012; 3: 101 – 13. Danksagung 16. Schinas A, Nanji S, Vorobej K, Mills C, Govier D, Setnik B. Key characteristics and habits of the recreational opioid user. J Opioid Manag. 2019; 15: 507 – 20. Wir danken Dr. Pascal Detampel, der SAPhW und Prof. 17. U.S. Food and Drug Administration. FDA Opioids Action Plan Dr. med. Matthias Liechti für eine kritische Durchsicht des [Internet]. [abgerufen am 30. Januar 2019]. Verfügbar unter https://www.fda.gov/Drugs/DrugSafety/Informationby Manuskripts. DrugClass/ucm484714.htm 18. Cepeda MS, Coplan PM, Kopper NW, Maziere JY, Wedin GP, Wallace LE. ER / LA Opioid Analgesics REMS: Overview of On- going Assessments of Its Progress and Its Impact on Health Literatur Outcomes. Pain Med. 2017: 18: 78 – 85. 19. U.S. Food and Drug Administration. Opioid Analgesic Risk Eva- luation and Mitigation Strategy (REMS) [Internet]. [abgerufen 1. Cohen D. Abuse-deterrent formulations approval reform: Will am 3. Februar 2019]. 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